Atlas - Xaver Bayer - E-Book

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Xaver Bayer

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Beschreibung

Eine kunstvolle Erzählung von Xaver Bayer in bibliophilem Gewand. Ein wundersamer Altar in der Wildnis In einer verlassenen Waldkirche, weit abgelegen hinter der Stadtgrenze, umgeben von Bäumen und von Fledermäusen bewohnt, bezieht Xaver Bayers Protagonist sein neues Quartier. Sein Reich bestückt er mit allerlei kuriosen Fundstücken aus dem Wald und von der örtlichen Mülldeponie und schafft damit ein verstörendes und zugleich betörendes Arrangement. Wochenlang lebt er alleine inmitten dieser eigensinnigen Wunderkammer - bis sich eines Tages ein Mann in die Kirche verirrt … Der Dichter als Seismograph kleinster Erschütterungen Schon in seinem von der Kritik gefeierten Erzählband "Die durchsichtigen Hände" hat sich der österreichische Autor Xaver Bayer eindrucksvoll als Wahrnehmungskünstler gezeigt. In dieser Manier gestaltet er auch seine Erzählung "Atlas". Eine kleine Kostbarkeit im bibliophilen Gewand von einer der ungewöhnlichsten literarischen Stimmen Österreichs.

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Seitenzahl: 19

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Xaver Bayer

Atlas

Erzählung

HAYMON

C’est trop facile d’entrer aux églises ...

Jacques Brel

Wer kennt nicht das Gefühl, aufzuwachen und im ersten Augenblick keine Ahnung zu haben, wo man sich befindet? Dieser eigenartige Schwebemoment, in dem der Beamte an der Grenzstelle zwischen Schlafen und Wachen unsere Einreiseerlaubnis ins Bewusstsein mit ungewohnter Verzögerung in Empfang nimmt. Man glaubt sich sekundenlang in einem paradiesischen Limbus, aufgehoben jenseits von Traum und Dasein.

So schlug auch ich neulich die Augen auf und wusste für kurze Zeit nicht, wo ich war. Erst nach ein, zwei Atemzügen wurde mir klar, dass ich in einem Beichtstuhl saß, auf der Seite, wo normalerweise der Priester Platz nimmt.

Vom kleinen Fenster in der Tür des Beichtstuhls aus konnte ich direkt auf das geöffnete Kirchentor sehen. Die Sonne war bereits untergegangen und der in dieser Gegend und Jahreszeit übliche Nebel begann aufzuziehen. Ich fühlte mich leicht benommen, hatte ich mich doch zur Mittagszeit mit dem in einem bis dato von mir unentdeckten Winkel der Sakristei gefundenen alten, aber noch genießbaren Messwein betrunken und dann, aus welchen beschwipsten Gründen auch immer, statt in meinen Schlafsack zu schlüpfen, den hölzernen Beichtstuhl als Ort für ein Nickerchen gewählt.

Seit mehreren Monaten hatte ich nun schon in dieser verwaisten, größtenteils desolaten und vermutlich seit längerem profanierten Waldkirche mein Zelt aufgeschlagen. Mein voriges Quartier unter einer Brücke am Stadtrand musste ich verlassen, nachdem ein paar Jugendliche versucht hatten, mich anzuzünden, während ich schlief. Ich konnte die Flammen an meinem Schlafsack zwar rechtzeitig löschen und das Gesocks verjagen, aber das Meiste meines Hab und Guts verbrannte trotzdem, und ich fühlte mich gezwungen, eine neue Bleibe ausfindig zu machen. Über die Stadtgrenze hinaus, am Rand eines Mischwaldes, fand ich zunächst eine stillgelegte Mühle. Ein Loch im Zaun ermöglichte es mir, einzusteigen, und für ein paar Wochen hatte ich Ruhe im ehemaligen Verwaltershäuschen, bis eines Morgens Bagger und Abrissmaschinen ins Gelände einfuhren und mich wieder vertrieben.