Welt im Alarmzustand - Peter Rudolf - E-Book

Welt im Alarmzustand E-Book

Peter Rudolf

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Verschwunden war die nukleare Abschreckung nie, aber lange in den Hintergrund getreten. In einer Ära neuer Großmachtkonflikte – wie aktuell im Krieg Russlands gegen die Ukraine – gewinnt sie wieder an Bedeutung. Peter Rudolf analysiert die politischen und strategischen Ideen der Beteiligten, entschlüsselt den "Nukespeak" der Doktrinen und bietet so Orientierungswissen für eine dringend notwendige neue Nukleardebatte. Der Einsatz von Atomwaffen gilt als hypothetischer Fall. Dennoch beruht die paradoxe Abschreckungslogik auf der Drohung und Bereitschaft, Nuklearwaffen einzusetzen, um einen Krieg zwischen Atommächten dauerhaft zu verhindern. Deutschland neigt dazu, den militärischen und politischen Problemen sowie moralischen Dilemmata auszuweichen. Als NATO-Mitglied ist es aber in das nukleare Abschreckungssystem eingebunden und muss sich seiner Verantwortung stellen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 188

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Rudolf

WELT IM ALARM ZUSTAND

DIE WIEDERKEHR NUKLEARER ABSCHRECKUNG

Der Autor:

Peter Rudolf, geb. 1958, promovierter und habilitierter Politikwissenschaftler an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Zuletzt erschienen: »Zur Legitimität militärischer Gewalt« (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 10099).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-0640-6 [Printausgabe]

ISBN 978-3-8012-7045-2 [E-Book]

Copyright © 2022 by

Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Hermann Brandner, Köln

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2022

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

1Nukleare Abschreckung in der Ära neuer Großmachtrivalitäten

1.1Nukleare Abschreckung in den amerikanisch-russischen Beziehungen

1.2Nukleare Abschreckung in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen

1.3Strategische Stabilität: Gefährdet wie nie?

2Die NATO und die nukleare Abschreckung

2.1Die NATO als »nukleares Bündnis«

2.2Die Nukleardoktrinen der Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich

2.2.1Die US-Nukleardoktrin: Kriegsführungs-Abschreckung

2.2.2Großbritannien und Frankreich: Minimalabschreckung

2.3Deutschland und die nukleare Teilhabe

2.4Erweiterte nukleare Abschreckung im heutigen Europa

3Zur Legitimität nuklearer Abschreckung

3.1Legalität: Die rechtliche Dimension

3.2Moralität: Die ethische Dimension

3.3Effektivität: Die politische Dimension

4Folgerungen

Einleitung

Verschwunden war die nukleare Abschreckung nie, doch in den Hintergrund gerückt – und zumindest in Deutschland im Laufe der letzten Jahrzehnte dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend entschwunden. Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und Präsident Putins nuklearen Drohgebärden im Februar 2022 hat sich das schlagartig geändert. Nukleare Abschreckung gewinnt in der Ära neuer Großmachtrivalitäten und damit einhergehender Bedrohungsvorstellungen wieder große Bedeutung – die Modernisierung der Kernwaffenarsenale schreitet voran, die Rüstungskontrolle ist weitgehend zusammengebrochen.

Deutsche Politik kann sich der neuen Debatte über die nukleare Abschreckung nicht entziehen. Sie wird in den USA intensiv geführt und strahlt in die NATO aus. Frankreich hat schon vor einiger Zeit die europäischen Partner zu einem Austausch über die »europäische Dimension« der französischen Nuklearabschreckung eingeladen. Putins Krieg gegen die Ukraine wird auch in Deutschland die Diskussion über eine europäische nukleare Abschreckung beleben, wenn erste Stimmen in dieser Richtung ein Indiz sind.1 Die im deutschen sicherheitspolitischen Denken tradierte Trennung von Abschreckung und Kriegsführung ist einer Auseinandersetzung mit den Problemen und Dilemmata nuklearer Abschreckung nicht förderlich. Eines geht jedoch nicht länger: Die deutsche Politik kann einer konkreten Diskussion über nukleare Abschreckung nicht mehr mit dem Verweis ausweichen, der Ernstfall eines Atomwaffeneinsatzes sei eine extrem fernliegende Möglichkeit.

Deutschland ist über die NATO und die nukleare Teilhabe in das nukleare Abschreckungssystem eingebunden. Zur nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO gehört die Fähigkeit zum Einsatz der in Deutschland gelagerten amerikanischen Atombomben. Dafür sorgen atomwaffenfähige Tornado-Jagdbomber, die jedoch in die Jahre gekommen sind und durch F-35 Flugzeuge ersetzt werden sollen. Im Falle einer Bedrohung der fundamentalen Sicherheit eines Mitgliedstaates besitzt das Bündnis, wie etwa im Abschlussdokument des Brüsseler Gipfeltreffens vom Juni 2021 zu lesen, die Fähigkeit und die Entschlossenheit, einem Gegner »inakzeptable Kosten« aufzuerlegen.2

Bei der nuklearen Abschreckung handelt es sich im Kern um die Drohung, einem Gegner in großer Schnelligkeit einen sicheren Schaden großen Ausmaßes zufügen zu können, um seine Absichten zu beeinflussen und ihn von bestimmten Aktionen abzuhalten. Abschreckung, die sich auf die Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen stützt, unterscheidet sich von einer Abschreckung mit konventionellen Waffen in einem Punkt: Der Gegner weiß mit hoher Gewissheit, die Kosten werden für ihn groß sein, wenn es zum Einsatz nuklearer Waffen kommt.3 Mit Nuklearwaffen lässt sich dem Gegner, wie es ein amerikanischer Abschreckungstheoretiker vor Jahrzehnten einmal ausdrückte, »monströse Gewalt« zufügen, ohne ihn zunächst militärisch besiegt zu haben.4 Nuklearwaffen sind die materielle Grundlage dieser Form »latenter Gewalt«.5 Ihre konkrete Ausprägung, die zwischen den Kernwaffenstaaten durchaus unterschiedlich sein kann, gewinnt sie in Gestalt von Nukleardoktrinen, also von politischen und strategischen Ideen über den Nutzen und die Rolle von Nuklearwaffen.

Wer sich auf eine Analyse nuklearer Abschreckung einlässt, der taucht in eine eigene Sprachwelt ein: in Debatten, die in einer »technostrategischen« Sprache geführt werden.6 Dieser Nukespeak ist geprägt von bestimmten Annahmen und Abstraktionen, von Jargon und Euphemismen. Es ist eine Sprache, die verhüllt, um das was es geht: um die Drohung mit und den potenziellen Einsatz von Massenvernichtungsmitteln. Von Counterforce- und Countervalue-Optionen ist die Rede, von einem »Menü von Optionen«, von einem »nuklearen Austausch«, von einem »begrenzten Nuklearkrieg«, von »Eskalationsdominanz«, von »Präemptivschlägen«, von »Kollateralschäden«, von der »Verwundbarkeit« (von Waffen), von der »Überlebensfähigkeit« (von Waffen) – Begriffe, mit denen das Schreckliche entschärft, ja normalisiert wird. Es ist eine Sprache, in der nichts daran erinnert, dass es bei einem Einsatz von Nuklearwaffen um die massenhafte Tötung von Menschen geht.7

Mit dieser Analyse nuklearer Abschreckung und ihrer strategischen, rechtlichen, ethischen und politischen Probleme und Dilemmata soll Orientierungswissen für die sich abzeichnende neue Nukleardebatte vermittelt werden. Was erwartet die Leserin, den Leser in diesem Rückblick und Ausblick auf die nukleare Abschreckung? Im ersten Teil richtet sich der Blick auf die internationale Dimension: auf das System der Abschreckung zwischen USA und Russland und zwischen USA und China. Denn dies sind die beiden zentralen geopolitischen Konfliktkonstellationen. Im zweiten Teil wird die nukleare Abschreckungspolitik der NATO analysiert, die sehr stark von dem Abschreckungsdenken geprägt ist, wie es sich im Laufe des Kalten Krieges in den USA entwickelt hat. Im dritten Teil weitet sich der Blick auf die normative Dimension: auf die Frage nach der Legitimität nuklearer Abschreckung.

Der Autor stützt sich dabei in Teilen auf einige Vorarbeiten, die als Studien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erschienen sind, jedoch überarbeitet, erweitert und aktualisiert wurden. In diese Analysen sind Kritik und Anregungen einiger Kolleginnen und Kollegen eingeflossen, denen der Autor herzlich dankt, namentlich Michael Alfs, Oliver Meier, Michael Paul, Volker Perthes, Wolfgang Richter, Markus Schacht und Gudrun Wacker.

1Nukleare Abschreckung in der Ära neuer Großmachtrivalitäten

Im sicherheitspolitischen Diskurs der Vereinigten Staaten ist die machtpolitische Konkurrenz mit einem aufstrebenden China sowie einem wiedererstarkenden Russland seit einigen Jahren in den Brennpunkt gerückt. Die USA, im vorherrschenden Selbstverständnis seit dem Zweiten Weltkrieg der globale Garant von Sicherheit und Stabilität, sind aus dieser mittlerweile die außenpolitische Debatte prägenden Sicht einer neuen strategischen Konstellation ausgesetzt. China und Russland werden weithin als »revisionistische« Staaten wahrgenommen, die ihre Macht und ihren Einfluss auf Kosten der USA und der von ihr geführten internationalen Ordnung ausweiten wollen und sich dabei aller Mittel im »Graubereich« unterhalb der Schwelle eines Krieges mit den USA bedienen. In China dagegen gelten die USA als revisionistische Macht, die seit Ende des Ost-West-Konflikts danach trachtet, die internationale Umwelt umzugestalten. Moskau wiederum wertet das Vordringen der USA in den postsowjetischen Raum als Ausdruck einer revisionistischen Politik auf regionaler Ebene.1 Mittlerweile sind in den USA unter Präsident Biden die Konflikte mit Russland und China in das Narrativ einer fundamentalen Auseinandersetzung zwischen Autokratie versus Demokratie eingebettet.

Großmachtrivalitäten sind gefährlich – für die internationale Ordnung wie für die weltweite Sicherheit. Sie bringen das Risiko eines Krieges hervor, und damit ändert sich auch der Stellenwert nuklearer Abschreckung. Sie ist nicht länger ein Hintergrundfaktor, wie das in der Periode nach dem Ost-West-Konflikt der Fall war.

1.1Nukleare Abschreckung in den amerikanisch-russischen Beziehungen

Lange ist es her: Anfang der 1990er-Jahre bestand auf amerikanischer Seite die Hoffnung, ein demokratisches Russland ließe sich als Partner in die von den USA geführte internationale Ordnung einbinden.2 Als Voraussetzung für ein dauerhaft kooperatives Verhältnis galt der Erfolg der russischen Reformpolitik, ganz im Sinne der liberalen Erwartung, mit einem demokratischen Russland werde sich die Struktur europäischer und internationaler Politik verändern. Russland war nicht mehr der weltpolitische und ideologische Gegner, der die Sowjetunion einst war. Russland wurde aber auch nicht der demokratische Partner, den sich die USA erhofften. Die Euphorie der frühen 1990er-Jahre wich bald einer Ernüchterung, die in der Rede vom »Kalten Frieden« zum Ausdruck kam.

Anfänglich, in den Jahren 1993–1994, war die Erweiterung der NATO auf russischer Seite mit der Erwartung verbunden, sie könnte Russland einschließen und das Land würde so einen seiner Größe entsprechenden Status als wichtiger Partner der USA bekommen. Doch diese Erwartung war illusorisch und die Gegnerschaft zur NATO-Erweiterung wurde zum vorherrschenden Narrativ.3 Die zentrale Rolle der NATO und damit der führenden Rolle der USA in der europäischen Sicherheitsarchitektur war für Russland unvereinbar mit seiner Konzeption von Sicherheit.4 Was Washington als Kern einer neuen Sicherheitsarchitektur ansah, die Erweiterung der NATO in den postsowjetischen Raum, nahm Moskau weithin als Fortsetzung des alten Spiels der Gleichgewichts- und Eindämmungspolitik wahr, mit der Russland die Pufferzone an der Westgrenze genommen wurde.5 Aus russischer Sicht galt zudem die Politik der Demokratisierungsförderung, wie sie unter Präsident George W. Bush betrieben wurde, als Instrument amerikanischer Einflussausweitung in diesem Raum.6

Russland ist seit Putins erneuter Wahl zum Präsidenten im Jahre 2012 bestrebt, seinen Einfluss über die eigene Peripherie und die dort beanspruchte »privilegierte Interessensphäre« hinaus zulasten der USA auszuweiten.7 Die »Hegemonie« der USA wird in Moskau weithin als eine Gefahr für die eigenen Kerninteressen angesehen – Regimesicherheit, Vorrangstellung im »Nahen Ausland«, Großmachtstatus. Die entscheidende ordnungspolitische Konfliktlinie zwischen den USA und Russland ist die geopolitische: der russische Anspruch auf eine Einflusssphäre in früheren Sowjetrepubliken.8

Nach der gewaltsamen Annexion der Krim im Frühjahr 2014 erreichten die amerikanisch-russischen Beziehungen ihren bis dahin tiefsten Punkt seit Auflösung der Sowjetunion. Das russische Verhalten 2014 lässt sich aus geostrategischer Perspektive unschwer erklären.9 Die Umwälzung in der Ukraine drohte – wie eine Studie der vor allem für das Pentagon arbeitenden US-Denkfabrik RAND resümierte – Russlands Hoffnung zunichtezumachen, über eine Integration der Ukraine in die Eurasische Union den eigenen Einfluss im postsowjetischen Raum zu stärken. Eine westlich orientierte, sich an die EU annähernde Ukraine hätte aus russischer Sicht die Machtbalance verändert und es wahrscheinlicher werden lassen, dass Russlands »strategischer Alptraum« Wirklichkeit würde: eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine.10 Die USA und die NATO wiederum stellen in dieser Wahrnehmung – wie Russlands neue Militärdoktrin von Dezember 2014 verdeutlichte – eine militärische Gefahr dar, sei es regional (über die Erweiterung der Allianz und die Maßnahmen zur Rückversicherung der Verbündeten an der Grenze zu Russland), sei es auf (nuklear-)strategischer Ebene (über den Aufbau eines Raketenverteidigungssystems, über nicht nukleare strategische Waffen und Fähigkeiten zum Cyberwarfare).11

In der Rechtfertigung des Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 verwob Putin im russischen Diskurs zu findende Elemente nationalistisch-imperialen Denkens - die Ukraine als Geschöpf der Bolschewiken, der »Genozid« an Russen, »die Entnazifizierung« der Ukraine – zu einem ideologischen Narrativ, das über geostrategisches Worst-Case-Denken hinausgeht: Darin ist die schiere Existenz der Ukraine das Kernproblem.12

Nicht erst die Invasion der Ukraine 2022, sondern bereits die Annexion der Krim 2014/2015 war von kaum verhüllten russischen Nukleardrohungen begleitet, um den USA gegenüber Entschlossenheit zu demonstrieren und die Reaktionen in Europa zu testen.13 Kurz vor dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine ließ Putin eine Übung der Nuklearstreitkräfte abhalten. Zu Beginn des Einmarsches in die Ukraine erinnerte er daran, Russland bleibe eine der stärksten Nuklearmächte: Niemand solle bezweifeln, »dass ein direkter Angriff auf unser Land zu einer Niederlage und schlimmen Konsequenzen für jeden potenziellen Angreifer führen würde«.14 Die »Abschreckungskräfte« wurden, so hieß es dann, in einen höheren Alarmzustand versetzt: Die Personalstärke in den Kommandozentralen der Nuklearstreitkräfte wurde erhöht. Nukleare U-Boote liefen zu Manövern in der Barentssee aus, Einheiten der Strategischen Raketenkräfte in Sibirien übten, mobile Startgeräte für Interkontinentalraketen in Wäldern zu verbergen. Ansonsten wurden keine weiteren Schritte bekanntgegeben oder beobachtet, etwa die Beladung von Flugzeugen mit Atomwaffen oder Bewegungen an den Orten, wo Nuklearwaffen kürzerer Reichweite gelagert sind. Russland hält jedoch ohnehin – wie die USA übrigens auch – einen Teil seiner weitreichenden ballistischen Raketen in einem Bereitschaftsgrad, der eine schnelle Reaktion ermöglicht. Die Drohung mit einer möglichen nuklearen Eskalation diente offenkundig dazu, andere Staaten von einer militärischen Intervention abzuschrecken.15 Putins nukleare Drohgebärden erinnerten manche Beobachter in den USA an die Madman Theory von Präsident Nixon im Vietnam-Krieg im Jahre 1969. Damals ordnete er eine erhöhte nukleare Alarmbereitschaft an, um den Eindruck zu erwecken, er sei unberechenbar, instabil und zu allem bereit. Doch Hanoi und Moskau ignorierten damals schlicht die nuklearen Signale, sie ließen sich nicht bluffen.16

Moskaus Nuclear Signaling machte den Ukraine-Krieg zu einer nuklearen Krise – mit dem Risiko sowohl einer vorbedachten als auch einer unbeabsichtigten Eskalation: einer vorbedachten Eskalation in dem Sinne, dass Russland im Falle einer sich verschlechternden Kriegssituation taktische Kernwaffen in der Hoffnung einsetzen könnte, die Ukraine werde den Kampf oder die USA und andere Staaten würden ihre Nachschublieferungen einstellen; einer unbeabsichtigten, sollte sich die Krise zwischen Russland und dem Westen weiter zuspitzen. In einer solchen Situation können zweideutige Signale im Lichte der schlimmsten Vermutungen interpretiert werden und so das Risiko wechselseitiger Fehlwahrnehmungen erhöhen. Aus Sorge um mögliche Fehlwahrnehmungen verzichtete das US-Verteidigungsministerium auf einen geplanten routinemäßigen Test einer Interkontinentalrakete.17 In einer Situation der Ungewissheit darüber, was Russland alles als Einmischung verstehen könnte, lautete die Politik der Biden-Administration: Waffenlieferungen an die Ukraine, eine gewisse nachrichtendienstliche Unterstützung, umfassende Sanktionen ja – aber strikte Ablehnung der ukrainischen Bitte um Durchsetzung einer Flugverbotszone und Vermeidung all dessen, was als eine direkte Beteiligung an einem bewaffneten Konflikt verstanden werden und – so die große Sorge - zu einer Verwicklung mit russischen Streitkräften führen könnte.18

Krisen zwischen antagonistischen Atommächten sind überschattet vom Risiko der nuklearen Eskalation. Das gilt in besonderem Maße für Krisen zwischen den USA und Russland. Denn die amerikanisch-russischen Beziehungen sind vor allem von der »strategischen Interdependenz«19 bestimmt, die sich aus der wechselseitigen atomaren Vernichtungsfähigkeit ergibt.20 Die daraus resultierende Nukleargegnerschaft ließ sich in den mehr als 30 Jahren seit Auflösung der Sowjetunion nicht überwinden.21 Die USA und Russland haben zwar ihre Bestände an Nuklearwaffen seit Beginn der 1990er-Jahre reduziert, doch zusammen verfügen sie noch immer über rund 90 Prozent aller Atomwaffen weltweit. Nach den Bestimmungen des am 5. Februar 2011 in Kraft getretenen New Strategic Arms Reduction Treaty (New START), dessen Laufzeit im Jahre 2021 bis zum 4. Februar 2026 verlängert wurde, haben USA und Russland die Zahl ihrer gefechtsbereit stationierten strategischen Gefechtsköpfe verringert; ihre Zahl liegt auf beiden Seiten etwas unter der vereinbarten Höchstzahl von 1.550. Ungeachtet dieser Beschränkungen aber schreitet die Modernisierung der strategischen Atomwaffenarsenale beider Seiten voran.

Zu Beginn des Jahres 2021 verfügten die USA über etwa 3.800 nukleare Gefechtsköpfe, die gefechtsbereit oder als Reserve bedingt einsatzbereit sind. Rund 1.800 sind gefechtsbereit stationiert, 1.400 auf see- und landgestützten ballistischen Raketen, 300 auf Basen der strategischen Bomber in den USA und etwa 100 auf Flughäfen in Europa. Der Rest des nuklearen Potenzials von etwa 2.000 Gefechtsköpfen stellt eine nicht einsatzbereite Reserve dar – als Absicherung für den Fall, dass sich in der Bedrohungskonstellation überraschend etwas ändern sollte. Hinzu kommen noch etwa 1.750 außer Dienst gestellte Gefechtsköpfe, die für die Demontage vorgesehen sind.22

Russland verfügt Einschätzungen zufolge über 4.500 nukleare Gefechtsköpfe, die für den Einsatz auf weitreichenden strategischen Systemen sowie taktischen Systemen kürzerer Reichweite vorgesehen sind. Etwa 800 Gefechtsköpfe sind auf langestützten ballistischen Raketen stationiert, etwa 624 auf strategischen U-Booten und 200 auf Flugzeugen. Hinzu kommen ungefähr 985 strategische und 1.912 nicht strategische Gefechtsköpfe, die nicht einsatzbereit gelagert sind. Wie auch auf amerikanischer Seite warten Gefechtsköpfe auf ihre Demontage; rund 1.760 an der Zahl. Das nukleare Modernisierungsprogramm, mit dem alte, aus Sowjetzeiten stammende Waffensysteme durch neue ersetzt werden, ist beträchtlich vorangeschritten und nähert sich dem Abschluss.23

Wie sehr die nukleare Gegnerschaft aus der Zeit der Ost-West-Konfrontation fortdauert, zeigt sich nirgendwo deutlicher als in der Aufrechterhaltung der prompten Einsatzfähigkeit von Hunderten Raketen auf jeder Seite.24 Zwar schlossen im Januar 1994 die Präsidenten Clinton und Jelzin eine Vereinbarung, nach der die beiden Staaten ihre land- und seegestützten ballistischen Raketen nicht mehr aufeinander richten. Das wechselseitige Detargeting ist jedoch rein »kosmetisch und symbolisch«.25 Auf beiden Seiten lassen sich die Raketen in Sekundenschnelle auf die programmierten Zielpunkte im anderen Land ausrichten.

Beide Seiten halten daran fest, notfalls unter höchstem Zeitdruck die Entscheidung zum Einsatz ihrer Arsenale treffen zu können, sobald die Frühwarnsysteme den Abschuss gegnerischer Raketen melden (launch on warning oder, den Ausruck bevorzugt das amerikanische Militär: launch under attack). Auf diese Weise soll verhindert werden, dass ein gegnerischer Erstschlag die eigenen Atomwaffen ausschaltet. Die Befürchtung, die andere Seite könnte versucht sein, einen entwaffnenden nuklearen Erstschlag auszuführen, spielte zur Zeit des amerikanischsowjetischen Antagonismus eine große Rolle. Bis heute prägt dieses Worst-Case-Szenario die nukleare Abschreckung.26

Zwar hatten die Präsidenten George W. Bush und Barack Obama zu Beginn ihrer Amtszeit davon gesprochen, die Interkontinentalraketen aus diesem ständigen Alarmstatus zu nehmen. Doch in der Praxis hat sich nichts geändert. Warum halten die USA an der ständigen Gefechtsbereitschaft fest? Zwei Argumente sind immer wieder zu vernehmen: Zum einen seien die landgestützten Raketen verwundbar für einen gegnerischen Erstschlag; zum anderen müsste in einer Krise schnell die Gefechtsbereitschaft wiederhergestellt werden. Diese Maßnahme könnte den Gegner jedoch zu einem Erstschlag verleiten, bevor die amerikanischen Interkontinentalraketen wieder einsatzbereit wären. Allerdings wären die USA ja, was eine solche Argumentation ausblendet, mit ihren seegestützten Raketen zu einem verheerenden Zweitschlag in der Lage.27

Auch aus russischer Sicht ist die prompte Einsatzbereitschaft mit Blick auf einen gegnerischen Erstschlag wichtig. Die meisten Gefechtsköpfe befinden sich nämlich auf Interkontinentalraketen (ICBM), die fest in Silos stationiert sind, und die mobilen ICBMs sind wohl die meiste Zeit nicht in Bewegung. Ähnlich wie auf amerikanischer Seite wird auch auf russischer Seite argumentiert, es könne der Krisenstabilität abträglich sein, wenn die Raketen nicht in ständiger Gefechtsbereitschaft gehalten würden: Denn dann begänne in einer Krise ein Wettlauf darum, wer seine Raketen schneller in Gefechtsbereitschaft versetzen könne.28

Die amerikanischen Militärs wollten auch nach dem Ost-West-Konflikt an der Option eines Launch under Attack festhalten – ungeachtet der Risiken, die sich aus einem falschen Alarm ergeben können. Soweit bekannt, gab es in den Jahren 1979 und 1980 vier fälschliche Meldungen über herannahende sowjetische Raketen, und das zu einer Zeit, als die Beziehungen zwischen Washington und Moskau wegen der sowjetischen Invasion in Afghanistan so angespannt wie nie seit der Kuba-Krise waren. Als am frühen Morgen des 3. Juni 1980 Präsident Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski die Nachricht bekam, Hunderte sowjetischer Atomraketen seien im Anflug, entschied er, seine Frau nicht zu wecken; sie sollte besser im Schlaf sterben. Bevor er telefonisch dem Präsidenten einen Gegenschlag empfehlen konnte, erhielt er den Anruf, es habe sich um einen Fehlalarm gehandelt. Ein defekter Computerchip im Hauptquartier des North American Air Defense Command (Norad) hatte den Fehlalarm ausgelöst.29

Sollten Frühwarnsysteme einen gegnerischen Erstschlag melden, bleibt dem amerikanischen Präsidenten nur eine kurze Zeitspanne zwischen dem Eintreffen gegnerischer Raketen, die die eigenen landgestützten Raketen in ihren Silos oder die Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssysteme ausschalten könnten, und der Zeit für einen Befehl zum Abschuss der eigenen Raketen. Diese Zeitspanne beläuft sich auf 30 Minuten im Falle eines Angriffes durch russische Interkontinentalraketen, sie reduziert sich auf 10 bis 15 Minuten, wenn Russland seegestützte Raketen aus ozeanischen Gewässern einsetzen sollte. Sollten russische seegestützte Marschflugkörper aus amerikanischen Küstengewässern zum Abschuss kommen, könnten sie Washington vielleicht ganz ohne Vorwarnzeit erreichen. Im besten Fall bleiben dem US-Präsidenten 6 Minuten, um über einen Atomwaffeneinsatz zu entscheiden – und dies auf der Basis, dass die für die Frühwarnung zuständigen Teams mit »hoher« oder »mittlerer Sicherheit« einen gegnerischen Raketenangriff melden.30

Der Präsident hat die alleinige Autorität, über den Einsatz von Atomwaffen zu entscheiden. Mit Blick auf die Staaten, die als mögliche Gegner gelten – Russland, China und Nord-Korea – gibt es eine Reihe vorab festgelegter Einsatzoptionen. Die militärische Führung hat beratende Funktion. Der Vorsitzende der Vereinigten Stabchefs ist als militärischer Berater des Präsidenten, wie es der Vorsitzende General Milley beschrieb, in der »Kommunikationskette«, nicht aber in der »Befehlskette«. Er würde im Ernstfall an einer »Entscheidungskonferenz« beteiligt sein, um die Befehle des Präsidenten zu beglaubigen und sicherzustellen, dass der Präsident in vollem Maße über die Folgen eines Einsatzes informiert ist. Das Befehlssystem ist auf Schnelligkeit ausgelegt, nicht auf Diskussionen.31 Die amerikanischen Militärs sind nach dem Uniform Code of Military Justice dazu verpflichtet, Befehlen zu gehorchen, sofern sie legal sind und von einer kompetenten Autorität kommen.32

Dass eine Person über den Einsatz von Atomwaffen entscheidet, wird in den USA auch kritisch gesehen – vor allem mit Blick auf Präsidenten, deren Verhalten in der Administration selbst Beunruhigung hervorrief. In der Endphase der Präsidentschaft Nixons instruierte der damalige Verteidigungsminister James Schlesinger Berichten zufolge den Kommandeur des Strategic Air Command, er solle mit ihm oder Außenminister Henry Kissinger Rücksprache halten, falls Nixon (damals wohl häufig betrunken und durch das Amtsenthebungsverfahren unter Druck) »ungewöhnliche Befehle« gebe.33 In der Endphase der Trump-Administration kontaktierte der Vorsitzende der Vereinten Stabschefs auf Anweisung des damaligen Verteidigungsministers Mark Esper am 30. Oktober 2020 das chinesische Militär, um zu signalisieren, es sei kein nuklearer Angriff geplant, und die Situation zu deeskalieren – denn es gab Geheimdienstberichte über solche Befürchtungen auf chinesischer Seite.34

Der Zeit- und Entscheidungsdruck dürfte auf russischer Seite nicht geringer sein, wenn aus Moskauer Sicht ein Nuklearangriff durch die USA drohen sollte. In Russland haben, soweit bekannt, drei Personen jene tragbaren Terminals, mit denen der Code für den Einsatz von Kernwaffen an die strategischen Raketenkräfte übermittelt wird: der Präsident als oberster Befehlshaber, der Verteidigungsminister und der Generalstabschef. Der Einsatz erfordert, dass die Kodes von mindestens zwei Terminals eingehen. Russland verfügt über ein aus den 1980er-Jahren stammendes spezielles Kommando- und Kontrollsystem, mit dem die Möglichkeit eines massiven Vergeltungsschlages im Falle eines gegnerischen Erstschlages und der Ausschaltung der sowjetischen beziehungsweise russischen Führung sichergestellt werden soll.35 Außer dem Namen »Perimeter« ist aus offiziellen Quellen wenig über dieses System bekannt. Wenn Sensoren in einer internationalen Krise eine nukleare Detonation in der Nähe der nuklearen Kommandoeinrichtungen melden und die Kommunikationsverbindung zur Führung nicht mehr funktioniert, würde das System, das in den USA auch als »Dead Hand« bezeichnet wird, dies wohl als einen Atomangriff werten. Die Entscheidung zum Gegenschlag würde dann eine Person treffen, die sich zu Beginn der Krise in eine gehärtete Bunkeranlage zurückgezogen hat. Da die sowjetische, später die russische Führung so schweigsam über die Existenz dieses Systems ist, scheint es nicht so sehr der Abschreckung eines Gegners zu dienen, sondern, so wird vielfach vermutet, der Beruhigung des eigenen Militärs: dass nämlich die Vergeltungsfähigkeit gesichert sei.36

Die amerikanische Abschreckungspolitik ist auch auf die Möglichkeit eines Ersteinsatzes gegen das gegnerische Nuklearpotenzial ausgerichtet, auf die Möglichkeit sogenannter Präemptivschläge, um einem unmittelbar drohenden Angriff zuvorzukommen. Die Attraktivität eines Ersteinsatzes liegt darin, dass die USA in diesem Fall auf funktionierende Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssysteme bauen können. Niemand weiß, ob und unter welchen Bedingungen ein amerikanischer Präsident jemals bereit wäre, den »nuklearen Rubikon« in der einen oder anderen Form zu überschreiten.37

Jedenfalls waren sogenannte präemptive Counterforce-Optionen, also Einsätze zur Ausschaltung der militärischen, vor allem der nuklearen Fähigkeiten des Gegners, Bestandteil der amerikanischen Abschreckungspolitik während des Ost-West-Konflikts.38 Schadensbegrenzung durch Ausschaltung des gegnerischen strategischen Nuklearpotenzials spielte im Denken der amerikanischen Entscheidungsträger eine wichtige Rolle. In öffentlichen Verlautbarungen dagegen war Schadensbegrenzung durch Erstschlagsfähigkeit ein »Tabu-Thema«.39