Weihnachtswunder in den Bergen - Monika Dockter - E-Book

Weihnachtswunder in den Bergen E-Book

Monika Dockter

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Beschreibung

Einen Legobagger, Tannenbäume, ganz viel Schnee und eine Herberge wie in der Weihnachtsgeschichte wünscht sich der sechsjährige Julius. Diese Wünsche könnten wahr werden, denn seine Eltern möchten mit ihren beiden Kindern das Fest in diesem Jahr tatsächlich abseits des üblichen Weihnachtstrubels verbringen - in den Bergen. Auch Hannes, ein 72-jähriger Almbauer, will sich einer für seine Begriffe zu unbesinnlichen Familienfeier entziehen. Ein unvorhergesehener Zwischenfall führt Julius' Familie und den Almbauern zusammen und macht das Weihnachtsfest zu einem Abenteuer - und zu einer unvergesslichen Zeit für alle ... Eine warmherzige Erzählung über kindlichen Glauben und ein Weihnachtsfest, das die Kraft hat, Herzen zu verändern.

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Über die Autorin

Monika Dockter ist Mutter von vier erwachsenen Kindern, lebt mit ihrem Mann, der jüngsten Tochter und einem kleinen Hund in Bayern und schreibt aus Leidenschaft. Kinder liegen ihr besonders am Herzen. Sie hat bereits einige Abenteuererzählungen für Kinder veröffentlicht.

Prolog

Wie so oft im Leben waren es auch bei dieser Geschichte Kleinigkeiten, die die Geschehnisse in Gang brachten. Nebensächlichkeiten. Nichtigkeiten wie ein nahezu unbemerktes Komma, das dennoch Richtung und Sinn eines Satzes auf bemerkenswerte Weise zu ändern vermag.

Es war ein einzelnes Wort, dahingesagt, ohne ihm weitreichende Bedeutung zuzumessen, das einen kleinen Jungen dazu brachte, ein ungewöhnliches Gebet zu sprechen.

Es waren die Klänge eines uralten Liedes, die vom abendlichen Weihnachtsmarkt durch die Straßen bis hinauf in eine kleine Wohnung drangen.

Es war eine Lichterkette, die eine junge Frau ohne jeglichen Hintergedanken vor Weihnachten im Hauseingang befestigte …

Kapitel 1

Drei Wochen vor Weihnachten

Hannes Sonner stand vor der Haustür und warf einen prüfenden Blick zum Himmel. Grau wie Blei war die geschlossene Wolkendecke und hing so tief, dass die Kirchturmspitze darin zu verschwinden schien. Auch die schneidend kalte Luft aus Richtung Osten trug den Geruch von Schnee mit sich. Droben auf der Alm war er schon vor Wochen gefallen und lag mittlerweile um die vierzig Zentimeter hoch, nun würde es hier unten im Dorf und damit vierhundert Höhenmeter tiefer demnächst auch so weit sein.

Schaudernd strich der Bauer über seinen kahlen Schädel hinunter zu den kalten, nackten Ohren. Monate voller Beschwerlichkeiten lagen vor ihm – Monate, in denen er sich jedes Mal geradezu vermummen musste, um in den Stall oder ins Freie zu gehen. Monate voller anstrengender Tätigkeiten wie Schneeräumen auf dem gesamten Hof und eventuell auch auf den Dächern. Vor allem aber Wintermonate, während derer er seine Frau noch schmerzlicher vermisste als während aller übrigen Jahreszeiten. Lang und finster hatte sich bisher jeder der drei Winter seit Rosis Tod dahingeschleppt. Jeder einzelne Abend war Hannes dunkler und freudloser erschienen als der Abend zuvor und hatte sich schier endlos in die Länge gezogen. Nicht einmal letztes Jahr, nachdem Florian, der ältere von Hannes’ beiden Söhnen, geheiratet hatte und dessen Frau mit ins Bauernhaus gezogen war, hatte sich viel daran geändert. Er ließ die jungen Leute lieber unter sich sein und zog sich früh in sein Schlafzimmer zurück, wo er für Stunden wach im Bett lag und der Zeit mit seiner Frau nachtrauerte …

Mit einem tiefen Seufzer drückte Hannes die Türklinke, trat über die Schwelle, stolperte und landete unsanft auf Händen und Knien. Erst während er sich mühsam wieder aufrichtete, bemerkte er das dünne, grüne Stromkabel, das sich quer durch den schmalen Bauernhausflur zur Steckdose in der gegenüberliegenden Wand zog und nur behelfsmäßig unter dem Türvorleger verborgen war. Sein Blick wanderte das Kabel entlang nach oben zu der Weihnachtslichterkette, die als Girlande den alten Türrahmen schmückte.

„Sabrina!“, kam es wie von selbst über seine Lippen, während er sein schmerzendes Knie massierte. Niemand anders als seine Schwiegertochter mit ihren modernen Ideen konnte in diesem – seinem – Haus die Person sein, die auf eine solche Idee kam.

Hannes hatte nichts gesagt, als Sabrina den verbeulten Emaille-Wasserkessel auf dem Herd in der Küche, den Rosi einst angeschafft hatte, gegen einen Kessel aus blitzendem Edelstahl austauschte und statt des guten alten Kaffees Grüntee und ähnliches Kraut aus dem kochenden Wasser zubereitete. Er hatte auch nichts gesagt, als sie Florian dazu brachte, die durchaus noch funktionstüchtige Hängelampe in der Essecke der holzgetäfelten Küche durch ein schaukelbrettähnliches LED-Teil mit blendendem Licht zu ersetzen. Und er hatte, obwohl er innerlich fast platzte vor Empörung, immer noch nichts gesagt, als Sabrina beschloss, seinen ersten Enkelsohn, dessen Ankunft in etlichen Monaten bevorstand, Jamal zu nennen, und nicht Leopold, Maximilian oder wenigstens Florian nach seinem Vater.

Aber das hier, dieses Aufhebens um eine angemessene und stimmungsvolle Weihnachtsdekoration – die Lichterkette an der Eingangstür war ja nur eine unter vielen vergleichbaren in Haus und Hof –, das war einfach zu viel. Es war der Tropfen, der das Fass der Zumutungen endgültig zum Überlaufen brachte: Hannes fühlte sich in seinem eigenen Zuhause nicht mehr zu Hause.

„Sabrina!“, rief er noch einmal. Durch die offen stehende Küchentür drang Sabrinas Antwort: „Was ist los, Vater, was hatte dieses Rumpeln eben zu bedeuten? Hast du dich gestoßen?“

„Gestolpert und gefallen bin ich – und zwar über das Kabel deiner unglückseligen Lichterkette da!“ Hannes’ deutlich vernehmbarer Ärger veranlasste Sabrina, ihren Kopf aus der Küche zu stecken. Betroffen musterte sie ihren Schwiegervater. „Oh, das tut mir leid! Ich wollte Florian noch bitten, das Kabel irgendwie sicherer zu befestigen, wenn er abends hereinkommt, damit niemand daran hängen bleibt, aber …“

„Nun, diese Mühe kannst du dir sparen, zumindest was mich betrifft!“ In dem Moment, in dem er das aussprach, entstand vor Hannes’ innerem Auge ein Bild, das so echt, so lebendig war, als sähe er sie tatsächlich vor sich: die Hütte mit dem kleinen Viehstall oben auf der Alm. Eng an den Berghang duckte sich das Holzgebäude. Eine strahlende Wintersonne beschien das schiefergedeckte Dach, spiegelte sich in den kleinen Fensterscheiben und verwandelte den tiefen Schnee rundum in eine glitzernde, diamantenbesetzte Pracht. Es war ein Bild der Unveränderlichkeit, der Stille und des Friedens, sodass Hannes ohne weiteres Nachdenken fortfuhr: „Denn ich ziehe aus!“

„Wie bitte?“ Sabrina stürmte aus der Küche in den Gang, ihre mit „Beste Köchin der Welt“ bedruckte Schürze mehlbestäubt und die Wangen hochrot vor Wärme. Der köstlich süße Duft, der ihr aus der weit offen stehenden Tür folgte, verriet, dass sie wie so oft am Backen war – eine Kunst, die sie tatsächlich besser beherrschte, als Rosi es je getan hatte. Das musste selbst Hannes zugeben.

Ihre Wangen wurden noch eine Spur röter, als sie fortfuhr: „Wie meinst du das: Du ziehst aus? Du kannst doch nicht einfach ausziehen – was würde Florian dazu sagen?!“

„Florian? Er kann sich auf den Kopf stellen und mit den Zehen wackeln oder was auch immer – es ist mir gleich! Ich zieh noch heute hoch auf die Alm, wo ich mindestens bis Weihnachten bleiben werde, vielleicht sogar noch länger!“

Mit diesen Worten hinkte Hannes zur Treppe, eine Hand an sein schmerzendes Knie gelegt und dennoch fest entschlossen, sein Vorhaben durchzuziehen. Der Frieden, den er – alleine für sich – auf der Alm zu finden gedachte, war ihm mehr wert als alles andere. Nicht einmal der Duft des weihnachtlichen Früchtekuchens, der ihm hartnäckig bis nach oben folgte, konnte ihn noch umstimmen.

Am Abend, nach Anbruch der Dunkelheit, stand Hannes erneut in einem Hauseingang: diesmal vor der leicht verwitterten und dennoch stabilen Tür seiner Almhütte. Er nahm jede Einzelheit der Umgebung in sich auf. Die Wolken über ihm hatten den größten Teil ihrer Schneelast abgeladen und damit die Schneedecke auf der Almwiese um etliche Zentimeter erhöht. Neben der Stalltür stand der vierzig Jahre alte und von Sohn Florian längst außer Betrieb genommene Fendt-Traktor, mit dessen Hilfe Hannes hier oben auf den Berg gelangt war. Im leeren Stall befand sich ein ausreichender Vorrat an Brennholz für den alten Holzherd. An der inneren Hüttenwand stapelten sich Bettzeug, etliche Fachzeitschriften über Landwirtschaft, die Hannes schon immer einmal hatte lesen wollen, und vor allem Lebensmittelvorräte.

Das Beste für Hannes aber war das, was er jetzt eher erahnen als erkennen konnte: Zu seinen Füßen, ein ganzes Stück unterhalb des Waldes und der Almwiese, lagen die Lichter des Dorfes. Die Lichter aus den Fenstern der anderen Dorfbewohner, aus denen seines eigenen Hofes – und die Lichter der allgegenwärtigen Weihnachtsdekorationen.

Er hatte sie, samt all den kleinen und großen Ärgernissen seines Alltags unter einem Dach mit seiner Schwiegertochter, tatsächlich hinter sich gelassen. Über seinem Kopf schwang keine erleuchtete Girlande, in deren Kabel man festhängen oder über das man stolpern konnte. Über seinem Kopf waren nichts als der freie Himmel, Wolken und ein einzelner Stern, dessen Schein beinahe zärtlich die schneebedeckten Berggipfel umspielte.

Mit einem stillen, höchst zufriedenen Lächeln auf den Lippen wandte sich Hannes schließlich ab und betrat seinen Zufluchtsort.

Kapitel 2

Etliche hundert Kilometer nordwärts starrte auch ein sechsjähriger Junge namens Julius hinaus in den dunklen Dezemberabend.

„Es regnet schon wieder!“, bemerkte er dabei und drückte unglücklich seine Nase gegen die Fensterscheibe. Direkt vor seinen Augen klatschten dicke Regentropfen ans Fenster, zerplatzten mit einem „plopp“ und liefen dann als kleine Wasserbäche die Scheibe hinunter. Zwischen diesen Wasserfällen konnte er gerade noch die hellen Lichter am Nachbarhaus erkennen. Vor ein paar Tagen waren die Eltern von Kai, der dort wohnte, auf eine Leiter gestiegen und hatten rund ums Haus Weihnachtslichterketten aufgehängt. Vom Garagendach, vom Dach über dem Eingang, rund um die Fenster und sämtliche Büsche im Garten blitzten und blinkten seitdem jeden Abend, sobald es dunkel wurde, die farbigen Lichter.

„Ist das schön bunt!“, hatte Julius’ Zwillingsschwester Josie das Meer aus blauen, weißen, gelben, roten und grünen Lichtern bestaunt und gefragt: „Warum hängen wir eigentlich keine bunten Lichterketten an unser Haus, Mama?“

„Nun ja“, überlegte Mama, „weil mir die bescheidenen, natürlichen Lichter sehr viel besser gefallen. Seht euch zum Beispiel dieses hier an!“ Sie zeigte auf die Kerze am Adventskranz auf dem Esstisch, die bereits angezündet war. „Ist so ein zartes, flackerndes Licht nicht viel eindrucksvoller als das bunte Lichtermeer da draußen? Und so klein die Kerzenflammen auch sind, erfüllen sie doch denselben Zweck wie das Licht unserer Nachbarn: Sie vertreiben die Dunkelheit.“

„Aber sie sind nicht bunt!“, hatte Josie, die alles Glitzernde, Bunte und Auffällige liebte, noch ein wenig gemeckert. Julius war insgeheim derselben Meinung wie seine Mutter: Die dicke rote Kerze mit ihrem Kopf aus Licht und dem warmen, gelben Schein in dem ansonsten dunklen Esszimmer war wirklich schöner als die vielen blinkenden Lichter am Nachbarhaus. Aber das war heute eigentlich gar nicht sein Problem. Was ihm heute Abend Kummer bereitete, war einzig und allein das Wetter.

„Wann ist es denn endlich kalt genug, dass es schneit, Papa?“, wandte er sich an seinen Vater, der eben das Kinderzimmer betrat, um den Zwillingen eine gute Nacht zu wünschen. Dabei zeigte Julius anklagend nach draußen. „Ich wünsche mir doch so sehr, dass wir noch vor Weihnachten Schnee bekommen!“

„Ich weiß, Juju! Aber wir wohnen nun mal in einer Gegend, in der es nur sehr selten vor Weihnachten schneit. Und den Schalter, den ich umlegen könnte, um draußen für Schnee statt für Regen zu sorgen, habe ich leider noch nicht gefunden. Das Einzige, was ich tun kann, ist, den Regen auszusperren!“ Papa langte an Julius vorbei und ließ mit sachtem Schwung den Rollladen vor der Scheibe heruntersausen, sodass die bunten Lichter draußen samt dem hässlichen Regen verschwanden. Dann schnappte er sich seinen Sohn, um diesen trotz des Protestes ins Bett zu befördern.

„Aber Papa! Ich bete jetzt schon so lange für den Schnee – mindestens seit Mama die Kerze zum ersten Mal angezündet hat!“, beharrte Julius, während sein Vater ihn fest in die Bettdecke wickelte. Papa sollte nur nicht glauben, dass Juju sich durch einen komischen Scherz von seinem Herzenswunsch abbringen ließ!

„Auch das weiß ich, mein Junge, und bin mir sicher, dass unser Vater im Himmel deine Bitte schon gehört hat! Und noch etwas.“ Jujus Vater machte eine kleine Pause und räusperte sich bedeutungsvoll: „Wenn du mir versprichst, dich während der nächsten Wochen nicht mehr über den fehlenden Weihnachtsschnee zu beklagen, verrate ich dir ein Geheimnis!“

„Ein Geheimnis?“, meldete sich Josie aus dem Bett an der gegenüberliegenden Wand des Kinderzimmers zu Wort. Sie hatte sich schon in die Decken gekuschelt, während ihr Bruder noch aus dem Fenster starrte, und war nahe am Einschlafen. Aber wenn es etwas gab, das sie im Nu wieder munter machen konnte, dann war es dieser Begriff: Geheimnis.

„Scht, nicht so laut!“ Mahnend legte ihr Vater einen Finger an die Lippen und fuhr im Flüsterton fort: „Ja, ein Geheimnis. Mama und ich haben nämlich beschlossen, dass wir Weihnachten dieses Jahr nicht zu Hause feiern werden. Wir wollen dem ganzen Trubel auf den Straßen und in den Geschäften einmal entkommen, und deshalb verbringen wir Weihnachten in den …“

„Aber Stephan!“, unterbrach Mamas Stimme Papas geheimnisvolles Flüstern. „Du bist ja schwatzhafter als die Kinder, wenn es darum geht, ein Geheimnis zu bewahren! Wir wollten das Ganze doch für uns behalten, bis es hundertprozentig sicher ist!“

„Aber das ist es doch, Linda, jedenfalls so gut wie sicher!“, verteidigte sich Papa und lächelte so ähnlich wie Juju, wenn er fürchtet, dass Mama ihn gleich schelten wird. „Ich habe heute die Buchungsbestätigung bekommen!“

„Tatsächlich? Das ist ja großartig!“, strahlte ihre Mutter, und Josie stürzte sich aus dem Bett direkt in die Arme ihres Vaters. „Also, was ist es, Papa? Was ist ein – Buchungsdings –, was ist euer Geheimnis?“

Mama nickte Papa immer noch strahlend zu, sodass er, diesmal laut und hörbar, verkündete: „Nun, wir werden dieses Weihnachtsfest in einem schönen kleinen Haus hoch oben im Gebirge feiern, wo es ganz sicher nicht nur viel Schnee, sondern auch noch weitere Überraschungen geben wird!“

„Ehrlich? Wir wohnen an Weihnachten im Gebirge – im Schnee!?“ Julius’ blaue Augen wurden groß vor Staunen und Josie begann, aufgeregt zu zappeln. „Hoch oben in den Bergen, ja? Genau wie bei Heidi, wo der Schnee fast so hoch ist wie das Haus?“ Der Film, den sie neulich gesehen hatte, war wohl sehr eindrucksvoll gewesen.

„Genau so ist es geplant!“, nickte Papa lachend, während Mama hinzufügte: „Aber bis dahin dauert es noch etwa drei Wochen, Josie. Deshalb: Ab ins Bett mit dir! Wer weiß, vielleicht träumst du ja heute Nacht schon von unserem Häuschen im Schnee?“

„Au ja!“ Mit zwei großen Sprüngen war Josie zurück in ihrem Bett und wickelte sich genießerisch in ihre Decke. Kurz darauf verließen die Eltern mit einem letzten „Gute Nacht, Josie, gute Nacht, Juju!“ das Kinderzimmer.

Josie atmete sehr tief ein und aus in der Hoffnung, möglichst schnell einzuschlafen. Juju dagegen brauchte noch ein wenig Zeit, um nachzudenken. Eigentlich hatte er bereits vorhin, nachdem Mama im Licht des Adventskranzes eine Geschichte vorgelesen hatte, sein Gute-Nacht-Gebet gesprochen. Wie immer hatte er Gott für Josie und seine anderen Freunde in der Schule gedankt, dafür, dass bald Weihnachten war, und dafür, dass sie alle – auch das Baby in Mamas Bauch – gesund waren. Und natürlich hatte er dafür gebetet, dass es bald schneite. Ganz zum Schluss hatte er dem Vater im Himmel noch seine übrigen Weihnachtswünsche genannt: den neuen Legobagger aus kleinen Teilen für große Jungs, einen schönen, sehr großen Weihnachts-Tannenbaum und eine Herberge.

Wie es jetzt, nur wenige Minuten später aussah, würde sein erster Wunsch, die Sache mit dem Schnee, also tatsächlich in Erfüllung gehen. War das nicht wunderbar? Die Freude auf den Schnee, der bis zum Fenster reichte, und die vielen Schneemänner, die er daraus bauen würde, dazu die Schneeballschlachten und Schlittenfahrten zusammen mit seiner Familie, dies alles machte ihn fast so zappelig wie Josie. Und diese Freude erfüllte ihn mit großer Hoffnung. Nämlich Hoffnung darauf, dass Gott auch seinen letzten Weihnachtswunsch erfüllen konnte: den nach der Herberge.

Seit dem Tag, an dem sie in der Sonntagsschule mit dem Üben für das Krippenspiel begonnen hatten, schwirrte ihm diese Herberge, in der Maria und Josef keinen Raum gefunden hatten, im Kopf herum. Die Sonntagsschulleiterin hatte den Kindern zuerst Bilder zu ihrem Theaterstück gezeigt. Das Bild von einem Haus aus grauem Stein, dessen breite Tür ganz fest verschlossen war und sich nicht öffnen wollte, sosehr Josef und Maria auch darum baten, hatte es Juju sofort angetan. Es führte zu einem seltsam kribbelnden, ziehenden Gefühl in seinem Bauch. Warum und weshalb, das konnte er sich selbst nicht erklären. Aber nichts konnte etwas an diesem Wunsch ändern, dass er eine solche Herberge haben musste. Nicht das ratlose Gesicht seiner Mutter, wenn er dafür betete, und auch nicht Josies Meinung, dass eine Herberge, also eine Art Gasthof oder Hotel, kein richtiges Weihnachtsgeschenk war. Schon gar nicht für ein Kind! Es war eben einfach so: Er, Juju, wünschte sich zu Weihnachten eine Herberge. Daran gab es nichts „zu rütteln“, wie seine Lehrerin immer sagte, wenn jemand ihr widersprechen wollte.

Aus diesem Grund flüsterte Juju nun, mit dem Kopf unter der Decke und neuer Hoffnung auf die Erfüllung seines ungewöhnlichen Wunsches, leise noch einmal: „Lieber Gott, danke für den vielen Schnee, den wir haben werden, und bitte denk doch auch an den Legobagger, den Tannenbaum und die Herberge!“

Kapitel 3

Noch weitere fünf Kilometer nordwärts, im Zentrum der Großstadt, begann der Abend für Chris genau wie jeder vorangegangene in diesem Dezember. Ein böiger Wind pfiff durch die Straßen und um die Häuser, drückte den Regen gegen die Scheiben des Erkerfensters und trieb sein Spiel mit der Straßenlampe vor dem Altbau, sodass der Lichtschein in unregelmäßigen Abständen durchs Wohnzimmer schwenkte. Chris war eine gute Stunde später von der Arbeit auf der örtlichen Sozialstation nach Hause zurückgekehrt als üblich. Offenbar hatten in der Vorweihnachtszeit viele ältere Mitmenschen einen erhöhten Gesprächsbedarf. Aber nun war es an der Zeit, auch gedanklich zu Hause anzukommen und Ruhe zu finden. Die Sechsundzwanzigjährige tauschte ihre Tageskleidung gegen ein Sweatshirt samt gemütlich weiter, weicher Hose, verzehrte eine warme Mahlzeit und ließ sich anschließend mit ihrem Tablet-PC auf dem Sofa nieder.

Seit etlichen Tagen nutzte sie die Abendstunden dazu, an dem Weihnachtsgeschenk für ihre Patenkinder zu arbeiten. Die Zwillinge Josephine und Julius liebten Geschichten – egal, ob von Tante Chrissi vorgelesen oder nur aus dem Stegreif erzählt. So war sie auf die Idee gekommen, ihnen eine ganz spezielle Geschichte zu Weihnachten zu schenken: eine Geschichte, in der Josie und Juju persönlich die Helden waren; eine Geschichte, die von ihrer Tante Chrissi selbst verfasst und zu einem Buch gebunden worden war. Bislang war sie ganz gut vorangekommen und hatte ihre beiden Hauptpersonen etliche lustige oder abenteuerliche Alltagssituationen durchleben lassen. Auch einige echte Erlebnisse der Zwillinge hatte sie in die Geschichte eingefügt. Da war zum Beispiel der Tag, an dem sie auf dem Schulweg einem gleichaltrigen Flüchtlingsjungen begegneten. In Anbetracht des kühlen Herbstwetters schenkten sie ihm, außer ihren Brotzeitpaketen und Jujus warmer Jacke, auch Josies pinkfarbene Handschuhe. Allein der Gedanke daran brachte Chris noch jetzt zum Lächeln.

Dennoch wollten heute Abend die Worte einfach nicht fließen. Nicht einmal gedanklich konnte Chris sich auf ihr Projekt konzentrieren.

Von Josie und Juju wanderten ihre Gedanken zu deren Mutter, Chris’ Schwester Linda, ihrem Mann Stephan und dem Baby, das diese demnächst erwarteten – zu dem Kind, das das Glück dieser Familie noch vollkommener machen würde, als es ohnehin schon war, während Chris immer noch einsam und allein durchs Leben stolpern musste.

Aber nein! Entschlossen richtete Chris ihren Blick auf den blinkenden Cursor auf ihrem Tablet. So etwas wollte sie gar nicht denken. Sie hatte nicht den geringsten Grund, eifersüchtig auf das Leben ihrer Schwester zu sein! Ihr eigenes Leben, auch als Single, bot genügend Anlass zur Dankbarkeit: Ihre soziale Arbeit erfüllte sie mit Befriedigung, sie besaß eine gemütliche, liebevoll eingerichtete Wohnung sowie etliche gute Freundinnen, und sie durfte bei den Zwillingen häufig die Ersatz-Mama spielen. Wie oft war sie mit den beiden schon auf dem Spielplatz gewesen, hatte sie gebadet oder ihnen am Bett eine Geschichte erzählt. Ein Grund mehr, sich jetzt ganz und gar auf ihr Geschichten-Geschenk zu konzentrieren!

Chris setzte ihre Finger auf die Tastatur und hatte eben zu schreiben begonnen, als ihr Handy sich meldete. Ohne den Blick vom Tablet zu nehmen, griff sie danach.

„Stell dir vor, Chrissi, es klappt!“

„Wie bitte?“ Mühsam riss Chris ihre Augen vom Text los. „Ach, du bist es, Linda!“

„Natürlich bin ich’s, Schäfchen! Und wie ich eben schon sagte: Es klappt! Wir haben die Hütte im Gebirge über die Feiertage bekommen, und gerade eben haben wir es den Kindern gesagt. Die beiden sind ganz aus dem Häuschen vor Freude!“

„Wow, das ist ja großartig! Ich freue mich mit euch!“

„Schön! Aber noch schöner fände ich es, wenn du dich gleich für dich selbst mitfreuen würdest! Du denkst doch nicht etwa, dass ich dich an Weihnachten hier allein in der öden grauen Stadt zurücklasse?!“

„Du meinst, ich soll mit euch fahren?“

„Natürlich sollst du das, Schäfchen! Das war doch von Anfang an so geplant – auch, wenn ich eventuell bisher versäumt habe, dir das mitzuteilen.“

„Tja, das hast du tatsächlich, große Schwester!“ Chris grinste nur über das „Schäfchen“ – ein Überbleibsel aus ihrer Kindheit, in der die sieben Jahre ältere Linda sie stets mit bemuttert hatte – und fuhr fort: „Mir scheint, allmählich macht sich dein Alter doch bemerkbar!“

„Und mir scheint, das Schäfchen hat sich hier gerade eine ordentliche Portion eisigen Schnee im Kragen verdient! Aber Spaß beiseite, Chrissi: Du fährt doch mit uns?“