Weihnachtsgeschichten aus der Heimat - Hermann Siegmann - E-Book

Weihnachtsgeschichten aus der Heimat E-Book

Hermann Siegmann

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Beschreibung

Der Kraichgau hat als »Badische Toskana« sein ganz eigenes Liedgut und Brauchtum rund um Weihnachten. In diesem Buch werden die schönsten Advents- und Weihnachtsgeschichten erzählt, die zu Herzen gehen und verzaubern. In „Die größte Wurst und der Lausbub“ werden beispielsweise Wünsche und Sehnsüchte geweckt, die in jedem von uns stecken. Dass es glücklicher macht, Anderen vom Eigenen abzugeben, anstatt es zu behalten, ist in „Kohlrübenwinter“ nachzulesen.

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Hermann Siegmann

Weihnachtsgeschichten aus der Heimat

Zum Buch

Schicksalswege, Nächstenliebe und Türen, die sich öffnen Eine Krippe, die Geburtsstätte von Jesus Christus, darf an Weihnachten im Kraichgau ebenso wenig fehlen wie eine Geschichte des Wollenberger Autors Hermann Siegmann. Seine Erzählungen regen die Menschen immer wieder dazu an sich auf das Wesentliche zu besinnen. In „Die größte Wurst und der Lausbub“ werden beispielsweise Wünsche und Sehnsüchte geweckt, die in jedem von uns stecken. Manchmal berührt der Himmel die Erde, und Menschen, die das erleben, sind dem Himmel nahe. Man wächst an Begegnungen und an den Geschichten und manchmal ist man zwischen Märchenbuchwelten, Hoffnung und Realität gefangen. Die Erzählung „Rehweihnacht“ aus diesem Weihnachtsband ist eine nicht zu Ende erzählte Geschichte, die nachdenklich stimmt. Geben ist seliger als nehmen und zwar nicht nur aus reiner Nächstenliebe, sondern auch aus egoistischer Sicht. Anderen vom Eigenen abzugeben, macht glücklicher, als es zu behalten, nachzulesen in „Kohlrübenwinter“.

Hermann Siegmann ist in Wollenberg geboren und hat dort sein ganzes bisheriges Leben verbracht. Er ist eng mit seiner Heimat verwurzelt. Auf zahlreichen Spaziergängen und Erkundungen schreibt er in Gedanken seine Geschichten, die mittlerweile nicht nur die Menschen in der Region begeistern.

Impressum

Herausgegeben von Claudia Senghaas

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Simone Hölsch

unter Verwendung folgender Illustration: © annamei – fotolia.com

Illustrationen: Simone Hölsch, unter Verwendung von: www.vecteezy.com, © panitialapon – fotolia.com, © snyGGG – fotolia.com, © jan stopka – fotolia.com, © mallinka1 – fotolia.com, © d3images – fotolia.com, © Can Stock Photo / lilac, © LiluyDesign – fotolia.com, © namosh – fotolia.com, © Vectorovich – fotolia.com, © beaubelle – fotolia.com, © Can Stock Photo / skarin, © Hein Nouwens – fotolia.com, © Fafarumba – istockphoto.com, © OpenClipart-Vectors – pixabay.com, © GDJ – pixabay.com

ISBN 978-3-8392-5862-0

Liebe Leserinnen und Leser,

endlich, möchte man sagen, gibt es einen Sammelband mit den wundervollen Weihnachtsgeschichten von Hermann Siegmann. Über viele Jahre hatte ich die Freude, an jedem 1. Advent mit Hermann eine neue Geschichte vorzulesen. Die Wollenberger Kirche zauberte den stimmungsvollen Rahmen, und jeder auf den voll besetzten Bänken lauschte den berührenden Zeilen. Dabei entführte Hermann Siegmann uns jedes Jahr aufs Neue in eine andere kleine Welt. Mal stand (Heimat-)Geschichtliches, mal Autobiographisches auf dem Programm – aber egal welchen Inhalt die Geschichte hatte, immer war es eine anrührende Erzählung, die wunderbar in die vorweihnachtliche Zeit passte und eine adventliche Stimmung erzeugte.

Es ist schön, dass es diese Erzählungen nun in einem Buch gibt. Dieser Sammelband sollte unter keinem Weihnachtsbaum fehlen.

Lieber Hermann, danke für die schönen Geschichten und für die stimmungsvollen Lesungen in Wollenberg, bei denen ich dabei sein durfte.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich viel Freude bei der Lektüre, die bisweilen sehr zu Herzen gehen wird.

Hans Heribert Blättgen

Oberbürgermeister a. D. der Stadt Bad Rappenau

Bild

 

Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Das letzte Weihnachtsfest

Wie schon so oft in den vergangenen Jahrzehnten, so gab es auch im Jahre 1998 wieder mal keinen Schnee zum Weihnachtsfest. Es ist doch eigenartig, dass die meisten Menschen im Land sich gerade für diese Zeit nichts sehnlicher wünschen. Sind es die Kindheitserinnerungen an frühere weiße Weihnachten? Oder ist es die Sehnsucht nach einer heilen Welt, in der alles Böse und Schmutzige unter einem dicken weißen Schneeteppich verschwindet? Kommt das Verlangen aus den tiefsten Gründen unserer Seele, gepaart mit dem Wunsch nach Frieden und Liebe, für die der weiße Schnee mit seiner Reinheit symbolisch betrachtet werden kann? Vielleicht ist es von allem ein bisschen. Vielleicht ist es aber noch viel mehr und wir können es wieder einmal nicht beschreiben. Wenn auch so mancher Wunsch an Weihnachten in Erfüllung geht, so gibt es doch Dinge zwischen Himmel und Erde, auf die wir keinen direkten Einfluss haben. Dinge, für die wir nur beten und die wir uns von ganzem Herzen wünschen können. Auch wir hatten Wünsche, aber die betrafen nicht den weißen Schnee. Die waren weitaus größer. Es ging um das Wichtigste, was wir Menschen uns auf dieser Erde wünschen können: um die Gesundheit. Der sehnlichste Wunsch unserer ganzen Familie sollte uns an diesem Heiligen Abend des Jahres 1998 erfüllt und vor die Kirchentür gestellt werden.

Die drei Glocken unserer schönen Kirche riefen die Einwohner unseres kleinen Dorfes zum Kirchgang. Wie immer am Heiligen Abend war der Festgottesdienst am späten Nachmittag auf 16.00 Uhr angesetzt. Zum einen, weil die Kinder des Dorfes ihr Krippenspiel nach alter Tradition aufführten, und zum anderen hatte unser Pfarrer noch eine zweite Gemeinde zu betreuen.

»Holst du schon mal das Auto aus der Garage und stellst es vor die Haustüre? Es wird Zeit, dass wir gehen.« Verwundert schaute ich zu meiner Frau hinüber. Sie stand gerade vor dem Spiegel und ordnete ihre Frisur, ohne ihren Blick abzuwenden.

»Ich dachte, wir nehmen den Rollstuhl, dann brauchst du dich nicht in die enge Kirchenbank zu zwängen«, entgegnete ich, während ich bereits den Autoschlüssel von der Ablage nahm.

»Nein, heute nicht«, war ihr Kommentar, als sie sich vom Garderobenspiegel abwandte und nach ihren Krücken griff. Ich bewunderte sie sehr, wie tapfer sie mit dieser heimtückischen Krankheit umging. Seit nunmehr acht Jahren litt sie an Multipler Sklerose, dieser unheilbaren Immunschwäche, die so auf ganz unterschiedliche Art und Weise auftreten kann und die so viele Gesichter hat. Sie kämpfte mit aller Kraft, die ihr noch zur Verfügung stand, gegen diese Krankheit an, obwohl sie wusste, dass sie keine Chance hatte, das Duell zu gewinnen. Der Gegner war zu stark und zu heimtückisch. Es war von Anfang an kein fairer Kampf. Der Sieger stand schon von vornherein fest. Aber immer wieder gab ihr die Hoffnung neuen Mut zum Weiterkämpfen, dass es der Forschung gelinge, ein helfendes Medikament für MS-Patienten zu entwickeln. Die meiste Kraft für ihren Kampf aber schöpfte sie aus ihrem unerschütterlichen Glauben.

Der leichte Westwind wehte den rufenden Klang der Kirchenglocken durch das Tal herauf und mahnte zum Aufbruch. Ich versuchte, die traurigen Gedanken zu verdrängen, und holte den Wagen. Doch bereits beim Einsteigen brachte sich diese teuflische Krankheit wieder in Erinnerung. Das linke Bein wollte mal wieder nicht gehorchen, doch gemeinsam schafften wir auch das. Es war noch einigermaßen hell, als wir die Dorfstraße hinabfuhren. Wie immer an Weihnachten, so waren auch heute wieder viele Wollenberger Einwohner unterwegs. Eingehüllt in ihre wärmende Winterbekleidung, kamen sie aus allen Richtungen und eilten dem Gotteshaus zu.

»Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.« Wer kennt nicht dieses Sprichwort? Und genauso erging es uns damals auch. Erst als ich vor dem Haupteingang der Kirche angehalten hatte, um meiner Frau den weiten Weg vom Parkplatz herüber zu ersparen, da sahen wir sie stehen. Carmen, unsere jüngste Tochter. Bleich, ja beinahe durchsichtig im Gesicht, stand sie, auf Krücken gestützt, vor der Kirchentüre. Hier hatte sie auf uns gewartet, sie wusste, dass wir pünktlich kommen würden. Überraschen wollte sie uns, und das war ihr auch hervorragend gelungen. Meine Frau und ich schauten uns zweifelnd an, dann wieder zu Carmen hinüber. Obwohl wir sie ganz deutlich vor uns sahen, konnten wir es nicht glauben. War das eine Fata Morgana? Oder war das wirklich unsere Tochter? Carmen sah unsere zweifelnden Blicke und mit einem verschmitzten Lächeln ließ sie ihrer Freude über die gelungene Überraschung freien Lauf. Für uns war und blieb es ein Wunder, das hatten wir in unseren kühnsten Träumen nicht erwartet. Um die letzten Zweifel zu beseitigen, stieg meine Frau aus dem Auto und ging Carmen entgegen. Das vorher noch so widerspenstige Bein gehorchte plötzlich wieder. Währenddessen hatte ich das Auto auf den Parkplatz gefahren und war zu den beiden zurückgekehrt. Als ich sie erblickte, blieb ich ergriffen stehen. Das Bild, das sich mir bot, rührte mich und prägte sich tief in mein Herz ein. Da standen Mutter und Tochter eng umschlungen vor dem Eingang zur Kirche und weinten vor Glück. Ihre Gehhilfen lagen, wirr wie überdimensionale Mikadostäbe, neben ihnen auf dem Boden. Nachdem auch ich Carmen herzlich begrüßt hatte, hob ich die Krücken auf und wollte sie den beiden geben. Doch die sahen alle vier gleich aus, hatten dieselbe Farbe und waren auf gleiche Länge eingestellt. Spontan, so wie sie schon immer war, nahm mir meine Jüngste die Entscheidung ab:

»Das spielt doch keine Rolle, Papa, gib halt jedem zwei, sie bleiben doch sowieso in der Familie.«

Wie recht sie doch hatte. Das spielte jetzt wirklich keine Rolle. Viel wichtiger war doch, dass sie wieder bei uns war. Da drängte sich mir auch gleich die Frage auf: »Wann hat man dich aus der Klinik entlassen?«

»Gestern.«

»Und da kommst du heute hierher, ist das nicht viel zu gewagt?«

»Keine Panik«, witzelte Carmen erneut. »Da ist doch alles fest zusammengeschraubt und genagelt. Das hält, das ist deutsche Wertarbeit.«

Bewundernd sah ich sie an. Ja, sie war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ihre Mutter. Das eigene Leid wird nicht hochgehängt, das des anderen wiegt viel schwerer und bedarf der Hilfe und der Anteilnahme.

»Wo ist eigentlich dein Freund Dieter? Du bist doch hoffentlich nicht auch noch selbst hierhergefahren«, drängte sich mir besorgt die nächste Frage auf.

»Nein, das geht wirklich noch nicht, das braucht viel Zeit. Dieter ist schon in der Kirche bei den anderen. Ich wollte hier auf euch warten und euch überraschen.«

»Das ist dir auch hervorragend gelungen. Zuerst glaubte ich doch tatsächlich, einen Geist zu sehen. Mit dir haben wir, nach all dem, was passiert war, wirklich nicht gerechnet«, erwiderte meine Frau spontan, wobei ein seliges Leuchten aus ihren schönen blauen Augen strahlte, wie ich es so zuvor bei ihr noch nie gesehen hatte. Leise und nachdenklich, so als ob es nur für sie selber bestimmt sei, hörte ich sie dann vier Worte sagen:

»Jetzt kann ich gehen.«

Erst viel später wurde mir bewusst, was sie damit gemeint hatte. Damals hatte ich es so verstanden, dass es nun höchste Zeit war, in die Kirche zu gehen.

»Ja, lasst uns hineingehen, es hat schon aufgehört zu läuten.«

Wie immer war auch an diesem Heiligen Abend das Gotteshaus fast bis auf den letzten Platz besetzt. Doch wir mussten nicht suchen, wir konnten uns wie gewohnt in die letzte Kirchenbank setzen. Martina und Anja, unsere beiden älteren Töchter, waren mit ihren Partnern schon rechtzeitig gekommen und hielten uns die Plätze frei.

»Wo bleibt ihr denn? Wir warten schon lange auf euch!«

Den leicht tadelnden Unterton überspielend, konterte Carmen wieder in gewohnter Weise: »Die Krücken behinderten uns beim Gehen. Wenn wir stattdessen Flügel gehabt hätten, wären wir schon längst hier.«

Die Organistin beendete bereits den Eingangs­choral und wechselte zum ersten Lied. Es sollte für unsere Familie ein ganz besonderer Weihnachtsgottesdienst werden. Da war der Geburtstag des Gottessohnes, den die Wollenberger Kinder wie immer so einfühlsam mit ihrem Krippenspiel nachvollzogen hatten, und die ›Wiedergeburt‹ unserer Tochter Carmen. Ja, für uns war es, als ob sie uns noch einmal geschenkt worden war. Wir hatten mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Die vielen Stunden lähmenden Bangens werden wir nie mehr vergessen.

Was war geschehen?

Es war der 20.11.1998 und es war ein Freitag. Die Sonne strahlte von einem stahlblauen Himmel, wie sie es um diese Jahreszeit so nur selten tut. In der Nacht zuvor hatte leichter Schneefall das Land mit einer zwei Zentimeter dünnen Schicht überzogen. Alles wirkte wie verzaubert. In der Mittagssonne glitzerten die Schneekristalle wie kostbare Diamanten und kündeten von einem schönen, vielversprechenden Wochenende. Ich hatte mir den Nachmittag freigenommen, und so konnte ich wieder einmal zum Mittagstisch zu Hause sein. Die Straßen waren schneefrei und trocken, schon die Heimfahrt durch die weiße Landschaft stimmte mich positiv auf die kommenden Tage ein. Als ich zu Hause ankam, stand Carmens Polo schon vor der Garage. Carmen, unsere jüngste Tochter, wohnte schon seit vier Jahren nicht mehr bei uns, aber sie kam an jedem ihrer Arbeitstage zum Mittagessen vorbei. Es war nicht Bequemlichkeit von ihr, dass sie die Mittagspause im »Hotel Mama« verbrachte. Nein, wir wussten, dass sie es ihrer Mutter zuliebe tat. Meine Frau wäre sonst den ganzen Tag über allein mit ihrer Krankheit gewesen. Seit sie nicht mehr selbst Auto fahren konnte, war sie mehr oder minder ans Haus gefesselt. Sie kochte gut und gerne, und so hatte sie eine Aufgabe, die ihr trotz ihrer Behinderung viel Freude bereitete. Auch ich freute mich riesig, mal wieder mit beiden gemeinsam das Mittagsmahl einnehmen zu können. Früher, als unsere drei Töchter noch zu Hause waren und meine Eltern noch lebten, da ging es manchmal etwas eng zu an unserem Tisch. Aber es war schön gewesen, da war immer etwas los. Doch diese Jahre waren vorbei, es hat halt alles seine Zeit.

Carmen war wie immer gut gelaunt und hatte auch an diesem Tag so manchen kessen Spruch auf den Lippen. Ich glaube, selbst wenn ihr nicht nach Scherzen zumute war, so überspielte sie es geschickt, schon um ihre Mutter nicht zusätzlich zu belasten. Sie hatte die Gabe, meine Frau glücklich zu machen, so dass sie ihre Krankheit für einige Zeit mal vergessen konnte. Wir waren froh, dass ihre Arbeitsstelle nur sieben Kilometer entfernt war und sie dadurch ausreichend Zeit hatte, hierherzukommen. Mir ging gerade der Gedanke durch den Kopf:

Hoffentlich wird sie nicht an eine andere Filiale versetzt und kann dann nicht mehr kommen, da stand Carmen auf und mit einem Blick auf die Uhr verabschiedete sie sich:

»Es wird Zeit, dass ich fahre, ich will nicht unpünktlich sein. Danke für das gute Mittagessen, deine Apfelküchle waren heute wieder besonders lecker.«

»Fahr vorsichtig, es ist Freitagnachmittag, da haben es manche besonders eilig!«, rief ich ihr nach und informierte sie über meinen späteren Besuch: »Wenn ich nachher zum Einkaufen nach Neckarbischofsheim komme, schaue ich bei dir in der Bank vorbei. Ich glaube, ich brauche auch noch etwas Geld.« Sie stand schon unter der Haustüre, drehte sich nochmals um und hatte schon wieder einen flotten Spruch auf den Lippen:

»Komm nur vorbei, ich gebe dir so viel Geld, wie du willst.« Kurz darauf saß sie in ihrem Auto und fuhr los. Ich freute mich darauf, sie am Nachmittag nochmals zu sehen, doch es sollte alles ganz anders kommen. Aus dem weißen, diamantglitzernden Sonnentag sollte für uns ein schwarzer Freitag werden.

Wir gingen gerade gemeinsam den Einkaufszettel durch, da klingelte das Telefon. Als ich den Hörer abgenommen hatte, herrschte zunächst Funkstille. Ich überlegte gerade, ob sich schon wieder einer verwählt hatte, und wollte auflegen, da meldete sich jemand am anderen Ende der Leitung. Es war ein Kollege unserer Tochter von der Bank. Mit zögerlicher Stimme erkundigte er sich, ob Carmen noch bei uns sei. Leicht irritiert antwortete ich:

»Nein, die ist schon vor einer Weile weggefahren, sie müsste inzwischen schon da sein.« Plötzlich beschlich mich ein ungutes Gefühl und ich beendete das Gespräch mit dem Hinweis, dass ich sogleich losfahren würde, um nach ihr zu schauen. »Vielleicht hat sie einen Platten am Auto.« Mit dieser Überlegung versuchte ich meine Frau zu trösten und meine aufkommende Angst zu unterdrücken. Der seltsame Anruf des Bankers hatte von einer Sekunde auf die andere alles verändert. Die friedliche Stimmung und die glückselige Atmosphäre, die noch kurz zuvor geherrscht hatten, waren sofort wie weggeblasen. Angst, Hoffen und Bangen machten sich breit. Wir konnten uns nicht dagegen wehren. Mit unruhig flackerndem Blick schaute mich meine Frau an, und ein paar Tränen kullerten aus ihren Augen, als sie mich bat:

»Lass mich mitfahren, ich muss wissen, was da passiert ist. Wenn ich hierbleibe, dann sterbe ich vor Angst. Diese Ungewissheit halte ich nicht aus.«

Ich versuchte, sie zu beruhigen, obwohl auch ich immer aufgeregter wurde:

»Sei vernünftig und bleibe hier. Du kannst am besten helfen, wenn du hier und am Telefon bist. Wenn wieder ein Anruf kommen sollte, dann ist jemand zu erreichen. Sobald ich kann, komme ich wieder zurück.«

Doch es sollte anders kommen, als ich gedacht hatte. Das Schicksal führte wieder einmal Regie. Ein flüchtiger Kuss, dann griff ich mir den Einkaufskorb und eilte aus dem Haus. Eine plötzlich wahrnehmbare innere Stimme wollte mich zum Rasen verleiten.

»Los, gib Gas, fahr schneller, sonst kommst du zu spät.« Ich musste meine ganze Vernunft aktivieren, damit ich nicht zum Verkehrssünder wurde. Ich hatte bereits mit noch einigermaßen angepasster Geschwindigkeit den Nachbarort Bargen durchfahren und wollte gerade wieder beschleunigen, da sah ich vor mir eine Straßensperre mit Umleitungshinweis. Ein Feuerwehrmann stand daneben und wollte mich auf die Abbiegespur einweisen. Nichts Gutes ahnend, hielt ich an, kurbelte das Fenster herunter und wollte ihn ansprechen. Doch die Angst schnürte mir die Kehle zu. Es bedurfte großer Willensanstrengung, meine Frage an ihn einigermaßen ruhig und verständlich aussprechen zu können:

»Warum die Umleitung? Ist etwas passiert?«

»Ja, ein Verkehrsunfall. Der Schulbus hat einen PKW über den Haufen gefahren. Biegen Sie hier links ab, auf der Landstraße können Sie nicht durchfahren.«

Angstschweiß legte sich mir auf die Stirn und mit einer Ruhe, wie ich sie bei mir zuvor noch nie erlebt hatte, widersprach ich dem Florian-Jünger:

»Doch, gerade da muss ich jetzt durch. Das ist meine Tochter.«

Obwohl ich es noch nicht gesehen hatte, wusste ich mit hundertprozentiger Sicherheit, dass Carmen etwas mit dem Unfall zu tun haben musste. Der Feuerwehrmann schaute mich völlig verständnislos an und ließ mich, ohne ein Wort zu erwidern, passieren. Jetzt hatte ich es eilig und beschleunigte den Wagen extrem. Doch bereits nach 500 Metern nahm ich den Fuß wieder vom Gaspedal. Ein Bild des Schreckens tat sich vor mir auf. Was ich erblickte, übertraf alle meine Befürchtungen. Blinkendes Blaulicht mehrerer Fahrzeuge leuchtete mir entgegen. Polizei, Notarzt und Rettungswagen parkten auf und neben der Straße. Wie ein drohendes Ungetüm stand der Schulbus mitten auf der Gegenfahrbahn in Richtung Bargen. Seine große Frontpartie war zertrümmert, es sah ganz so aus, als ob er etwas auf seine große Schnauze bekommen hätte. Menschen rannten wirr durcheinander, andere standen betroffen daneben.

Und wo ist Carmen, schoss es mir unheilvoll durch den Kopf. Erst als ich angehalten hatte und aus dem Auto gesprungen war, sah ich ihren Polo beziehungsweise das, was von ihm übrig geblieben war, etwa zehn Meter entfernt auf dem angrenzenden Acker liegen. Wie das Auto über den Graben hinweg bis dorthin gelangen konnte, darüber konnte ich mir in diesem Moment keine Gedanken machen. Wie fremdgesteuert sprang ich hinüber und suchte nach meiner Tochter. Die Menschen um mich herum nahm ich nicht wahr, ich hatte nur noch das Unfallauto im Blick. Carmen war nicht mehr im Wagen. Nein, darin konnte natürlich auch niemand sein, so zusammengeschoben, wie das Blechknäuel war. Die Säcke der beiden Frontairbags hingen schlaff herunter.

»Wo ist Carmen?« Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, ich hatte diese Frage in meiner Verzweiflung einfach hinausgeschrien. Einer der Umstehenden deutete auf den Rettungswagen und versuchte, mich zu beruhigen:

»Sie ist dort drüben, der Notarzt kümmert sich bereits um die Verletzte.«

Ich ließ ihn stehen und eilte hinüber. Doch die Türe blieb für mich verschlossen, da durfte ich nicht stören. Ein Polizeibeamter kam auf mich zu und forderte mich auf, ihm zu folgen: »Jetzt wird es Zeit, dass wir eine Blutprobe bei Ihnen nehmen.«

In meinem Schockzustand begriff ich nicht, was er eigentlich von mir wollte, und seinem Blick nach zu urteilen musste ich ihn nicht gerade intelligent angestarrt haben. Ein zweiter Gesetzeshüter kam schließlich herbei und klärte die peinliche Situation:

»Das ist nicht der Busfahrer Herr Kollege, der steht dort drüben hinter seinem Fahrzeug. Das hier ist der Vater der verunglückten jungen Frau.« Danach wandte er sich an mich und versuchte, mir behutsam zu erklären, was sich hier ereignet hatte:

»Ihre Tochter kam hier auf der vorfahrtsberechtigten Landstraße von Bargen her gefahren. Der Bus kam aus diesem Seitenweg von Flinsbach heraus. Aber anstatt hier anzuhalten, bog der Fahrer auf die Landstraße ein und geriet aufgrund der Länge des Fahrzeuges voll auf die Gegenfahrbahn. Die Schüler im Bus haben noch gerufen:

»Halt, da kommt ein Auto.« Doch der Mann fuhr einfach weiter, der muss wohl einen Blackout gehabt haben. Ihre Tochter hatte nicht den Hauch einer Chance. Sie sehen ja selber, wie wuchtig der Aufprall gewesen sein muss, sonst wäre der Polo nicht so weit weggeschleudert worden.« Er vermied den direkten Blickkontakt mit mir und meinte dann abschließend: »Wir haben weder Ausweis- noch Fahrzeugpapiere bei Ihrer Tochter gefunden. Anhand ihres Namensschildes und dem Logo ihrer Bank haben wir dann ihre Arbeitsstätte verständigt.«

Zunächst schaute ich ihn ungläubig an, dann hörte ich mich, so als ob ich neben mir stehen würde, sagen: »Das kann nicht sein. So gewissenhaft wie Carmen ist, hat sie ihre Papiere immer dabei. Wo ist ihre Hand­tasche?« Ein Zucken mit den Schultern war die Antwort. Also ging ich nochmals zu dem Wrack hinüber und wühlte unter einem Berg von Glasscherben die Handtasche hervor. Mit blutverschmierten Fingern, ich musste mich an den Scherben verletzt haben, übergab ich dem Polizisten die Unterlagen.

Plötzlich starrten alle Umstehenden zum stahlblauen Himmel empor. Ein Rettungshubschrauber kam im Tiefflug herangerauscht und setzte auf dem angrenzenden Feld auf. Schnee wirbelte auf und ließ die Umgebung für einen Augenblick gespenstisch erscheinen. Als dann der Rotor des Helikopters endlich still stand, ging alles ganz schnell über den Schauplatz der schrecklichen Ereignisse. Carmen wurde vom Rettungswagen in den Hubschrauber verfrachtet, und als dieser dann wieder aufstieg, waren gerade einmal ein paar Minuten vergangen. Ich wollte zu Carmen hinübereilen, doch irgendjemand hatte mich zurückgehalten:

»Es ist besser, wenn Sie Ihre Tochter jetzt nicht sehen.«

Nur von Ferne und nur für einen kurzen Augenblick konnte ich in ihr wachsbleiches Gesicht blicken. Es schien mir, als ob kein Leben mehr in ihr war. Angst und Verzweiflung schnürten mir den Hals zu. Ich war unfähig etwas zu sagen, ich wollte doch wissen, wo man sie hinbringen würde.

Ein unbekannter Mann sprach mich an und stellte sich vor. Er war von dem Busunternehmen und bot mir an, mich nach Mannheim zum Städtischen Klinikum zu fahren. »Dorthin wird man Ihre Tochter bringen«, erklärte er mir abschließend.

Noch immer nicht Herr meiner Sinne, nickte ich nur zustimmend und schränkte dann erklärend ein: »Aber nicht sofort. Vorher muss ich meiner Frau noch diese schlimme Nachricht überbringen, und mein Auto kann ich auch nicht hier auf der Straße stehen lassen.«

»Gut, ich hole Sie in einer halben Stunde von zu Hause ab.«

Gerade als ich bei meinem Wagen angekommen war, tauchte plötzlich Helmut vor mir auf. Helmut wohnt in Bargen und wir kennen uns schon von Jugend an. Wir sind beide im gleichen Alter und sehen uns ab und an, wenn ich durch den Ort fahre.

»Du kannst jetzt unmöglich selber fahren. Gib mir den Autoschlüssel, ich bringe dich heim.«

»Das geht schon wieder, Helmut, es sind doch nur drei Kilometer«, lehnte ich sein Angebot dankend ab.

»Nein, es ist schon zu viel passiert heute. Ich lasse dich nicht alleine fahren, du bist ja schneeweiß im Gesicht.«

Verwundert schaute ich ihn an: »Du hast ja vollkommen recht, mir geht es tatsächlich nicht gut, ich glaube, ich muss mich übergeben.« Doch diese Befürchtung trat Gott sei Dank nicht ein, obwohl mein Magen ständig rebellierte. Vergebens suchte ich nach dem Wagenschlüssel, doch ich konnte ihn nicht finden.

»Der steckt noch im Zündschloss«, klärte mich schließlich Helmut auf und setzte sich hinter das Lenkrad. Dankbar nickte ich und setzte mich neben ihn.

Meine Frau war nicht allein, als ich endlich wieder nach Hause kam. Ihre Nichte Heike war bei ihr. Als der Rettungshubschrauber im Tiefflug über unser Haus donnerte, war es mit der Ruhe meiner Frau endgültig vorbei gewesen. Ihr Instinkt und ihre Muttergefühle ließen sie erahnen, dass etwas passiert sein musste. Kurzentschlossen telefonierte sie daraufhin mit ihrer Nichte in Bargen. So erfuhr sie noch vor meiner Rückkehr von dem schrecklichen Unfall. Die Ungewissheit war für sie noch schwerer zu ertragen gewesen als die brutale Realität. Wir versuchten, uns gegenseitig zu trösten und Mut zu machen, und jeder von uns betete im Stillen um Hilfe und Rettung.

Als der Wagen vorfuhr, um mich abzuholen, hatte ich alle Mühe, meine Frau davon zu überzeugen, dass es besser für sie war, zu Hause zu bleiben. Sie wollte unbedingt mitfahren, sah aber dann ein, dass sie ja doch nicht helfen konnte.

»Bleib du hier und informiere Martina und Anja, damit sie Bescheid wissen. Wenn sie hierherkommen können, dann bist du auch nicht so allein.«

»Ja, das mache ich. Aber du solltest noch eine Kleinigkeit essen, bevor du gehst. Wer weiß, wie lange das dauert, bis du wiederkommst.« Das war typisch Traudel, immer um das Wohl der anderen besorgt, aber ich konnte jetzt beim besten Willen nichts essen. Jeder Bissen wäre mir im Hals stecken geblieben.

Die anschließende Fahrt zur Klinik nach Mannheim verlief ruhig und überwiegend schweigend, es wurde nur das Notwendigste gesprochen. Auf mich stürmten so viele Fragen ein, doch die konnte mir der Fahrer auch nicht beantworten. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken: Wird sie überleben? Wird sie wieder ganz gesund werden oder bleiben Behinderungen zurück? Wird sie je wieder gehen und lachen können? Mein Gott, sie ist doch noch so jung, sie hat doch ihr ganzes Leben noch vor sich.

Schreckliche Bilder, die mich fast zum Wahnsinn trieben, zogen an meinem inneren Auge vorbei. Doch eine Antwort auf all diese Fragen, die suchte ich vergebens.

Auch der Arzt, der mich eine Stunde später mit knappen Worten über den Zustand meiner Tochter unterrichtete, konnte mir meine Angst nicht nehmen. »Sie hat zum Teil sehr schlimme Frakturen an beiden Armen und Beinen. Ob sie auch innere Verletzungen davongetragen hat, das können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Das werden erst die eingeleiteten Untersuchungen ergeben. Bedenklich scheint mir, dass aus dem rechten Ohr Blut ausgetreten ist. Hoffentlich hat sie keine weiteren inneren Kopfverletzungen davongetragen. Aber das muss es nicht heißen, dafür können natürlich auch harmlose Gründe verantwortlich sein«, fügte er schnell hinzu, als er meinen entsetzten Blick sah. Dann war er schnell aufgestanden und hatte sich verabschiedet: »Ich muss jetzt gehen. Sie verstehen, die Operation. Am besten wird es sein, wenn Sie jetzt nach Hause fahren. Die Operation wird bestimmt mehrere Stunden dauern. Sie können hier nicht helfen, gehen Sie heim zu Ihrer Familie. Wir werden Sie, sobald die Operation beendet ist, telefonisch über den Zustand Ihrer Tochter informieren. Ich kann Ihnen leider keine genaue Zeitangabe machen, aber ich schätze, es wird nicht vor ein oder zwei Uhr heute Nacht sein.«

Der Arzt war schon weg, da überlegte ich noch immer, was ich tun sollte. Widersprüchliche Gedanken quälten sich durch mein Gehirn. Eine innere Stimme forderte mich auf, hierzubleiben und zu warten. Eine andere riet mir, dem Rat des Arztes zu folgen. Schließlich siegte die Vernunft und ich ging. Den Kopf voller Zweifel und unheilvoller Gedanken, schlich ich über die endlos langen Gänge des Klinikums und suchte nach meinem Fahrer.

Es war spät geworden und die Dunkelheit lag schon lange über dem Land, als ich endlich nach Hause kam. Müde und abgespannt trat ich in die Küche, sechs Augenpaare schauten mir mit banger Erwartung entgegen. Sofort wurde ich mit vielen Fragen bestürmt:

»Sag schon, wie geht es Carmen? Lebt sie? So rede doch! Wir sitzen hier schon seit Stunden und machen uns große Sorgen.«

»Sofort, ich muss nur vorher etwas trinken, sonst bringe ich kein Wort mehr heraus.« Nachdem ich einige Schlucke Tee getrunken hatte, berichtete ich meiner Familie, was ich wusste und erfahren hatte. »Leider kann ich euch nicht mehr sagen. Wir müssen warten, bis die Klinik uns anruft. Danach werden wir wissen, wie es um Carmen steht. Aber das kann noch dauern, es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten und zu beten.«

Doch wir sollten in dieser Nacht auf eine lange und harte Probe gestellt werden. Es wurde die schlimmste Nacht für uns alle, uns wurde viel Zeit zum Beten gewährt. Die Stunden sind noch nie so langsam vergangen wie in dieser Nacht. Mitternacht war vorbei und die Blicke zur Uhr wurden immer häufiger. Ein Uhr, zwei Uhr und noch immer kein Anruf. Lähmende Angst legte sich auf unser Gemüt, und die schlimmsten Befürchtungen geißelten unsere Gedanken. Gesprochen wurde nicht mehr in unserer kleinen Runde. Was sollte man auch noch reden? Es war bereits alles gesagt, was wir wussten und was uns bewegte. Jeder von uns kämpfte auf seine Art gegen die aufkommende Müdigkeit an, doch keiner hatte den Wunsch, sich hinzulegen, um etwas zu ruhen.

Genau weiß ich es nicht mehr, aber es muss so um fünf Uhr in den Morgenstunden gewesen sein, als endlich der langersehnte Anruf aus Mannheim kam. Gebannt starrten wir auf den Apparat im Flur, der bestimmt bei uns zu so früher Stunde noch nie geklingelt hatte. Welche Nachricht wartete auf uns? Würde es eine schlimme oder eine gute sein? Anja war wieder mal die Erste, die den Spannungsschock überwunden hatte:

»Auf, Papa, geh schon ran, wir wollen endlich wissen, wie es Carmen geht.«

Eine angenehme Frauenstimme meldete sich am anderen Ende der Leitung und setzte mich über den momentanen Zustand unserer Tochter in Kenntnis: »Die chirurgischen Operationen haben wesentlich länger gedauert als vorgesehen. Doch jetzt sind alle Frakturen versorgt. Das heißt, im vorliegenden Fall wurden stabilisierende Metallstifte verwendet, die später wieder entfernt werden müssen.«

»Also verschraubt und genagelt«, fasste ich etwas hilflos meine Schreckvorstellungen in Worte.

»Ja, so in etwa kann man es laienhaft ausdrücken. Jetzt habe ich noch eine gute Nachricht: Wir haben keine inneren Verletzungen feststellen können. Das ist auch für uns ein kleines Wunder. Ihre Tochter wird jetzt auf die Intensivstation gebracht, dort wird sie noch für mehrere Stunden im Narkoseschlaf liegen. Wenn später die Aufwachphase eintritt, wäre es sehr förderlich, wenn jemand aus Ihrer Familie zugegen sein könnte. Wir erwarten dies am frühen Nachmittag.« Danach gab sie mir noch die Telefonnummer der Klinikauskunft und beendete das Gespräch mit einem lieben Gruß.

Mit Tränen der Erleichterung wurde die Nachricht von uns allen aufgenommen. Eine bleierne Last löste sich von unseren Seelen. Das Positive überwog und drängte das Schlimme vorerst in den Hintergrund. Carmen lebte und hatte keine inneren Verletzungen davongetragen. Die Knochenbrüche würden wieder heilen, aber schon bald bohrte die Ungewissheit sich wieder in den Vordergrund. Würde sie jemals ihre Glieder so wie vorher gebrauchen können? Hatte das Bluten aus dem Ohr irgendwelche negativen Auswirkungen im Kopf? Würde sie überhaupt wieder aus dem Koma aufwachen? Diese und noch weitere Befürchtungen begleiteten uns, während wir uns zurückzogen, um für einige Stunden etwas Schlaf zu finden.

Es muss für meine Frau furchtbar gewesen sein, nicht zur Klinik mitfahren zu können. Sie war es gewohnt, stets und für alle da zu sein. Daran hatte sich auch nichts geändert, als die heimtückische Krankheit ihre Bewegungsfreiheit immer mehr einschränkte. Wir versuchten, sie zu trösten, und versprachen, sofort anzurufen, sobald sich etwas Neues ergeben hat.

Eingehüllt in grüne, sterile Schutzkleidung saßen wir zwei Stunden später zu dritt am Krankenbett von Carmen in dem Städtischen Klinikum von Mannheim. Unsere Patientin schlief noch fest und es waren keine Anzeichen zu erkennen, dass sie bald aufwachen würde. Bange Gedanken quälten uns. Es wurde wenig gesprochen und das nur im Flüsterton. Hinter spanischen Wänden lagen noch weitere Personen, der große Raum schien voll belegt zu sein. Auf mich wirkte das alles fremd und beängstigend. Wie oft hatte sich hier schon das Schicksal eines Menschen entschieden. Leben oder Tod, hier in diesem Raum konnte man beidem begegnen und niemand wusste, wer siegen würde.

Es verging viel Zeit. Zweifel kamen auf. Hatte man uns auch richtig informiert? Doch dann zeigten sich die ersten Symptome, dass ihr Schlaf zu Ende gehen würde. Zuerst ein Zucken im Gesicht, bald darauf ein vorsichtiges Blinzeln, und endlich öffnete sie die Augen. Ihr erster, noch schläfriger Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand. Kurz darauf weiteten sich plötzlich ihre Augen und blieben an dem dort angebrachten Schild hängen. Ein Augenblick des Überlegens, dann schaute sie sich um und erkannte uns. Verwundert musterte sie uns der Reihe nach und schon kam ihre erste Frage:

»Wo bin ich?«

Völlig überrascht schauten wir uns an. Was konnten, was durften wir ihr denn sagen? Da kam auch schon die zweite Frage hinterher:

»Wieso bin ich hier in Mannheim und was mache ich in diesem Bett?«

Woher wusste sie, wo sie sich befand? Ich glaube, wir drei sahen in diesem Moment nicht gerade geistreich aus. Erst später klärte sich das Rätsel. Carmen hatte es auf dem Schild gelesen, das in ihrem Blickfeld an der Wand hing. Darauf stand in großen Buchstaben auch die Adresse des Hauses: Städtisches Klinikum Mannheim. Dieter, ihr Freund, versuchte nun vorsichtig, jedes Wort abwägend, zu erklären:

»Du hattest einen Unfall, und man hat dich mit dem Hubschrauber hierhergeflogen.«

»Was, mit dem Schraubhuber? Davon weiß ich nichts. Das kann gar nicht sein, das wüsste ich doch. Komm, erzähl mir doch keine Märchen.«

Wir blickten uns an und ich unterdrückte ein freudiges Grinsen. Ja, das war unsere Carmen, wie sie leibte und lebte. Witzig und oft einen flotten Spruch auf den Lippen. Erleichterung machte sich breit, es schien, als ob eine zentnerschwere Last von unseren Seelen genommen worden war. Das Schönste aber war, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnte. Ein ganzer Tag ihres Lebens war aus ihrem Gedächtnis gestrichen worden. Das Schicksal, oder wer auch immer es gewesen sein mag, hatte es gut mit ihr gemeint. Kaum dass mir diese Gedanken gekommen waren, sorgte unsere Patientin schon wieder für weitere Überraschungen:

»Macht mal Platz, ich muss jetzt aufstehen und auf die Toilette gehen.«

Schon wieder so eine Schocksituation. Was konnten wir ihr sagen? Inwieweit durften wir sie unterrichten? Es schien, als ob nun wir die Hilflosen waren und nicht die Verunglückte vor uns im Bett.

»Das geht nicht«, begann ich behutsam und erklärte ihr dann, vorsichtig die Worte abwägend, dass sie beide Arme und Beine bei dem Unfall gebrochen hatte. Sie glaubte es mir natürlich nicht. Doch bereits ihre ersten Bewegungsversuche belehrten sie dann eines Besseren. Langsam begann sie die Realität zu erfassen. Wir mussten ihr nun viel erzählen. Sie nahm es tapfer und fügte sich erstaunlich schnell in ihre neue Situation ein. Keine Spur von Resignation. Ja, sie war es schließlich, die uns Hoffnung auf eine baldige Genesung machte. Ich bewunderte sie wegen ihrer Tapferkeit. Sie war im Leid so stark wie ihre Mutter. Erleichtert fuhr ich an diesem Nachmittag wieder zurück, Anja und Dieter blieben noch etwas länger bei Carmen.

Zu Hause angekommen, konnte ich meiner Frau mit meinem Bericht keine größere Freude bereiten. Sie weinte vor Glück und Erleichterung und dankbar klangen ihre Worte:

»So sind unsere Gebete doch erhört worden. Der Himmel muss ihr einen starken Schutzengel zur Seite gestellt haben. Vielleicht waren es auch zwei oder drei, die sie vor dem Tode bewahrt hatten. Dafür will ich ewig dankbar sein. Jetzt habe ich nur noch einen Wunsch, dann bin ich zufrieden.«

Es war nicht schwer, diesen Wunsch zu erraten, den konnte man an ihren schönen Augen ablesen. »Du willst Carmen besuchen?«

»Ja, nur ein einziges Mal. Ich weiß, dass das mit dem Rollstuhl nicht einfach sein wird. Aber ich muss sie sehen!«

»Das machen wir. Ich werde beim nächsten Besuch ausloten, wo ihr Krankenzimmer ist und wie wir mit dem Rollstuhl dahingelangen können. Irgendwie werden wir das auch noch schaffen.«

Wir schafften es. Wenn auch umständlich, mehrere Gänge und Aufzüge benutzend, erreichten wir unser Ziel. Die Freude von Mutter und Tochter kannte keine Grenzen. Meine Frau war glücklich, ihre »Kleine« wiederzusehen, und Carmen freute sich so sehr, dass sie schon wieder vorausschauend verkündete: »Mach dir keine Sorgen, Mama, an Weihnachten gehe ich mit euch in die Kirche.«

Wir schauten uns an und mussten lachen. Wir hielten es wieder für einen ihrer Späße, die sie so gerne zu machen pflegte. Dass sie dann tatsächlich am Heiligen Abend vor der Kirche stand, das war für uns ein Wunder. Am 23.12. war sie noch in der Klinik gewesen. Wir konnten es einfach nicht begreifen, aber wir nahmen es dankbar an.

Das letzte Lied in der Kirche war verklungen. Es wurde traditionsgemäß stehend und im Dunkeln gesungen. Nur die elektrischen Kerzen des großen Weihnachtsbaumes erhellten schwach den Altarraum. Eine Atmosphäre des Friedens und der inneren Ruhe breitete sich aus. Die Kirchenbesucher spürten die Ergriffenheit, die in der Luft zu schweben schien, sie verharrten noch einen Moment in besinnlicher innerer Einkehr. Als es wieder hell wurde, war es auch mit der Ruhe vorbei. Langsam leerte sich das Gotteshaus. Die Menschen wünschten sich gegenseitig frohe Weihnachten und gingen zurück in ihre warmen Wohnungen. Auch wir machten uns auf den Weg, den wir aber wegen unserer zwei Gehbehinderten mit dem Auto zurücklegten.