Weitewelt - Claudia Wuttke - E-Book

Weitewelt E-Book

Claudia Wuttke

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Beschreibung

Ein blitzgescheiter und charmanter Frauen-Roman von Claudia Wuttke über Neuaufbruch und Selbsterkenntnis für die Leserinnen von Katharina Herzog und Gabriella Engelmann. Für die alleinerziehende Vertriebsassistentin Annabel Wiesengrund hätte es der entscheidende Tag in ihrer Karriere werden sollen. Doch alles geht schief – und zu der entscheidenden Präsentation kommt es erst gar nicht. Stattdessen findet sich Annabel zusammen mit Töchterchen Romy in einem kleinen Kaff in Schleswig-Holstein namens Weitewelt wieder. Und in einem zauberhaften alten Haus, das sie von Tag zu Tag mehr in seinen Bann zieht. so dass sie wagt, vom Neuanfang zu träumen. Bald stellt sie fest, dass sie gar nicht mehr fort will, denn das Haus ist inzwischen für sie zum Traumpalast geworden - vor allem als ein Mann auftaucht, der zunächst alles andere als der Märchenprinz zu sein scheint. Doch ihr kleines Paradies ist bedroht.

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Seitenzahl: 413

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Claudia Wuttke

Weitewelt

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Über dieses Buch

»Es gibt Situationen, da kommt man weder vor noch zurück. Und in so einer stecke ich.«

 

Für die alleinerziehende Vertriebsassistentin Annabel Wiesengrund hätte es der entscheidende Tag in ihrer Karriere werden sollen. Doch alles geht schief – und zu der entscheidenden Präsentation kommt es erst gar nicht.

Stattdessen findet sich Annabel zusammen mit Töchterchen Romy in einem kleinen Kaff in Schleswig-Holstein namens Weitewelt wieder. Und in einem zauberhaften alten Haus, das sie von Tag zu Tag mehr in seinen Bann zieht. Bald stellt sie fest, dass sie gar nicht mehr fort will, denn das Haus ist inzwischen für sie zum Traumpalast geworden

Doch ihr kleines Paradies ist bedroht …

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelEpilogDanksagung
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Für Emma.

Bis zum Mond und zurück hoch 2 und dann immer plus 1.

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1

Es gibt Situationen, da kommt man weder vor noch zurück. Und in so einer steckte ich gerade. Gas geben half nicht, denn der Unterboden meines Ford Fiesta hatte bereits so stark aufgesetzt, dass es ziemlich verdächtig roch. Selbst hier drinnen. Dabei wollte ich nur den Wagen über mir vor einem Dachschaden bewahren. Ich hatte den unteren Teil eines Hebebühnenparkplatzes in einer Tiefgarage gemietet und wegen des Wagens über mir die Rampe nicht richtig hochgefahren. Also hing ich nun auf dem Absatz von fünfzehn Zentimetern mit meinem Wagen fest. Ich wäre ja gerne ausgestiegen, aber das ging nicht mehr. Als hätte sich auch die ganze Elektronik aufgehängt, reagierte mein Auto auf gar nichts mehr. Selbst der mechanische Türöffner war blockiert. Und meinen Scheibenhammer hatte ich neulich mit in die Wohnung genommen, um ein Bild aufzuhängen. Ich besitze sonst nicht so viel Werkzeug.

So hing ich also quer gestellt auf dem Mittelboden meines schicken, schwarzen, auf Raten gekauften Ford zwei Stockwerke tief unter der Erde und vergeigte gerade die unwiederbringliche Chance, beruflich mal so richtig einen Schritt weiter zu kommen. Denn heute war der Tag des amerikanischen Investors! Heute war der Tag meiner Präsentation. Der Tag, der alles hätte verändern sollen.

In meiner Verzweiflung griff ich in die Frühstücksdose meiner Tochter, die ich an diesem Morgen leider in meiner Tasche vergessen hatte. Machte nichts, in letzter Zeit aß sie sowieso grundsätzlich das, was Phoebe in ihrer Dose hatte. Und die war wirklich ein schlechter Esser.

Meine Tochter ist übrigens vier und heißt Romy.

Ich bin einundvierzig, eine Zahl, die man immer ausschreiben sollte, und heiße Annabel. Annabel Wiesengrund. So wie der Philosoph mit zweitem Vornamen: Theodor Wiesengrund Adorno. Darauf war ich lange Zeit irgendwie stolz, bis ich merkte, dass der zweite Vorname einer Persönlichkeit, die sowieso keiner kannte oder aber vergessen hatte, auch nicht mehr bedeutete als der Nachname eines gewöhnlichen Menschen. Was dann wieder ganz gut zu mir passte: Entweder man kannte mich nicht, oder man vergaß mich ganz schnell wieder.

Ich kaute auf dem Salamibrot herum, von dem ich mich wunderte, dass ich es meiner Tochter hatte zumuten wollen, und überlegte. Die Uhr im Display des Cockpits zeigte 8:53. Wäre ich nicht in diese fatale Schräglage geraten, hätte ich meinen Arbeitsplatz durchaus noch pünktlich betreten können. Ich hätte meinen Kolleginnen aus dem Callcenter zuwinken können, um dann lächelnd beschwingt in meiner Zelle zu verschwinden, den PC anzuschalten, mir die Kopfhörer aufzusetzen und auf das kleine elektronische Board zu schauen: Rot bedeutete, der Anschluss des Kollegen war besetzt, Grün, der Kollege war frei. Grünes Blinklicht hieß: Du bist die Nächste!

So aber war das Einzige, was grün blinkte, das Digitaldisplay meiner Uhr, die inzwischen auf 9:03 stand, und ich pendelte noch immer in meinem Auto auf und ab, ohne dass jemand gekommen wäre, um mich zu retten.

Ich zog mein Handy aus der Tasche und sah schon an den nicht vorhandenen Netzbalken, dass ich wirklich tief gesunken war. Das zweite Untergeschoss machte einfach kein Empfänger mehr mit.

Na ja, was soll’s?, dachte ich. Ich war ein Fachmann für ausweglose Situationen. Und warum hätte ich mir einbilden sollen, dass ausgerechnet heute, an dem Tag, auf den ich seit locker sechs Wochen hingearbeitet hatte, die Dinge mal so liefen, wie ich sie mir vorstellte? Nimm’s mit Humor, sagte ich mir und schaukelte vor Begeisterung vor und zurück, bis ich merkte, dass mein noch recht neues Gefährt Anstalten machte mitzuschaukeln.

Es war, wie gesagt, der Tag des amerikanischen Investors. Es war der Tag, an dem endlich auch mal mein Geschäftsbereich, der für die U18, die unter 18-Jährigen, im Brennpunkt des Interesses stehen würde. Jetzt, um genau zu sein, vor fünf Minuten, hätte ich beginnen sollen, meine Power-Point-Präsentation auf den Beamer zu spielen, um meinem Chef und dem amerikanischen Investor beweisen zu können, dass auch jugendfreie Produkte eine Chance auf dem Weltmarkt hatten. Einrollbare Trinkflaschen aus BPA-freiem Silikon für Kinder, hergestellt in Solingen! Das hatte die Welt noch nicht gesehen! Quietschbunt. Orange mit grünem Verschluss. Pink mit blauem Verschluss. Gott, waren die süß! Ich hatte sie an Romys viertem Geburtstag den Kids in die Tütchen mitgegeben. Ich konnte die Anrufe der begeisterten Mütter danach kaum zählen. Drei bestimmt.

Lange und hart hatte ich dafür gearbeitet, der globalisierten Welt zu beweisen, dass mit pinkfarbenen Schleifchen versehene Strings, Dildos in Bananen- oder Gurkenform oder simple Lackleibchen nicht besser in das Konzept eines modernen Unternehmens passten als aufrichtige Solinger Knautschflaschen. Lange genug hatte ich unter den mitleidigen Blicken von Bärbel, Katrin und Kerstin gelitten, die meinten, mit ihrer 18-Uhr-Schicht und den daraus resultierenden Erfolgsprämien etwas Besonderes zu sein. Arrogante Wohlstandssingles waren das.

Ich hatte nur auf meinen Tag gewartet. Und dieser Tag wäre heute gewesen. Montag, 11. März.

Schade eigentlich.

Ich kramte in meiner Tasche nach einer Nagelfeile, denn bei dem wilden Einparkmanöver war mir leider der Nagel meines rechten Zeigefingers abgebrochen. Das beruhigend sägende Geräusch erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung: Endlich konnte ich mir auch mal während meiner Arbeitszeit die Nägel feilen – so wie BKK, Bärbel, Katrin und Kerstin.

Ich war gerade bei einer sympathischen Rundung angekommen, als mich ein unangenehmes Hupgeräusch aus den Gedanken riss.

Sicher, irgendwann musste das ja passieren. Ein Touareg wollte an mir vorbei in seine Parklücke. Allein, was sollte ich tun? Ich konnte doch nichts dafür, dass die Autos immer protziger und die Tiefgaragendurchfahrten immer schmaler wurden. Das war das Gesetz der Ökonomie: Viel Geld provozierte viele Autos, und viele Autos provozierten das Verlangen nach viel Platz, den es eben aber leider nicht gab. Jedenfalls nicht, wenn etwas dazwischenkam. So wie jetzt mein Ford.

Ich hatte mich schon oft gefragt, wozu so ein betriebswirtschaftliches Studium im Kern gut war. Während sich mir mit meinem gesunden Menschenverstand durchaus ohne die acht Semester erschloss, wie die Welt funktionierte, wussten die Ökonomen nicht, wer Adorno war, geschweige denn, was das W. seines zweiten Vornamens bedeutete. Dass die trotzdem schneller mehr Geld verdienten, als ich es jemals tun würde, war Teil dieses logischen Systems. Das hatte ich im Grundkurs Philosophie auch erklärt bekommen, den die nie gemacht hatten. Vielleicht lag es daran. Aber ehe ich noch weiter diesen nicht gerade hilfreichen Gedanken nachhängen konnte, wurde ich von einem lauten Klopfen gegen das Fahrerfenster unterbrochen.

»Woll… … her… overnach…?«

Rein akustisch folgte noch ein bisschen mehr, aber die Scheibe war von dem Atem dieses ziemlich großen und ziemlich kräftigen Mannes so beschlagen, dass ich ihm leider nicht weiter von den Lippen ablesen konnte, und ohne diese Hilfe war er kaum zu verstehen. Ich beugte mich nach vorne und klopfte meinerseits von innen gegen die Frontscheibe, um Blickkontakt aufzunehmen. Der Mann hatte verstanden und sah mich wütend an, wobei er seine Schultern mit ausgebreiteten Armen fragend hochzog. Genau das jedoch fiel auch mir nur als Zeichen meiner Ratlosigkeit ein, und ich nehme an, von außen betrachtet sahen wir ziemlich merkwürdig aus, wie wir beide synchron mit den Schultern auf und ab zuckten.

»ICHSTECKEHIERFEST!«, rief ich dann sehr laut, und mein Mund machte die entsprechend ausgeprägten Bewegungen dazu. Aber der Mann, der offenbar nicht so gut im Lippenlesen war wie ich, hielt sich nur seinen Zeigefinger ans Ohr und schaute weg. So laut war es doch auch wieder nicht, dachte ich noch, bis ich das schmale Kabel erkannte, das ihm vom Ohr bis unter den Hemdkragen reichte. Das wiederum faszinierte mich. Vielleicht war er ein VIP-Chauffeur, ein Bodyguard, ein Killer, ein Mafioso. Vielleicht würde er mich hier gleich liquidieren, in der spärlich beleuchteten Tiefgarage, UG2, einfach erschießen. Ich sah schon die Schlagzeile in der Zeitung von morgen vor mir:

Frau am helllichten Tag hingerichtet!

Je tiefer ich in den Artikel einstieg, desto weniger gefiel er mir allerdings. Wenn das wirklich passierte, wer würde Romy dann vom Kindergarten abholen? Und ich hatte ihr versprochen, an diesem Tag noch mit ihr auf einen Ponyhof zum Reiten zu fahren. Eigentlich zur Feier des Tages, wegen meiner erfolgreichen Präsentation. Aber gut. So oder so hasste ich es, Versprechen zu brechen. Erst recht, wenn sie Romy betrafen. Und erst recht, wenn sie die Freizeitaktivitäten mit Romy betrafen, von denen es ohnehin nur so wenige gab. Ich war nun mal keine Perlen-Paula, die ihre Kinder nur aus Jux und Tollerei in die Fremdbetreuung gab, damit sie endlich mal ungestört zur professionellen Zahnreinigung konnte. Oder um sich mit einer Freundin in einem schicken Straßencafé zum Sekttrinken zu treffen. Ich war eine verantwortungsbewusste, hart arbeitende alleinerziehende Mutter, die keine Freundin hatte und das Schicksal gern auf sich nahm, abends schnaubend und wiehernd durch die Wohnung zu traben, weil ihre juchzende Tochter eben gerade in der Fohlen-Pferd-Phase war. Ich sage nicht, dass ich dieses Schicksal liebte. Ich sage nur: Ich nahm es gerne auf mich. Wenn mich schon der Vater unserer gemeinsam gezeugten Tochter so ziemlich genau drei Minuten vor der Geburt grußlos verlassen und die automatische Tür des Kreißsaals sich just in dem Augenblick schnurrend wieder geschlossen hatte, als ich mit einer letzten, finalen Presswehe meinem Kind das Leben schenkte, hatte ich etwas aufzufangen, wenn nicht wiedergutzumachen. Ich komme jetzt nicht mit so was wie: Romy sollte es eines Tages besser haben! Denn summa summarum hatte ich es eigentlich ganz gut getroffen: Meine Eltern hatten sich zwar kurz vor Romys Geburt getrennt, aber ich hatte von beiden ganz gute Anteile mitbekommen: Meine Mutter liebte ihre Selbstverwirklichung und probierte auch mit ihren siebzig plus noch gern neue Dinge aus. Was wiederum bedeutete, dass ich ziemlich früh auf eigenen Beinen stehen musste.

Und mein Vater liebte fürsorgliche Verbindlichkeit, Stetigkeit und einen sicheren Hafen. Weshalb unser Kontakt seit der Trennung trotzdem nicht über die obligatorischen Weihnachtskarten und Geburtstagsgrüße hinausreichte, war mir in dem Moment gar nicht so ganz klar. Irgendwie fühlte ich mich ihm gegenüber schuldiger als meiner Mutter. Vielleicht weil er so wenig falsch machte … Ich würde darüber nachdenken müssen.

Die Uni brachte ich, zwar nur mit Ach und Krach, aber immerhin zu Ende und fand den Weg in ein geregeltes Berufsleben. Und alle Versuche, mein Leben auch mal mit einem Therapeuten nachhaltig zu verändern, schlugen fehl. Entweder war ich ein wirklich hoffnungsloser Fall. Oder ich war einfach hoffnungslos normal. Ich tendierte zu Letzterem. Und mindestens genauso gut wie ich sollte es nun auch Romy haben. Nur dass dazu seit dem Einsetzen meiner letzten Wehe mindestens fünfzig naturgegebene Prozent fehlten. Was ich als Herausforderung begriff.

Ich musste also kämpfen. Und das tat ich!

In Windeseile suchte ich in meiner Handtasche nach einem Zettel, wobei ich sehr genau darauf achtete, dass die Taschenöffnung zum Fenster zeigte, nicht dass der Mann mich doch noch erschoss, weil er dachte, ich würde eine Waffe ziehen. Keinesfalls wollte ich wegen falsch verstandener Notwehr mein Leben und meine Tochter verlieren.

Ich fand einen zerknitterten Abholschein der Reinigung, der mich an ein vor acht Wochen abgegebenes Kostüm erinnerte, das mir jetzt allerdings auch egal war. Auf die Rückseite schrieb ich drei Ziffern: 110.

Ich hoffte, dass der Bodyguard schlau genug war, sie zu verstehen. Ich presste die Nummer gegen die Frontscheibe und klopfte erneut. Mir kam es vor, als ob die Luft im Wageninneren langsam schon stickig würde, und allein aus diesem Grund fand ich die Idee mit der Polizei ganz clever.

Der VIP-Mafioso gab mir mit einer abwehrenden Handbewegung zu verstehen, dass er noch mit seinem Knopf im Ohr beschäftigt war, um sich dann aber doch stirnrunzelnd zu mir umzuwenden. Wer je Shrek II gesehen hat, weiß in etwa, was ich meine, wenn ich sage, dass ich versuchte, in dem Moment auszusehen wie der Gestiefelte Kater, als er vor Shrek dem Oger stand und um sein Leben bettelte. Für alle anderen: Ich versuchte extrem verknautscht, demütig und sehr, sehr mitleiderregend zu ihm aufzuschauen.

Ob er mich verstanden oder einfach die Ausweglosigkeit seiner eigenen Situation begriffen hatte, kann ich bis heute nicht sagen. Zumindest aber zeigte er nun doch ein gewisses Maß an hektischer Betriebsamkeit. In meine Richtung machte sich das durch Kopfschütteln und wiederholte beschwichtigende Handbewegungen bemerkbar. In Richtung seines Wagens war das Nicken häufiger zu beobachten als das Kopfschütteln, und erst jetzt wurde mir klar, dass der Touareg-Fahrer nicht allein war. Durch die geschlossenen Scheiben kommunizierte er mit einem Mann im Fond des Wagens, den ich kaum erkennen konnte. Wenn überhaupt, würde ich das, was ich sah, mit groß umschreiben: große Nase, große Augen, große Ohren. Warum die beiden weiter offenbar über den Knopf im Ohr miteinander sprachen, anstatt einfach die Fenster runterzulassen, verstand ich auch nicht. Vielleicht hatten sie ja ein ähnliches Problem wie ich?

So langsam wollte ich wirklich hier raus. Es war inzwischen fast zehn. Wenn ich wenigstens die Polizei anrufen könnte! Ich sah Lutz, meinen Chef, schon vor mir, wie er nur wenige Meter über mir tobend den Flur auf und ab lief, Christine, die Sekretärin, zum hundertsten Mal aufforderte, mich auf allen vorhandenen Nummern anzurufen. Und wie sie ihm zum hundertsten Mal leider sagen musste, dass nach dem dritten Klingeln überall der Anrufbeantworter ansprang. Ich würde viel zu tun haben, all diese Nachrichten zu löschen, wenn ich denn endlich mal wieder in die Handy-Empfangszone geriet. Wenn ich denn jemals wieder so weit kommen würde …

Meine Hoffnung erstarb, als der VIP-Chauffeur just in diesem Moment in seinen Wagen stieg, kurz und bereits mit dem Rücken zu mir in meine Richtung winkte, um dann mit quietschenden Reifen zurückzusetzen und davonzubrausen. Ich meinte noch den erstaunten Ausdruck im Gesicht eines Mannes auf der Rückbank erhascht zu haben, aber das half mir auch nicht weiter.

Ich war wieder allein. Ich wusste immer noch nicht weiter. Ich war isoliert von meinem ganzen bisherigen Leben und konnte nur hoffen, dass Romy nicht plötzlich einen schlimmen Durchfall bekäme und niemand da wäre, um sich um sie zu kümmern. An meine Präsentation und damit an meinen Job wollte ich gar nicht mehr denken. War eh alles im Eimer.

Ich griff erneut zu dem Salamibrot, biss mit Widerwillen ein zweites Mal hinein und merkte erst jetzt, wie ich nach all den durchgearbeiteten Nächten total müde wurde. Darüber nickte ich dann auch ein.

Von mir aus hätte der Traum noch länger andauern können: Romy und ich galoppierten über eine Wiese und sahen uns dabei lachend an. Sie war auf einem kleinen Pony unterwegs, das statt Beinen Kufen hatte wie ein Schaukelpferd. Unermüdlich trieb sie es an und rief dabei: »Vorwärts, Kyra, vorwärts.« Sie hatte so einen glücklichen Blick, als sie mich ansah. Und ich war es auch, denn ich saß auf einem prachtvollen schwarz-weiß gescheckten Pintohengst. Ein echtes Rassetier! Ich parierte ihn, so gut ich konnte, denn ich wollte meine Tochter gewinnen lassen, aber gleichzeitig genoss ich auch die Kraft des Pferdes, das nur eins wollte: losgelassen werden!

 

Wahrscheinlich hatte Pinto mich abgeworfen, denn ich erwachte in einer denkbar ungünstigen Position, halb nach links gekippt durch die plötzlich offene Fahrertür. Und ein unangenehm grelles Licht blendete mich. Was sollte das? Ich blinzelte, konnte aber außer schemenhaft zuckendem Blaulicht nichts erkennen. Um mich zu orientieren, rieb ich mir die Augen.

Und dann hörte ich die Stimme: »Guten Tag. Wir sind angerufen worden. Sie behindern mit Ihrem Pkw die Tiefgarage. Können Sie sich ausweisen?«

Jetzt war ich ganz da und wusste nicht, ob ich lachen, weinen, nach Luft schnappen, den Mann umarmen oder ihn wüst beschimpfen sollte.

Auf dem Display meiner Uhr blinkte die grüne Zeitanzeige ein verlässliches 10:35 Uhr.

Ich war gerettet. Das war die gute Nachricht.

 

Man mag es kaum glauben, aber es dauerte weitere 2,5 Stunden, bis endlich all meine Angaben zu Protokoll genommen waren und vor allem ein tiefgaragentauglicher Abschleppwagen den Weg nach unten gefunden hatte, um mein Auto aus seiner Schieflage zu befreien. Die Aktion klang nicht gut, sie roch nicht gut. Und sie hörte sich auch nicht nach billig an. Aber ich war um die späte Mittagszeit eines gewöhnlichen Hamburger Arbeitstages um die Erkenntnis reicher, dass die modernen Autos sich ganz gern mal selbst verschlossen, aber mit einem einfachen Druck auf die Fernbedienung auch wieder zu öffnen waren. Nicht anders hatte es auch der Polizist mit einem Universalgerät gemacht.

»Quie-quie, hat es gemacht, und die Kiste war offen«, hatte er mir strahlend erklärt und gleich noch zweimal quie-quie gemacht, um mir den Effekt zu zeigen.

Ich konnte das zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr würdigen. Das ganze Gerüst, das ich mir in viereinhalb Jahren mühsam aufgebaut hatte, war durch eine kleine, miese, selbstverschuldete Einparkpanne mal eben komplett den Bach runtergegangen.

Romys und mein Leben war getaktet durch mein Auskommen und meine Arbeitszeiten bei Lutz, sprich: Kommtech. Ich war die Callcenter-Vertriebsfrau der U18. Ich war nicht auf Karriere aus. Und ich verdiente auch nicht viel Geld. Aber ich hatte jemanden zu beschützen. Jemanden wohlgemerkt, der sich um Strom, Gas, Fernwärme und die Fruchtzwerge-Preise nicht scherte.

Und dann kam dieses Angebot des amerikanischen Investors – ich kannte noch nicht einmal seinen Namen. Ich nannte ihn immer nur Mr. Big.

Lutz war ganz aufgeregt auf mich zugekommen und wollte, dass ich einiges vorbereitete. Unsere Chance, sagte er, auf dem amerikanischen Markt Fuß zu fassen. Unsere Chance, mit seinen weltweiten Exklusivvertriebsrechten richtig Reibach zu machen.

Und genau so hatte ich es gemacht. Ich hatte so viele Zahlen, so viele Argumente zusammengetragen. Ich hatte das Ganze abends, wenn Romy schlief, so oft durchgespielt. Ich hatte mir eine Bühne gebaut, den aus der Firma geliehenen Beamer angeschlossen und mir sogar zweimal für 150 Euro einen Präsentationscoach geleistet. Ich war so vorbereitet wie auf sonst nichts in meinem Leben. Und dann das …

Am liebsten wäre ich noch einmal draußen an die Alster gegangen, um richtig tief Luft zu schnappen, und hätte die Enten gefüttert. Hätte mir überlegt, wie ich meine Angst, meinen Job zu verlieren, freundlich-souverän kompensierte, hätte über Strategien nachgedacht, wie ich diesen Fauxpas vielleicht doch noch wiedergutmachen könnte. Aber mir war klar, dass meine Situation keinen weiteren Verzug zuließ. Ich hatte einen Kloß im Hals und Pudding in den Beinen. Ich war enttäuscht und wütend wegen meiner Schusseligkeit, ich hatte Angst um Romy und unsere Zukunft, ich bedauerte, dass ich meine sozialen Kontakte in den vergangenen Jahren so vernachlässigt hatte, dass ich noch nicht mal wusste, wen ich anrufen könnte, jetzt, da mein Handy wieder Empfang hatte. Aber all das nützte nichts. Etwas Schreckliches war passiert, und dem würde ich mich stellen müssen.

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2

Als sich die Fahrstuhltüren im 6. Stock des schicken Bürogebäudes in der Hamburger City öffneten und ich als Erstes in Christines grinsendes Püppchengesicht blickte, wurde mir schlagartig wieder bewusst, dass der wahre Feind nicht immer hinter verschlossenen Türen saß, sondern manchmal auch davor. Christine war nämlich nicht nur der private Vorzimmerdrachen von Lutz, sondern vor allem auch der manikürte best friend von BKK. Und als solcher kam sie mir dann auch.

»Na, Annabel. Das hast du ja gut hingekriegt heute Morgen, hm?«, säuselte sie in ihrem Blonde-Macht-Modus. »Egal, macht ja nichts. Solche Amerikaner sind ja bekannt für ihre Geduld, und wenn man ihnen erklärte, dass deutsche Frauen einfach nicht einparken können, würden sie das schon verstehen.« Sie beömmelte sich geradezu über ihren schlechten Scherz. Klar. Es war ja auch meine Existenz, die gerade nachhaltig ruiniert worden war. Nicht ihre.

»Ach, Christinchen«, erwiderte ich innerlich kollabierend, äußerlich hoffentlich nur zitternd. »Jeder erfüllte Traum ist eine geplatzte Illusion. Das wirst du nicht kennen. Hat was mit Zielen zu tun.«

Ich versuchte, eine bedeutsame Miene aufzusetzen. »Ist Lutz allein?«

»Ich weiß nicht, ob er …«

Da öffnete sich auch schon die Tür zum Zentrum der Macht, und Lutz machte eine einladende Bewegung in meine Richtung.

»Ist schon gut, Chris. Hi, Anna, komm rein.« Ton neutral. Emotionen unter Kontrolle. Lutz wusste, wie er andere unter Druck setzte.

Ich nickte Christine gnädig zu und betrat mit dem letzten Rest Selbstbehauptung aufrecht Lutz’ Büro. Einmal drinnen, änderte sich alles an meiner Haltung, als würde man Dominosteine einfach umfallen sehen.

»Na, Annabel«, hob er an und ließ sich dabei auf seinen Chefsessel sinken, die Beine gespreizt, die Hände im Schritt, wie er es immer tat, wenn er absolut Herr der Lage war. »Hätte besser laufen können, oder?«

Ich versank gebückt auf der Ledercouch und hatte keine Kraft mehr, darüber nachzudenken, ob ich diese Gesprächseröffnung demütigend oder freundlich finden sollte. Er hätte mir ja auch gleich meine Papiere geben können. Vorsorglich zog ich ein Taschentuch aus meinem Jackett und zerknibbelte es nervös.

»Hmh«, machte ich nur. Jetzt bloß nicht heulen.

Schweigen.

Ich sah ihn an. »Und jetzt?«

Weiter Schweigen.

»Na, wie lief es denn?«, fragte ich zaghaft, und räusperte mich.

»Gut«, sagte Lutz schließlich aufgeräumt. »Sehr gut sogar.«

Jetzt setzte ich mich auch gerade hin. »Es lief sehr gut?«

»Ja«, erwiderte er fast schon gut gelaunt. »Wir sind weiter im Gespräch.«

»Aber ihr hattet meine Präsentation doch gar nicht.« Ich war ein bisschen verwirrt. Wozu bereitete ich mich denn mühsam und auf eigene Kosten auf so einen Tag vor, wenn es am Ende gar nicht nötig war?

»Na ja, Annabel, ein bisschen was kann ich als Geschäftsführer von Kommtech ja auch zum Geschäft beisteuern, meinst du nicht?« Ein Augenzwinkern. Ich entschied mich langsam für Demütigung, und das missfiel mir. »Und in Sachen Vertrieb machst du mir, mit Verlaub, vielleicht auch nichts vor.«

Ich dachte nach. An die Tiefgarage vorhin, an meine Panik. Was ich alles vorhatte in meinem Leben und letztlich immer wieder verschoben hatte. Wegen des Jobs. Und jetzt lernte ich, dass ich eigentlich auch ein bisschen überflüssig war, wenn es um die ganz großen Dinge ging, zu denen ich glaubte, Wesentliches beigetragen zu haben.

»Okay«, sagte ich, inzwischen auch etwas sicherer, weil ich nicht mehr glaubte, dass Lutz mich noch rausschmeißen würde. »Wie seid ihr denn verblieben?«

»Es wird ein Folgetreffen geben«, antwortete Lutz nur vage. »Und wir schicken ihm deine Präsentation.«

»Okay«, sagte ich wieder. »Gibst du mir seine Mailadresse?«

Lutz grinste mich an, stand auf und fasste mich an die Schulter. »Lass mal. Sag Christine, wo die Datei liegt. Sie erledigt das für dich.« Er ließ mich wieder los und wanderte zu einem halbhohen Lackregal, auf dem er sich abstützte. »Und ich mache dir einen Vorschlag: Nimm zwei Wochen Urlaub, kümmere dich um dein Auto und um deine Tochter. Mach es dir einfach mal schön, und dann reden wir weiter.«

War das jetzt doch ein Rausschmiss? »Lutz«, fragte ich entsprechend ernst. »Bin ich freigestellt? Willst du mich feuern?«

Erstaunt sah er mich an. »Annabel, wie kommst du darauf? Ganz und gar nicht. Ich sagte doch: Der Termin lief super. Ich denke nur, du könntest eine Auszeit gebrauchen, wir treiben derweil das Geschäft mit Adam Fern weiter voran, und dann schauen wir, wo wir in zwei Wochen stehen.«

Irgendetwas an dem Duktus gefiel mir nicht. Gefiel mir überhaupt nicht. Wollte Lutz sich jetzt mein Projekt komplett zu eigen machen, oder was? Andererseits war ich ja ohnehin nicht umsatzbeteiligt. Was also sollte das?

Da ich auf diese Frage keine Antwort finden würde, dachte ich über den Urlaub nach. Im vergangenen Jahr hatte ich tatsächlich zehn Tage verfallen lassen, weil ich so viel zu tun und die Kita keine Schließzeiten hatte. Jetzt war das erste Quartal rum, und ich hatte auch dieses Jahr noch keine Pläne für Romys und meine freie Zeit geschmiedet. Warum also nicht dieses Malheur zum Anlass nehmen? Mir waren doch heute da unten in dem havarierten Auto so viele Dinge durch den Kopf gegangen, die ich alle längst hätte mal tun wollen: alte Kontakte wieder beleben, meinen Vater anrufen, mit Romy reiten gehen … Etwas für uns tun?

Einen kurzen Augenblick fragte ich mich, welchen Anteil die Fremd- und welchen die Eigenbestimmung in meinem Leben eigentlich ausmachten. Und wie ich das eigentlich fand. Aber da war die Antwort auch schon da.

»Bist du sicher, Lutz, dass das in Ordnung wäre? Zwei Wochen Urlaub, und danach sehen wir weiter?«

»Das ist absolut in Ordnung, Annabel«, erwiderte er und streckte mir seine rechte Hand entgegen.

Ich glaubte ihm und schlug ein.

Lutz und ich, wir waren schon ein komisches Gespann, immer irgendwie im Ring, aber am Ende doch auch vertraut. Und deswegen drehte ich mich, die Tür zum Vorzimmer schon geöffnet, nochmals zu ihm um. »Ist es okay, wenn Christine den Urlaubsantrag ausfüllt und ihr die Formalitäten regelt?«

Er rollte kopfschüttelnd mit den Augen. »Chris, hast du gehört?«

Natürlich hatte sie gehört – was für eine Frage?

Lutz nickte mir zum Abschied noch einmal zu, und ich verließ das Büro, ohne mich noch einmal umzudrehen. Christines Blicke brannten mir förmlich im Rücken, als ich den Aufzug nach unten betrat. Während sich die Türen hinter mir schlossen, dachte ich nur, dass der Weg abwärts manchmal der eindeutig bessere sein konnte als der nach oben: Ich wusste noch nicht, was mich erwarten würde, aber ich spürte, dass sich etwas verändern würde. Ich freute mich auf Romy und auf unsere Zeit. Die erste Woche, das beschloss ich bei mir, sollte zunächst mir gehören, die zweite auf jeden Fall uns beiden.

Und so begann mein neues Leben.

 

Die evangelische Kindertagesstätte lag mitten in der Stadt in einem ziemlich unaufregenden 60er-Jahre-Gebäude. Wirklich sensationell an ihr war der Dachgarten im siebten Stock mit einem spektakulären Blick über die Stadt, fast bis hin zu den Landungsbrücken, wo wir wohnten.

Romy abzuholen war schon immer etwas sehr Besonderes für mich gewesen, vielleicht sogar das Schönste, was wir teilten. Sosehr die Kids ihren Tag auch genießen mochten und sich morgens schon fast genervt von dem Geherze und Geküsse abwandten, so wichtig war es doch, dass sie abends nicht einfach vergessen wurden. Dass jemand kam, dem sie in die Arme fliegen konnten.

Und wie Romy flog! Mit so viel Schwung, dass sie mich neulich mal so umgeworfen hatte, dass ich gegen eines der Kinderwaschbecken prallte und am Hinterkopf mit drei Stichen genäht werden musste.

Aber das war egal. Ebenso egal wie die Auseinandersetzungen, die auf die schönsten Momente folgten: Romy, die sich die Schuhe nicht anziehen will, obwohl es draußen regnet. Die sich im Badezimmer versteckt, obwohl ich im absoluten Halteverbot stehe. Die zu Hause noch die Simpsons gucken will, obwohl sie das schon gestern und vorgestern getan hat. Ein Nein hieß Stress. Und ein Ja hieß alarmierendes pädagogisches Fehlverhalten. Damit war der Zauber ganz schnell vorbei, und ich merkte wieder, wie müde ich war.

An diesem Tag war alles anders.

»Wir fahren heute mit dem Bus nach Hause!«, verkündete ich, als ich mich aus der Umarmung meiner Tochter gelöst hatte.

»Mit dem Bus?«

»Genau. Mamas Auto ist kaputt. Das muss erst repariert werden.«

»Oh«, machte Romy. »Ist das beim Doktor? Hat das Husten?«

Ich liebte diese Fragen.

»So ähnlich. Der Boden hat ein Loch. Eventuell.«

Eventuell ist keine Aussage für eine Viereinhalbjährige.

»Dann müssen wir ein Pflaster kaufen. Damit es wieder gesund wird.«

Der Vorschlag leuchtete mir ein, und durch den Kauf von Kinderpflastern in der Apotheke nebenan und der Fahrt mit dem Bus kamen wir tatsächlich an der Diskussion mit dem Fernsehen vorbei.

Nicht aber an der Frage nach dem Ponyhof, was mir zum Glück schon vorher klar gewesen war. Niemand sollte denken, Kinder in diesem Alter würden ein einmal gegebenes und interessantes Versprechen vergessen. Ich bot ihr also an, länger als sonst auf meinem Rücken zu reiten, da wir ohne Auto ja schlecht zu den Ponys fahren konnten. Das eine nahm sie großzügig an, weil ihr das andere irgendwie einleuchtete. Und so fielen mir nach diesem Tag selbst schon fast die Augen zu, als ich Romy um halb acht in den Schlaf sang.

»Mama«, sagte sie nach dem Gutenachtkuss.

»Hmmm?«, brummte ich.

»Phoebe wurde heute von ihrem Papa abgeholt.«

Etwas in mir zog sich – wie immer bei diesem Wort – schmerzhaft zusammen, und sofort war ich wieder hellwach. Ich wollte es nicht zulassen, ich wollte dem unsichtbaren Dritten in unserem Haushalt keinen Platz einräumen und versuchte jedes Mal, wenn das magische Wort fiel, ihm keine weitere Bedeutung beizumessen. Ich wollte nicht, dass die Lämpchen Schuld!, Unzulänglichkeit!, Versagen! so grell aufblitzten, und ich wollte auch die Sehnsucht und das Vermissen in Romys Stimme nicht hören. Aber es passierte. Jedes Mal und immer wieder.

»Echt? Aber Phoebe wird ja öfter von ihrem Papa abgeholt, oder?«

»Ja«, sagte sie gewichtig. »Und von ihrer Mama.«

»Genau, so wie du.«

»Ja, ich werde auch immer von meiner Mama abgeholt.«

»Genau. Und jetzt schlaf. Es ist spät. Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch, Mama.«

Mehr kam nicht. Es kam eigentlich nie mehr, denn Romy kannte ihren Vater ja nicht. Aber irgendwann würde mehr kommen. Das wusste ich. Und ich war dankbar, dass es noch nicht so weit war.

Müde rieb ich mir die Augen, stand auf und ging in die Küche. Lustlos sah ich auf den Stapel Post, den ich seit zwei Tagen nicht aufgemacht hatte. Meistens war es sowieso nur Werbung. Ich nahm ihn mit in unser Wohn-/Ess-/Spielzimmer und warf ihn achtlos auf den Tisch vor der Couch. Die könnte auch mal neu gepolstert werden, dachte ich wie jeden Abend, wenn ich die entscheidenden zwanzig Zentimeter zu tief darin versank. Sie war noch von meiner Oma. Ich hatte mir mal einen Kostenvoranschlag geben lassen und danach das Projekt fürs Erste wieder verworfen. Ich hatte keine achthundert Luxuseuro. Davon abgesehen hätte ich auch nicht gewusst, wann ich mir hätte Stoff aussuchen und das Sofa zur Polsterei fahren sollen. Vielleicht jetzt im Urlaub, schoss es mir durch den Kopf. Dabei fiel mir ein, dass tatsächlich zwei freie Wochen vor mir lagen. Mir fiel allerdings auch der Grund dafür wieder ein: Summa summarum würden durch meine Aktion heute mehr als vierhundert Euro fällig. Allein der Spezial-Abschleppwagen würde schon rund dreihundert kosten, so hatte man mir gesagt. Und dass die Werkstatt auf meinen Gestiefelten-Kater-Blick reinfallen würde, glaubte ich auch nicht.

Ich hatte schon vor anderthalb Jahren gewusst, dass die Idee mit dem Auto ziemlich daneben war. Ich brauchte es eigentlich nicht. Aber es war der einzige Luxus, den ich mir nicht versagen wollte. Wenn schon kein Ausgehen mit Freunden oder ein Dinner mit einem Mann, dann wenigstens das. Ich weiß nicht, wie viele Monatskarten ich schon von den Falsch-Parken-Tickets hätte kaufen können. Viele vermutlich. Aber jeder Mensch hat ein Recht auf Freiheit, und deswegen war mir dieser zu 0,4 Prozent finanzierte Grundausstattungs-Ford eben wichtig. Ich wollte nicht zu den motzenden Frauen gehören, die ihre nörgelnden Kinder für einen Ausflug in den Heidepark am langen Arm die drei Stufen in den Regionalzug hievten und den Eingang blockierten, während ihnen von der abgewetzten Reisetasche leider der Henkel riss.

Ich setzte meine Tochter lieber entspannt in den Flohmarkt- Kindersitz von 2011, schaltete meinen Lieblingsradiosender ein – ich hatte eh nur den einen –, und schnurrte locker los. Von außen betrachtet wirkten wir wie eine glückliche Familie mit Winnie-Puuh-Sonnenschutz. Und das war wichtig. Mir wichtig!

Ich schloss für einen Moment die Augen und ließ den Tag noch einmal Revue passieren. Das ging insofern relativ schnell, als die ersten Stunden vor allem von meiner Blödheit bestimmt gewesen waren, und an die wollte ich nicht denken. Ich kannte mich ja.

Wenn es etwas Positives gab, dann Lutz’ Reaktion. Ich war zu aufgeregt gewesen, als dass sie mich in dem Moment erstaunt hätte. Aber im Nachhinein war sie doch einen Gedanken wert.

Ich arbeitete jetzt seit fast vier Jahren bei Kommtech. Die Anzeige las ich, als Romy etwa sechs Monate alt war und mir klar wurde, dass ich von ihrem Vater nichts zu erwarten hatte und vom Staat nicht länger etwas bekommen wollte. Ich wollte arbeiten. Und Romy sollte etwas anderes sehen als immer nur mich. Da fand ich die Anzeige: Vertriebsassistent/in im Telefonmarketing gesucht. Ich hatte früher schon in vielen Gelegenheitsjobs gearbeitet, letztlich weil ich nie richtig gewusst hatte, was ich denn nun wollte. Ein paar Bürojobs waren auch dabei gewesen, allerdings noch keiner im Vertrieb. Irgendwie interessierte mich das. Ich rief an, stellte mich vor und bekam den Job. In erster Linie sicher, weil er miserabel bezahlt war. In zweiter Linie aber auch, weil Lutz nicht nur ein Geizkragen, sondern auch ein ganz guter Menschenkenner war. Er hatte meine Situation erkannt und sofort gewusst, dass ich alles dafür geben würde, den Job zu behalten. Und deswegen hatte er mich genommen – trotz Kind ohne Vater. So viel Weisheit besitzt nicht jeder. Dass ich darüber hinaus sogar so etwas wie Sympathie für ihn empfand, obwohl ich ihm nie etwas von mir erzählt habe, geschweige denn Unterstützung einforderte, lag an Situationen wie heute: Ich war vor Scham fast im Boden versunken, und er sprach von einem super Termin und meinte, der Urlaub würde mir guttun. Wenn auch auf eine bestimmt nicht uneigennützige Art – er wollte weiter an dem Deal arbeiten, und ich nahm einfach den Urlaub, der mir ohnehin zustand – sorgte er doch in gewisser Weise für mich.

Andere würden wahrscheinlich sagen, ich hätte mich mal wieder um den kleinen Finger wickeln lassen. Aber ich war ja nicht andere. Ich war Annabel dankbar Wiesengrund. Und ich hatte auch nicht andere. Ich hatte Romy.

Deswegen freute ich mich so auf die freien Tage.

Und plötzlich wusste ich auch, was ich damit anfangen würde! Aufgeregt ging ich zu meinem Telefontischchen, auf dem bestimmt schon seit zwei Monaten ein Zettel lag: Tante Gretchen – und dann die Telefonnummer: fünf Stellen Vorwahl, drei Stellen Hauptanschluss. Dass es so was im Westen noch gab!

Meine Mutter – meine esoterisch veranlagte, männermordende, geschiedene Mutter – hatte mir die Geschichte von Tante Gretchen erst vor ein paar Monaten erzählt, als sie selbst mal wieder in einer Clearing-Phase war und etwas ausmistete. Und ich konnte sie noch immer nicht fassen. Vor allem konnte ich nicht fassen, dass eine so wunderbare Geschichte so viele Jahre nicht erzählt worden war. Obwohl sie letztlich vieles von uns erklärte.

Ich mache es kurz:

Meine Großeltern kamen wie so viele Menschen dieser Generation aus Schlesien. Aus Breslau, um genau zu sein. Und wie so viele Menschen ihrer Generation hatten sie gegen Ende des 2. Weltkrieges Angst vor dem Feind aus dem Osten und Angst um ihre Kinder. Noch mehr Angst hatten sie allerdings um ihr Hab und Gut. So kam es, dass auch meine Großeltern meine damals sechsjährige Mutter und ihren jüngeren Bruder in das nahe gelegene Schweinitz schickten. Zu Tante Gretchen, die keine echte Tante war und mit ihren 17 Jahren auch gar nicht wie eine wirkte, aber für die Kinder eben als solche fungierte. Dort lebten sie eine Weile, bis auch Schweinitz nicht mehr sicher schien. Also wurde weiter evakuiert. Noch weiter nach Westen. Somit fanden sich im Frühjahr 1944 Tante Gretchen, meine Mutter und ihr Bruder ziemlich verängstigt auf einem vollkommen überladenen Wehrmachts-Lkw wieder, bis ein deutscher Soldat entschied, dass mit so viel Übergewicht niemand heil im Westen ankommen würde. Da meine Mutter und ihr Bruder in seinen Augen ohnehin schon Waisen waren, befahl er ihnen, von der Ladefläche zu krabbeln und allein in Schweinitz zu bleiben. Ihm schien das vielleicht konsequent. Nicht aber Tante Gretchen. Mutig hatte sie sich erhoben, den Soldaten mit welchen Worten auch immer beschimpft und ihn so lange bei seiner germanischen Ehre gepackt, bis er klein beigab und meine Mutter und ihr Bruder auf dem Treck reisen durften. Und wenn Tante Gretchen schon nicht das Leben meiner Mutter und meines Onkels gerettet haben sollte, so hat sie ihr Schicksal – und damit auch meins – doch nachhaltig beeinflusst.

Diese Geschichte erfuhr ich also erst jüngst, weil auch jüngst erst die Pseudo-Urne meiner Großmutter (die Hab und Gut irgendwann doch aufgeben und ebenfalls in den Westen flüchten musste) mit ein paar persönlichen Dingen wie Transitscheinen, Eintrittskarten für Lichtspiele und Briefen Opfer des Clearings wurde. Das Einzige, was meine Mutter davon aufbewahrte, war ein altes abgegriffenes Foto.

Auf dessen Rückseite stand: Tante Gretchen, 1984, und eine Adresse in Seedorf-Weitewelt, Schleswig Holstein. Das wiederum lag Luftlinie keine 70 Kilometer nördlich von mir entfernt.

Meine Mutter hatte nach dem Fotofund zweimal bei Tante Gretchen angerufen. Von daher wusste ich, dass sie noch lebte, wenngleich wohl schon ein wenig vergesslich. Gesehen aber hatte sie sie seit dem Krieg, der noch durch mehrere Stationen der Flucht gekennzeichnet war, nicht mehr. Also konnte ich es sein, die ihr dankbar den Blumenstrauß überreichte, den sie sich bei der Rettung eines sechs Jahre alten Mädchens und ihres zwei Jahre jüngeren Bruders vor gut siebzig Jahren verdient hatte. War das nicht irre?

Ich freute mich. Ich hatte einen Plan. Ich würde Gutes tun und vielleicht etwas über meine Mutter erfahren, über mich, über unser verworrenes Verhältnis, über ein Stück Geschichte. Und ich war neugierig auf diese alte Dame, die vor so langer Zeit so viel Mut bewiesen hatte. Mein Schicksal würde eine Wendung nehmen, von der ich heute Morgen, als ich die verfluchte Brotdose in meiner Tasche vergessen hatte, nicht im Entferntesten etwas geahnt hatte. Ja, nach der ich mich auch noch gar nicht weiter gesehnt hatte.

Ich überlegte kurz, ob ich zur Feier des Tages eine Flasche Rotwein öffnen sollte. Ich muss dazu sagen, dass ich seit dem Kreißsaal-Erlebnis mit Romys Vater so gut wie keinen Alkohol mehr getrunken habe. Ich kam besser ohne ihn klar, wie mir die wenigen Male danach deutlich gezeigt hatten. Und je mehr Zeit verstrich, desto weniger Lust hatte ich, mit einer Essig-Vergiftung mit dem zwei Jahre alten Penny-Fusel meine Nachtruhe zu opfern. Aber heute war ja nun wirklich ein besonderer Tag. Und morgen hatte ich Urlaub. Zu Tante Gretchen konnte ich ohnehin erst fahren, wenn ich mein Auto wieder hatte.

Beschwingt nahm ich also den Stapel Post erneut zur Hand und wollte schauen, ob eins der Werbeblättchen mir so viel Anreiz auf Gesellschaft bot, dass ich Lust bekäme, ein Glas mit ihm zu teilen. Vielleicht war ja eins mit einem Ratespiel oder einer Consumer-Befragung dabei. Die waren mir die liebsten.

Ich blätterte die Umschläge einzeln durch und überschlug ein Versandhausmailing, ein Billigkreditmailing und ein Telefongesellschaftsmailing. Und dann starrte ich auf den blauen Stempelaufdruck oben links in der Ecke: Anwaltskanzlei Seegers & Partner.

Das Zittern fing an, noch bevor ich den Umschlag genauer ins Visier genommen hatte. Eine Anwaltskanzlei verschickte keine Werbesendungen. Und wenn, dann wären sie nicht gestempelt, sondern gedruckt.

Es hatte eine Zeit gegeben, da war ich jedes Mal mit klopfendem Herzen zum Briefkasten gegangen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich durchaus von einer diffusen Angst erfüllt war, die ich damals nicht hätte definieren können und der ich auch nie auf den Grund gegangen bin. Jetzt holte sie mich wieder ein. Und jetzt musste ich ihr auch nicht mehr auf den Grund gehen, denn ich spürte instinktiv, was mir dieser Brief sagen wollte. Zu präsent waren mir plötzlich wieder all die Tage, in denen ich die letzten Meter zu Romys Kita förmlich rannte, weil ich mir einbildete, jemand anderes hätte vor mir da sein und mir mein Kind nehmen wollen. Ich wusste wieder sehr genau, was es hieß, beim Klingeln des Telefons zusammenzuzucken, weil ich einen Anruf fürchtete, der mir alles kaputt machen könnte, wofür ich gekämpft hatte.

Ich ahnte, was in dem Brief stand. Ich hatte nur vergessen, dass es jemals so weit kommen könnte.

Ich riss den Umschlag auf und überflog die Zeilen, die vor meinen Augen verschwammen.

Er wollte das geteilte Sorgerecht.

Thomas, der Mann, bei dem ich ein paar schwerwiegende Monate lang anständigen Sex mit Liebe verwechselt und der mich im Moment der Geburt schmählich im Stich gelassen hatte, meinte nach viereinhalb Jahren, die ICH meine Tochter in endlosen Nächten durch die Wohnung getragen, ihr in delirierendem Schlafentzug die Blähungen aus dem Bauch massiert, ihr so oft Schlaflieder vorgesungen hatte, dass ich darüber plötzlich den Text vergaß, dieser Mensch glaubte, dass ich als Vollzeit berufstätige Mutter meinem Erziehungsauftrag nicht gerecht würde?

Dass er sich als notorisch fauler Gelegenheitsarbeiter eine nette Gratisgeldquelle versprach, stand natürlich nicht in dem Antrag. Aber ich war mir sicher, dass genau das dahinter steckte, denn er war ja nicht doof. Nur faul. Das wusste ich nun. In der kurzen Zeit unseres Miteinanders hatte es immer wieder dringende Angelegenheiten gegeben, für die er mein Geld zwingend gebraucht hatte. Immer sollte ich es sofort zurückbekommen. Nie ist es passiert. Am Anfang hatte ich noch leise darum gebeten – er hatte eine Autorität, die einen schon mal leise werden ließ –, aber dann hagelte es Vorwürfe und Beleidigungen. Zur Versöhnung lud er mich zu einem schicken Italiener ein, den letztlich auch ich zu bezahlen hatte, weil ich ja arbeitete und er schließlich Opfer des nicht vorhandenen Sozialstaates war. So gesehen konnte ich froh sein, dass er mich verließ. Ich hätte vermutlich deutlich länger dafür gebraucht, worauf ich nicht stolz bin. Aber geblieben war die Angst, dass er irgendwann noch mal auf mich zurückgreifen würde. Deswegen hatte ich mich vor so einem Brief gefürchtet. Und deswegen wusste ich, was er sich ausrechnete: mindestens 350 Euro Unterhalt für Romy. Das war wenig für Menschen wie Lutz. Und geradezu eine Beleidigung für Romy. Aber für mich war es mein Leben. Und für Thomas garantiert ein Alfa Romeo auf Raten.

Und den erstritt er sich mit Lügen: Ich las von regelmäßigen Kontaktaufnahmeversuchen, die ich jedes Mal unterbunden hätte. Von Briefen, die er im Kampf um seine Tochter geschrieben und die ich nie beantwortet hätte. Von Geschenken, die er seiner Tochter machte und die postwendend zurückkamen.

Ich muss dazu sagen, dass Thomas tatsächlich einmal anrief, als Romy etwa sechs Monate alt war. Es war nachts um zwei, und er klang sehr betrunken. Er lallte etwas davon‚ dass es ihm »leidtäte«, und ich hörte Musik im Hintergrund und das Gegiggel einer Frau, die offenbar mehr Lust hatte, ihr eigenes Abenteuer mit ihm zu erleben, anstatt sich mit seinen Altlasten auseinanderzusetzen. So hörte ich eine Weile sein »Es tut mir so leid, es tut mir so leid«, unterbrochen von »Nu hau doch mal ab, nu hau doch mal ab«. Und dann hörte ich einen Rums und sein sattes »Sooh«. Deswegen versuchte ich ihm zu erklären, dass es schon spät sei und er doch bitte morgen wieder anrufen solle – was er nie getan hat.

Und ein Geschenk gab es auch mal. Das stimmt. Eine Woche nach Romys zweitem Geburtstag schickte er einen Strampler in Größe 72. Und der passte, egal, wie unterentwickelt ein Kind auch sein mochte, in dem Alter etwa so gut wie ein Eierwärmer auf ein Elefantenohr.

Damit ich an seinen Absichten auch keinen Zweifel hegen konnte, stand in dem Schreiben ein Termin: Mittwoch, 04.05., Familiengericht Hamburg-Mitte, Sievekingplatz 1, 10.40 Uhr. Anhörung.

Das war in gut sechs Wochen.

Zum ersten Mal bedauerte ich, nach diesem Kreißsaalabgang weder jemals auf Unterhalt geklagt noch sonst etwas getan zu haben, das den Umgang mit diesem Idioten ein für alle Mal unterbunden hätte. Ich wollte einfach nur nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ein Fehler, wie sich gerade zeigte.

Ich nahm die Flasche Wein und überlegte. Dann stellte ich sie wieder weg, zog mich um, putzte mir die Zähne und ging zu Romy. Im gelblichen Schein ihrer schwimmenden Fische-Nachtlampe betrachtete ich mein schlafendes Kind. Ihr Mund stand halb offen, und sie hielt ihren Schmusehasen fest umklammert. Es war einer von vier identischen, die ich angeschafft hatte, als wir den damals ersten und einzigen verloren hatten. Das Drama wollte ich nicht wieder erleben. Ich hob sie vorsichtig hoch und trug sie in mein Bett. Sie grunzte ein bisschen und murmelte dann: »Der Junge hat sich aufgelöst«, bevor sie wieder in das Reich ihrer Träume entschwand.

Ich gab ihr einen flüchtigen Kuss und deckte sie mit meiner Decke zu. Einen kleinen Zipfel nahm ich für mich, denn an irgendetwas musste ich mich ja klammern.

 

Am nächsten Morgen wachte ich noch vor dem Weckerklingeln merklich ausgekühlt und mit dumpfem Kopfschmerz auf. Romy lag inzwischen quer auf Bett und Decke. Ich hatte mich irgendwie um sie herumgewunden.

Mit offenen Augen lauschte ich den Geräuschen von der Straße und dem Atem meiner Tochter. Wenn das schmerzhafte Pochen hinter der Stirn nicht gewesen wäre, hätte ich diesen Moment gern länger ausgekostet, denn die Nahtstelle zwischen Wachen und Schlafen hatte etwas angenehm Taubes. Der gestrige Tag lag hinter einem wie ein früheres Leben, und die Erinnerung hatte sich noch nicht wieder scharf ins Bewusstsein geschnitten. Das sollte sich allerdings ändern, als ich doch aufstand und in der Küche ein Glas Wasser für ein Aspirin holte. Auf dem Weg zurück fiel mein Blick auf den Tisch mit der Post, und plötzlich war alles wieder da, glasklar und messerscharf: die Panne in der Tiefgarage, die verpatzte Präsentation, das Warten, der Polizist, Lutz und schließlich der blaue Stempel. Nun fing auch mein Herz wieder an zu rasen, und wenn ich mir eins nicht leisten konnte, dann Kontrollverlust. Oder Schlimmeres. Also tat ich das einzig Vernünftige in meiner Situation: Ich nahm den Brief mit spitzen Fingern und stopfte ihn unter das Sofakissen. Aus den Augen, aus dem Sinn. So einfach war das! Ein kleines bisschen ruhiger schluckte ich zwei Tabletten und beschloss dann, meinen ersten Urlaubstag so gut gelaunt wie geplant anzugehen. Das klappte inklusive Romy die Zähne putzen, anziehen, Kakao trinken, ohne zu kleckern, und auf Anhieb die richtigen Schuhe für sie aussuchen bis auf einen kleinen Zwischenfall beim Aussteigen aus dem Bus auch ganz prima.

Ich sage es nur ungern, aber es war eben ein Rollstuhlfahrer, der schneller die herabgelassene Busrampe hinaufwollte, als wir herunterkamen. Aber raus hat nun mal Vorrang vor rein. Und einen gewissen Respekt vor allem, was sich hob und senkte, möge man mir nach der Episode vom Vortag verzeihen. Jedenfalls juckelte der Mann mit seinem Elektroroller so unverschämt rücksichtslos in den Bus, dass er Romy fast über den Fuß gefahren wäre. Ich riss sie zur Seite und murmelte »Penner«. Das hörte niemand außer Romy. Die rief fröhlich: »Fahr doch, du Penner. Ist doch grün.« Ich sah mich entschuldigend um, hatte jedoch nicht das Gefühl, dass mir irgendjemand verzieh. Also hüpften wir aus dem Bus, und ich spielte sofort »Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm« mit ihr, um mich von den bohrenden Blicken aus den Fenstern abzulenken. Als der verfluchte Bus endlich weg war, sagte ich zu ihr: »Der war wirklich blöd, der Mann.«

»Ja, der war wirklich blöd.«

Und so begann ein rundum schöner Tag noch einmal. Ich war den Wolken davongelaufen.

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3

Die ersten Tage vergingen wie im Flug. Ich hatte mich selbst von allen Pflichten entbunden und war erstaunt, wie schnell ich damit bestens klarkam. Stundenlang saß ich in Cafés, las mich durch alle Zeitungen und wunderte mich dabei, dass es so viele gab. Ich putzte unsere 2 1/2- Zimmer-Wohnung mit Hingabe, und als selbst die Fugen mit der Zahnbürste ausgekratzt waren, strich ich die Küche lavendelfarben, weil ich schon immer mal einen Raum lavendelfarben streichen wollte. Selbst wenn es nicht besonders gleichmäßig wurde, passte es doch zu den weißen Einbaumöbeln und den zwar schon alten, aber immer noch ganz hübschen schwarz-weißen Schachbrettfliesen.

Romys Kommentar hätte ich mir überschwänglicher vorgestellt: »Mama, die Wände sind ja ganz schmutzig. Die haben gekleckert.« Aber ich ignorierte ihn. Bis sie auf die Anrichte krabbelte und mit der Spülbürste sauber machen wollte. Darauf folgte mein Versuch, sie nachhaltig über individuelle Schönheit im Besonderen und Kunst im Allgemeinen aufzuklären. Sie schien es nicht wirklich zu verstehen, als sie dann aber am nächsten Morgen fragte: »Mama, ist das schön mit den bekleckerten Wänden?«, war ich zufrieden.

Das Wohnzimmer mied ich weitgehend, denn als ich mich einmal unbesonnen auf das Sofa sinken ließ, schien mir Sie-wissen-schon-was förmlich den Hintern zu verbrennen. Nicht dass ich die Sache wirklich jemals vergessen hätte. Die Sache, die mir meine Tochter streitig machen wollte. Aber da ich wusste, dass ich in vorübergehender Verdrängung ganz gut sein konnte, verdrängte ich einfach vorübergehend. Und kniff abends, wenn ich mich ins Bett legte, die Augen so fest zu, dass ich alles sah, nur keine Horrorszenarien mehr.

Nach drei Tagen des Müßiggangs rief ich dann aber immerhin endlich mal in der Werkstatt an, denn der erste Strauß für Tante Gretchen verwelkte bereits in meiner Vase. »Ihr Wagen ist fertig. Sie können ihn abholen«, beschied mich ein Herr Heintze.

»Wie, fertig? Totalschaden, oder was?«, fragte ich nach, weil ich immer mit dem Schlimmsten rechnete.

Ich hörte einen Moment nichts.

»Gibt es noch etwas Schlimmeres als Totalschaden? Ja, so sagen Sie doch was. Die Situation ist auch so schon unangenehm genug«, erklärte ich plötzlich panisch und wollte einfach nicht begreifen, dass Menschen in Serviceberufen die Grundregeln der Kommunikation nicht beherrschten. Fast hätte ich ihm zur Erklärung meine ganze Geschichte aufgetischt. Aber das hätte bei Herrn Heintze auch nichts gebracht.