Weihnachten am Siljansee - Linnea Holmström - E-Book

Weihnachten am Siljansee E-Book

Linnea Holmström

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Beschreibung

Verschneite Wälder, hell erleuchtete Häuser - so schön ist der Winter in Schweden!

Der Schnee knirscht unter den Stiefeln, und in den langen Nächten funkeln die Sterne. Wie verzaubert scheint die winterliche Welt am Siljansee. Doch Per aus der hektischen Großstadt hat für all das keinen Sinn. Er will das geerbte Kinderheim so schnell wie möglich wieder loswerden. Allerdings hat er nicht mit der kleinen Lotta gerechnet - und dann ist da auch noch die hübsche Inger ...

Märchenhafte Winterlandschaften, duftende Pfefferkuchen und eine herzerwärmende Liebesgeschichte - nicht nur zu Weihnachten die ideale Lektüre für alle Schwedenurlauber und Fans romantischer Romane!

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Seitenzahl: 328

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumMottoWidmungWeihnachten am SiljanseeRezepte

Über das Buch

Der Schnee knirscht unter den Stiefeln, und in den langen Nächten funkeln die Sterne. Wie verzaubert scheint die winterliche Welt am Siljansee mit den festlich geschmückten und hell erleuchteten Häusern. Doch Per aus der hektischen Großstadt hat für all das keinen Sinn. Er will das geerbte Kinderheim so schnell wie möglich wieder loswerden. Allerdings hat er nicht mit der ebenso hübschen wie engagierten Inger gerechnet, die das Kinderheim leitet … Märchenhafte Winterlandschaften, duftende Pfefferkuchen und eine zauberhafte Liebesgeschichte Mit original schwedischen Rezepten

Über die Autorin

Linnea Holmström ist begeistert von der Weite und der Vielfalt Schwedens – einem Land im hohen Norden, das zu jeder Jahreszeit seinen ganz besonderen Reiz hat. Deshalb liebt sie es, durchs Land zu reisen und ihre Erlebnisse in Romanen festzuhalten, die vom Leben, Leiden und Lieben der Schweden erzählen. »Irgendwo ist immer Frühling« ist nach »Weihnachten am Siljansee«, »Sommerglück auf Reisen«, »Elche im Apfelbaum« und »Im Himmel ist der Herbst wie Sommer« der fünfte Roman der Autorin.

Linnea

Holmström

                                Schweden-Roman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2021 und 2011 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Hanna Granz

Titelillustrationen: © Gettyimages: PinkBadger | lagereek | Nastco

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-9535-8

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

 

Midvinternattens köld är hård,

stjärnorna gnistra och glimma.

Alla sova i enslig gård

gott intill morgontimma.

Månen sänker sin tysta ban,

snön lyser vit på fur och gran,

snön lyser vit på taken.

Endast tomten är vaken.

(Viktor Rydberg, Tomten)

(Dt. Übersetzung: »Die Kälte in der Mittwinternacht ist hart / die Sterne glitzern und leuchten / alle schlafen im einsamen Hof / tief in der Mitternachtsstunde. / Der Mond wandert seine stille Bahn / der Schnee leuchtet weiß auf Fichte und Tanne / der Schnee leuchtet weiß auf den Dächern / nur der Tomte ist wach.« Viktor Rydberg, Tomten)

 

Für Agnes

 

 

Lasse!«, rief Inger laut. Sie hatte die Hände vor dem Mund zu einem Trichter geformt und stapfte durch den tiefen Schnee. »Lasse, wo bist du?« Aufmerksam schaute sie sich nach allen Seiten um und hoffte, dass der kleine schwarz-weiße Hund schwanzwedelnd und laut bellend auf sie zu stürmte.

»Ist der kleine Racker mal wieder abgehauen?« Gustav Andersson hielt in seinen Bemühungen inne, eine Gasse in den Schnee vom Haus zur Straße zu schippen. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung, und die kurze Pause schien ihm mehr als willkommen. Mit beiden Händen stützte er sich auf dem Stiel der Schneeschaufel ab.

»Hej, Gustav.« Inger blieb stehen, strich sich eine Strähne ihres blonden Haares aus der Stirn und lächelte nervös. »Ich habe ihn vor Stunden nach draußen gelassen«, erklärte sie und schaute in den wolkenverhangenen Himmel. »Bei dem Wetter mache ich mir natürlich Sorgen. Er bleibt sonst nie so lange weg.«

»Er kommt schon wieder. Spätestens wenn er Hunger hat«, meinte Gustav gemütlich und wechselte das Thema. Es war ja nicht das erste Mal, dass Lasse auf Freiersfüßen wandelte. Inzwischen war das im ganzen Dorf bekannt, und jeder wusste, dass er oft nach tagelanger Abwesenheit nach Hause zurückkam.

»Ich habe gehört, Augustas Neffe kommt heute?« Gustav schaute sie neugierig an.

»Ja, das habe ich auch gehört«, nickte Inger.

Gustav trat dicht an sie heran und flüsterte ihr vertraulich zu: »Er soll ziemlich reich sein und in Stockholm eine eigene Firma haben. Und Lisbet hat erzählt, dass er ganz allein in einer riesigen Wohnung direkt am Strandvägen wohnt.«

Inger kannte die Prachtstraße entlang des Nybroviken in Stockholm. Wer sich dort eine Wohnung leisten konnte, musste es im Leben weit gebracht haben. Beeindruckt war sie deshalb aber nicht. Sie wunderte sich vielmehr darüber, wie viel die Dorfbewohner bereits über Augustas Neffen herausgefunden haben wollten, und fragte sich, woher sie ihre Informationen bekamen. Sie selbst hatte bis vor Kurzem nicht einmal gewusst, dass es diesen Neffen überhaupt gab, dabei war sie Augustas engste Vertraute gewesen.

»Wer weiß, was das für ein aufgeblasener Fatzke ist«, fuhr Gustav nachdenklich fort. Es war allgemein bekannt, dass er eine Abneigung gegen Großstädter hegte, die er allerdings nicht begründen konnte. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass er selbst nie weiter als bis nach Leksand gekommen war.

»Hoffentlich nimmt er euch nicht das Kinderheim weg«, fuhr Gustav fort, und es klang ganz so, als wäre auch das ein Thema, das bereits ausführlich unter den Dorfbewohnern erörtert worden war.

»Warum sollte er das tun?«, fragte Inger verwundert.

»Da es außer ihm keine weiteren Verwandten gibt, erbt er doch bestimmt alles, was Augusta besaß«, erwiderte Gustav. »Dazu gehört auch das Kinderheim.«

Inger schüttelte den Kopf. »Augusta besaß lediglich das Haus, in dem das Kinderheim untergebracht ist.« Streitlustig reckte sie das Kinn in die Höhe. »Aber selbst wenn es nicht so wäre, ließe ich mir ganz bestimmt nicht die Kinder wegnehmen.«

Ein breites Grinsen erschien auf Gustavs Gesicht. »Recht so«, lobte er. »Lass dir von diesem Großstädter bloß nichts gefallen.«

»Das habe ich nicht vor«, sagte Inger noch immer angriffslustig, im nächsten Moment musste sie über sich selbst lachen. »Aber ich werde nicht zum Kampf blasen, solange ich Augustas Neffen nicht kenne. Vielleicht ist er ja ganz nett.«

»Und wenn nicht?« Gustav machte ein düsteres Gesicht. Offenbar hatte er heute einen besonders pessimistischen Tag. »Möglicherweise ist er das genaue Gegenteil von Augusta. Wieso hat er seine Tante nie besucht? Nicht einmal zur Beerdigung ist er gekommen.«

Das war eine Frage, die das ganze Dorf bewegte. Auch Inger hatte sich darüber Gedanken gemacht, sich aber schließlich damit abgefunden, dass sie darauf nie eine Antwort finden würde. Es sei denn, dieser Neffe selbst fühlte sich berufen, ihr darüber Auskunft zu geben.

»Ach, Gustav«, seufzte Inger, »ich weiß es doch auch nicht. Lass uns einfach abwarten, bis er da ist. Ich will mich nicht vorher schon verrückt machen.«

Sie verschwieg ihm, dass sie sich durchaus Sorgen machte. Große Sorgen sogar, weil das Kinderheim derzeit finanziell arg in der Klemme steckte. Aber bisher hatten sie es immer geschafft, und Inger wollte nicht den Glauben daran verlieren, dass sie es auch weiterhin schaffen würden.

»Ich muss dann mal weiter«, verabschiedete sie sich von Gustav. »Grüß Gunda von mir. Sag ihr, ich bringe ihr in den nächsten Tagen das Rezept von Malena vorbei, um das sie mich gebeten hat.«

»Mache ich«, nickte Gustav. »Sobald meine Frau aus Leksand zurück ist. Der Wunschzettel unserer Kinder fällt dieses Jahr ein bisschen üppiger aus, sodass wir mit unseren Weihnachtseinkäufen früher anfangen müssen.« Er lachte über seine eigene Bemerkung.

Inger mochte im Moment nicht an Weihnachten denken, obwohl sie das Fest eigentlich liebte. Weihnachten, so fand sie, wurde erst durch Kinder richtig stimmungsvoll, und es war ihr jedes Jahr wichtig gewesen, dass ihre Kinder im Kinderheim ein schönes Fest erlebten. Dank Augusta Ekberg war ihr das bisher auch immer gelungen.

Inger ging langsam weiter. Sie rief und pfiff weiter nach Lasse, aber der schwarzweiße Mischling tauchte nicht auf. Die ersten Schneeflocken fielen zu Boden. Obwohl es erst kurz nach Mittag war, dämmerte es bereits, und in den Häusern wurden die ersten Lichter angezündet.

Vielleicht war Lasse inzwischen ja wieder zu Hause.

Mit dieser Hoffnung machte Inger sich auf den Rückweg. Sie beeilte sich nicht, obwohl es kälter geworden war. Die Schneeflocken fielen dichter, blieben auf ihren Schultern liegen.

Inger liebte Spaziergänge durch das Dorf, besonders um diese Jahreszeit. Am Sonntag war der erste Advent, und bereits jetzt waren die Häuser weihnachtlich geschmückt. Überall in den Fenstern hingen Weihnachtssterne und Lichter, die schon tagsüber leuchteten.

Die Hauptstraße des Dorfes führte vom Markt in Kurven hinunter zum Siljansee. Das letzte Stück der Straße bis zur Abzweigung führte an Wiesen und Feldern vorbei. Der Schnee ließ die Landschaft endlos erscheinen. Die dick verschneiten Eisschollen auf dem See bildeten eine bizarre Landschaft. An der Abzweigung ging es rechts zur Villa Pusteblume. Inger konnte sie bereits von hier aus sehen. Links ging es zu Augustas Haus, das hinter einer Wegbiegung ebenfalls am Seeufer lag. Von hier aus konnte man lediglich die hohen Bäume erkennen, die Augustas Grundstück umstanden.

Inger bog in den rechten Weg ein. Sie lächelte unwillkürlich, als sie sich der Villa näherte. Sie war in diesem Haus aufgewachsen, zusammen mit ihrer Schwester und vier Heimkindern, die ihr Vater damals betreut hatte. Es war ihr Zuhause, und Inger konnte sich nicht vorstellen, jemals woanders zu leben.

Zusammen mit den Kindern, die heute in der Villa Pusteblume lebten, hatte sie in den vergangenen Tagen das Haus geschmückt. Es war größer als alle anderen Häuser im Dorf. In der Mitte der Vorderfront führten Treppen auf eine Veranda, die durch den Balkon, der sich darüber befand, überdacht wurde. Das Geländer der Veranda war ebenso mit einer Lichterkette geschmückt wie das des Balkons. Wie kleine Eiskristalle leuchteten die Kerzen im Schnee.

Es war noch still im Haus. Bis auf Lotta waren alle Kinder in der Schule. Überall roch es nach Frischgebackenem. Malena stand in der Küche und zog ein Blech mit Lussekatter aus dem Backofen. Sie stellte es ab und wandte sich um, als Inger hereinkam.

»Hast du Lasse gefunden?«

»Nein«, sagte Inger. »Ich hatte gehofft, er wäre inzwischen wieder zu Hause.«

Malena schüttelte den Kopf. In ihrem Gesicht spiegelte sich die Besorgnis wider, die auch Inger spürte.

»Warten wir, bis die Kinder aus der Schule kommen«, schlug Malena vor. »Dann suchen wir alle zusammen noch einmal nach ihm.«

»Hoffentlich ist ihm nichts passiert.« Inger überlegte, wo sie noch nach dem kleinen Hund suchen konnte, bis Malena ihre Gedanken unterbrach. »Lotta ist den ganzen Vormittag nicht aus ihrem Zimmer gekommen.«

»Ich sehe nach ihr«, sagte Inger. Bevor sie hinausging, stibitzte sie zwei der noch warmen Lussekatter vom Blech und lachte nur, als Malena empört aufschrie.

Von der großen Diele führte eine Treppe in das obere Geschoss. Hier waren die Kinderzimmer untergebracht sowie Ingers und Malenas private Zimmer.

Inger und Malena gestanden den Kindern zu, was sie für sich selbst in Anspruch nahmen. Niemals wäre es ihnen eingefallen, einfach in die Kinderzimmer zu stürmen. Inger klopfte an und wartete, bis Lotta sie zum Eintreten aufforderte. Sie musste allerdings genau hinhören, um die ängstliche, zaghafte Stimme zu hören.

Das Mädchen saß auf dem Fußboden vor dem Bilderbuch, das es mit ins Heim gebracht hatte. Es schaute erschrocken zur Tür, entspannte sich jedoch sichtlich, als es Inger erblickte.

Inger setzte sich zu dem Kind auf den Fußboden und hielt ihm einen der Lussekatter hin. »Magst du?«

Lotta schaute auf Ingers Hand. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie nickte und zögernd nach dem Gebäckstück griff. Sie wartete, bis Inger ein Stück abgebissen hatte, bevor sie selbst probierte.

»Schmeckt es dir?«, wollte Inger wissen.

Lotta nickte und lächelte jetzt sogar ein wenig, aber sie sagte immer noch nichts. Inger ließ sie in Ruhe. Schweigend aßen sie zu Ende, dann stand Inger auf. »Kommst du mit nach unten?«

Lotta schüttelte den Kopf und vertiefte sich wieder in ihr Bilderbuch. Inger schaute sekundenlang auf den blonden Schopf. Ihr Herz war voller Mitleid und Liebe für dieses kleine, traumatisierte Mädchen. Für sie allein lohnte es sich, um den Erhalt des Kinderheims zu kämpfen. Und die anderen Kinder waren ihr genauso wichtig.

»Bis später«, sagte Inger betont munter und verließ das Zimmer. An der Tür wandte sie sich noch einmal um.

Lotta blätterte still in ihrem Bilderbuch. Eine Seite nach der anderen. Immer wieder. Lesen konnte sie noch nicht, aber die Bilder musste sie inzwischen in- und auswendig kennen. Manchmal kam es Inger so vor, als hoffte das Mädchen darauf, etwas Neues in ihrem Buch zu finden.

»Wir beide schaffen das, nicht wahr, Lotta?«

Lotta hob ruckartig den Kopf. »Ja«, sagte sie. Nur dieses eine, kleine Wort, aber für Inger war es ein großer Erfolg.

Malena hatte gerade das letzte Blech mit Lussekatter in den Ofen geschoben, als Inger wieder nach unten kam. Ihr Blick fiel auf den seit Mittag gefüllten und immer noch unberührten Hundenapf.

»Ich gehe noch einmal raus«, sagte sie.

»Aber du hast doch schon überall nach ihm gesucht«, wandte Malena ein.

Inger schüttelte den Kopf. »Ich war noch nicht auf dem Friedhof.«

Malena schaute sie verwundert an. »Warum sollte er ausgerechnet dort sein?«

»Er ist im Sommer doch immer mitgekommen, wenn wir Blumen zu Papas Grab gebracht haben.«

Malena nickte. »Soll ich nicht lieber gehen?«, bot sie an.

Seit Augustas Beerdigung war sie nicht mehr auf dem Friedhof gewesen. Inger war kurz versucht, das Angebot ihrer Schwester anzunehmen, doch dann schüttelte sie den Kopf und lächelte sogar dabei. »Es ist gut so«, sagte sie.

»Verdammt«, brummte Per Holmqvist, als der Wind eine riesige Schneewolke gegen die Windschutzscheibe blies.

Es war aber nicht nur der Schnee, auch die vereisten Straßen machten ihm zu schaffen, trotz des schweren Geländewagens mit Allradantrieb. Das Navigationsgerät hatte irgendwann versagt, und im Vertrauen auf die Technik führte er keine Straßenkarten mit sich. Er hatte die Orientierung vollkommen verloren und wusste nicht mehr, ob er sich auf der richtigen Straße befand.

Bis nach Leksand hatte er sich anhand der Beschilderung orientieren können, doch jetzt schneite es so stark, dass er nichts mehr erkennen konnte. Die Strahlen der Scheinwerfer verloren sich im dichten Schneetreiben, die Scheibenwischer arbeiteten auf der höchsten Stufe. Nur die Bäume rechts und links der Straßen, die er als dunkle Schatten wahrnahm, verrieten ihm, dass er sich immer noch auf einer Straße befand und nicht längst querfeldein fuhr.

Er sah das Ortsschild im letzten Moment. Obwohl er nicht schnell fuhr, rutschte der Wagen seitlich weg, als er bremste und genau vor der Abzweigung zum Stehen kam.

Per Holmqvist atmete auf. Das war knapp gewesen.

»Nichts passiert«, presste er hervor. Er startete den Motor neu, fuhr langsam los und lenkte den Wagen vorsichtig in die abzweigende Straße.

Zum Glück ließ das Schneetreiben jetzt ein wenig nach. Die Sicht wurde besser, und er konnte das Dorf am Ende der abschüssigen Straße erkennen. Es sah aus wie auf einer dieser kitschigen Weihnachtspostkarten.

Nur noch vereinzelte Schneeflocken rieselten vom Himmel auf die roten Häuser hinter verschneiten Vorgärten. Vor fast jedem Haus stand eine Birke. Sträucher und Hecken waren lediglich als weiße Wellen erkennbar.

Per Holmqvist war erst ein Mal hier gewesen, in jenem Sommer vor vielen Jahren. Trotzdem erkannte er, dass er sein Ziel erreicht hatte.

Die Hauptstraße mündete in einen hübschen Marktplatz, um den sich einige Häuser und die wenigen Geschäfte des Ortes gruppierten, und führte dann in der anderen Richtung wieder aus dem Dorf hinaus. Sie endete kurz vor dem Seeufer. Hier musste er sich entscheiden, ob es rechts oder links weitergehen sollte.

Per Holmqvist hielt an, sein Kopf ging von links nach rechts und wieder zurück. Schließlich setzte er den Blinker und entschied sich für den Weg links.

Lange musste er nicht suchen. Er erkannte Augustas Haus sofort, obwohl er es nur ein einziges Mal gesehen hatte. Damals war er mit seiner Mutter hier gewesen. Sie hatte ihm gesagt, dass sie ihm das Haus und die Gegend zeigen wollte, wo sie selbst aufgewachsen war, und er sollte seine Tante kennenlernen, die er bis dahin noch nie gesehen hatte.

An Augusta selbst konnte er sich kaum erinnern, aber er wusste noch, dass sie sich über den Besuch damals nicht gefreut hatte. Nach einer frostigen Begrüßung war er nach draußen geschickt worden.

Per hatte nie erfahren, worüber seine Mutter und Augusta gesprochen hatten. Lang hatte die Unterhaltung nicht gedauert. Mit verweinten Augen war seine Mutter aus dem Haus gekommen. Wortlos hatte sie ihn an die Hand genommen und konnte nicht schnell genug wieder von hier wegkommen.

Wenige Wochen später waren seine Eltern beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Per Holmqvist stieg nicht sofort aus dem Wagen. Er hatte den Motor abgestellt. Seine Miene zeigte keinerlei Regung, als er das Haus seiner Tante betrachtete. Es war größer als die meisten anderen Häuser im Ort, zweigeschossig und in einem rechten Winkel erbaut. Sonst unterschied es sich kaum von den Häusern in der Umgebung. Falunrote Holzbalken, weiße Sprossenfenster mit graublau abgesetzten Rahmen. Der rechte Hausflügel reichte bis zur Straße, der linke Flügel mit dem Hauseingang lag ein Stück zurück. An der oberen Etage des rechten Flügels zog sich ein Balkon über die ganze Länge hinweg. Hinter den Fenstern war es dunkel.

Per Holmqvist löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Tür. Kalte Luft schlug ihm entgegen. Er stieg aus dem Wagen. Auf dem Weg zur Tür sank er bei jedem Schritt tief in den Schnee ein.

Karin Svensson, Augustas Haushaltshilfe, die auch nach deren Tod hin und wieder im Haus nach dem Rechten sah, hatte den Hausschlüssel unter einem Blumentopf gleich neben der Tür hinterlegt.

Per Holmqvist hatte vor ein paar Tagen mit ihr telefoniert und das Versteck mit ihr abgesprochen, obwohl sie ihm versichert hatte, dass sie das Haus offen stehen lassen könnte. In ihrem Dorf würde nichts gestohlen.

Per hatte ihr mit kurzen, harschen Worten erklärt, dass er sich darauf nicht verlassen wollte, und seine Bitte, die eher ein Befehl war, wiederholt. Eingeschüchtert hatte Karin schließlich zugestimmt.

Als Per den Topf anhob und zur Seite stellte, fiel der Schneehaufen darin zusammen und gab eine vertrocknete Dahlie frei. Da lag auch der Schlüssel. Per nahm ihn an sich und steckte ihn ins Schloss.

Der Schlüssel klemmte ein bisschen, aber dann sprang die Tür auf. Abgestandene, kalte Luft schlug ihm entgegen.

Per wirkte verdrossen und unzufrieden. Es war ihm anzusehen, dass er sich in diesem Haus nicht wohl fühlte. Es war so ganz anders als sein modernes Penthouse in Stockholm.

Wegen des verhangenen Himmels fiel nur wenig Licht in die Räume. Per schaltete das Licht ein. Von der Diele aus konnte er direkt in den angrenzenden Wohnraum sehen.

Helle Möbel, pastellfarbene Teppiche, das war der erste Eindruck. Neben den Fichtenmöbeln gab es einzelne kostbare Antiquitäten, die sich harmonisch einfügten. Die Kälte in allen Räumen störte allerdings die Gemütlichkeit des schwedischen Landhausstils.

Pers Miene blieb unbewegt, als er seine Besichtigungstour durch das Haus fortsetzte. Nur als er vor dem alten Vertiko stand, auf dem Augustas Familienfotos standen, veränderte sich sein Gesichtsausdruck sekundenlang.

Auf einem der alten Fotos sah er seine Mutter als Kind. Sie schob einen Puppenwagen vor sich her und lachte in die Kamera, während das ältere Mädchen neben ihr unzufrieden auf den Boden starrte. Er glaubte in diesem älteren Mädchen seine Tante Augusta zu erkennen.

Abrupt wandte er sich ab und blieb eine Weile nachdenklich stehen. Dann schüttelte er den Kopf, doch sein Gesicht verriet, dass ihm der Anblick des Fotos immer noch zusetzte. Schließlich zog er sein Handy aus der Jackentasche und rief die Autovermietung an, bei der er in Stockholm den Geländewagen für die Fahrt gemietet hatte. Barsch informierte er die Mitarbeiterin über den Ausfall des Navigationsgerätes und forderte sie auf, schnellstmöglich für Ersatz zu sorgen. Befehlsgewohnt schüchterte er die Frau am anderen Ende so sehr ein, dass sie schnelle Abhilfe versprach.

Per entspannte sich, als hätte die kurze Ablenkung ausgereicht und ihn zu seinem inneren Gleichgewicht zurückfinden lassen. Er steckte das Handy zurück in die Jackentasche, überlegte es sich dann aber doch anders und wählte die Nummer des Anwalts seiner Tante. Er hatte gerade die Tasten gedrückt, als er ein sonderbares Geräusch vernahm. Ein hohes Fiepen, das er nicht zuordnen konnte. Es war nur ganz kurz, und dann meldete sich am anderen Ende auch schon Torvald Lindström. Per nannte ebenfalls seinen Namen.

»Ich bin jetzt im Haus meiner Tante«, verkündete er. »Je schneller wir die ganze Sache hinter uns bringen, desto besser.«

Als er das Gespräch beendet und das Handy endgültig in seiner Jackentasche verstaut hatte, hatte er das komische Geräusch bereits wieder vergessen.

Per stellte die elektrische Heizung an und inspizierte anschließend die Küche. Im Kühlschrank herrschte gähnende Leere. Nur in der Vorratskammer gab es ein paar Konserven und zwei verschrumpelte Zwiebeln.

Er hätte vorhin daran denken sollen, sich mit Lebensmitteln einzudecken. Jetzt musste er sich noch einmal auf den Weg ins Dorf machen. Er meinte sich zu erinnern, dass er im Vorbeifahren einen Laden gesehen hätte.

Als Per die Tür hinter sich zuschlug, war im Haus wieder dieses Fiepen zu hören. Mehrfach hintereinander, und dann schwoll es zu einem lauten, verzweifelten Jaulen an. Da saß Per aber bereits in seinem Wagen und konnte es nicht mehr hören.

Der Friedhof war nicht weit von der Villa Pusteblume entfernt. Zwei große Findlinge markierten den Eingang neben der niedrigen Mauer aus Bruchstein, die den ganzen Friedhof umgab. Die kleine Kapelle war wie die Häuser des Dorfes aus Holz erbaut und rot gestrichen. Den Turm zierte ein spitzes Dach. Eine steinerne Vortreppe führte zum Eingang.

Grabsteine in unterschiedlichen Grautönen schienen aus dem schneebedeckten Boden zu wachsen. Einige waren so alt, dass sie sich nach vorn neigten und die Gravur darauf kaum noch zu lesen war.

Der Wald hinter dem Friedhof reichte bis weit in die Hänge des Gesundaberges hinauf. Der Berg bot jetzt im Winter wundervolle Skipisten.

Heute hatte sich die Spitze des Berges in dichte Wolken gehüllt, die sich im Laufe des späten Nachmittags weiter ausbreiten und für weiteren Schnee sorgen würden. Bei klarer Sicht hatte man vom Berg einen traumhaften Blick über den Siljan, dessen einzigartige Farbe als Siljanblau bezeichnet wurde. Es hieß, dass Schweden nirgendwo schwedischer sei als in Dalarna. Sanfte Hügellandschaften und ausgedehnte Wälder, die von Flüssen und Seen durchschnitten wurden, prägten die Landschaft.

Inger hatte zuerst nach Lasse gesucht und einen großen Bogen um Augustas Grab gemacht, bis sie diesen Moment nicht länger hinauszögern konnte.

»Du fehlst mir.« Inger presste die Lippen fest aufeinander und blinzelte die Tränen fort, als sie auf den Grabstein mit der frischen Inschrift starrte. Es war ihr immer noch unvorstellbar, dass es Augusta nicht mehr gab und sie nun irgendwo da unten in dem harten, gefrorenen Boden liegen sollte.

Augusta war für Inger wie eine Mutter gewesen, oder doch zumindest eine mütterliche Freundin, die immer für sie da war und die sie immer um Rat fragen konnte. So oft hatte Augusta Inger und auch ihrer Schwester Malena aus der Patsche geholfen, früher schon, als sie beide noch Kinder gewesen und bei einem ihrer Streiche erwischt worden waren.

Seit ein paar Jahren waren es allerdings die Probleme mit der Villa Pusteblume gewesen, bei denen sie Augustas Hilfe benötigten. Ohne Augusta hätte es das Kinderheim wohl schon lange nicht mehr gegeben.

Inger hatte es bisher erfolgreich verdrängt, aber jetzt holte sie die Erinnerung an den letzten Abend mit Augusta wieder ein.

»Es gibt da etwas, was du nicht von mir weißt«, hatte Augusta schwer atmend zu ihr gesagt. »Ich habe vor vielen Jahren etwas Schlimmes getan.«

Inger hatte sich nicht vorstellen können, dass ausgerechnet Augusta ein dunkles Geheimnis haben sollte. Bis heute war es für sie undenkbar, dass ausgerechnet die hilfsbereite und liebenswerte Augusta etwas Schlimmes getan haben könnte. An jenem Tag war es ihr auch nicht wichtig gewesen. Sie hatte einfach nur Angst um Augusta gehabt, die blass und erschöpft in ihrem Sessel saß. Es ging ihr seit ein paar Tagen nicht besonders gut, aber an diesem Abend hatte Inger das Gefühl, dass sich Augustas Zustand stündlich verschlechterte.

»Du solltest auf den Rat des Arztes hören und ins Krankenhaus gehen«, hatte Inger sie gedrängt, doch die alte Dame schüttelte den Kopf.

»Das geht nicht, ich habe noch so viel zu erledigen.« Sie hatte nach Ingers Hand gegriffen und sie ganz fest gedrückt. »Ich muss dir einmal sagen, wie dankbar ich dir bin, mein Kind. Du hast so viel für mich getan, bist immer für mich da.«

Inger hatte sie ungläubig angeschaut. »Du bist mir dankbar? Wie oft hast du uns die Miete für die Villa Pusteblume erlassen und uns sogar noch finanziell unterstützt?«

Augustas Miene war daraufhin ganz ernst geworden. »Morgen kommt Dr. Lindström. Ich werde in meinem Testament verfügen, dass dir die Villa nach meinem Tod gehört.«

Inger hatte sich darüber nicht freuen können. Augustas Worte hatten sie vielmehr erst recht in Angst versetzt. Was bewog Augusta dazu, so zu reden? Ging es ihr womöglich noch schlechter, als sie es sich anmerken ließ?

Augusta hatte Inger einen verschlossenen Umschlag in die Hand gedrückt, auf dem sie in großen Buchstaben den Namen Per Holmqvist geschrieben hatte.

»Per ist mein Neffe«, hatte Augusta mit schwacher Stimme gesagt. »Irgendwann wird er kommen. Versprich mir, dass du ihm diesen Brief gibst.«

»Ja«, hatte Inger verwirrt genickt. Sie hörte zum ersten Mal von diesem Neffen, und ihr wurde klar, dass es offensichtlich einiges gab, was sie über Augusta nicht wusste. So viele Fragen hatten ihr auf der Zunge gelegen. Sie stellte nur eine davon.

»Warum gibst du ihm diesen Brief nicht selbst?«

Augusta hatte darauf nicht geantwortet, sondern nach Ingers Hand gegriffen und mit verzerrter Miene gesagt: »Bitte, versprich es mir.«

Um zu verhindern, dass Augusta sich aufregte, hatte Inger hastig ihr Versprechen gegeben.

Mit einem erleichterten Lächeln hatte Augusta die Augen geschlossen. »Ich werde dir morgen von meinem Neffen erzählen. Jetzt muss ich mich ein bisschen ausruhen. Ich bin so schrecklich müde.«

Inger hatte bei Augusta bleiben wollen, doch davon wollte die alte Dame nichts wissen. Sie öffnete noch einmal die Augen. »Die Kinder in der Pusteblume brauchen dich dringender als ich. Geh nur, morgen geht es mir bestimmt wieder besser.«

Inger starrte auf Augustas Grabstein. »Ich hätte bei dir bleiben sollen«, sagte sie laut. Wie oft hatte sie sich in den vergangenen Monaten nicht vorgeworfen, dass sie Augusta ausgerechnet an diesem Abend allein gelassen hatte. Für Augusta hatte es kein Morgen mehr gegeben. Sie war einfach nicht mehr aufgewacht. Als Karin Svensson wie jeden Morgen gekommen war, um Augusta den Haushalt zu führen, hatte die alte Dame tot in ihrem Sessel gesessen. Der Schmerz und die Anstrengung der letzten Tage waren von ihrem Gesicht verschwunden, und um ihre Lippen spielte ein leises Lächeln, als hätte sie ihren Frieden gefunden.

»Sie war eine tolle Frau«, vernahm Inger eine Stimme hinter sich. Sie erkannte sie, ohne sich umzudrehen.

»Ja, das war sie«, sagte sie und schaute ihren Pflegebruder Thorsten an, als er sich neben sie stellte. Wie Inger hatte er einen dicken Wintermantel und Handschuhe an, dazu trug er eine gestrickte Wollmütze mit passendem Schal. Inger lächelte, beides ließ eindeutig Malenas Handschrift erkennen.

Sobald sich das Laub der Bäume verfärbte und es draußen kühler wurde, kramte Malena ihre Stricknadeln hervor. Leider strickte Malena ebenso leidenschaftlich wie schlecht. Inger war froh, dass ihre Schwester bevorzugt die Kinder bestrickte, und die wiederum waren sehr geschickt darin, Malenas selbstgemachte Mützen und Schals so zu verlegen, dass sie nie wieder gefunden wurden. Inzwischen rebellierten die Kinder allerdings offen, und auch Inger hatte sich nicht sonderlich begeistert über ihr Sortiment an bunten Mützen gezeigt, die ihr entweder zu weit oder zu eng waren.

In Thorsten hatte Malena offensichtlich ein neues Opfer gefunden. Der Schal war an den Rändern verzogen und so lang, dass Thorsten ihn mehrfach um den Hals schlingen musste. Trotzdem hingen die Enden noch fast bis zum Boden hinab. Die Ohrenklappen seiner Mütze waren viel zu tief angesetzt. Es sah aus, als würde er einen bunt geringelten Helm tragen, aus dem einige Strähnen seiner blonden Haare hervorlugten.

Inger musterte ihn von Kopf bis Fuß und musste plötzlich lachen. Auch Thorstens Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln.

»Ich habe keine kalten Ohren mehr, seit ich diese Mütze trage«, behauptete er.

»Du bist ein guter Bruder«, sagte sie, »aber ich fürchte, Malena wird dich jetzt von Kopf bis Fuß bestricken.« Inger hängte sich bei ihm ein. »Begleitest du mich noch zu Papas Grab?«

Thorsten nickte. »Natürlich. Auch für mich war er schließlich wirklich ein Vater.« Er drückte ihren Arm. »So wie du immer meine Schwester für mich warst.«

»Und Malena«, ergänzte Inger.

Thorsten schwieg sekundenlang. »Ja, und Malena«, sagte er schließlich.

Inger betrachtete ihn nachdenklich von der Seite. Irrte sie sich oder hatte da tatsächlich ein komischer Unterton in seiner Stimme mitgeschwungen?

»Hast du Streit mit Malena?«, wollte sie wissen.

»Nein.« Thorsten schüttelte lachend den Kopf, sagte aber nichts mehr dazu, und Inger beließ es dabei. Sie erzählte ihm, dass sie eigentlich auf der Suche nach Lasse war.

»Ist er mal wieder unterwegs?« Thorsten schmunzelte. »Ich gehe gleich noch einmal durchs Dorf und suche auch nach ihm«, versprach er. »Wenn ich ihn finde, bringe ich ihn zu euch.«

Inger drückte sich ganz fest an seinen Arm und spürte einmal mehr, wie gern sie Thorsten hatte. Er war mit seinen fünf Jahren ein Jahr jünger gewesen als Inger, als ihr Vater ihn in der Villa Pusteblume aufgenommen hatte.

Viele der Heimkinder blieben nur eine begrenzte Zeit, ein oder zwei Jahre, manchmal auch drei oder vier. Einige kamen in Pflegefamilien, andere Kinder kehrten zu ihren Familien zurück, wenn die Probleme, die zu ihrer Heimunterbringung geführt hatten, beseitigt waren. Thorsten aber war geblieben. Inger, Malena und er waren wie Geschwister aufgewachsen.

Thorsten hatte nach der Schule eine Ausbildung in einem Hotel in Tällberg gemacht und anschließend in einem Stockholmer Hotel gearbeitet. Vor einem Jahr hatte er eine Stelle im Seeblick angenommen, dem einzigen Hotel im Dorf. Es war bei den Sommerfrischlern ebenso beliebt wie bei den Skifahrern im Winter.

Es war so schön gewesen, Thorsten ganz in der Nähe zu haben, aber leider war die Zeit bald wieder vorbei. Ihm war ab dem kommenden Sommer die Leitung eines Hotels in Mariefred angeboten worden, und Thorsten hatte zugesagt.

Inzwischen hatten sie das Grab von Ingers Eltern erreicht. Ingers Mutter war schon so lange tot, dass sie sich kaum noch an sie erinnern konnte. Ihr Vater war vor sechs Jahren gestorben. Eine Weile standen die beiden jungen Menschen schweigend vor dem Grab.

»Manchmal frage ich mich, was ohne deinen Vater aus mir geworden wäre«, sagte Thorsten leise. »Ich verdanke ihm so viel. Ich wünschte, ich hätte ihm das einmal gesagt.«

»Das hast du doch«, sagte Inger. »Du hast ihm immer wieder gezeigt, wie dankbar du ihm bist, und du bist der beste Beweis dafür, dass seine Idee zumindest bei dem einen oder anderen seiner Schützlinge erfolgreich war.«

Ingers Vater hatte die Villa Pusteblume gegründet und ihr auch den Namen gegeben. Dahinter steckte der Gedanke, dass die Schützlinge wie Samenkörner einer Pusteblume waren. Wenn sie stark und reif genug waren, flogen sie in die Welt hinaus und waren hoffentlich dazu in der Lage, selbst Wurzeln zu schlagen und zu wachsen. Thorsten hatte es geschafft.

»Weil ich ihm nach wie vor dankbar bin, würde ich euch gerne helfen«, sagte Thorsten. »Malena hat mir gesagt, dass ihr Probleme habt.«

Inger seufzte tief auf. »Wir kommen schon irgendwie zurecht«, behauptete sie.

Thorsten lachte laut auf, seine blauen Augen blitzten sie übermütig an. »Du kannst nicht besonders gut lügen, Inger. Das konntest du noch nie.«

»Es ist schwierig geworden«, gab Inger zu. »Ohne Augustas Hilfe in den vergangenen Jahren hätten wir das Kinderheim längst schließen müssen. In den letzten beiden Monaten war es besonders schlimm. Ständig ging etwas kaputt im Haus und musste ersetzt werden. Ich konnte die Mieten für die letzten beiden Monate nicht überweisen, und der November ist auch schon fast herum. Nächste Woche ist wieder eine Miete fällig.«

»Ich habe ein bisschen Geld gespart«, sagte Thorsten. »Das würde ich euch gerne zur Verfügung stellen.«

Inger schüttelte den Kopf. »Das kann ich auf keinen Fall annehmen.«

»Natürlich kannst du«, sagte Thorsten energisch. »Viel ist es ohnehin nicht. Es reicht vielleicht gerade für die ausstehenden Mieten.« Thorsten ließ nicht locker, bis Inger schließlich nachgab. Sie umarmte ihn.

»Danke, Thorsten, das hilft uns tatsächlich sehr. Wenigstens sind wir diesem Per Holmqvist dann nichts mehr schuldig.«

»Ich finde es doof, dass du die Lucia sein sollst.« Nelly hatte sich in ihrer ganzen Größe von einem Meter dreißig vor Ronja aufgebaut. Die Hände in die Seiten gestemmt, schaute sie zu ihrer Pflegeschwester auf. »Ich wäre eine viel bessere Lucia als du.«

Die dreizehnjährige Ronja schaute geringschätzig auf Nelly herab. »Du kannst nicht die Lucia sein, du bist doch noch ein Baby.«

»Bin ich nicht.« Nelly stampfte wütend mit dem Fuß auf. Sie war ein kräftiges, kleines Mädchen. Ihr üppiger, blonder Pferdeschwanz wippte bei jedem Wort auf und ab, ihr rundes Gesicht war rot vor Empörung.

»Kinder, streitet euch nicht.« Malena sah nicht auf, als sie die Kinder ermahnte. Sie saß in dem Ohrensessel in der Ecke und strickte im Akkord. Bisher hatte keiner von ihnen Inger bemerkt, die an der Tür stand und die Szene lächelnd beobachtete.

Die große Wohnküche im Kinderheim Pusteblume war der zentrale Ort im Haus. Hier wurde gekocht, gegessen und gespielt. Hier wurden Hausaufgaben gemacht und beaufsichtigt. Die weißen Küchenmöbel hatte Ingers und Malenas Vater selbst geschreinert, den großen Kühlschrank in der Ecke und den Elektroherd hatte er damals angeschafft.

Die Wände waren in hellen Pastelltönen gestrichen, alle Böden im Haus bestanden aus hellen Holzdielen, die einmal im Jahr neu gewachst wurden. Malena und Inger hatten das bereits Anfang November erledigt, und der leichte Geruch nach Bienenwachs lag immer noch in der Luft.

Ein großer, weißer Tisch stand mitten im Raum. Die zehn Stühle dazu waren unterschiedlich in der Bauart, aber ebenfalls einheitlich weiß gestrichen. Die sonst pastellfarbenen Stuhlauflagen und Gardinen waren zur bevorstehenden Weihnachtszeit gegen grünrot gestreifte Auflagen und rote Vorhänge ausgetauscht worden.

Eine Glastür zwischen den Fenstern führte hinaus auf eine Holzveranda. Nur eine Wiese trennte das Haus vom Ufer des Sees.

In einem alten Büfett stand das gute Geschirr, das nur an Weihnachten herausgenommen wurde. Das bunte Steingutgeschirr für alltags befand sich in den Küchenschränken. In einem Regal unter der Fensterfront waren Gesellschaftsspiele und anderes Spielzeug in heillosem Durcheinander verstaut.

Der Bezug des alten Ohrensessels in der Ecke war bereits ziemlich verschlissen. Es war Malenas Lieblingsplatz. Daneben stand der große Korb, in dem sie Wolle und Stricknadeln aufbewahrte. Links daneben gab es ein weiteres Fenster mit einer ausladenden Fensterbank. Darauf hatte es sich Kater Felix gemütlich gemacht. Wahrscheinlich träumte er gerade von einer Mäusejagd. Die rechte Pfote hing über den Rand der Fensterbank, hin und wieder zuckte sie, dabei maunzte Felix leise, obwohl er die Augen fest geschlossen hielt.

Ohne sich bemerkbar zu machen, lehnte Inger gegen den Türrahmen, während der Streit zwischen Nelly und Ronja in die nächste Runde ging.

»Du kannst gar nicht die Lucia sein, dazu bist du viel zu dumm«, sagte Nelly und grinste gemein.

Das hatte gesessen. Ronja musste sich tatsächlich alles hart erarbeiten, aber seit dem Beginn der Pubertät fehlte ihr dazu oftmals die Lust. Inzwischen gab es viele andere Dinge, die ihr sehr viel wichtiger erschienen.

Nelly hingegen war eine kleine Intelligenzbestie. Sie musste kaum lernen und sich auf Arbeiten vorbereiten, war aber trotzdem sehr fleißig und ging ihren Pflegegeschwistern mit ihrem Ehrgeiz oft gewaltig auf die Nerven.

Ronja musste Nellys Bemerkung erst einmal verdauen, doch plötzlich lächelte sie wieder boshaft. Sie warf den Kopf mit den rotblonden Locken zurück, drehte sich einmal um sich selbst. »Schöne Mädchen müssen nicht schlau sein, und sie sind viel beliebter als Streber.«

»Kinder, jetzt ist Schluss!« Malena schaute von ihrem Strickzeug auf und erblickte Inger. »Wo warst du denn so lange?«

»Ich habe Thorsten getroffen und mich festgequatscht«, erwiderte Inger.

»Ach so«, sagte Malena nur und konzentrierte sich wieder auf den länglichen, krummen Lappen, der an ihren Stricknadeln baumelte. »Hat er etwas gesagt?«, erkundigte sie sich beiläufig und ohne aufzusehen.

In Inger keimte erneut der Verdacht auf, dass zwischen Thorsten und Malena etwas nicht stimmte. Er hatte vorhin auch so komisch reagiert, als sie den Namen ihrer Schwester erwähnte.

»Sollte er?«, antwortete Inger mit einer Gegenfrage.

Malena schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, sah dabei aber immer noch nicht auf. »Nein, ich frage ja nur.«

Inger beließ es dabei. Wenn die beiden sich gestritten hatten, mussten sie das auch selbst wieder in Ordnung bringen.

Nelly kam zu Inger gelaufen und umschlang sie mit beiden Armen. »Ich finde es nicht fair, dass Ronja in der Schule die Lucia sein darf.«

»So ist eben das Leben«, sagte Ronja spöttisch. »Es ist nicht fair.«

Inger streichelte Nelly über die Wangen, schaute dabei aber Ronja an. »Woher hast du denn diese Weisheit?«

Ronja lachte. »Von dir. Du hast das gestern erst zu Malena gesagt.«

»Du solltest in Gegenwart der Kinder aufpassen, was du sagst.« Malena packte ihr Strickzeug in den Korb und stand auf. »Es kann jederzeit gegen dich verwendet werden.«

Inger fiel auf, dass ihre Schwester blass und müde aussah. »Geht es dir nicht gut?«, fragte sie besorgt.

Malena schluckte, und für einen Moment hatte Inger das Gefühl, ihre Schwester würde gleich in Tränen ausbrechen, doch da kam Nils ins Zimmer.

»Darf ich raus-s?« Nils war Nellys Zwillingsbruder. Ein kleiner, schmächtiger Kerl mit blonden Locken und runder Nickelbrille, dessen Zunge bei den S-Lauten gegen die Zähne schlug. Trotzdem wagte es keiner seiner Mitschüler, sich über sein Lispeln lustig zu machen. Jedenfalls nicht, wenn Nelly es hören konnte. Sie stand unerschütterlich zu ihrem Bruder und drohte jedem Prügel an, der ihm zu nahe kam oder ihn auch nur neckte. Sie sorgte dafür, dass er warm angezogen war, wenn er nach draußen ging, und einige Male hatte Inger sie sogar dabei erwischt, wie sie die Hausaufgaben für Nils erledigte.

Die beiden waren vor vier Jahren in die Pusteblume gekommen. Zwei vernachlässigte Dreijährige, die noch nie Liebe und Zuwendung erfahren hatten. Ihre viel zu junge Mutter war einfach nur erleichtert gewesen, als sie die Zwillinge in Ingers und Malenas Obhut geben konnte. Inzwischen suchte sie wieder Kontakt zu den Kindern. Sie telefonierte regelmäßig mit den beiden, schickte sogar Geschenke und kam jeden Sommer zu Besuch. Irgendwann würde sie vielleicht so gefestigt sein, dass sie sie wieder zu sich nehmen konnte.

Eine Vorstellung, die Inger fast das Herz brach. Trotzdem würde sie jeden ihrer Schützlinge ziehen lassen, wenn es für das Kind gut und richtig war. Bis dahin aber sollten sie in der Pusteblume all die Geborgenheit und Liebe bekommen, die jedes Kind verdiente.

Wenn es das Kinderheim demnächst überhaupt noch gibt, schoss es Inger durch den Kopf. Mein Gott, was soll nur aus all den Kindern werden?

Die hübsche Ronja, die als Vollwaise ins Heim gekommen war. Die Zwillinge Nils und Nelly. Der vierzehnjährige Jesper, der noch Ingers und Malenas Vater gekannt hatte. Nicht zuletzt Ingers Sorgenkind Lotta. Ein schwer traumatisiertes Mädchen, das vor allem Angst hatte und erst allmählich Zutrauen zu ihren Betreuerinnen und Geschwistern fand.

»Erde an Inger«, rief Malena laut in ihr Ohr und wedelte dabei mit der Hand vor ihrem Gesicht.

Inger zuckte erschrocken zusammen. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie überhaupt nicht bemerkt hatte, wie ihre Schwester aufgestanden und auf sie zugekommen war.

Die drei Kinder schauten sie an und lachten laut.

»Du hast mit offenen Augen geträumt«, stellte Nelly fest.

»Und ich wüsste gerne wovon«, fügte Ronja hinzu.

Nein, das willst du nicht wirklich wissen, widersprach Inger ihr in Gedanken. Es geht nicht zuletzt um eure Zukunft, und im Moment ist es fraglich, ob Malena und ich euch dabei noch lange begleiten können.

»Darf ich raus-s?«, wiederholte Nils seine Frage, diesmal an Inger gewandt.

Inger zwang sich zu einem Lächeln. »Du bleibst besser noch drinnen«, sagte sie und strich über Nils’ blonde Locken. »Deine Mittelohrentzündung ist noch nicht ganz ausgeheilt.«

Der Junge machte ein enttäuschtes Gesicht. »Und warum mus-s ich dann zur S-schule?«, folgerte er ganz logisch.

»Wie wäre es mit einem Spiel?«, schlug Malena vor, um ihn abzulenken. Die beiden Kleinen waren begeistert, Ronja zog eine Grimasse.

»Kinderkram!«

»Schön, dass du dazu keine Lust hast«, grinste Inger. »Dann kannst du ja mit mir einkaufen gehen. Wir brauchen noch ein paar Sachen.«

Erwartungsgemäß hatte Ronja auch dazu keine Lust, aber Inger ließ sich auf keine Diskussion ein.