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Weit entfernt von gestern Manchmal reichen wenige Augenblicke, um das Leben zu verändern – und manchmal braucht es Jahre, um die verpassten Chancen zu erkennen. Alex und Tom verband einst eine unsichtbare Sehnsucht, die sie nie in Worte fassen konnten. Was mit einem Silvesterabend begann, endete in Missverständnissen, unausgesprochenen Gefühlen und dem scheinbar endgültigen Verlust des anderen. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Viele Jahre später kreuzen sich ihre Wege erneut, diesmal in den rauen, atemberaubenden Highlands Schottlands. Zwischen den weiten Tälern und stillen Seen beginnen sie, ihre gemeinsame Vergangenheit zu ergründen – und entdecken, dass alte Wunden manchmal nur heilen können, wenn man den Mut hat, sie gemeinsam zu betrachten. Weit entfernt von gestern ist eine emotionale Liebesgeschichte über verpasste Gelegenheiten, zweite Chancen und die Kraft, die Wahrheit der eigenen Gefühle zuzulassen. Eingebettet in die wilde Schönheit Schottlands erzählt der Roman von Heilung, Hoffnung und der Möglichkeit eines Neuanfangs.
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Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Skye Campbell
Weit entfernt von gestern – Hidden Memories
Alex & Tom, Band 1, Sad but true
Über das Buch:
"Weit entfernt von gestern" erzählt die bewegende Geschichte von Alex und Tom, deren Wege sich nach einer gemeinsamen Jugend voller unausgesprochener Gefühle und Missverständnisse wieder kreuzen. In den rauen, faszinierenden Landschaften Schottlands entdecken sie nicht nur einander, sondern auch sich selbst neu.
Zwischen dem Schmerz der Vergangenheit und der Hoffnung auf einen Neubeginn müssen sie sich der Frage stellen, ob Liebe die Zeit und die Narben, die sie hinterlassen hat, überwinden kann. Wird es ihnen gelingen, alte Wunden zu heilen und den Mut zu finden, endlich ehrlich zueinander zu sein?
Eine Geschichte über verlorene Chancen, die Magie des Wiederfindens und die Schönheit, die in jedem Neuanfang steckt.
Über die Autorin:
Skye Campbell, 48 Jahre alt, lebt mit ihrem Mann und ihrer Teenager-Tochter im Herzen Ostwestfalens. Schon früh entwickelte sie eine Begeisterung für Geschichten, die von tiefen Gefühlen und den Wendungen des Lebens handeln.
Mit ihrem Erstlingswerk verarbeitete sie die Erinnerungen an eine unerfüllte Liebe aus ihrer Jugendzeit – eine Geschichte, die sie nie ganz losgelassen hat. Der Roman ist nicht nur eine Reise in die Vergangenheit, sondern auch ein Plädoyer für die Kraft der Hoffnung und die Bedeutung von zweiten Chancen. Vor der faszinierenden Kulisse Schottlands lädt sie die Leser ein, sich auf eine emotionale Reise voller Leidenschaft und Sehnsucht zu begeben.
Skye Campbell
Weit entfernt von gestern
Hidden Memories
Coming-of-Age
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Skye Campbell
Umschlag:© 2024 Copyright by Skye Campbell
Verantwortlich
für den Inhalt:Skye Campbell
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Weil man die erste große Liebe
nie vergisst…
Lara ist sechzehn und lebt mit ihrer Familie auf einem kleinen Bauernhof in Hussendorf. Für Außenstehende wirkt ihr Leben idyllisch – weite Wiesen, grasende Kühe, der Duft von frischem Heu. Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich eine Realität voller harter Arbeit und Enttäuschung. Die Verantwortung für den Hof lastet fast vollständig auf ihren Schultern, denn auf ihre Mutter Doris kann sie sich schon lange nicht mehr verlassen. Doris verbringt die Tage auf der Couch oder im Schlafzimmer, klagt über Krankheiten und versteckt sich hinter Ausreden, die Lara längst nicht mehr hören kann. Bitten um Hilfe beantwortet sie mit einem unbeteiligten Blick, der jedes Gespräch im Keim erstickt.
Svea, ihre zwei Jahre jüngere Schwester, hat es sich in diesem Chaos bequem gemacht. Sie vergräbt sich stundenlang in ihren Zeichenblock oder steht vor dem Spiegel, immer darauf bedacht, gut auszusehen, falls doch einmal jemand vorbeikommt. Jede Bitte um Mithilfe wehrt sie mit einem genervten Lächeln ab, manchmal auch mit einem sarkastischen Kommentar, der Laras ohnehin strapazierte Geduld auf die Probe stellt. „Das kannst du doch viel besser allein“, sagt Svea dann, und Lara spürt die unsichtbare Mauer zwischen ihnen – eine Distanz, die Svea zu genießen scheint.
Nur Florian, ihr achtjähriger Bruder, ist ein Lichtblick. Für ihn trägt Lara all die Lasten, die sie sonst zu erdrücken drohen. Florian klammert sich an sie, wenn die Stimmung im Haus kippt, und in diesen Momenten weiß Lara, dass sie alles ertragen kann – allein für ihn. Nachts hält sie oft seine kleine Hand, bis er ruhig einschläft, und in diesen Augenblicken fühlt sie einen Hauch von Sinn in ihrem Leben. Florian ist es, der sie hin und wieder zum Lächeln bringt.
Ihr Vater Frank ist ein Rätsel. Manchmal hat Lara das Gefühl, dass er sie versteht – vielleicht sogar insgeheim bewundert. In seltenen Momenten stehen sie schweigend nebeneinander, während die Sonne hinter den Hügeln versinkt, und für einen Augenblick scheint eine stille Verbundenheit zwischen ihnen zu existieren. Doch diese Momente sind flüchtig. Häufiger kehrt Frank müde und wütend vom Feld zurück, und Lara weiß, dass sich seine Frustration in scharfen Worten oder sogar in Schlägen entladen könnte. An solchen Tagen schweigt sie, arbeitet noch mehr und versucht, unsichtbar zu sein.
Auch die Schule bietet ihr keinen Zufluchtsort. Ihre Mitschüler verspotten sie – wegen des Geruchs nach Stall, den sie trotz aller Bemühungen nicht immer verbergen kann, oder wegen ihrer abgetragenen Kleidung, die ihr stets ein wenig zu groß ist. Lara hat gelernt, wie man sich in den Hintergrund drängt, wie man unsichtbar bleibt.
Doch es gibt zwei Menschen, bei denen Lara ein Gefühl von Sicherheit hat. Nina, ihre beste Freundin, bringt sie zum Lachen und erinnert sie daran, dass sie nicht völlig allein ist. Und dann ist da David, ein neuer Klassenkamerad, der sie vom ersten Moment an fasziniert hat. Zunächst schwärmt sie für ihn, doch als David ihr anvertraut, dass er schwul ist, entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Bei ihm kann sie über Dinge sprechen, die sie niemandem sonst anvertraut, und in seiner Nähe fühlt sie sich gesehen. Dennoch bleibt die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Lara träumt von Liebe, Geborgenheit und einem Ort, der sich wie ein echtes Zuhause anfühlt.
Eines Nachmittags erzählt Nina ihr von einer Silvesterparty, die ihr Freund Tim veranstaltet. Mit einem verschmitzten Lächeln drängt sie Lara, mitzukommen, und meint, es sei an der Zeit, endlich etwas Neues auszuprobieren. Lara zögert. Solche Feiern lösen in ihr oft nur Unbehagen aus. Doch Nina lässt nicht locker, und irgendwann gibt Lara nach. Vielleicht, denkt sie, könnte diese Nacht etwas verändern…
Die Silvesterparty tobte bereits, als Lara und Nina den Keller betraten. Musik dröhnte aus den Lautsprechern, ließ die Wände vibrieren und machte jede Unterhaltung fast unmöglich. In der stickigen Luft mischten sich der beißende Geruch von Alkohol, Zigarettenrauch und Parfüm zu einem Duftgemisch, das Lara auf unangenehme Weise in die Nase stieg. Dennoch war da etwas Faszinierendes. Es fühlte sich an, als hätte der Raum ein Eigenleben, das pulsierte und alle, die ihn betraten, mit sich riss. Neonlichter flackerten, warfen bunte Muster an die Wände und schufen ein chaotisches Spiel aus Licht und Schatten, während Stimmen, Gelächter und das Klimpern von Gläsern eine fast greifbare Energie erzeugten.
„Ich begrüße mal schnell die anderen!“ rief Nina über die Schulter, ihre Stimme ein helles Lachen, das fast von der Musik verschluckt wurde. Bevor Lara reagieren konnte, war ihre Freundin bereits in der Menge verschwunden, ließ sich von der drängenden Masse aus Menschen mitreißen. Mit ihrer gewohnten Leichtigkeit tauchte sie ins Getümmel ein, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
Lara hingegen blieb zurück. Sie hielt sich dicht an der Wand und versuchte, den Raum auf sich wirken zu lassen. Unzählige Gesichter huschten an ihr vorbei – einige davon vage vertraut, Mitschüler oder Freunde von Freunden, aber niemand, bei dem sie das Gefühl hatte, ihn wirklich zu kennen. Sie zog sich ein Stück weiter in den Schatten einer Säule zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Es fühlte sich an, als sei sie ein stiller Beobachter in einer Welt, zu der sie nicht gehörte.
Das wird ein langer Abend, dachte sie und unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht finde ich einfach eine ruhige Ecke, wo ich nicht auffalle. Mit einem Glas in der Hand kann ich so tun, als gehöre ich dazu. Sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, als sie eine Stimme neben sich hörte.
„Hier, Jimmi-Coke – aber Vorsicht, das haut rein!“ Saskia, eine von Ninas Freundinnen, tauchte wie aus dem Nichts vor ihr auf und drückte ihr ein Glas in die Hand. Ihr kinnlanges, glattes Haar wippte bei jeder Bewegung, und ihr breites Grinsen schien ansteckend. „Der Typ da hinten mixt die Drinks heute besonders stark. Frag mich nicht, warum.“ Mit einem zwinkernden Blick deutete sie in Richtung Bar und verschwand, noch bevor Lara überhaupt etwas sagen konnte.
Lara sah auf das Glas in ihrer Hand. Die dunkle Flüssigkeit schimmerte im Neonlicht, während sie zögernd einen ersten Schluck nahm. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle und ließ sie das Gesicht verziehen. Sie war nicht wirklich ein Fan von solchen Getränken, aber es fühlte sich gut an, etwas in der Hand zu haben – etwas, das ihr eine Art Sicherheit gab.
Neugierig ließ sie ihren Blick zur Bar wandern, um den „Typ da hinten“ zu sehen, den Saskia erwähnt hatte. Die dunkle Ecke des Raumes lag im Halbschatten, und es dauerte einen Moment, bis ihre Augen ihn erfassten. Da stand er. Ein Junge, etwa in ihrem Alter, mit kinnlangen blonden Haaren, die ihm lässig ins Gesicht fielen, und einer entspannten Haltung, die sofort ins Auge stach. Er lehnte leicht gegen die Theke, und die Neonlichter warfen unregelmäßige Reflexe auf sein Gesicht. Etwas an ihm erinnerte Lara an Chesney Hawkes, den Sänger, den sie einmal in einem alten Musikvideo gesehen hatte. Doch es waren seine Augen, die sie fesselten – ein leuchtendes Blau, tief und unergründlich, als könnten sie ein Geheimnis bewahren, das niemand sonst kannte.
Laras Herz setzte für einen Moment aus, als sich ihre Blicke trafen. Es war nur ein flüchtiger Augenblick, ein Wimpernschlag, doch die Zeit schien stillzustehen. Ein sanftes, beinahe schüchternes Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor er sich wieder dem Drink vor ihm zuwandte. Lara spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und senkte hastig den Blick. Ihre Hände umklammerten das Glas, und sie versuchte, das plötzliche Kribbeln in ihrer Brust zu ignorieren.
Verlegen trank sie einen weiteren Schluck und suchte nach einem Ort, an dem sie sich für einen Moment sammeln konnte. Der Vorraum des Kellers bot genau das: eine zerschlissene Couch, die in einer Ecke stand und von der Masse der Feiernden weit genug entfernt war. Mit einem leisen Seufzen ließ sich Lara nieder. Ganz ruhig. Es ist nur ein Junge, ermahnte sie sich. Aber sein Lächeln hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt, und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr spürte sie, dass sie gerade etwas Besonderes erlebt hatte.
Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Nina plötzlich vor ihr auftauchte. „Hier versteckst du dich also!“ rief sie fröhlich und ließ sich neben Lara fallen. „Hast du schon genug von der Party oder träumst du wieder vor dich hin?“
Lara schüttelte den Kopf. „Ich …“, begann sie zögernd, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Sie wusste nicht, wie sie Nina von ihrem Gefühlschaos erzählen sollte. „Wer ist der Typ da an der Bar?“ fragte sie schließlich und bemühte sich, beiläufig zu klingen. „Ich habe ihn noch nie gesehen.“
Nina sah sie erstaunt an und grinste. „Oh nein, sag bloß, du hast dich schon wieder verknallt.“ Sie tätschelte Laras Schulter. „Das ist Ben, Tims bester Freund. Aber vergiss es. Er ist der verschlossenste Typ, den ich kenne. Der redet kaum und bleibt immer auf Abstand.“
Lara hörte kaum, was Nina sagte. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Ben zurück. Seine Zurückhaltung, die leise Melancholie in seinem Lächeln – all das zog sie magisch an. Vielleicht ist er einfach nur schüchtern. Vielleicht steckt hinter der Fassade mehr, als Nina glaubt.
„Lara!“ Ninas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Es gibt hier so viele Jungs, die heute Abend sicher offener für weibliche Avancen sind.“ Sie zwinkerte und hob Laras Glas. „Trink noch was, entspann dich und lass die Nacht einfach auf dich wirken.“
Doch Laras Blick wanderte wieder zur Bar. Sie sah, wie Ben einem Gast einen Drink reichte und dabei leise lachte. Das Lachen erreichte sie nicht, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände – warm, ehrlich, unaufdringlich. Wie kann jemand so lässig wirken und gleichzeitig so unerreichbar sein? fragte sie sich. Als sich ihre Blicke erneut trafen, schien die Welt um sie herum zu verblassen. Ein winziger Moment, ein Lächeln, und plötzlich schien alles möglich.
Ein Gedanke nistete sich in ihr ein, leise, aber hartnäckig: Vielleicht, nur vielleicht, beginnt das neue Jahr mit etwas Wundervollem.
Als das Jahr sich den letzten Stunden entgegenneigte, sammelten sich die Freunde im Partykeller. Die Stimmung war ausgelassen, und ein Hauch von Erwartung lag in der Luft. Überall standen Sektflaschen bereit, und Stimmen und Gelächter übertönten die Musik, die aus den Lautsprechern dröhnte. Lara beobachtete das Geschehen aus einer ruhigen Ecke, wo sie sich ein wenig zurückgezogen hatte. Obwohl die fröhliche Atmosphäre ansteckend war, spürte sie eine leise Unruhe in sich, ein Gefühl, das sie oft in Gesellschaft anderer überkam.
Plötzlich tauchten Nina, Nadine und Saskia vor ihr auf, jede mit einer eigenen Flasche Sekt in der Hand. „Hey, komm mit!“ rief Nadine fröhlich und hielt Lara eine Flasche entgegen. „Wir gehen Sascha besuchen. Dem geht’s nicht so gut, der Arme liegt krank im Bett. Das neue Jahr sollte er doch trotzdem nicht ganz allein begrüßen.“
Lara zögerte. „Zu Sascha? Jetzt noch?“ Silvester war für sie immer ein besonderes Ereignis gewesen, und sie hatte sich darauf gefreut, die verbleibenden Stunden des Jahres in der warmen, lebhaften Atmosphäre des Partyraums zu verbringen. Außerdem – und das war ein Gedanke, den sie nicht einmal sich selbst ganz eingestehen wollte – hatte sie gehofft, Ben vielleicht doch einmal anzusprechen oder zumindest in seiner Nähe zu sein. Doch bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, packte Nina sie lachend am Arm.
„Es wird Spaß machen“, versprach sie und zog Lara einfach mit.
Kurz darauf stapften die vier Mädchen durch den frostigen Winterabend. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen, während über ihnen bereits die ersten Raketen lautstark in den Himmel schossen und bunte Lichter über die Dächer der Häuser tanzten. Die belebten Straßen und das gedämpfte Summen der Musik blieben hinter ihnen zurück, als sie über vereiste Pfade und verschneite Wiesen Abkürzungen quer durch den Ort nahmen. Die Kälte biss in Laras Wangen, doch die Stimmen der anderen übertönten die winterliche Stille und füllten die Nacht mit einem Gefühl von Lebendigkeit.
Unterwegs entfachten die drei Freundinnen ein Gespräch über die Idee einer großen Sommerparty, die ihnen schon länger im Kopf herumging. Dieses Mal klang es jedoch weniger wie ein Wunschtraum und mehr wie ein konkreter Plan. „Björn könnte die Playlist zusammenstellen“, warf Nadine begeistert ein, und Saskia stimmte ihr lachend zu. Die beiden malten sich mit leuchtenden Augen Szenarien aus, während Nina sich plötzlich zu Lara umdrehte.
„Lara, wärst du dabei?“ fragte sie mit einem strahlenden Lächeln, das keine Ausflucht zuzulassen schien.
Ninas beste Freundin zögerte. „Hm … vielleicht“, erwiderte sie schließlich und zuckte die Schultern. Der Gedanke an eine Sommerparty ließ ihr Herz ein wenig schneller schlagen, doch sie konnte sich kaum vorstellen, wie sie ihre Eltern davon überzeugen sollte. Dennoch blieb die Idee in ihrem Kopf hängen – wie ein kleiner Lichtblick, der etwas in ihr zum Leuchten brachte.
Als sie schließlich bei Sascha ankamen, klingelten sie an der Tür, und kurze Zeit später erschien er in einer Wolldecke eingewickelt im Türrahmen. Seine Augen weiteten sich überrascht, als er die Gruppe erkannte. „Also, damit hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet“, lachte er heiser. „Aber schön, dass ihr da seid!“
Die Mädchen traten ein, und für die nächsten dreißig Minuten war der Raum erfüllt von warmen Stimmen, leisen Lachern und dem Klingen von Sektgläsern. Sie tauschten Wünsche für das kommende Jahr aus, erzählten Sascha von der geplanten Sommerparty und versuchten, ihn trotz seiner Erkältung zum Lächeln zu bringen. Doch als seine Müdigkeit überhandnahm, verabschiedeten sie sich und machten sich auf den Rückweg.
Der Heimweg zog sich fast doppelt so lange hin wie der Hinweg. Die Mädchen alberten herum, lachten über ihre eigenen Geschichten und rutschten auf den glatten Gehwegen. Saskia begann, die Melodie eines aktuellen Chart-Hits zu singen, und bald fielen die anderen kichernd mit ein, auch wenn niemand den Text genau zu kennen schien. Lara blieb ein Stück hinter ihnen zurück und genoss für einen Moment die kühle, klare Luft. Sie hielt ihre halbvolle Sektflasche in der Hand, während ihre Gedanken immer wieder zu Ben zurückkehrten.
Plötzlich blieb Nina stehen, sah ernst auf den Gehweg und deutete auf den Bordstein. „Vorsicht, 100 Meter tief!“ rief sie dramatisch, machte einen übertrieben großen Schritt ins „Nichts“ und ließ sich mit ausgebreiteten Armen auf die Straße kippen. Für einen Herzschlag schien die Zeit stillzustehen, doch im nächsten Moment brachen Saskia und Nadine in schallendes Gelächter aus. Nina lag auf dem Rücken, prustend vor Lachen, und hielt sich den Bauch.
Lara konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Während die anderen kaum noch stehen konnten vor Lachen, blieb sie wachsam. „Ihr seid unmöglich“, murmelte sie, doch ihre Stimme klang mehr belustigt als genervt. Sie half Nina schließlich auf die Beine und schüttelte den Kopf, als diese sich noch immer halb schmunzelnd abstaubte.
„Oh, komm schon, das war witzig“, meinte Nina, immer noch glucksend. Saskia und Nadine nickten zustimmend und versuchten, sich auf den Beinen zu halten.
Lara, die sich inzwischen ein wenig wie der Anstandswauwau fühlte, behielt ein Auge auf die drei, während sie den Rückweg fortsetzten. Ihre Albernheiten brachten sie sicherer als erwartet zurück zur Party.
Als sie schließlich ankamen, begann bereits der Countdown zu Mitternacht. Die Luft war elektrisch vor Spannung, als die Gäste nach draußen strömten, ihre Sektgläser in die Höhe hielten und sich bereit machten, das neue Jahr zu begrüßen. Raketen zischten in den Himmel, und ein farbenfrohes Feuerwerk erhellte die Winternacht.
„10, 9, 8 …“ Die Sekunden schmolzen dahin, und um sie herum jubelten die Menschen, stießen an und umarmten sich. Lara stand inmitten der Menge, doch sie fühlte sich merkwürdig allein. Ben war nirgendwo zu sehen, und ein leiser Stich durchfuhr sie, als sie Nina und Tim sah, wie sie sich innig küssten. Sie hob ihr Glas und rief „Frohes Neues Jahr!“ in das Stimmengewirr, doch ihre Worte schienen im Jubel zu verhallen.
Als das Feuerwerk schließlich erlosch und die Menschen wieder ins Warme zurückkehrten, blieb Lara für einen Moment allein draußen stehen. Sie sah hinauf zu den letzten verblassenden Funken am Himmel und spürte, wie das leise Kribbeln in ihrem Herzen sich wieder regte. Vielleicht, dachte sie, würde das neue Jahr doch noch etwas Gutes bringen. Vielleicht …
In den frühen Morgenstunden war der Partykeller wieder in eine trügerische Ruhe gehüllt. Die Musik war längst verstummt, das Stimmengewirr verklungen, und doch wirkte der Raum auf Lara keineswegs leer. Es schien, als hingen die unausgesprochenen Worte, die zwischen ihr und Ben schwebten, noch in der Luft – ein dichtes Geflecht aus Hoffnungen, Unsicherheiten und all dem, was hätte sein können. Jede Ecke, jeder Tisch schien die unsichtbaren Spuren eines Abends zu tragen, der für Lara alles verändert hatte. Und doch fragte sie sich, ob Ben das genauso empfand.
Das Aufräumen nach der Party hatte sich zu einem wortlosen Ritual entwickelt, ein stiller Tanz der Erschöpfung. Lara wischte mechanisch die klebrigen Ränder von Gläsern ab, während Ben plötzlich neben ihr auftauchte. Ohne Vorwarnung begann er, die verstreuten Becher von den Tischen zu sammeln. Ihre Bewegungen wirkten seltsam synchron, als wären sie aufeinander abgestimmt, obwohl sie kein einziges Wort miteinander wechselten. Lara wagte nicht, ihn direkt anzusehen, doch die Nähe, die er ausstrahlte, war beinahe greifbar.
Plötzlich hob Ben den Blick. Es war kein hastiger oder flüchtiger Blick, sondern ein ruhiger, fast nachdenklicher. „Frohes Neues“, sagte er leise. Seine Stimme war warm und sanft, als wollte er mehr sagen, wagte es aber nicht. Der Klang seiner Worte hallte in Laras Gedanken wider, und bevor sie antworten konnte, hatte er sich bereits wieder abgewandt, um die Gläser auf der Theke abzustellen.
„Happy New Year“, murmelte sie schließlich, doch ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Sie wusste, dass er ihre Antwort nicht mehr hören konnte. Die Worte schienen zwischen ihnen zu verhallen, bedeutungsvoll in ihrer Schlichtheit, und doch lastete auf ihnen das Gewicht einer unausgesprochenen Botschaft. Es war, als hätte dieser kurze Moment das fragile Band zwischen ihnen offenbart – zart und doch unbestreitbar vorhanden.
Plötzlich durchbrachen die Klänge eines bekannten Liedes die Stille. Aus den Lautsprechern erklang PURs „Funkelperlenaugen“, und Lara hielt inne. Die vertrauten Worte sickerten in ihre Gedanken wie Wasser in trockene Erde, durchtränkten sie mit einer bittersüßen Sehnsucht. Es war, als hätte der Song die unausgesprochenen Gefühle in ihr erkannt und in Worte gefasst. Jede Zeile resonierte in ihrem Innersten, als ob sie eigens für diesen Augenblick geschrieben worden wäre.
Lara erstarrte, die Hand immer noch auf einem Glas. Ihre Augen suchten den Raum ab, doch Ben war irgendwo in der Dunkelheit verschwunden. Warum ist es so schwer, das Offensichtliche auszusprechen? fragte sie sich. Warum hat keiner von uns den Mut, den ersten Schritt zu machen? Die Melodie drang tief in ihre Gedanken und ließ sie an all die stillen Gesten denken, die verstohlenen Blicke, die unscheinbaren Worte, die doch so viel Bedeutung trugen. Es war kein einfaches „Frohes Neues Jahr“, das Ben ihr gesagt hatte. Es war mehr. Vielleicht ein Versprechen, ein Sehnen – etwas, das sie beide noch nicht benennen konnten.
+++
Die Nacht auf dem Fußboden war hart und ungemütlich. Jeder Atemzug schien sich in Laras steifen Gliedern festzusetzen, und der Raum war erfüllt von den gedämpften Geräuschen schlafender Freunde. Lara hatte in der Dunkelheit keine Ruhe finden können, nur ein ständiges Warten auf den Morgen, das sie mit einer tiefsitzenden Unruhe erfüllte. Jetzt, als das erste Licht des Tages zaghaft durch die Fenster drang, spürte sie einen seltsamen Druck auf ihrem Rücken.
Was ist das? dachte sie panisch. Bin ich über Nacht zum Holzbrett geworden? Ein kleiner Seufzer entfuhr ihr, während sie versuchte, sich in der unbequemen Lage zu orientieren. Doch dann wurde ihr klar, dass das Gewicht auf ihrem Rücken mehr war als nur die Folge einer harten Nacht. Es war Bens Arm, der leicht auf ihrem Rücken lag.
Ihr Atem stockte. Schnell schloss sie die Augen, als könnte sie so die Realität ausblenden. Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust, und sie wagte kaum, zu atmen. Hoffentlich schläft Ben noch, dachte sie und betete, dass er nicht bemerkt hatte, dass sie wach war. Ich sollte mich bewegen, aber … Der Gedanke blieb unvollständig, denn ein warmer Schauer lief ihr über den Rücken. Sie wollte diesen Moment genießen, auch wenn sie wusste, dass es nur ein flüchtiger Reflex von ihm gewesen sein konnte.
Doch die Stille zerbrach, als Ben sich plötzlich bewegte. Sie spürte, wie er den Arm ruckartig wegzog, und öffnete vorsichtig die Augen. Ein winziger Schock durchfuhr sie, gemischt mit einer Enttäuschung, die sie nicht ganz unterdrücken konnte. Vielleicht hat er gar nicht gemerkt, was er getan hat. Trotzdem blieb das Gefühl der Berührung; es klang in ihr nach, wie ein unausgesprochenes Versprechen.
„Ben? … Frühstück …“ Tims leise Stimme durchbrach das Schweigen. Lara beobachtete, wie Ben aufstand, seine müden Gesichtszüge noch von der Nacht gezeichnet. Tim hielt die Tür für ihn auf, bevor er sagte: „Wir lassen die Mädels noch schlafen. Die können nachher in Ruhe frühstücken, während ich dich nach Hause bringe.“ Das leise Klicken der Tür ließ Lara allein mit Nadine und ihren eigenen Gedanken zurück.
Langsam drehte sie sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Der Raum, der noch vor Stunden voller Leben gewesen war, fühlte sich jetzt klaustrophobisch an, als würde er von all den unausgesprochenen Worten und verpassten Chancen erdrückt. Nadines leises Schnarchen mischte sich mit den Erinnerungen des Vorabends. Lara dachte an Bens Lächeln, an seine Nähe und die flüchtigen Berührungen, die mehr aussagten, als Worte es jemals gekonnt hätten.
Hatte Nina am Ende doch recht mit ihrer Einschätzung? Sie biss sich auf die Lippe, als ihr Frust über sich selbst und über Ben in ihr hochstieg. Mehr als dieses blasse „Frohes Neues“ hätte er doch wirklich sagen können.
Ein Gedanke drängte sich in den Vordergrund – klar und unaufhaltsam. Vielleicht sollte ich nicht länger darauf warten, dass er den ersten Schritt macht. Vielleicht ist es an der Zeit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Das neue Jahr begann für Lara wie jedes andere: eintönig und geprägt von Doris’ Unzufriedenheit, die sie mit einer Mischung aus echten und eingebildeten Krankheiten erklärte. Bis mittags blieb sie im Bett, abends saß sie im Schlafanzug mit Schokolade auf der Couch, und zwischendurch fiel ihr ein, dass ihre Kinder auch Aufmerksamkeit und Essen brauchten. Doch für Lara und ihre Schwester Svea war es fast eine Erleichterung, dass Doris ihnen so wenig Beachtung schenkte. Florian hingegen bekam entweder zu viel oder zu wenig Aufmerksamkeit, je nachdem, wie präsent er gerade wahrgenommen wurde.
Lara wusste, dass ihre Mutter sich in diesem Chaos fast wohlfühlte. Solange sie niemand im Schlafanzug sieht, dachte sie mit einem leichten Grinsen. Nur Nina und David durften sie zu Hause besuchen. Laras bester Freund schien für Doris wie ein Sonnenstrahl zu sein, und Lara wusste nur zu gut, dass ihre Mutter mehr als nur freundlich auf ihn blickte. Ugh, das ist einfach widerlich, dachte sie angewidert.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu Davids ersten Besuchen bei ihr zu Hause. Es hatte sie einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, Doris’ strenge Regel, niemanden ins Haus zu lassen, zu durchbrechen. Letztendlich hatte ihre Mutter nachgegeben – allerdings nur, weil David Lara in Mathe half. Und, wie sie nur allzu gut wusste, weil Doris ein bisschen in ihn verknallt war. Lara schüttelte den Kopf und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Das erste Mal, als David bei ihr gewesen war, war ihr noch immer glasklar in Erinnerung. Es war nur wenige Tage nach jenem Moment gewesen, als sie ihm ihre Gefühle gestanden hatte – und er sie freundlich, aber bestimmt abgelehnt hatte. Sie hatte lange gebraucht, um sich ein Herz zu fassen und ihn direkt darauf anzusprechen.
„Warum eigentlich nicht, David?“ hatte sie ihn plötzlich gefragt, kaum dass sie sich zur Nachhilfe hingesetzt hatten. Ihre Worte kamen zögernd, fast trotzig. „Du bist nicht in mich verliebt – aber warum nicht?“
David hatte seinen Blick auf die Bücher vor sich geheftet, als würde er dort eine Antwort suchen. Die Sekunden zogen sich in die Länge, bevor er schließlich leise sagte: „Lara … es liegt nicht an dir.“ Er hob den Kopf und sah sie an, seine Augen ernst und ein wenig traurig. „Es liegt wirklich nicht an dir.“
Laras Herz hatte einen Moment lang heftig geschlagen. Hatte sie ihn falsch verstanden? Doch bevor sie etwas sagen konnte, fuhr er fort, seine Stimme leise und zögernd: „Ich stehe einfach nicht auf Mädchen.“
Die Worte schienen in der Luft zu hängen, und für einen Moment wusste Lara nicht, wie sie reagieren sollte. Es war, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen, nicht wegen der Zurückweisung, sondern wegen der plötzlichen Erkenntnis, wie wenig sie wirklich über David wusste. Doch dann sah sie ihn an, und in seinen Augen lag etwas, das sie nicht deuten konnte – Verletzlichkeit, vielleicht auch Angst.
Später, als sie zusammen auf ihrem Bett saßen und das neue Queen-Album leise im Hintergrund lief, wagte Lara schließlich die Frage, die ihr auf der Zunge brannte: „Warum sagst du eigentlich niemandem, dass du schwul bist?“
David hielt inne, als müsse er die Worte erst sortieren. Dann seufzte er und begann leise zu sprechen: „Lara, das darf niemand erfahren. Wirklich niemand.“ Er zählte mit den Fingern ab: „Nicht die Jungs aus der Band. Nicht meine Großeltern. Und mein Vater erst recht nicht.“
Lara runzelte die Stirn. „Aber warum?“
Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Fangen wir mit der Band an. Denk doch mal nach: Wir haben unser Publikum. Die Mädels himmeln uns an, wir spielen in kleinen Clubs, und langsam läuft’s richtig gut. Wenn die Leute wüssten, dass ich schwul bin, würden wir Fans verlieren – viele. Die Mädchen würden mich nicht mehr sehen wie vorher. Sie würden sich abwenden, und dann wären wir einfach … erledigt.“ David sprach ruhig, aber Lara spürte die Bitterkeit in seinen Worten.
„Okay, und deine Großeltern?“ hakte sie nach.
„Meine Großeltern in Invergarry …“ Er hielt inne, und seine Stimme bekam einen verletzlichen Ton. „Die sind so altmodisch, dass sie sich wahrscheinlich über jeden Ehemann freuen würden, den sie für mich aussuchen könnten. Aber die Vorstellung, dass ich nie eine Frau heiraten werde? Dass ich … anders bin?“ Er schüttelte den Kopf. „Das wäre für sie eine Schande. Sie würden es niemals verstehen.“
Lara legte eine Hand auf seinen Arm. „Und dein Vater?“ flüsterte sie schließlich.
David starrte auf einen Punkt in der Ferne, bevor er schließlich antwortete. „Mein Vater …“ Seine Stimme brach, und er räusperte sich, bevor er weitersprach. „Mein Vater hält Homosexualität für eine Krankheit. Eine, die man …heilen muss.“ Sein Gesicht war wie versteinert, aber in seinen Augen glitzerte etwas, das Lara das Herz zusammenziehen ließ. „Wenn er das wüsste, würde er alles versuchen, um mich zu ändern. Therapien, Gespräche, irgendwelche absurden Heilmethoden – was auch immer. Und wenn das alles nicht hilft …“ David hielt inne und schüttelte den Kopf. „Dann würde er mich irgendwann hassen. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann.“
„David …“ begann Lara, doch er ließ sie nicht ausreden.
„Lara, ich kann das nicht riskieren. Ich kann nicht alles verlieren. Meine Familie, die Band … es ist, als würde ich immer ein Doppelleben führen müssen.“ Seine Stimme war leise, aber sie bebte leicht, und Lara spürte, wie sehr ihn diese Gedanken quälten.
Lara wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte ihren besten Freund immer für stark gehalten, für jemanden, der sich von nichts und niemandem unterkriegen ließ. Doch jetzt sah sie die Angst hinter seiner Fassade. Vorsichtig nahm sie seine Hand und drückte sie. „Du bist nicht allein“, sagte sie leise. „Das weißt du, oder?“
David sah sie an, und für einen Moment wirkte es, als wolle er etwas erwidern. Doch dann nickte er nur und wandte den Blick ab. „Danke“, murmelte er schließlich, und seine Stimme klang, als würde dieses eine Wort mehr bedeuten, als sie je verstehen könnte.
Lara schwieg. Doch in ihrem Inneren breitete sich eine Entschlossenheit aus, die sie selbst überraschte. Wird das jemals anders sein? fragte sie sich. Werden die Menschen jemals akzeptieren, dass manche Dinge einfach anders sind?
Lara zog sich aus den Erinnerungen zurück und bemerkte, dass die Zeit vergangen war. Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, das Tagebuch in der Hand, und fasste den Beginn des neuen Jahres in Worte. Die Zeilen flossen fast von selbst, getragen von ihren Gedanken an das Gespräch mit David und an das, was vor ihr lag. Gerade als sie die letzte Zeile setzte, hörte sie Sveas Stimme aus der Küche rufen.
„Essen ist fertig! Weck’ mal Mama.“
Lara seufzte und rief zurück: „Warum immer ich? Mach du das doch selbst!“
Ihre Worte hallten im Flur wider, und im selben Moment hörte sie, wie ihr achtjähriger Bruder Florian die Treppe hochpolterte. Er stürmte, ohne anzuklopfen, in ihr Zimmer und grinste breit.
„Na, Professor?“ neckte sie ihn und kitzelte ihn unter dem Kinn. Seit Florian mit vier Jahren eine dicke Brille bekommen hatte, hatte sie ihn so genannt. Er sieht wirklich aus wie ein kleiner Professor mit dieser riesigen Brille, dachte sie schmunzelnd. Nur sie, David und Florians Patentante durften ihn so nennen.
„Nicht kitzeln!“ Florian hob drohend den Zeigefinger, doch das schelmische Grinsen auf seinem Gesicht verriet, dass er es genoss.
„Schon gut, ich lass dich in Ruhe“, sagte Lara lachend. „Und, wie war die Nacht bei Luca?“
„Gut!“ sprudelte es aus ihm heraus. Er begann, wie immer begeistert, von heimlichen Taschenlampen-Comics und den Abenteuern zu erzählen, die sie gespielt hatten. Lara lauschte lächelnd, und für einen Moment schienen ihre Sorgen weit weg. Es war eine dieser kleinen, kostbaren Unterbrechungen, in denen sie spürte, warum sie all das ertrug.
In der Küche angekommen, trafen sie auf Svea, die gerade das Essen auf den Tisch stellte.
„Na, wurde ja auch Zeit“, sagte Svea zu Lara und setzte sich an den Tisch. Lara erwiderte den Blick ihrer Schwester mit einem Augenrollen und begann, Florian und sich etwas zu essen aufzutun. Während sie die Nudeln auf die Teller schöpfte, kam Doris in den Raum geschlurft. Sie trug immer noch ihren Morgenmantel und sah verschlafen aus, der Blick eine Mischung aus Ärger und Desinteresse.
„Na, schon wieder fast mittags“, murmelte Lara leise, senkte jedoch schnell den Blick.
Doris starrte ihre Tochter einen Moment lang an, bevor sie trocken erwiderte: „Wenn du schon so viel Energie hast, dann kannst du ja später den Abwasch machen.“
Lara presste die Lippen zusammen und nickte kurz. Es hätte sie nicht überraschen sollen, dass Doris keine Sekunde darauf verschwendete, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, das nicht mit Aufgaben oder Erwartungen endete.
Florian schien diese Worte wie durch ein Wunder gar nicht wahrgenommen zu haben. Er stochert weiter gedankenverloren in seinen Nudeln und erzählte von seinen Spielen mit Luca. Zum Glück, dachte Lara. Er soll die Welt mit all ihrer Kompliziertheit erst einmal nicht wahrnehmen müssen.
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Am Nachmittag stand Nina plötzlich vor Laras Tür und ließ sich nur Minuten später mit einem zufriedenen Lächeln auf Laras Bett nieder.„Morgen geht die Schule wieder los …“, seufzte Lara und ließ sich in ihren Papasansessel sinken. Ihr Blick wanderte zu Nina, die ihre Beine über die Bettkante baumeln ließ, die Arme hinter ihrem Kopf verschränkt. Lara wusste nicht, ob sie beeindruckt oder genervt sein sollte, wie entspannt Nina aussah. Der Rest der Ferien war für Lara in einem monotonen Trott aus Hausarbeiten, gelegentlichen Spaziergängen und viel zu vielen Gedanken an Ben verflogen. Der Gedanke, wieder zur Schule zu müssen, fühlte sich an wie ein schwerer Rucksack, den sie am liebsten einfach stehen lassen würde.
„Ach komm, hör auf zu jammern“, erwiderte Nina mit einem breiten Grinsen und rollte sich demonstrativ auf den Bauch, die Hände unter ihrem Kinn gestützt. „Vielleicht hab ich ja was, um dir die Stimmung ein bisschen aufzuhellen.“
Lara hob skeptisch die Augenbrauen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Oh wirklich? Was könnte das denn bitte sein?“ Ihr Ton war gespielt unbeeindruckt, doch sie konnte nicht verhindern, dass ein Funken Neugier in ihr aufblühte. Nina hatte diese ansteckende Art, Dinge interessant klingen zu lassen, selbst wenn sie am Ende völlig belanglos waren.
Mit einem theatralischen Schwung setzte Nina sich auf und fixierte ihre Freundin mit einem strahlenden Blick, der einem Schmetterlinge im Bauch förmlich aufzwingen konnte. „Also, wie wär’s, wenn wir das mit der Sommerparty jetzt wirklich in Angriff nehmen?“
Lara starrte sie ungläubig an. „Die Sache mit der Band und allem?“ Ihre Stimme klang fast lachend, als sie sich daran erinnerte, wie das Thema während der chaotischen Silvesternacht aufgekommen war. Es war auf dem Weg zu Sascha gewesen, als Nadine, Saskia und Nina – angefeuert von einer Mischung aus Vorfreude und alkoholbedingter Euphorie – Pläne für eine riesige Sommerparty geschmiedet hatten. Damals hatte Lara es für die typische Spinnerei einer durchfeierten Nacht gehalten, die am nächsten Morgen längst vergessen sein würde. Wie sehr sie sich geirrt hatte.
„Ja, genau das!“, bestätigte Nina, und ihre Augen funkelten vor Begeisterung. „Das war doch kein dummes Gerede! Wir haben das ernst gemeint. Und du hast doch auch gesagt, dass du mitmachst!“
Lara ließ ihre Gedanken in die Silvesternacht zurückwandern. Sie erinnerte sich an das Gelächter, an Ninas ungelenken Stolperer auf dem Rückweg… Und ja, sie erinnerte sich auch daran, wie sie selbst zugestimmt hatte, mitzumachen. Allerdings hatte sie das damals nicht wirklich ernst gemeint.
„Na ja“, begann Lara zögernd, während sie sich die Worte ins Gedächtnis rief. „Ich hab gesagt, ich überlege … aber nur unter einer Bedingung: Du musst meine Mutter überreden. Viel Glück dabei.“
„Abgemacht!“ rief Nina, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Ihre Begeisterung schien durch die Herausforderung nur noch größer zu werden. „Deine Mutter wird mir nicht widerstehen können.“
Lara zog die Nase kraus und betrachtete Nina, die wie ein strahlender Wirbelwind vor ihr saß. Wie schafft sie es nur, immer so optimistisch zu sein?
Lara lehnte sich nachdenklich zurück, während eine neue Idee in ihr aufstieg. Mit einem leichten Schmunzeln sah sie ihre beste Freundin an. „Und was hältst du davon, wenn wir nach der Sommerparty im kleinen Wäldchen beim Gellersbacher Steinbruch zelten? Sommerferien, lange Nächte – einfach bleiben, bis wir keine Lust mehr haben.“
Ninas Augen wurden groß, und sie klatschte begeistert in die Hände. „Perfekt! Ich kläre das mit Nadine und Saskia – die sind hundertprozentig dabei. Endlich mal ein Plan, der kein Träumerei bleibt.“
Laras Lächeln wurde breiter, während sie die Euphorie ihrer Freundin spürte. Vielleicht, dachte sie, könnte diese Sommerparty wirklich etwas Besonderes werden. Ein kleines Abenteuer. Etwas, das sie aus ihrem Alltag und den immer gleichen Gedanken an Ben und ihre Unsicherheiten reißen würde.
Und vielleicht, nur vielleicht, würde dieser Sommer die schönen Erlebnisse bringen, die sie so dringend brauchte…
Am nächsten Morgen stand David bereits um Viertel vor acht am Haupteingang der Torin-Holstad-Realschule und blickte ungeduldig die Straße hinunter. Seine Finger trommelten leicht gegen den Riemen seines Rucksacks, während er versuchte, die Kälte zu ignorieren. Der Januarwind biss ihm ins Gesicht, doch er schien es kaum zu bemerken, so sehr war er damit beschäftigt, nach Lara Ausschau zu halten.
Endlich hielt der überfüllte Bus mit einem lauten Zischen vor der Schule, und David atmete erleichtert auf. In der Menge der aussteigenden Schüler entdeckte er sie – leicht nach vorne gebeugt, während sie versuchte, ihre Tasche nicht von der Schulter rutschen zu lassen. Ihr Gesicht war vom Stress der Fahrt gerötet, doch als sie ihn sah, hellte sich ihre Miene augenblicklich auf.
„Lara!“ rief David, sprang ihr entgegen und breitete die Arme aus.
„David!“ erwiderte sie lachend, bevor sie in seine Umarmung fiel.
„Du ahnst ja nicht, wie sehr ich dich vermisst habe!“ sprudelte es aus ihm heraus, während er sie kurz von den Füßen hob und dann wieder absetzte. „Drei Wochen kamen mir vor wie drei Monate!“
Lara lachte und schüttelte den Kopf, während sie versuchte, ihre Tasche zurechtzurücken. „Drei Wochen reichen auch völlig aus, mein Lieber. Aber du strahlst ja, als hättest du im Lotto gewonnen. Was ist los?“
David schien sich erst jetzt daran zu erinnern, dass sie nicht allein waren. Er warf einen schnellen Blick über den Hof und sah, dass einige Schüler sie neugierig beobachteten. Mit einem verschwörerischen Grinsen beugte er sich zu ihr hinüber. „Das erzähle ich dir später. Zu viele neugierige Ohren hier.“
Lara folgte seinem Blick und bemerkte, wie ein paar Mitschüler tuschelnd zu ihnen hinüberschauten. Sie verdrehte die Augen. „Immer das Gleiche. Haben die nichts Besseres zu tun?“
David zuckte die Schultern und setzte ein entspanntes Lächeln auf. „Lass sie reden. Die meisten hier brauchen doch nur irgendein Gesprächsthema, um sich selbst interessanter zu machen.“
Lara warf ihm einen bewundernden Blick zu. Seine Gelassenheit in solchen Situationen war etwas, das sie immer wieder beeindruckte. „Wie machst du das nur?“ fragte sie leise.
„Man gewöhnt sich dran“, antwortete er mit einem Augenzwinkern. „Komm, wir müssen rein, bevor die Glocke läutet.“
Im Klassenzimmer angekommen, ließ sich Lara auf ihren Platz sinken und holte tief Luft. Der Tag hatte kaum begonnen, und sie fühlte sich schon erschöpft. David saß neben ihr und drehte sich seitlich zu ihr. „Na, hast du dich in den Ferien wenigstens ein bisschen erholt?“ fragte er leise.
Lara zuckte mit den Schultern. „Geht so. Es war wie immer: Doris auf der Couch, Svea in ihrer eigenen Welt, und Florian, der ständig meine Aufmerksamkeit wollte. Aber ich hab ein paar gute Bücher gelesen. Und du?“
Davids Augen begannen zu leuchten. „Das erzähle ich dir alles später. Große Pause, hinter der Turnhalle. Versprochen.“
Bevor Lara antworten konnte, betrat der Lehrer den Raum, und das Gemurmel der Schüler verstummte. Doch während des gesamten Unterrichts warf David ihr immer wieder vielsagende Blicke zu, die ihre Neugier nur noch weiter anheizten.
Als die Glocke zur Pause läutete, war David der Erste, der aufstand und seinen Rucksack schnappte. Lara folgte ihm aus dem Klassenzimmer, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu ihrem Versteck hinter der Turnhalle.
Die kleine Lichtung war von ein paar Bäumen umgeben und bot genug Schutz vor neugierigen Blicken. David ließ sich auf den umgestürzten Baumstamm sinken, der ihnen seit Jahren als Bank diente, und klopfte einladend auf den Platz neben sich.
„So“, begann er, als Lara sich neben ihn setzte. „Jetzt kann ich dir endlich alles erzählen.“
Lara lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Na, dann leg mal los. Ich bin ganz Ohr.“
David holte tief Luft, bevor er begann. „Also, ich nenne das mal mein kleines Reisetagebuch: Schottland, dritte Ausgabe.“
Lara lachte. „Und, was gibt’s Neues? Wie war’s bei deinen Großeltern?“
„Es war … magisch. Wie immer“, sagte David und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. „Die Farm auf der Anhöhe, du weißt schon, mit Blick auf Loch Garry. Morgens, wenn die Sonne aufgeht, glitzert der See wie ein riesiger Spiegel. Es ist, als wäre die Zeit dort stehengeblieben.“
„Und deine Großeltern?“ fragte Lara. „Wie geht’s ihnen?“
David lächelte. „Granny und Grandpa sind wie immer. Grandpa hat natürlich wieder darauf bestanden, dass ich ihm beim Heu machen helfe. Aber weißt du, was das Beste war?“
Lara hob neugierig die Augenbrauen. „Was denn?“
David wurde rot, aber sein Lächeln wurde noch breiter. „Ich habe Ian wiedergetroffen.“
„Ian?“ Lara überlegte kurz, bevor es ihr wieder einfiel. „Der Typ, den du letztes Mal erwähnt hast? Der auf der Farm arbeitet?“
David nickte begeistert. „Ja, genau der. Aber diesmal war es … anders. Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, und ich glaube … ich glaube, ich habe mich verliebt.“
Laras Augen wurden groß. „Oh wow! Das ist großartig. Erzähl mir alles.“
David lehnte sich nach vorne, als könnte er seine Begeisterung kaum noch zurückhalten. „Er ist einfach unglaublich. Wir haben zusammen die Tiere gefüttert, sind durch die Wälder gewandert … und jedes Mal, wenn er mich angesehen hat, hatte ich das Gefühl, die Welt bleibt stehen.“
Lara lächelte. „Das klingt wie im Film.“
David nickte, bevor er plötzlich ernst wurde. „Aber weißt du, was mich am meisten überrascht hat? Grandpa hat uns in der Scheune erwischt, als wir uns geküsst haben. Und weißt du, was er gesagt hat? ‚Carry on, and keep it clean.‘ Ich dachte, er würde ausrasten, aber stattdessen hat er uns einfach angelächelt.“