Weil sie Armenier*innen sind - Pınar Selek - E-Book

Weil sie Armenier*innen sind E-Book

Pinar Selek

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Beschreibung

Auch über hundert Jahre nach dem Genozid an den Armenier*innen ist dies immer noch ein dunkles Kapitel der türkischen Geschichte, das weiterhin tabuisiert und geleugnet wird. Pınar Selek wirft aus ihrer Perspektive als Türkin einen Blick auf die historischen Ereignisse und deren Auswirkungen auf die türkische Gesellschaft bis heute. Durch ihre persönlichen und engagierten Erinnerungen, Beobachtungen und Begegnungen lernen wir, was es bedeutet, sich von Geschichtsumschreibungen in der Schule manipulieren zu lassen und aus irreführenden Geschichtsbüchern zu lernen, in einem Land zu leben, in dem armenische Geschichte aus dem Gedächtnis getilgt wurde. Es ist das schonungslose Zeugnis einer Frau, die mit ihrem Schreiben einen kritischen Blick auf das politische System in der Türkei wirft und dafür teuer bezahlen musste und immer noch muss.

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Über dieses Buch

Der Völkermord an den Armenier*innen ist ein dunkles Kapitel in der türkischen Geschichte, das nach wie vor tabuisiert wird – ein Drama, das die nachfolgenden Generationen begleitet und belastet. Pınar Selek reflektiert in ihrem Essay, was es bedeutet, sich in einer Gesellschaft neu zu orientieren, die aus irreführenden Geschichtsbüchern lernt, in der die armenische Kultur aus dem öffentlichen Leben eliminiert wurde. Aber auch, wie es ist, in linken Bewegungen aktiv zu sein, die diese Verleugnung verinnerlicht haben. Ein sensibles, engagiertes, oft auch selbstkritisches Zeugnis einer Frau, die mit ihrem Schreiben einen schonungslosen Blick auf das politische System in der Türkei wirft.

Über die Autorin

Pınar Selek wurde 1971 in Istanbul geboren. Sie ist Soziologin, feministische Aktivistin und Antimilitaristin. Sie machte sich mit ihren Schriften zur Armenien- und Kurd*innenfrage einen Namen und geriet deshalb in der Türkei zu Unrecht unter Terrorverdacht, wurde inhaftiert und in der Folge viermal von allen Anklagepunkten freigesprochen. Sie lebt heute im Exil in Frankreich, wo sie mehrere Bücher, Romane, Erzählungen, Essays und Artikel veröffentlicht hat. 2023 wurde der Prozess gegen sie in der Türkei erneut aufgerollt.

Pınar Selek

Weil sie Armenier*innen sind

Essay

Aus dem Französischenvon Dorothea Dieckmann

Anmerkung zu dieser Ausgabe

In Absprache mit der Übersetzerin Dorothea Dieckmann haben wir beschlossen, dass der ursprüngliche Text der Autorin, der nicht gegendert war, so erhalten bleiben soll. Nur im Titel und in Überschriften verwenden wir das Gendersternchen, um zu verdeutlichen, dass alle Armenier*innen gemeint sind. Das neue Nachwort von Pınar Selek ist so gegendert, wie sie das im französischen Originaltext getan hat. Diese Entscheidung haben wir aus Respekt vor den vielen persönlichen Schilderungen von Pınar Selek in diesem Essay getroffen. Wir hielten es für nicht angebracht, in diese Texte einzugreifen. Wir bitten dafür um Verständnis.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1.Der Aufsatz

2.Eine fremde Nachbarin

3.Ein gefälschtes Bild

4.Die Hand, die das Schwert trägt

5.Die überhebliche Identität

6.Was Istanbul erzählt

7.Das könnte dir schaden

8.Der Raki von Agop

9.Mit der Linken, trotz der Linken

10.Die Hände

11.Wo sind die Armenier*innen?

12.Die Wiederbelebung des historischen Fluchs

13.Karins Schrei

14.Gehen oder bleiben

15.Die abwesende Türkei

16.Zwischen Hoffnung und Verzweiflung

Die Jahre vergehen: Alles geht weiter …

Bibliografische Angaben

Vorwort

Es war eine Familie von Imkern, die lebte friedlich in ihrem Dorf, bis zu dem Tag, als der Sohn im Alter von gerade einmal sechs Jahren von der gefürchteten Honigkrankheit befallen wurde, die alle vierzig Jahre ausbricht. Die Medizin kannte weder die Ursache des Übels noch das Heilmittel. Außer Honig und Wasser rührte das Kind keine Nahrung mehr an. Die Arzneien, die ihm von allen Seiten angeraten wurden, halfen nicht, und der Kleine wurde von Tag zu Tag magerer. Seine Eltern schleppten ihn von einem Arzt zum andern, von Hoca1zu Hoca, ja selbst zu Exorzisten. Vergeblich. Das Kind hatte nur noch Augen für die Honigtöpfe.

Eines Tages empfahlen die Nachbarn den Eltern einen alten Weisen. Müde, jeden Tag an eine neue Tür zu klopfen, führten sie das schwächliche Kind in die Hütte des Mannes. Dieser seufzte, nachdem er sie lange angehört hatte, und sagte: »Gebt mir zehn Tage, dann kommt wieder zu mir. Wir werden sehen, ob ich euch helfen kann.« So sehr die Eltern auch in ihn drangen, mehr sagte er nicht. Zehn Tage vergingen. Die bedrückten Eltern besuchten den Alten wieder. Dieser ließ den Jungen näher treten, schaute ihm direkt in die Augen und sagte zu ihm: »Du weißt ja, dass man auch andere Dinge als Honig essen kann. Es ist notwendig.« Dann reichte er ihm einen Brotkanten. Das Kind nickte, nahm das Brot und führte es zum Mund. Am selben Tag begann es wieder, von allem zu essen.

In den Tagen darauf wurde der Vater von Neugier zerfressen. Was dieser heilige Mann gesagt hat, haben andere schon tausendmal vor ihm gesagt. Warum hat mein Sohn auf ihn gehört? Was ist sein Geheimnis?

Mit dem Honig eines ganzen Bienenstocks im Bündel machte er sich auf und klopfte erneut an die Tür des Weisen. Auf vielen Umwegen versuchte er, ihm die Lösung des Rätsels zu entlocken. Der Alte lächelte, nahm ihn beim Arm und führte ihn auf die Rückseite der Hütte. Dort bewahrte er zwei Bienenstöcke auf. »Es ist einfach«, sagte er, »ganz einfach. Auch ich habe eine Schwäche für Honig. Nie habe ich Lust, etwas anderes zu essen. An dem Tag, als ihr das Kind zu mir brachtet, habe ich um zehn Tage Aufschub gebeten, und während der ganzen Zeit habe ich keinen Tropfen Honig zu mir genommen, damit ich zu meinem Wort stehen kann. Das war eine harte Übung, aber ich habe sie bestanden. Als ich dann zu deinem Sohn sprach, fühlte er die Lauterkeit meiner Rede und glaubte mir. Die Worte, die aus dem Mund kommen, treten zum einen Ohr ein und zum anderen wieder hinaus. Die Worte des Herzens aber erreichen das Herz.«

Dies ist ein Auszug aus einer Erzählung, die ich vor Jahren geschrieben habe. Seither höre ich jedes Mal, wenn ich den Stift wieder zur Hand nehme, die Stimme des alten Weisen. Sie hindert mich daran, am Tisch zu bleiben und zu schreiben, und quält mich mit der Ermahnung, dass auch ich zu meinem Wort stehen soll.

Zeugnis ablegen, sagen: »Ich habe gesehen, ich habe gehört, ich habe erlebt«, das bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Aus dieser Verantwortung heraus schreibe ich heute, damit ich sagen kann, dass ich auf die unheilvollen Folgen hingewiesen habe, die auf einer vom Völkermord geschundenen Erde gegenwärtig sind. Obwohl ich in einer Umgebung aufwuchs, die frei war von der Krankheit des Nationalismus, habe ich mich allzu spät mit der Frage der Vernichtung der Armenier in der Türkei im Jahr 1915 auseinandergesetzt. Das ist nun also meine Aufgabe. Es gibt nichts Wertvolleres, als für die Gerechtigkeit zu kämpfen. Ich sitze auf der Zeugenbank. Zwar weiß ich nicht, wer Richter ist und wer Staatsanwalt, doch ich ergreife das Wort angesichts der dunklen Mechanik der Geschichte.

Natürlich kann der Bericht einer antimilitaristischen Feministin, die mit dem Staat in Konflikt geraten ist, keinen Fehler wiedergutmachen. Aber wird er nicht wenigstens verhindern können, dass neue Fehler gemacht werden? Wie dem auch sei: Der Kampf um Gerechtigkeit verspricht nicht nur einen punktuellen Sieg; er eröffnet einen Prozess der Reflexion und der Neupositionierung. Das hat mich meine eigene Geschichte gelehrt. Ich habe gelernt, jeden Wassertropfen aufzufangen und jedes Korn, das gesät wird, mit einem Lächeln zu begrüßen. Ja, Zeugnis ablegen bedeutet Verantwortung. Bericht erstatten mit den Toten des Herzens – und zu seinem Wort stehen.

1So bezeichnet man in der Türkei einen geistlichen Lehrer und Heiler.

1.Der Aufsatz

Themenstellung: Die Lüge des Völkermords an den Armeniern

Titel: Vom Winde verweht, vom Wasser verschlungen

Name des Schülers: xxx

Alter des Schülers: xxx

Vorgabe: Beweisführung, dass die Armenier Anatoliens niemals vernichtet wurden

Schulort: Staatliche Grundschule xxx

Datum: 10. Juni 2003

Zuerst einmal muss klargestellt werden, dass es in unserem Land keine Massaker an den Armeniern gegeben hat. Persönlich habe ich sie jedenfalls noch nie gesehen. Ich hatte nie armenische Freunde und hätte auch gar keine haben wollen. Nach dem, was unser Lehrer sagt, sind sie sehr knauserig. Er ist ein gebildeter Mann und weiß eine ganze Menge. Was hätte ich von einem Schulkameraden, der mir nicht mal seinen Bleistift oder seinen Radiergummi leiht?

Niemand weiß wirklich, wer die Armenier waren und wie sie gelebt haben. Vielleicht waren sie so eine Art Gülyabanis,2von denen uns unsere Vorfahren erzählt haben, oder ähnliche Gestalten. Ich muss nur das Wort »Armenier« hören und kriege Angst. Ein Glück, dass es sie nicht gibt. Wenn es sie gäbe, würden sie uns sofort auffressen, das sagt unser Geschichtslehrer. Er sagt, sie wären alle Terroristen und würden die Einheit unseres Landes gefährden. Und jetzt würden sie versuchen, die Türken gegeneinander auszuspielen, indem sie behaupten, es hätte einen Völkermord gegeben.

Unser Lehrer hat uns erklärt, dass die Worte ermeni und terörist dieselbe Wurzel haben: er.3Das Wort er lässt einen an die Armee denken, es erinnert an Tod, Morde, Massaker. Natürlich meine ich nicht die türkische Armee. Die türkischen Soldaten töten niemanden. Sie vergöttern Kinder und respektieren alte Leute. Die Armenier dagegen … Es heißt, sie würden sich vor allem an Kindern unseres Alters vergreifen. Erst schänden sie sie, dann trinken sie ihr Blut. Nachts habe ich Albträume, in denen sie mir als Riesen mit einem gewaltigen Kopf und einem Auge auf der Stirn erscheinen … Früher hatte ich Angst vor den Gülyabanis, aber jetzt glaube ich nicht mehr an sie. Mit den Armeniern wird es vielleicht genauso, und ich werde nicht mehr an sie glauben, wenn ich groß bin.

Ich habe meine Eltern zu dem Thema befragt, aber sie haben mir nichts gesagt. Mein Großvater auch nicht. Als ich ihn fragte, ist er wütend geworden: »Es gibt keine Armenier, sie existieren nicht! Wer hat dir das alles erzählt? Dass ich das Wort nie mehr aus deinem Mund höre!« Also, wenn ich diesen Aufsatz fertig habe, werde ich das Wort nie mehr aussprechen.

Der Geburtsort meiner Mutter gehörte den Armeniern. Ihr selbst ist die Geschichte eines Tages herausgerutscht. Da habe ich sie gefragt: »Habt ihr denn keine Angst gehabt, dort zu leben? Und wenn ihre Gespenster euch gefressen hätten?« Ich hätte eine saftige Ohrfeige verdient. Meine Mutter schlägt mich nie, eben weil sie keine Armenierin ist. Aber wenn man auf das Thema kommt, regt sie sich auf. Ihr Großvater war nach einer langen Reise in dieses Dorf ausgewandert. Als er ankam, war die Gegend offenbar seit langem verlassen, denn es gab weder eine Spur von Armeniern noch von sonst irgendjemandem. Die Geschichte dieses Dorfes geht auf die Hethiter zurück. Das steht in unseren Schulbüchern. Nach den Hethitern kamen die Seleukiden, danach die Osmanen und zuletzt unsere Republik.

Aber was ist dann aus den Armeniern geworden?

Sie müssen ganz einfach verschwunden sein, vorausgesetzt natürlich, dass es sie jemals gegeben hat … Dabei gibt es durchaus einige Hinweise auf ihre frühere Existenz. Sie finden sich vor allem in den Geschichten, mit denen man Kinder erschreckt. Wenn man größer wird, versteht man allerdings, dass es bloß Märchen sind. Wir haben sie nicht massakriert, denn die Türken würden keiner Fliege etwas zuleide tun. Sie können nicht einmal mit Waffen umgehen. Das merkt man daran, dass die Türken immer wieder ausrufen: »Friede dem Vaterland, Friede der Welt!« und die anderen bei den Händen fassen. Wieso sollten sie andere Leute töten? Türken sind anständig, arbeitsam und vertrauenswürdig. Glücklich, wer sich Türke nennt!4

Über den Völkermord an den Armeniern spricht niemand.

In Wirklichkeit waren sie es, die versucht haben, uns zu vernichten. Sie haben sich mit dem Teufel zusammengetan, um das Land zu zerstören. Mit ihren Schwertern sind sie auf uns losgegangen. Sie haben Frauen vergewaltigt. Manche haben sie behalten, andere verkauft. Sie haben unsere Ländereien gestohlen und unseren Besitz beschlagnahmt. Sie haben uns alle abgestochen, Kinder und Erwachsene. Keinen einzigen Türken haben sie in diesem Land übrig gelassen. Aber am Ende hat Allah sie bestraft und sie mit einer Handbewegung in die Hölle befördert.

Wie in den Märchen ist ein Wunder geschehen und wir sind zum Leben zurückgekehrt! Wir sind aus den Gräbern auferstanden und haben wieder angefangen zu leben. Ein Prinz hat uns mit einem Kuss wiedererweckt und eine gute Fee hat unsere Wunden geheilt. Seitdem gehört dieses paradiesische Land uns!