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Xaver Bayer

4,8

Beschreibung

Er ist einer jener Romanhelden, die dem Leben zeigen, an welcher Wand es entlanggeht. Und warum das, was jemand auf diese Wand gesprayt hat, ernst zu nehmen ist. Wenn auch nicht ernster als das, was man sich dann im eigenen Kopf dazu denkt.Er ist Rezensent von Computerspielen, angestellt bei einem Magazin, und bis vor einem Jahr war nichts Auffälliges an seinem Leben. Bis auf einmal, in einem durch nichts hervorgerufenen Moment, die Vergangenheit wirklich vergangen war und die Zukunft vor ihm lag wie "eine sich trist ausdehnende Ebene ohne Richtung". In der Zeitspalte dazwischen, die vielleicht so etwas wie ein Gegenwarts-Level ist, tastet er sich am scheinbar Vertrauten entlang, besucht seinen Bruder im großelterlichen Haus, fährt nach Tschechien, um dort einen Spieleerfinder zu interviewen, trifft aber nur dessen Schwester - nur? -, kehrt zurück und hat im selben Moment, wo er alles hinter sich läßt, das Gefühl, noch alles vor sich zu haben.

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© 2013 Jung und Jung, Salzburg und WienAlle Rechte vorbehaltenUmschlagbild: David Schnell, „Verschlag, 2004“© VBK Wien, 2006ISBN E-Book 978-3-99027-110-0ISBN Print 978-3-902497-12-3

XAVER BAYER

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Roman

Am ersten Freitag im Dezember letzten Jahres habe ich im Museum für Urgeschichte in Asparn an der Zaya aus dem mittleren der drei Schaukästen in Raum Nr. 2 im ersten Stock einen Faustkeil aus dem Altpaläolithikum gestohlen. Ich habe es nicht vorsätzlich getan. Der Gedanke ist mir erst gekommen, als ich direkt vor dieser Vitrine gestanden bin. Außer mir sind keine Besucher dagewesen. Die Überwachungskamera in der einen Raumecke hat mich nicht sonderlich beunruhigt. Ich habe mein Schweizermesser aus der Hosentasche geholt, die Ahle herausgeklappt und im Schloss an der Seite der Vitrine gestochert, bis ich ein Klicken gehört habe und die Glasplatte hochheben konnte. Ich habe den Faustkeil genommen und ihn in meine linke Manteltasche gesteckt. Wie ich ihn diese Sekunde lang in meiner Hand gehalten habe, hat mich seine Form an einen Schildkrötenpanzer erinnert, das fällt mir jetzt wieder ein. Ich habe an seine Stelle einen ungefähr gleich großen und nicht unähnlich aussehenden Stein vom Flusskieselhaufen, der daneben im rechten Teil des Schaukastens aufgeschüttet war, gelegt, damit der Diebstahl nicht so bald auffallen würde. Dann habe ich den Glasdeckel wieder geschlossen und bin raus aus dem Raum und die Treppen hinunter.

Im Erdgeschoß habe ich vorsichtig um die Ecke geschaut und festgestellt, dass die Kartenkassa, vom Aussehen einer Portierloge nicht unähnlich, unbesetzt gewesen ist. Von der Frau, die mir vor ein paar Minuten die Karte verkauft hatte, ist nur die Strickjacke über der Lehne des Sessels gehangen. Zugleich habe ich draußen eine Kirchturmglocke schlagen gehört und ein Tellerklappern aus dem Raum rechts von der Kassa. Ich habe mir einen Ruck gegeben und mich langsam Richtung Ausgang bewegt. Mein Herzschlag, der plötzlich so stark gewesen ist, dass mein gesamter Oberkörper im Herzrhythmus gezuckt hat, schien mir dabei nicht mehr mein eigener zu sein. Ich bin steifbeinig wie ein Slapstickschauspieler durch das Museumstor und über die kleine Brücke und dann die paar Schritte bis zu meinem Auto gegangen, das ich unter dem Kastanienbaum auf dem Parkplatz vor dem Museum abgestellt hatte. Ich habe die Tür geöffnet und mich hineingesetzt. Den Faustkeil habe ich durch den Mantelstoff fast aufdringlich schwer auf meinem linken Schenkel liegen gespürt. Ringsum ist es still gewesen, man hat nur ein paar Tauben mit ihrem Gurren und dunklen Flöten hören können. Ein Motorradfahrer ist vorbeigekommen, dann ein Radfahrer. Beide habe ich im ersten Moment als mögliche Gegner angesehen oder zumindest als denkbare Störfaktoren im Verlauf, aber sie haben mich keines Blickes gewürdigt. Einige Meter weiter weg ist eine einzelne alte Telefonzelle gestanden, selbst wie ein Museumsstück, und gegenüber dem Parkplatz ist ein leerer, zugeschneiter Kinderspielplatz gewesen. Das Wort „ausgestorben“ hat sich mir aufgedrängt, wie es oft geschieht, dass ich etwas sehe und mir dazu ein Wort in den Sinn kommt und nicht mehr verschwinden will. Für ein paar Sekunden bin ich im Unklaren gewesen, ob ich nicht besser zurückkehren und den Faustkeil wieder an seinen Platz legen sollte. Aber dann ist mein Blick auf einen hölzernen Wegweiser vis-à-vis mit der Aufschrift „Historischer Pfad“ gefallen, und das hat mich ermutigt weiterzumachen, und ich habe das Auto gestartet.

Ich bin vom Parkplatz vor dem Museum weggefahren, an der Telefonzelle vorbei, links um die Ecke. Im Rückspiegel habe ich einen Fußgänger sich nach meinem Auto umdrehen gesehen. Ich habe überlegt, ob er sich wohl meine Nummer merken würde, weil ich mir auch manchmal die Nummern von Autos merke, auf die ich aus irgendeinem Grund das Augenmerk richte. Ich habe den Weg zurück durch die Ortschaft eingeschlagen, bis zu der Kreuzung, wo einem mehrere Richtungen zur Verfügung stehen. In den Vorgärten mancher Häuser sind mir große Felsbrocken aufgefallen, und ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, ob man sie wohl eigens hierher transportiert hatte oder ob es Findlinge aus einer Eiszeit waren. Ich bin bei der Kreuzung wieder links abgebogen und habe die Ortschaft hinter mir gelassen, ohne genau zu wissen, wohin ich jetzt fahren sollte. Ein, zwei Kilometer weiter bin ich an der Mündung eines Feldwegs stehengeblieben und habe den Motor abgeschaltet. Ich habe den Kopf gehoben und durch die Windschutzscheibe zum Himmel hinaufgeschaut, der einigermaßen klar gewesen ist, man hat die Sonne noch sehen können. Ein Flugzeug hat seine Spur hinterlassen, die Jetkondensstreifen von anderen Flugzeugen querend, ein Gittermuster aufbauend. Die Wolken sind wie rückwärts über den Himmel getrieben, wie zurückgedrängt oder von einem starken Magneten aus weiter Ferne angezogen. Die Wipfel der Bäume längs der Straße, die höchsten, dünnsten Äste, haben vibriert und gezittert, als hätten sie plötzlich ein Eigenleben. Dann wieder haben sie sich starr jeder Bewegung verweigert, haben wie feine Haarrisse am blaugrauen Himmel gewirkt. Was für eine Grafik, habe ich gedacht und dann das Auto wieder gestartet und bin losgefahren, zurück auf die Landstraße, nur geradeaus, eine Spur auf der nassen Fahrbahn hinterlassend.

Nach einigen Kilometern habe ich in einer Ortschaft auf dem Parkplatz vor einem Wirtshaus angehalten. Das muss in Zwentendorf gewesen sein. Vor der Tür der Gaststätte ist ein alter Mann mit Hut gestanden, der auf mich zu warten schien. Es hat mich sehr an eine Szene aus einem der letzten Rollenspiel-Adventures erinnert, für die ich eine Rezension verfasst hatte. Ich bin ausgestiegen und zum Wirtshaus gegangen, habe einen Gruß gemurmelt, den der Mann ebenso murmelnd erwidert hat, bevor er sich umgedreht hat und im Inneren des Hauses verschwunden ist. Ich bin ihm gefolgt. In der menschenleeren Gaststube habe ich meinen Mantel ausgezogen und ihn vorsichtig auf die Sitzbank an einem der Tische gelegt, damit der Stein in der Tasche nicht auffällig laut an das Holz schlagen würde, dann habe ich daneben Platz genommen. Der Tisch ist hoch gewesen und die Bank zu niedrig, was zur Folge hatte, dass ich mich wie zu klein geraten gefühlt habe. Der alte Mann hat seinen Hut an einen Haken an der Wand gehängt und mich gefragt, was ich denn haben möchte, und ich habe einen Kaffee bestellt. Nachdem er die Tasse mit zittrigen Händen serviert hatte, so sehr zitternd, dass auch die Untertasse voller Kaffee war, hat sich der Mann ans andere Ende des Tisches gesetzt, sein Profil mir zugewandt, den Blick eigentümlich und beinahe hypnotisch auf irgendeinen Punkt an der gegenüberliegenden Wand der Gaststube geheftet. Ich habe an dieses eine Adventure „Shadow of Memories“ denken müssen, worin man, wie es bei Adventures so üblich ist, Figuren, die einem über den Weg laufen, ansprechen muss, um zu weiteren Hinweisen zu gelangen. Auch das Setting des Dorfs und des Wirtshauses hat etwas gehabt, das mich vehement daran erinnert hat. Also habe ich mich bei dem Alten erkundigt, was das für Ruinen seien, die man da, unweit vom Parkplatz hinter der Kirche, sehen konnte. Während er Auskunft gegeben und von römischen Ausgrabungen gesprochen hat, ist eine alte Frau hereingekommen, mutmaßlich seine Gattin, und hat sich stumm neben ihn gesetzt. Sie hat einen dermaßen starken Buckel gehabt, dass ihr Oberkörper sich nahezu parallel zum Boden befunden hat. Es hat fast ausgesehen, als würde sie für eine Theaterrolle eine Figur überzeichnet darstellen wollen. Als der Wirt zu Ende geredet hatte, hat sie etwas genuschelt, das ich nicht verstanden habe, dann hat sie sich wieder von der Bank hochgestemmt und ist hinausgegangen. Sobald die Alte aus der Tür gewesen ist, hat der Wirt zu einer Fliegenklatsche gegriffen, um ein paar Winterfliegen zu verscheuchen. Getroffen hat er keine einzige, weil er immer viel zu langsam auf die Stelle geschlagen hat, wo eben noch eine gesessen war. Ich hingegen habe kurz das Gefühl gehabt, als sich eine Fliege auf meiner Hand niedergelassen hat, diese nur mit meinem Blick vertreiben zu können. Einen Atemzug lang habe ich sogar mit der Phantasie kokettiert, die Fliege mittels meiner Gedanken fernsteuern zu können. Ich habe im übrigen nicht mehr viel zu fragen gebraucht, der alte Mann hat von sich aus erzählt, mit einer Selbstverständlichkeit, als sei ich schon längst angekündigt gewesen als einer, der ihm zuhören würde. Er hat von der maroden Landwirtschaft gesprochen, vom Zerfall des Dorfs, von den niedrigen Preisen, die man als Landwirt für Tiere und Feldfrüchte bezahlt bekomme. Dann aber ist er ganz abrupt verstummt, als wenn es nicht mehr zu sagen gäbe. Nach einer Weile hat er noch den Satz hinzugefügt: Aber wohin soll das alles nur führen?, und ich, um eine Antwort verlegen, habe nur mit dem Kopf genickt und dann gefragt, wo denn die Toiletten seien. Er hat mit der Hand in eine Richtung gewiesen. In den Toiletteräumen ist mir optisch alles zu klein vorgekommen: das Klobecken auffällig tief und schmal und das Waschbecken wie für Kinder, sodass ich mich als ein Riese gefühlt habe. Meine Bewegungen sind mir im Toilettenspiegel wie die einer Spinne erschienen, ruckartig, dem menschlichen Blickvermögen durch ihre Schnelligkeit entzogen. Der Gedanke ist mir durch den Kopf gegangen, dass ich vielleicht statt dem Kaffee so eine Art Zaubertrank vorgesetzt bekommen hatte, der einem eine besondere Blickfähigkeit verleiht, aber ich habe den Gedanken schnell beiseitegewischt, um nicht daran hängen zu bleiben.

Als ich wieder in die Gaststube gekommen bin, ist der Alte verschwunden gewesen. Ich bin allein an diesem Wirtshaustisch gesessen und habe darüber nachgedacht, was weiter passieren sollte, aber irgendwie hatte ich mit einem Mal gar kein übermäßiges Verlangen danach, die Dinge vorwärts zu treiben. Im Gegenteil, der laufende Reifen der Ereignisse sollte nur getrost in sich zusammensinken, großzügig und gierig von sich selbst geschluckt werden, sich bis zum Stillstand kreiseln und im eigenen Abfluss verschwinden. Hier ist ein Ort der absoluten Gegenwart, habe ich gedacht. Ein Feld der Ruhe, als hätte ich auf Pause gedrückt. Selbst jetzt, in der Erinnerung daran, ist diese leere Gaststube und der abwesende alte Wirt mit der Fliegenklatsche, mit seiner Rotgesichtigkeit, die denselben Stellenwert wie das Dunkelgrün des Eisschranks hinter der Schank besessen hat, bloß so etwas wie ein Angebot, neutral, friedlich, ohne Kontamination. Ich habe drei Münzen am Tisch liegen gelassen und bin gegangen.

Als ich wieder im Auto gesessen bin, habe ich eine angenehme Ruhe in mir feststellen können, wie nach einer hinter mich gebrachten Abschlussprüfung. Nein, eher müsste ich sagen: Die Ruhe war wie nach einem geglückten Diebstahl. Ich habe auf den Nebensitz gegriffen, auf den ich meinen Mantel gelegt hatte. Ich habe den Faustkeil gespürt. Und dann hat sich doch wieder diese bestimmte leise Art von Unruhe in mir ausgebreitet und zu Wort gemeldet: Was muss ich als nächstes tun? Das ist wie die Ungewissheit, wenn man in einem Level nicht weiterkommt, eine Ungewissheit, die ja gleichzeitig enttäuscht und erregt, aber einen schließlich und endlich immer wieder bei der Stange hält: Was muss ich als nächstes tun? Ich bin für einen Augenblick fast beschwipst von dieser Frage gewesen, die in meinem Kopf wirbelte, aber ich war auch schnell genug wieder ernüchtert: Es sind ja ohnedies alles nur noch regulierte Abenteuer, habe ich mir gesagt. Man glaubt ja nur, alles machen zu können, dabei stimmt es nicht. Der Spielraum ist eine begrenzte Zone, der Weg nicht vorgegeben, nur die äußeren Grenzen.

Also bin ich einfach drauflosgefahren. Am Ortsende des nächsten Dorfs habe ich auf einem Parkplatz in einer Kurve drei Autobusse nebeneinander stehen gesehen, alle drei die Frontseite zu mir gerichtet und alle drei mit derselben Aufschrift „Mistelbach“. Ich habe das als einen Hinweis gelesen und in diesem Sinn beschlossen, vorerst den Weg dorthin zu nehmen.

Nach ungefähr zwanzig Minuten habe ich das Ortschild von Mistelbach passiert, das Auto auf dem Hauptplatz stehen lassen, meinen Mantel angezogen und bin in irgendeine Richtung losmarschiert. Nach ein paar Schritten habe ich plötzlich bemerkt, wie sich knapp dreißig Meter vor mir ein Polizeiauto eingeparkt hat. Aufgrund der Art, wie die zwei Polizisten aus dem Auto gestiegen sind, miteinander plaudernd und sichtlich gut aufgelegt, habe ich vermutet, dass sie nichts von mir wollen würden. So schnell hätte außerdem mein Diebstahl kaum entdeckt werden können. Sicherheitshalber habe ich trotzdem blindlings das nächste Geschäft, eine Fleischerei, betreten. Noch ein anderer Kunde ist darin gewesen, und ich habe warten müssen, bis ich sozusagen an der Reihe war. Auf einmal sind auch die beiden Polizisten eingetreten. Ich habe meinen Blick starr auf die Vitrine mit den Wurstwaren gerichtet und darauf geachtet, ruhig zu atmen. Aber gleich ist meine nächste Sorge gewesen: Ist mein Blick zu starr, atme ich zu ruhig? Obwohl ich schnell registriert habe, dass die Polizisten offenbar nur als Kunden hier waren, habe ich mich, wie immer bei näherem Kontakt mit der Polizei, als ein von vornherein Verdächtiger gefühlt. Ich habe dann jedoch trotz meines Vermutungswahns und dem Umstand, dass ich quasi noch frisches Diebsgut in der Manteltasche getragen habe, nicht umhin können, mich umzudrehen und den beiden Uniformierten geradewegs ins Gesicht zu blicken. Sie haben auf mich gar nicht wie die üblichen Klischeepolizisten gewirkt, brutalisiert und stumpf-brachial, sondern geradezu mit sanftmütigen Zügen. Ihre Uniformen schienen sie beinahe mit Unbehagen zu tragen. Landgendarmerie eben, habe ich gedacht, und trotzdem: Eine Sekunde lang habe ich den immensen Drang verspürt, den Stein hervorzuholen und ihn durch die Frontscheibe der Wurstvitrine zu schmettern. Im gleichen Augenblick ist ein weiterer Kunde ins Geschäft gekommen. Er hat den Polizisten einen witzigen Satz zugeworfen, auf die Wartesituation in diesem Raum bezogen, der von einem der beiden gleichermaßen scherzend erwidert wurde. Ich habe einen Augenblick lang das Gefühl gehabt, dass jetzt auch von mir erwartet würde, eine Floskel hinzuzufügen, doch alles, was ich sagen hätte können, wäre so etwas gewesen wie: Ja, so ist das!, also habe ich nur ein unverfängliches Lächeln aufgesetzt, das mir aber wiederum selber gefälscht und ungekonnt vorgekommen ist. Als ich mit dem Einkauf an der Reihe gewesen bin, habe ich schon mein Portemonnaie gezückt gehalten, was mir jedoch ebenso als eine übertriebene und aufgesetzte Geste erschienen ist. Ich hätte vielleicht mein Geld besser lässig aus der Hosentasche gekramt. Ich habe eine Semmel mit Aufstrich verlangt. Die Angestellte hinter der Theke ist einigermaßen unwirsch gewesen und hat mir kein einziges Mal in die Augen gesehen, während sie mich bedient hat. Beim Bezahlen ist mir aufgefallen, dass ihr an der rechten Hand das erste Zeigefingerglied gefehlt hat. Das hat mich ruckartig versöhnlich gestimmt. Ich habe mich verabschiedet, darauf bedacht, der Frau beim Gruß in die Augen zu blicken, aber sie hat die Grußformel retourniert, ohne von der Kassalade, in die sie meine genau abgezählten Münzen gelegt hat, aufzuschauen. Als wenn mich das mit einem Gütesiegel und Schutzschild der Unschuldigkeit versehen hätte, bin ich selbstbewusst an den drei Männern vorbeigegangen, habe wie selbstverständlich zum Abschied gegrüßt und hätte – so sehe ich es zumindest jetzt, wenn ich darüber nachdenke – es durchaus willkommen geheißen, wenn der Raum noch kleiner oder noch voller gewesen wäre und ich mich durch die Leute regelrecht durchdrängen hätte müssen, um zur Tür zu gelangen. Auf der Straße bin ich unschlüssig stehen geblieben. Und was nun? habe ich mit dem Finger auf die feuchtstaubige Rückscheibe eines geparkten Autos schreiben wollen. Das Wort „Lokalaugenschein“ ist mir unvermittelt in den Sinn gekommen. Weiter bin ich schräg über den Hauptplatz, nach wie vor ohne ein Ziel.

Eine Weile bin ich vor dem Schaufenster eines Juweliers gestanden, unfähig, mich auf den ausgestellten Schmuck zu konzentrieren. Auch hier habe ich mir überlegt, wie es wäre, wenn ich den Faustkeil gegen das Glas schmeißen würde. Ich habe mich aber abgewandt und bin drauflosgegangen, in der Überzeugung, im Gehen wieder ins rechte Lot gerückt zu werden. Ich habe wenige Meter vor mir eine Frau bemerkt und meinen Gang beschleunigt. Während ich die Frau überholt habe, habe ich gefühlt, wie meine Schritte die ihren quasi mitgezogen haben, wie sie in Erwiderung auf meinen Körper das Maß ihres Gehens mir zugunsten aufgab, wie ein Himmelstrabant, der in die Schwerkraftzone eines anderen Himmelskörpers gerät. Wissen Sie, was ich damit meine? Zeitgleich allerdings habe ich erneut einen Uniformierten entdeckt, der mir entgegengekommen ist, und dieser hat mich angesehen, wie einen, den er wohlweislich aufs Korn genommen hat, als sei er über alles längst im Bild. Wieder habe ich aus einer leichten Panikreaktion heraus aufs Geratewohl das nächste Geschäft betreten, darauf vorbereitet, in den nächsten Sekunden vom Polizisten den Befehl zu vernehmen, stehen zu bleiben. Meine Hand in der Manteltasche hat den Faustkeilstein umfasst gehabt, wie sie eine Handgranate umfasst hätte, um mich notfalls im letzten Moment in die Luft zu sprengen und nichts von mir überzulassen. Die Vorstellung, nur mehr Fragment zu sein, zerborsten, verdampft wie ein Meteorit, ist es auch gewesen, die mir mit einem Schlag wieder meine Fassung zurückgegeben hat. Bloß nicht als plumpe Leiche daliegen, habe ich gedacht, bloß nicht mehr zu begreifen sein, alles sein, nur nicht intakt als Toter, nichts Handfestes, kein Beweisstück abgeben. Schon als Kind habe ich die Verschollenen beneidet, die, deren Flugzeug vom Nachtflug oder der Ozeanüberquerung nicht zurückgekommen war, die, von denen nur noch leere Zelte oder in den Dünen hängengebliebene Fahrzeuge sichergestellt werden konnten, die, die ins offene Meer gerudert und nie heimgekehrt waren, die Zuletztda-und-dort-Gesehenen. Sie alle haben es in meinen Augen geschafft, sich in Nichts aufzulösen, und die Orte ihres Verschwindens sind auf ewige Zeit mit ihnen. Das ist mir damals durch den Kopf geschossen, und gleichzeitig habe ich festgestellt, in einem Spielzeuggeschäft zu sein, und ich bin vor ein Regal mit Modellflugzeugen getreten und habe aus dem Augenwinkel durch das Schaufenster gesehen, wie der Polizist auf der Straße, ohne mich weiter zur Kenntnis genommen zu haben, weitergegangen ist. Um nicht unnötig aufzufallen, habe ich einen kleinen Spielzeughubschrauber aus dem Regal genommen und zur Kassa getragen. Auf die Frage der jungen Verkäuferin, die das Spielzeug entgegengenommen hat, ob sie es einpacken solle, habe ich dankbar mit Ja geantwortet. Ich habe ihren Händen zugesehen, die den in Plastik eingeschweißten Hubschrauber in ein Geschenkpapier eingeschlagen und ein Band rundherum gewickelt haben. Dass sie die Bandenden mittels einer Scherenklinge zu kleinen Spiraltroddeln zwirbelte, hat mich froh gestimmt. Es kann nur mit rechten Dingen zugehen, wenn sich jemand für so etwas noch Zeit nimmt, habe ich gedacht. Und nachdem ich mich verabschiedet hatte, habe ich mich, angeregt durch das Beobachten der Handbewegungen der Verkäuferin, gefragt, ob sich wohl auch Bewegungen und das Erfassen der Bewegungen wie Gesteinsschichten im Sein ablegen und später einmal abtragen lassen. Gleichermaßen das Wort „Zeitgeschichte“ – kann man es nicht in dem Sinn verstehen, dass die Zeit sich übereinander schichtet? Wenn dem so ist, dann werden Sie und ich letztlich auch nur eine Ablagerungsschicht darstellen, ein Palimpsestgestein als Hinterlassenschaft. Nun, etwa derart sind jedenfalls meine Gedanken gewesen, als ich schließlich mit einem kleinen Papiersack, in dem der eingepackte Spielzeughubschrauber gesteckt hat, wieder auf die Straße getreten bin.

Ich habe nach der Frau von vorhin Ausschau gehalten. Hätte ich sie angesprochen, hätte die Geschichte vielleicht einen anderen Verlauf genommen. Ihr Mitgerissenwerdenwollen, ihr offensichtlicher Wille zur Abänderlichkeit haben mich immer noch gefesselt, aber von ihr keine Spur. Dafür hat, während ich meinen Blick schweifen lassen habe, der Hauptplatz mit einem Mal wie von einem Illusionskünstler oder einem begnadeten Programmierer-Team gestaltet gewirkt. Die Fußgänger haben allesamt ausgesehen, als wären sie schon lange tot und würden sich nur noch dank eines Filmtricks bewegen, langsam und still, fast als würden sie schweben. Selbst bei dem lauten Knall einer Explosion würde jetzt niemand stehen bleiben oder über die Schulter blicken, so abwesend sind sie alle, habe ich gedacht, ein jeder in seiner Überzeugung, an Ort und Stelle zu sein, schlummernd wie in einer Fruchtblase; unverschämt, wie sie ihre abgehangenen, grobpixeligen Körper an einander vorbeitragen. Als ich mich dann in Bewegung gesetzt habe, ist schlagartig alles wieder in den vertrauten Bahnen gelaufen, und als ich beifolgend die ganz normalen Schritte und gewohnten Stimmen der Leute gehört habe, die wie im just richtigen Moment von einem Band zugespielt geklungen haben, habe ich mich gefühlt, als hätte mir jemand meine vorherigen Gedanken bloß untergejubelt oder doch, als hätte jemand mich allzu gönnerhaft durchschaut haben lassen wollen, dass hinter dieser Wirklichkeit auch eine ganz andere bereitstehen würde.