Weidwerk im Baltikum und in heimischen Revieren - Gerhard Böttger - E-Book

Weidwerk im Baltikum und in heimischen Revieren E-Book

Gerhard Böttger

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Beschreibung

In seinem neuesten Werk beschreibt der leidenschaftliche Jäger und erfolgreiche Jagdbuchautor, warum gerade die Länder des Baltikums einen besonderen Reiz auf ihn ausüben: Ausgedehnte Mischwälder sowie unzählige idyllische Binnenlandseen oder Flüsse sind malerische Kulisse für seine packenden Erlebnisse auf der Fährte des Elches oder bei der Jagd auf Damwild und Braunbär. Gerhard Böttger erzählt mitreißend von der faszinierenden Auer- und Birkhahnbalz in einsamen und verwunschenen Moorlandschaften, von der Brunft der großen Geweihten, von der Jagd auf Muffel in Tschechien oder auf Kronenhirsche und kapitale Schaufler in Bulgarien. Doch auch dem heimischen Weidwerk in seiner bunten Fülle, das ihn erfüllt und geprägt hat, widmet sich der Autor. Seine Auseinandersetzung mit historischen und gesellschaftlichen Hintergründen machen seine Erzählungen zu etwas Besonderem.

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Seitenzahl: 229

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gerhard Böttger

Weidwerk im Baltikum und in heimischen Revieren

Leopold Stocker Verlag

Graz – Stuttgart

Umschlaggestaltung: DSR Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl, www.rypka.at

Titelbild: iStock/Damian Kuzdak

Alle Fotos im Innenteil des Buches wurden dem Verlag freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut schen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Inter net über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die zum Schutz vor Verschmutzung verwendete Einschweißfolie ist aus Polyethylen chlor- und schwefelfrei hergestellt. Diese umweltfreundliche Folie verhält sich grundwas serneutral, ist voll recyclingfähig und verbrennt in Müllverbrennungsanlagen völlig ungiftig.

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Tel.: +43 (0)316/82 16 36

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ISBN 978-3-7020-2311-9

eISBN 978-3-7020-2323-2

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Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Weise zum Zweck des Trainings von Technologien oder Systemen der künstlichen Intelligenz verwendet oder reproduziert werden.

© Copyright by Leopold Stocker Verlag, Graz 2025

Layout: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein

Inhalt

Vorwort

Die Brunft der großen Geweihten

Einiges über Litauen …

Vor dem Oktobermond

Rotwildbestand

War der Hirsch dabei?

Nach Osten auf Elch und Hirsch

Der 21. September

Am nächsten Tag

Die Böcke am Rubikiai-See

In Anyksciai

Auf Rehbockjagd

Der nächste Morgen

Nachtrag

Der Urhahn balzt in Lettland

Auerhahn-Dubletten

Gunthers Auerhahnjagd in Lettland

Auerhahnjagd heute im Norden

Geschichte Lettlands und politische Situation nach 2014

Meine Lettland-Erlebnisse

Vor der Jagd: Riga

Auf zur Birkhahnjagd

Kampf in der Arena

Neuerliche Pirsch auf den Kleinen Hahn

Ein wahres Spielhahn-Frühjahrsspektakel

„Wanderer von der Krim“ & Frühlingsboten

Karu, der Braunbär

Beginn in Tartu

Über die Bärenjagd

Ankunft in Estland

Auf zur Bärenjagd!

Was für Schaufeln!

Beginnen wir ganz vorn …

Allgemeines zur Elchjagd in Estland

Zurück in das Jahr 1995 …

Am nächsten Tag

Erfolgreicher Jagdtag

Unter einheimischen Jägern

Dieser Feisthirsch war kein Gespenst

Die Jagdzeit auf Geweihte steht vor der Tür

Den Teckel an der Seite

Nach der Rapsernte

Die Binnendüne Klein Schmölen

Wieder im Revier

Such' verwundt!

Wieder mal auf Muffel

Erster Ansitz in Kladubry

Jagen mit Karel

Schaufeln und Kronen

Ein herrliches Mecklenburger Revier

In Brandenburg

Ein Erntehirsch

Erneute Pirsch auf kapitale Beute

Belarus und vereitelte Jagdpläne

Bescheidene Beute

Vorwort

Die Meinungen zu einem Vorwort sind geteilt. Flüchtig überfliegen kann man es ja mal, aus Höflichkeit, oder weil es vielleicht doch einige verborgene, interessante und neue Aspekte beinhaltet …? Aber nur, wenn es kurz ist! Am besten, es passt auf eine einzige Seite, vielleicht ein wenig darüber ...

Also, dann will ich mich beschränken in meiner Begründung, warum die Länder des Baltikums schon über Jahrzehnte hinweg so einen Reiz auf mich ausüben.

Zum einen und ersten ist es die Natur. Mein grünes Herz wird magisch angezogen von ausgedehnten Mischwäldern, von den mich besonders faszinierenden, einsamen und verwunschenen Moorlandschaften, von den immer wieder ein neues Bild zeigenden Wassern der Ostsee und ihrer Inseln und schließlich auch von den unzähligen idyllischen Binnenlandseen oder den sachte dahin mäandernden Flüssen.

Zum zweiten und besonderen ist es die Begegnung mit der Vergangenheit, manchmal sogar mit der eigenen. So wie dort der Pfad aus dem kleinen litauischen Dorf zum See hinführt, so wanderte ich als Pennäler vom Elternhaus zum Badesee. So wie dort das Vieh eines kurländischen Bauernhofes auf die Weide gebracht wird, habe ich Großvaters Kühe des Morgens zum Melken in den Stall geholt und danach wieder ausgetrieben. So wie der alte Holzkahn dort in einer Bucht an der estnischen Ostsee vor sich hin dümpelt, habe ich ihn in den Ferien mit den Brüdern vom schon halbmorschen Pfahl befreit, und wir sind im gleichen Meer gerudert.

Und die fernere Vergangenheit erst! Von ihr künden Stadtmauern, Festungen und Ordensburgen, Wohn- und Speicherhäuser der Kaufleute, Rathäuser und alte Schänken, auf dem Lande die Guts- und Herrenhäuser und einsame, der Landschaft angepasste Schlösser. Untrennbar verbunden ist die Gegenwart mit den Menschen, die jetzt dort leben und mit denen ich vielfältige, inhaltsreiche Kontakte hatte und oftmals ausführlich über die Vergangenheit und Zukunft gesprochen habe.

Zum dritten und letzten meiner kurzen Begründung für meine Liebe zum Nordosten ist natürlich – untrennbar verbunden mit Punkt eins – die Jagd in den ungestörten und menschenleeren Revieren zu nennen. Packende Erlebnisse wurden mir geschenkt auf der klotzigen Fährte des Elches, beim Angehen des Rothirsches in der Brunft, bei Mondscheinpirsch und Ansitz auf Sauen, bei Frühsommer- und Blattjagden auf den roten Rehbock, bei der Erbeutung von Fuchs, Dachs und Marderhund und nicht zuletzt bei der Flugwildjagd auf Enten und Gänse, als seltene Beute auch Birkhahn und Schnepfe. In meinen letzten Büchern finden sich immer Geschichten rund um diese mich so erfüllenden Erlebnisse.

Im ganz knappen Überblick habe ich so zusammengefasst, was mein Herz bewegt. Alles konnte ich nicht beschreiben, denn es gibt tausend und mehr Gründe, auf der Route der Kraniche in die baltischen Länder zu reisen. Sie, meine Leser, haben mich weiterhin bestätigt in dem Gedanken, auch meine Jagdfreunde zu Wort kommen zu lassen und ihren Eindrücken Raum zu geben, ihre Erlebnisse dem Vergessenwerden zu entreißen. So danke ich Gunther und Wilfried für ihre Geduld, auch wenn ich manchmal hartnäckig nach weiteren Einzelheiten gefragt habe.

Vernachlässigen wollen wir aber auf keinen Fall das heimische Weidwerk, das uns doch so nachhaltig erfüllt. Auch Abstecher und damit Reisen im grünen Gewand in andere Himmelsrichtungen haben durchaus ihren hohen Reiz, und deswegen habe ich einige von ihnen mit in meine vorliegenden Erzählungen aufgenommen. Welch' bunte Fülle bietet doch das einfache Wort „Jagd“!

Damit habe ich es geschafft – nur ein wenig darüber … Nun wünsche ich viel Freude und Lesevergnügen beim Verfolgen facettenreicher, starker Erlebnisse bei der Jagd im Baltikum und anderswo.

Mit Weidmannsheil

Ihr Gerhard Böttger

Winsen/Luhe-Borstel, 2025

Der Schütze an seiner Beute

Die Brunft der großen Geweihten

Die Jagd in baltischen Revieren vergisst man nicht. Nur zu oft sah ich im Geiste die abgelegenen, oftmals fast wildnishaften Landschaften und ihre Bewohner vor meinen Augen auftauchen. Da trollte das Elchtier mit Kalb in das Weidendickicht, da zog im diffusen Licht des Oktobermondes der grobe Basse über den Grünschlag, misstrauisch äugte der alte Bock aus dem Unterholz.

Ich wollte die Wildbahnen, in denen ich schon so viel erlebt hatte, wieder besuchen und nahm Verbindung auf.

Mit Vitas hatte ich erst einmal zusammen gejagt, dabei war mir in hohem Maße seine Kunst des Flintenschießens aufgefallen. Als mein Nachbar bei einer groß angelegten Entenjagd auf dem Rubikiai-See im Nordosten des Landes, wo wir sehr guten Anflug hatten und eine hohe zweistellige Strecke legen konnten, sah ich nicht nur eine Dublette bei ihm fallen. Beim anschließenden Schüsseltreiben unterhielt ich mich mit ihm u. a. über die bemerkenswerte geschichtliche Vergangenheit des uns nächsten baltischen Landes. Vitas hatte drei Jahre in Deutschland als – man höre und staune – System-Elektroniker gearbeitet und sprach ein sehr gutes Deutsch. Litauische Geschichte war sein Hobby.

Im nächsten Jahr wollten wir zusammen jagen, und es wurde Wirklichkeit.

Einiges über Litauen …

… wusste ich selbst, vieles, was er mir erzählt hatte, fiel mir ein, als ich also im darauffolgenden Jahr im Morgengrauen eines frühen Oktobertages auf einer Anhöhe über dem genannten See stand und weit nach Osten schauen konnte.

Welcher Besucher dieses schönen Landes weiß denn überhaupt, dass seine Grenzen im 14. Jahrhundert bis 100 Kilometer vor Moskau reichten, im Süden von den Gestaden des Schwarzen Meeres gebildet wurden und damit Litauen zum größten Land in Mittel- und Osteuropa machten? Diese riesigen Gebiete wurden von dem kriegerischen Großherzog Gediminas und seinen Nachfolgern dem Reich einverleibt. „Litua“ als Land wurde erstmalig schon vor 1000 Jahren in den Quedlinburger Annalen erwähnt. Als Vorfahren der Litauer gelten mehrere baltische Volksstämme, die 1235 vom späteren König Mindaugas I. vereinigt wurden. Erst nach dem Zerfall der Staatenbündnisse mit Polen (1795) fiel der Großteil der litauischen Territorien an Russland.

Die spätere Geschichte des nunmehr kleinen Litauens ist eher bekannt. 1918 errang es erneut seine Unabhängigkeit, die aber nur bis zum Einmarsch der Sowjets 1940 währte. Dann geriet das Land unter deutsche Kontrolle, bis die Rote Armee es im vorletzten Kriegsjahr des Zweiten Weltkrieges von den Truppen der Deutschen Wehrmacht zurück eroberte. Die Jahre danach waren geprägt von Unterdrückung und Deportationen. Als Teil der Sowjetunion galt Litauen bis zum 11. März 1990, als es sich mit der Unabhängigkeitserklärung von dem im Zerfall begriffenen Riesenreich lossagte. Seine Einbindung in die Reihe der selbstständigen Staaten festigte das Land kurz darauf mit dem Beitritt zur UNO und 2004 zur Europäischen Union und zur NATO.

2015 sollte der wiederholte Anlauf, den Euro als Währung einzuführen, von Erfolg gekrönt werden. Durch die gute wirtschaftliche Entwicklung der letzten zehn Jahre konnten die Aufnahmekriterien voll erfüllt werden.

Der erste Tag in litauischen Jagdgründen hatte sporadisch Anblick gebracht, aber ich war noch nicht in die Lage gekommen, den Spannschieber an meinem Drilling betätigen zu müssen. So hatten wir viel Muße gehabt, uns über Litauen, Gott und die Welt zu unterhalten.

Die alten, traditionellen Holzhäuser sind noch hier und da zu finden.

Die Holztür, die den gemütlichen Aufenthaltsraum des Forstamtes nach außen abschloss, knarrte. Vitas hatte Nachschub geholt, stellte die Flaschen auf den Tisch und schenkte nach.

„Auf Litauen!“ Ich hob mein Glas und prostete meinem Jagdführer zu. Vitas lachte und tat mir gerne Bescheid. Im weiteren Gespräch kramte er eine Euro-Münze hervor, wies auf den darauf abgebildeten – ich sah genauer hin – Ritter und fragte mich: „Weißt du, wer das ist?“

Ich wusste es nicht und versuchte zu raten: „Mindaugas vielleicht?“

„Nein“, schmunzelte er und freute sich ein bisschen über meine Unwissenheit in diesem Fall, „du musst ihn schon mal gesehen haben. Es ist Vytis, der weiße Ritter aus dem Staatswappen. Siehst du, wie er sein Schwert über dem Kopf schwingt? Auf seinem Schild in der Linken sieht man das Doppelkreuz der Jagiellonen, unseres alten litauischen Herrschergeschlechtes!“

Dann klärte er mich über den Vytis (Verfolger) ein wenig auf. Schon im 15. Jahrhundert wurde der geharnischte Reiter zum Staatssymbol des Großfürstentums Litauen und gilt heute mit seiner Ausstrahlung von persönlichem Kampfesmut, Kraft und Macht als Sinnbild für die Souveränität des Landes. Kein Wunder, dass der weiße Ritter auf allen litauischen Euromünzen erscheint!

„Hat Vytis auch Keiler gejagt?“, fragte ich dann, um mal wieder die jagdliche Seite ins Gespräch zu bringen. Die Antwort hörte sich gut an: „Natürlich, mit der Lanze! Und du wirst in einer Woche, wenn wir nachts pirschen können, einen mit dem Feuergewehr erlegen.“

So? Na gut. Aber was sagt meine Frau immer zu mir, wenn ich wieder geschworen habe, 100 Gramm Alkohol weniger zu trinken: „Das wirst du mir aber erst beweisen müssen!“

Wir verabschiedeten uns, und für mich hieß es: Ab in die Koje!

Vor dem Oktobermond

Sobald sich dieser in anderthalb Wochen voll und rund und lichtstark präsentieren würde, sollte es also den Schwarzkitteln an die Schwarte gehen. Im letzten Jahr hatte ich einen von drei Keilern an der Kirrung geschossen, die anderen beiden fielen des Nachts auf der Pirsch in den weit sich hin ziehenden Ödländereien. Zwischen Halb- und Vollmond hatten wir die besten Erfolge erzielt. Das ganz volle und runde, hell leuchtende Nachtgesicht würde mich schon wieder im heimatlichen Revier jagen sehen. Doch noch waren die Lichtverhältnisse für eine Pirsch zwischen 23 und 4 Uhr, „wenn Keiler spazieren“, nicht ausreichend.

In diesem Jahr wollte ich meine Chance in der Spätbrunft des Rotwildes auf einen guten Durchforstungshirsch oder einen Alten und Starken suchen. Mit den köstlichen Gedanken an starkstangige und der Vorstellung von noch beim Kahlwild stehenden Geweihten schlief ich ein.

Über alle Maßen genoss ich am folgenden Morgen das Wiederhineintauchen in das zum großen Teil schon bekannte riesige Revier. Nach dem Morgenansitz, der uns Anblick von Rehwild und einem Rottier mit Kalb brachte, schlossen wir eine weite Pirsch zum Abfährten an, die mir viele landschaftlich reizvolle Ecken des Revieres wieder in Erinnerung brachte.

So kamen wir auch an den längsten Fluss, der sich komplett auf litauischem Territorium befindet. Im feuchten Sand am Ufer der Sventoji, die mäandernd und ganz sachte fließend diese Landschaft durchzieht, hatten drei Stück Rotwild frische Trittsiegel hinterlassen, auf die mich mein Jagdführer aufmerksam machte. Hatte er auch die deutlich ausgeprägten Stümpfe der Hirschfährte bemerkt? Das hatte ich doch vor über 30 Jahren schon von Wildmeister Christian Janke in Auermühle gelernt, auf dieses Alterszeichen des Rothirsches besonders zu achten. Das konnte kein Schneider sein, hier war ein bejahrter Recke mit Tier und Kalb gezogen!

Er zeigte sich uns jedoch nicht, aber einmal war aus der Ferne ein verwehter Schrei zu hören, der uns inspirierte, an dem dortigen, von neu aufkommender Krautvegetation überwucherten Kahlschlag am Abend auf einer Kanzel anzusitzen. Ein Überläuferkeiler vertrieb uns die Zeit, ein Rehbock und zwei Marderhunde ließen sich kurzfristig blicken, aber vom Edelwild war nichts zu sehen und zu hören.

Warum verging mir in östlichen Gefilden die Zeit immer so schnell? Schon zog der dritte Morgen herauf – und das war ein besonderer!

Nacht und Tag zankten sich noch eine Weile um ihre Herrschaft, aber dann war es entschieden, mit Macht schickte die aufkommende Helligkeit die das Wild verbergenden Schatten nach Westen fort. Übersichtlich lag die schmale und an Fläche nur kleine Blöße vor mir und mitten drauf – niedergetan mit dem schweren Haupte zum jenseitigen Waldrand hin – ein Hirsch! War er es, der die Fährte am Ufer der Sventoji hinterlassen und sich damit verraten hatte? Auf der noch imposanteren Fährte des Elchhirsches war ich in diesem Revier im vorletzten Jahr erfolgreich gepirscht – diesmal galt es ihm, dem Rothirsch in der Nachbrunft!

„Du hast eine gute Chance“, durchzuckte es mich und sagte ich zu mir selbst, denn die Entfernung bis zu ihm hin würde die große Kugel aus dem bewährten Drillingslauf unschwer überbrücken.

Dabei war mir klar, dass jetzt nach den aufreibenden Wochen des Kampfes und der Minne der Hirsch wahrscheinlich nicht so schnell hoch werden würde. Außerdem, wer kennt nicht die Jagd – alles Mögliche konnte noch passieren, und wenn das einzige Alttier, dass zehn Meter neben seinem Gebieter ebenfalls der Ruhe pflegte, Wind bekommen, irgendeinen Unrat wittern und abspringen würde, wäre auch der Hirsch mit wenigen raumgreifenden Fluchten im Bestand verschwunden. Ein Kalb konnte ich nirgends erspähen.

Also warten, Minuten der Anspannung, in der mir die Begebenheiten der vergangenen Tage und der Jahre in diesem Revier wieder und wieder durch den Kopf gingen. Diese Ferne hatte ich mal wieder gesucht, die geographische Ferne vom trauten, geliebten Heim und mehr noch die Ferne von der Hektik und dem Hasten der Zivilisation. Die Sorgen und Reibungen und besonders den Lärm der übervölkerten Straßen und Siedlungen wollte ich eintauschen gegen stillen, goldenen und kiefern- und fichtengrünen Herbstwald, in dem neben dem Rauschen des Windes in den Baumkronen das Orgeln der Rothirsche und das variationsreiche Rufen der Kolkraben, der mich hier so oft begleitenden Wotansvögel, die Geräuschkulisse darstellen.

Rotwildbestand

In diesem Revier ist der Bestand an Rotwild eher als gering zu bezeichnen, aber die Brunft in der zweiten Septemberhälfte und in die ersten Oktobertage hinein soll sehr lebhaft gewesen sein. Danach war dieser Alte spurlos verschwunden. Er hatte tausend Möglichkeiten, in den wilden, undurchdringlichen Jagen1 einen Ruheplatz zu finden und sich unsichtbar zu machen.

Hatte ihn das spätbrunftige Tier noch mal aus diesem Reich hervorgelockt?

Das Jagdfieber, das Hirschfieber, meldete sich wieder in mir, und unruhig rutschte ich auf dem in die Erde gerammten Sitzstock hin und her. Die Kanzel war bei dem auf Ost umgeschlagenen Wind nicht zu beziehen gewesen. Natürlich ließ ich den Hirsch, der so in einer leichten Senke niedergetan war, dass man nur Haupt und Träger sehen konnte, nicht aus den Augen. Unablässig zählte ich immer wieder die Enden der stolzen Trophäe. Mit „sechs und sieben“, wie man sich hier auszudrücken pflegt, war es also ein ungerader Vierzehnender. Die linke, lang und gerade, war eine Zwölferstange, die rechte, leicht eingebogen, trug die vier weiß gefegten Enden als Becherkrone. Dunkel und nachtschwarz wirkten die wuchtigen Stangen im ersten klaren Morgenlicht. So gut und so lange Zeit wie ich jetzt hatte Vitas den Hirsch niemals vorgehabt, er hatte mir nur von einem starken Platzhirsch berichten können, der mitten in einem der dschungelartigen „wilden Jagen“ gebrunftet hatte und den niemand beim schnellen Queren der schmalen Schneisen genau hatte ansprechen können. Er hatte alle nur genarrt, der Heimliche, der Vorsichtige, und auch jetzt konnte ich es kaum realisieren, dass ich den so lange Gesuchten bei mittlerweile bestem Büchsenlicht schon eine halbe Stunde vor hatte.

Schade, dass Vitas diesen Anblick nicht mit mir teilen konnte; er wollte dringend die Saukirrungen beschicken und hatte hinterher noch einen Holzaufkäufer zu betreuen. Nun, ich hatte mir Vertrauen erworben und jagte nicht zum ersten Mal auf eigene Faust in diesem Revier.

Das Klong-Klong und den fauchenden Schwingenschlag des über mir dahinstreichenden Kolkraben nahm ich kaum wahr und ignorierte die helle Ruffolge des Schwarzspechtes, der mich wohl ausgelacht haben wird in meiner Anspannung.

Keinen Blick mehr auf die alte Wetterfichte mit ihren silbergrünen und grauen Flechtenfahnen, die ich vorher die ganze Zeit bestaunt hatte, das Leuchten der Birkenstämmchen in der höher steigenden Sonne nahm ich nicht mehr zur Kenntnis, das Gewisper des Schwanzmeisenvolkes hörte ich kaum – denn da vorne war plötzlich Bewegung! Narrten mich meine Augen?! Ein Elch, ein junger Stangler, im Troll vor dem Waldrand, direkt auf das Hochzeiterpaar zu! Das Tier wurde sofort hoch, und plötzlich war auch der Rothirsch nicht mehr der dösende und abgekämpfte Veteran, sondern stand absprungbereit und äugte zu dem großen Vetter hin, der eine Schrotschusslänge weiter in den Schritt verfiel und alsbald zu äsen anfing. Doch dem Alttier behagte diese Gesellschaft gar nicht, schon durch das Zielfernrohr sah ich es in den Bestand hinein verschwinden, der Hirsch sofort hinterher, nicht einmal verhoffend oder sich breit zeigend. Weg waren sie, hatte ich eine fast hundertprozentige Chance vertan?

Keinen Gedanken verschwendete ich an den Elch, der sowieso nicht frei war, aber siedend heiß fiel mir ein, eventuell den Tageseinstand des Rotwildes zu kennen. Sobald ich den Rucksack übergeworfen und den Drilling auf der Schulter hatte, eilte ich auch schon los.

Wenn ich Recht behielt, mussten sie, mussten sie eine bestimmte Schneise überqueren. Eine der wenigen in diesem Revier vorhandenen Leitern stand dort am Rand, von der aus man Einblick in einige Lücken und Blößen und in eine von Rot- und Schwarzwild gern aufgesuchte Suhle hatte. Dahinter der riesige, dicht verwachsene und aus irgendwelchen Gründen niemals durchforstete Bestand, in dem alles Schalenwild, was hier vorkam – und auch Meister Isegrim, der Wolf und das andere Raubwild – nur zu gerne ihren Tag in Stille und Heimlichkeit verbrachten.

Noch keuchend vom schnellen Marschieren mit Laufeinlagen baumte ich auf. Kurz blickte ich durch das Astgewirr nach oben, wo sich ein Keil Gänse scherenschnittartig vom graublauen Himmel – die Sonne war hinter Wolken verschwunden – abhob und zusätzlich „von oben“ den Herbst, die schönste Jahreszeit für den Jäger, symbolisierte.

Griff- und schussbereit lag mir der Drilling für den Fall auf dem Schoß, dass sich meine Hoffnung und Erwartung erfüllen sollten, dass Tier und Hirsch auf dem Wechsel in diesen Tageseinstand unterwegs waren. Hoffentlich nicht wieder eine Störung – wobei, zugegebenermaßen, eine Störung durch einen Elch schon sehr selten und „irgendwie originell“ war.

Gerade hatte ich noch daran gedacht – da ging es los in meinem Rücken, voll in meinem Wind: Lautes, tiefes Schrecken von Rehwild, von einem Bock! Entsetzt drehte ich mich um und sah gerade noch den Gehörnträger nach hinten weg mit hohen Fluchten die Schneise überfallen. Noch ein paar empörte Laute aus der Ferne, dann hatte er wohl seiner Meinung nach den Sicherheitsabstand zu dem so plötzlich aufgetauchten Zweibeiner wieder hergestellt und verschwieg. Der Schwarzspecht fand das im Gegensatz zu mir urkomisch und lachte lauthals.

Würde nach dieser Warnung das Rotwild hier noch auftauchen? Das war die alles entscheidende Frage, die mir fieberhaft durch den Kopf ging. In mir breitete sich langsam das niederträchtige Gefühl aus, im vollen Anblick des Hirsches etwas versäumt zu haben.

Ich fasste den Entschluss, noch eine Stunde sitzen zu bleiben, und man kann sich denken, dass mir in dieser Zeit allerlei durch den Kopf ging. Anblick gab es nicht mehr, irgendwann schaute ich auf die Uhr und stellte fest, dass ich sogar fünf Viertelstunden ausgeharrt hatte. Eine enttäuschte Leere war in mir, ich wollte mir etwas gönnen und fingerte in der Joppentasche nach dem Zigarren-Etui. Hier wollte ich jedoch nicht bleiben, ich brach auf. Als ich das Wasser der Sventoji wieder durch die Bäume schimmern sah, suchte ich mir ein moosiges Polster zum Hinsetzen und brannte mir den ersehnten Tabak an.

Die von den bizarren Wolkengebilden wieder freigegebene Sonne war längst über die Baumwipfel geklettert und tauchte die idyllische Fluss- und Waldlandschaft in ihr strahlendes Licht. Der Wind hatte aufgefrischt und nahm begierig die blauwürzigen Duftfahnen des guten Krautes über meine Schulter nach hinten mit.

Die Leere in mir jedoch blieb, und ich dachte schon an den Abend und an den morgigen Tag, schmiedete Pläne für den Jagdeinsatz und hätte gern in diesem Moment die Meinung des einheimischen Jagdführers eingeholt. „Wenn Hirsch liegt, dann nachts auf Sauen und am Tag mit Flinte auf Gänse und Enten – sehr lustig“, hatte Vitas, dem, wie gesagt, die Flugwildjagd über alles ging, zu mir gesagt. Das hatten wir auch schon des Öfteren durchexerziert, wozu ich mir, da ich immer eine Büchse führte, eine Doppelflinte von ihm geliehen hatte. Die brauchte ich diesmal nicht, denn die glatten Läufe meines Drillings schossen auch wie Gift.

Aber jetzt, so nah am Hirsch, würde die laute, frohe Jagd auf die Breitschnäbel zurückstehen müssen. Auf alle Fälle würde ich auch die nächsten Tage „noch am Hirsch bleiben“. Mit diesem gefassten Entschluss wurde mir wieder etwas wohler.

Das gute Kraut aus Kuba rauchte ich noch zu Ende, dann musste ich sowieso aufbrechen, um einigermaßen pünktlich den mit meinem Jagdführer verabredeten Treffpunkt zu erreichen. Eine halbe Stunde kam ich zu spät, aber das gibt es auf der Jagd immer mal wieder. „Nitschewo“ sagt man auch hier, warten nimmt man nicht krumm – das ist Freizeit, da kann man ausruhen, in Ruhe rauchen und seinen Gedanken nachhängen …

Noch etwas aufgeregt erzählte ich dann, wie sich alles seit dem frühen Morgen, als ich den Hirsch so lange im Bett sitzend vor hatte, bis jetzt entwickelt hatte. Gebannt hörte Vitas zu, schüttelte den Kopf und bemerkte nur: „Jagd ist immer neu, immer anders! Aber jetzt kennen wir den Hirsch, alt, sechs und sieben, schwarze Stangen!“

Am späten Nachmittag fuhren wir bereits hinaus und bezogen eine mir bis dahin nicht bekannte Leiter in der Nähe der besagten Blöße, meines Morgenansitzes. „Von hier sehen wir auf den Hauptwechsel, vielleicht schreit er auch noch“, äußerte Vitas und gab damit die Begründung für diese Ortswahl.

Es sah so aus, als ob dieser Geweihte nur dieses eine, wahrscheinlich spätbrunftige Tier ohne Kalb bei sich hatte. Wo wollte dieses Stück des Abends zur Äsung ziehen? Einmal kam die bekannte Blöße in Frage, auf der anderen Seite zog das Schalenwild aus der Einstandsdickung auch sehr weit bis an den Fluss, wo verschiedene mehr oder weniger große Grünflächen noch saftige Äsung trugen. Bei beiden Varianten musste zunächst der Wechsel angenommen werden, den wir jetzt auf knapp 100 Meter im lückigen Bestand einsehen konnten. Würden die späten Hochzeiter woanders auswechseln wollen, hatten wir Pech gehabt, man kann nicht überall sein …

Nun, es sei kurz gesagt: Wir hörten und sahen nichts von dem ungeraden Vierzehnender. Auf der anderen Seite war es dieser Ansitz, der mir den meisten Anblick in diesem Revier brachte, den ich jemals gehabt habe: Ein Elchtier mit Kalb, ein Rottier mit Spießer und Kalb, Rehbock und Ricke, ein Dachs und eine Marderhundfähe mit zwei sich in der Größe kaum noch vom Muttertier unterscheidenden Junghunden. „Normalerweise“, wenn man einfach zum herbstlichen Ansitz gegangen wäre, wäre man zu Schuss gekommen.

Vitas war jedoch völlig mit mir einer Meinung, dass wir einem bestimmten Stück auf der Fährte waren und nicht „irgendetwas“ mit nach Hause bringen wollten.

Als wir ganz spät abbaumten, weil wir das Familienrudel Rotwild nicht vertreten wollten, schrie eher verhalten als laut ein Hirsch in der Dickung! Es war dunkel, und wir sahen zu, dass wir den Weg zum abgestellten fahrbaren Untersatz fanden, ohne uns die Beine zu brechen, denn geharkte Pirschpfade gab es hier nicht! Ein unwilliges und grimmiges Knören folgte uns und bestärkte uns in dem Entschluss, den Hirsch morgen früh hier wieder zu suchen.

Am folgenden Tag fuhren wir beim ersten Büchsenlicht durch das riesige Waldgebiet an der Sventoji, wollten den alten japanischen Geländewagen wieder am üblichen Platz, einer Verbreiterung der von Löchern und tiefen Fahrspuren übersäten Forststraße, abstellen.

Ich fasste wegen des Geholpers durch die jetzt fast ausgetrockneten Pfützen meine bewährte Jagdwaffe fester. Wir würden gleich da sein, passierten schon die breite Schneise, die nach Osten zu einem weit sich hinziehenden Moorgebiet von unserem Weg abzweigte. Am Rande stand da doch etwas … Rotwild, ein Tier. Schon waren wir vorbeigefahren.

Ich muss gestehen, dass ich nicht sofort, sondern mit Sekundenverzögerung schaltete. Es wäre auch übertrieben zu sagen, dass ich das Stück erkannte. Aber es war allein, und wenn es das Stück „unseres“ Hirsches war, dann …

Vitas hatte etwas gemerkt, trat auf die Bremse und sah mich fragend an. „Fahr' weiter“, zischte ich ihm zu, denn in Sekundenschnelle hatte ich einen Plan im Kopf, eine Jagdart, die verschiedentlich auf Reh- und Rotwild in heimischen Revieren zum Erfolg geführt hatte.

Schnell erläuterte ich meinem Jagdführer das Vorhaben, und er verstand. Hundert Meter weiter stoppte er kurz das Fahrzeug, ich sprang heraus, und schon holperte er, absichtlich mal laut Gas gebend, davon. Einen halben Kilometer weiter sollte er anhalten und auf mich warten. Wie gesagt, Warten war etwas Schönes. Vitas, der passionierte Jäger, war sowieso gleich Feuer und Flamme gewesen, er hatte es gerne, wenn Jagdgäste Initiative zeigten. Aufgeregt grinsend raunte er mir noch ein „Weidmannsheil“ hinterher, das ich kaum noch hörte, denn im Eilmarsch war ich schon unterwegs zurück. Ob das Tier dort noch stand und am Wegrand äste?

War der Hirsch dabei?

War es „der“ Hirsch? Dann sollte er mir nicht noch einmal auskommen! In der linken Hand den zweibeinigen Zielstock, mit der Rechten den noch auf der Schulter befindlichen Drilling fixierend, wurde ich kurz vor der Abzweigung langsamer, noch langsamer und lugte dann vorsichtig mit vorgerecktem Kopf um die Ecke.

Was ich dann auf den ersten Blick sah, puschte mir den ohnehin nicht langsamen Puls noch höher, und ich werde dieses Bild nie vergessen: Aus den noch kaum die Herbstfarben zeigenden Büschen am rechten Waldrand schaute ein mächtiges, grimmes Hirschhaupt – und was da auffallend dunkel, nachtschwarz hatte ich es doch genannt, über diesem Haupt schaukelte, erkannte ich im Glas sofort wieder – er war es!