Welt im Taumel - Pierre Ducrozet - E-Book

Welt im Taumel E-Book

Pierre Ducrozet

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Beschreibung

Ein Abenteuerroman des 21. Jahrhunderts: Professor Adam Thobias schickt 50 Wissenschaftler auf alle Kontinente, mit dem Auftrag, die Temperatur der Welt zu messen. Es ist jedoch alles viel komplexer, als es zu Beginn scheint. Die Wege der Expeditionsteilnehmer kreuzen sich, Unglaubliches offenbart sich, und der größenwahnsinnige Plan des Expeditionsleiters wird aufgedeckt. Eine Reise um die Welt, ganz in der Manier von Jules Verne.

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Seitenzahl: 385

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1. Auflage

© 2024 Kommode Verlag, Zürich

Alle Rechte vorbehalten.

Original

Pierre Ducrozet

Le grand Vertige

© Actes Sud 2020

Übersetzung: Paula Rauhut

Lektorat: Matthias Jügler

Korrektorat: Patrick Schär, torat.ch

Illustration »Blatt« auf Cover und S. 116: Eva Palomar, evapalomar.com

Gestaltung und Satz: Anneka Beatty

eISBN 978-3-905574-28-9

Kommode Verlag GmbH, Zürich

www.kommode-verlag.ch

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde im Rahmen des Programms »NEUSTART KULTUR« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Pierre Ducrozet

Welt im Taumel

Aus dem Französischen von Paula Rauhut

Für Julieta

Inhalt

ERSTER SATZ

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

ZWEITER SATZ

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

DRITTER SATZ

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

VIERTER SATZ

MORGEN

Quellen

ERSTER SATZ

1

Adam Thobias hat Carlos Outamendi den roten Fransensessel angeboten. In ihre Tassen hat er Tee eingeschenkt, den sie schweigend getrunken haben. Man hört die Wassertropfen in das Auffangbecken fallen, das Knacken einiger Dachziegel. Der Europaabgeordnete ist an diesem Morgen in Brighton, dem Rückzugsort von Adam Thobias, eingetroffen, mit dem Vorhaben, ihn daraus hervorzulocken. Noch etwas Tee? Sehr gerne. Man spricht über die Lichtverhältnisse, recht fahl zu dieser Jahreszeit, und über die Enten, die immer wieder ihre Schnäbel ins Wasser tunken. Nach einer ersten Initiative, zu zaghaft, geht Outamendi jetzt zum Seitenangriff über, wissen Sie, das ist eine einzigartige Gelegenheit, es werden großzügige Mittel zur Verfügung gestellt, enormer Handlungsspielraum. Adam Thobias, dessen Hände auf den samtigen Armlehnen ruhen und dessen langer, schlaffer Körper ganz verloren wirkt zwischen den Bücherregalen aus Massivholz, sieht den Europaabgeordneten auf seltsame Weise an, in seinen Augen spiegelt sich Vorsicht, aber auch so etwas wie Gleichgültigkeit. Mir gefällt der Kleine dort hinten am besten, sagt Thobias, während er auf die Entenfamilie zeigt. Der weiß es nicht, gar nichts weiß er und schnattert trotzdem. Bei dem Versuch zu trinken lässt er seinen Schnabel in das Becken gleiten. Bald wird er verstehen. Outamendi nimmt einen weiteren Schluck des erlesenen Earl Grey. Seine Blase platzt gleich, aber er muss durchhalten. Einen Moment lang hatte es so ausgesehen, als käme der Hausherr ins Wanken. Aber er hat sich wieder gefangen und studiert nun die Glastürenfront, die den Blick auf den tristen, nassen Garten mit vereinzelten bemoosten Statuen und dahinwelkenden Begonien freigibt. Eine halbe Stunde später, sie bringen gerade die letzten Unruhen im Europaparlament zur Sprache, sagt Thobias Ja, ganz beiläufig, mit seiner tiefen, fernen Stimme, ohne sonst noch etwas hinzuzufügen, aber Outamendi versteht. Hat ihn die Neuartigkeit des Projekts überzeugt oder die zugewiesenen Gelder – das behält er für sich.

Dieser lange, zerzauste Vogel mit, trotz seiner fünfundsechzig Jahre, vollem Haar kreuzt drei Wochen später mit leicht geneigtem Kopf und stechend blauen Augen in dem großen, halb verrotteten Bau in der Rue du Vallon im Zentrum von Brüssel auf. Drei Stockwerke, Schrittgeräusche von mehreren Dutzend Beinpaaren, fabrikneue MacBooks, Ordner, Landkarten, überall verstreute Unterlagen. Man hat Ideen, Projekte, ist mit Hingabe bei der Sache, wie am Anfang einer Liebesgeschichte.

Das neue Schiff, dessen Kommando Adam Thobias übernimmt, fährt unter dem Namen IKKW, Internationale Kommission für den Klimawandel und einen neuen Naturvertrag – IKKWNNV wäre ein einziger Zungenbrecher gewesen, also ist einstimmig beschlossen worden, das Ganze abzukürzen. Über hundert Regierungen (mit nennenswerten, wenngleich zu erwartenden Ausnahmen der USA unter Donald Trump und Russlands unter Wladimir Putin) sowie internationale Instanzen (hauptsächlich die Vereinten Nationen, die Europäische Union und die Weltbank) haben Kredite bewilligt: Insgesamt 120 Milliarden, um das ökologische Problem von einer anderen Seite anzugehen als mit staatlichen Maßnahmen, die bis dato völlig wirkungslos geblieben sind.

Es tut sich was. Für diese spektakuläre Wende musste es anscheinend erst zu einer Reihe von Katastrophen, Bränden, Epidemien, dem Verschwinden von Ökosystemen und der Eisschmelze kommen. Chloé Tavernier hat den Umschwung deutlich gespürt. Als langjährige Aktivistin hatte man ihr bisher nichts als Desinteresse und Spott entgegengebracht, schon klar, du liebst Bäume und Kühe, wie nett, aber 2016 ist der Knoten geplatzt, und unter dem Druck einer jungen Bewegung, die lautstark und bereits am Rande der Verzweiflung die Lasten der Elterngeneration anprangert, ist plötzlich alles ganz schnell gegangen. Sofern es nicht einfach den verrückten Temperaturen geschuldet war, die einem in diesem Sommer die Haut verbrannten und die müden Hirne aufweckten. All das führte, noch eine Überraschung, zur Gründung ebendieser ganz der Neuerfindung eines Naturvertrages verschriebenen Organisation. Als man Chloé Tavernier anbot, Teil des Teams zu werden, vollführte sie in ihrem Wohnzimmer in der Rue des Rigoles in Paris ihren kleinen Siegestanz.

Und wer wird die Kommission leiten?

Wie alle hoffte sie, der Mann, der den Kampf vierzig Jahre lang angeführt hatte, würde das Abenteuer nun gemeinsam mit ihnen antreten. Dieser jedoch, des Wartens müde, hatte sich offensichtlich aus dem Geschäft zurückgezogen.

Wenn ich mich darauf einlasse, hatte Adam Thobias schließlich Carlos Outamendi zugeraunt, während er ihm vor dem ordentlich gepflegten Eingang seines Hauses zum Abschied die Hand schüttelte, dann werden aber Nägel mit Köpfen gemacht.

Und er hatte sein Wort gehalten; kurz darauf gab er mit schwingendem Stab den Takt vor, gefolgt von seinen vierundzwanzig aus aller Welt angereisten Mitarbeitern.

In Wirklichkeit hat Adam Thobias unter einer Bedingung zugestimmt. Eine Sondereinheit musste her, bestehend aus »Spezialisten ihrer jeweiligen Auftragsgebiete«.

Die wie der verlängerte Arm des Ganzen wäre, hatte er am Versammlungstisch erklärt. Wir senden Leute in die ganze Welt aus, um Untersuchungen anzustellen. Das brauchen wir, wenn wir erfolgreich sein wollen. Wir können uns nicht einfach in Brüssel einschließen und über die Zukunft sinnieren, denn wenn uns der Blick auf die Gegenwart fehlt, ist das alles nichts wert.

Langes Nicken, alle um ihn herum waren froh, den großen Fisch an Land gezogen zu haben.

Es werden um die fünfzig sein, hat Adam hinzugefügt. Wir wählen sie gemeinsam aus, wir brauchen die Besten. Wissenschaftler, Geografen, Anthropologen, Abenteurer. Damit sie uns etwas Brauchbares liefern, müssen sie selbst ein bisschen außergewöhnlich sein, wenn wir uns an die herkömmlichen Spezialisten halten, werden die uns den gleichen Kram wie immer auftischen. Wir beauftragen sie, eine Bestandsaufnahme von allem, was zurzeit unternommen wird, zu machen und uns den Ist-Zustand der aktuellen Weltlage zu beschreiben. Darüber hinaus sollen sie erwägen, was gemacht werden könnte, und das in allen Bereichen, die uns interessieren, Energie, räumliche Entwicklung, Biodiversität, Mobilität.

Chloé Tavernier, zu Adam Thobias’ Rechten, versucht seit mehreren Tagen zu entschlüsseln, was sich hinter dieser schleifenden Stimme verbirgt, die mal wie Balsam auf sie einwirkt, mal wie Schmirgelpapier. Sie hört die Entschlossenheit darin, den Wahnsinn, einen trockenen Humor, Weisheit, Arroganz vielleicht; sie vernimmt so gut wie alles und nichts.

Wir kommunizieren mit den Mitgliedern dieser Abteilung über ein geschlossenes Netzwerk. Das Telemach-Team könnten wir sie nennen, dachte ich. Es erwarten sie ähnliche Abenteuer. Wer möchte sich mit mir darum kümmern?

Mehrere Hände schnellen hoch.

Sie beide da, und Sie auch.

Unter dem Tisch ballt Chloé vor Freude ihre Hand zur Faust.

Was halten Sie davon?, fragt in diesem Moment in Paris der französische Umweltminister seine Kabinettschefin.

Von der neuen Kommission? Oh, das finde ich gut, sehr, sehr gut sogar, sagt sie. Und vor allem gehen die uns dann nicht mehr so auf die Nerven.

Ach ja?, sagt der Minister, während er in seinem Kaffee rührt.

Die Öffentlichkeit ist aufs Äußerste gereizt, so langsam macht uns das Schwierigkeiten, fährt die Kabinettschefin fort, die jetzt richtig in Fahrt kommt. Alles, was man gerade hört, sind die Wörter Klima und globale Erwärmung. Wenn diese Kommission es schafft, diese Stimmen zu besänftigen, wäre das perfekt.

Und in der Zwischenzeit?

Warten wir ab, sagt sie. Und bringen die Rentenreform durch.

Das ist genial, sagt der Minister und verbrennt sich die Zunge.

Adam Thobias befördert seine Knochen in den riesigen, von blauem Teppich und Metallplatten gesäumten Open Space. Er hat gleich nebenan eine Wohnung mit Holzvertäfelungen aus dem 19. Jahrhundert gefunden. Er ist mit zwei Koffern angereist, kaum der Rede wert, einige Klamotten und Bücher. Seine Frau, Caroline, soll bald nachkommen.

Adam Thobias ist hier nicht nur jedem ein Begriff, sondern stellt für einige unter ihnen den Grund für ihre Berufung dar. Er ist 1952 als Sohn eines anglo-französischen Elternpaars in Paris geboren, studiert Geografie an der Sorbonne, bevor er eine Professur in Oxford antritt. Mitte der 1970er-Jahre bringen ihm seine Artikel zur globalen Erwärmung, ein zu dieser Zeit noch unbekannter Begriff, das Interesse seiner Kollegen und Misstrauen seiner Studenten ein, die das Abirren ihres ehrenwerten Professors in die profane Tagesaktualität überrascht.

Einige Jahre lang hört man nichts mehr von ihm, er stürzt sich offenbar in seine Studien – dann taucht er am anderen Ende der Welt wieder auf, in Alaska, Sibirien, Simbabwe, und bringt von dort aus regelmäßig Abenteuerromane gepaart mit billiger Wissenschaft heraus, die in Europa und den USA heiß begehrt sind. Aus ihm wird Adam Thobias, der Autor mit Hut, der die internationale Öffentlichkeit nebenbei unermüdlich vor dem überall zunehmenden Schwinden der Artenvielfalt warnt.

Er zieht Anfang der Neunziger in die Vereinigten Staaten und nimmt an der vom Vizepräsidenten Al Gore groß angelegten Operation MEDEA teil. Dieses Projekt ist gleichzeitig einfach und unmöglich: Der Wissenschaftsgemeinschaft sollen Aufnahmen der Erde aus einem Zeitfenster von vierundvierzig Jahren zur Verfügung gestellt werden, die im Auftrag amerikanischer und russischer Geheimdienste aus dem All gemacht worden sind. Während der vier Jahrzehnte des Kalten Kriegs haben Satelliten pausenlos Fotos von der Erde und insbesondere von den gegnerischen Territorien gemacht, die vom Nordpol, an dem ein reges Ein- und Auslaufen russischer U-Boote stattfand, bis in die äußersten Winkel des Südpazifiks oder zum Sambesi-Delta in Mosambik reichen. Diese Millionen von Luftaufnahmen wären ein phänomenales Hilfsmittel für die Studien zum Klimawandel von Geologen, Biologen und Physikern. Al Gore und sein Team erreichen ihr Ziel: CIA und KGB stimmen einer Zusammenarbeit zu; der Kalte Krieg ist endgültig Geschichte.

Neunundachtzig Wissenschaftler versammeln sich mehrere Wochen lang im Headquarter des amerikanischen Geheimdienstes, um ihre Untersuchungen und neue Daten untereinander auszutauschen. Adam Thobias ist einer von ihnen, er sitzt in der dritten Reihe zwischen einer deutschen Seismologin und einem japanischen Meeresforscher. Wie alle ist er unheimlich aufgeregt. Da bahnt sich etwas von globaler Bedeutung an, eine Verknüpfung der Vorgehensweisen, ein planetares Bewusstsein. Nach wochenlanger Arbeit verkündet die Kommission ihr Urteil: Die globale Erwärmung zeichnet sich über die letzten fünfzig Jahre hinweg ungeheuer deutlich ab, und die Treibhausgasemissionen steigen beständig an, nichts scheint diese steil emporsteigende Kurve bremsen zu können.

Endlich gelingt ein umfassender und einheitlicher Blick auf den Zustand der Erde, und der ist katastrophal. Wir schreiben das Jahr 1995, Al Gore steht an der Spitze des Staats, er plant weitreichende Reformen. Und dann passiert etwas. Im Strudel der Ereignisse bekommt Adam Thobias es nicht gleich mit, aber mit dem Abstand der Jahre wird es glasklar: Die amerikanische Regierung hat einen bewussten Rückzieher gemacht. Genau wie zu Beginn der 1980er-Jahre, infolge des Charney-Reports, der die herannahende Katastrophe bereits ausdetaillierte, alles ist startklar für die große Wende; wieder wird sie nicht eingeleitet; wir stürzen ins Ungewisse.

Von da an bilden sich zwei Lager. Auf der einen Seite gewinnt der Umweltschutz immer mehr an Bedeutung, von Parteitagungen bis hin zu internationalen Gipfeltreffen. Auf der anderen entsteht das Lager der sogenannten Klimaskeptiker, zunächst um Pylonen, dann Festungen, und dann stürmen sie Schlösser. Ihr Ziel ist es, eine widerstandsfähige und undurchsichtige Armee, bestehend aus Pseudowissenschaftlern, Scheinexperten, Ökonomen und Politikern, dazu einzusetzen, Falschinformationen in ihrem eigenen und im Interesse der Ölkonzerne, der Schwerindustrie und der Transportunternehmen zu verbreiten. Die stolze und gierige Armee organisiert sich, und ihr Vorgehen erweist sich als äußerst wirksam.

Adam Thobias kommt lädiert, aber noch nicht am Ende, wieder auf die Beine. Er geht zurück nach Frankreich, kauft ein Haus, heiratet seine neue Lebenspartnerin, mit der er eine kleine Tochter, Amalia, hat. Er verlässt regelmäßig seinen Rückzugsort, um Petitionen zu starten oder einen weiteren wütenden Text über die kollektive Verblendung zu veröffentlichen, und zieht sich dann wieder zurück, um Wittgenstein in seinem Dachkämmerchen zu lesen und seine Begonien zu gießen. Er bleibt die Ikone der Anfänge im Kampf um den Klimaschutz, die langsam verblasst.

Er nimmt wieder eine Stelle an der Sorbonne an, wo er alle zwei Wochen eine neue Generation von Studenten an die trübe Schönheit der erweiterten Geopoetik, wie er sie nennt, und an die sinnliche Erforschung einer kollabierenden Welt heranführt.

2009 veröffentlicht er Erschütterungen. Alle Herausforderungen der Moderne vermengen sich in diesem Pamphlet: der Klimawandel, selbstverständlich, die wirtschaftlichen Interessen der etwa hundert Unternehmen, die die Zerstörung des Planeten herbeigeführt haben, die Migration, die Wiedergeburt der Künste, das metaphysische Schwanken, die vierte narzisstische Kränkung – »nach Kopernikus, Darwin und Freud ist jene, die uns die Moderne zufügt, um genau zu sein, das Bewusstsein darum, die Welt, die Lebewesen und (fast) unsere eigene Art zerstört zu haben, die am tiefsten sitzende und schlimmste von allen« –, die digitale Revolution, nicht im Sinne von Verblödung, sondern als Sprungbrett hin zu neuen Denkweisen zu verstehen, das alles ist miteinander verbunden und von Adam Thobias in einem kohärenten Gedankensystem geordnet, 190 Seiten von selten so da gewesener politischer Kraft. Schlagartig fällt alles an seinen Platz, gehorcht alles einer simplen und verblüffenden Logik: Das Gesetz des Kapitals führt unweigerlich, wie Marx schrieb, zur Zerstörung der Ursprungswerte, in diesem Fall der Erde und des Lebens. »Wir sind einem gewaltigen Taumel ausgesetzt: Der Boden unter uns tut sich auf, der Himmel über uns zieht sich zu. Nichts steht still, alles bewegt sich. Woran sollen wir uns jetzt festhalten? Weder unsere Werte noch unsere Vergangenheit sind uns nunmehr von Nutzen. Angesichts dieser allumfassenden Erschütterung müssen wir alles infrage stellen – und reinen Tisch machen.«

Thobias schmettert dieses Buch heraus und kehrt dann an seinen Zufluchtsort zurück, von wo aus er, in so mancher Vorstellung, eine Tasse Tee in der einen und Mandarinenspalten in der anderen Hand, den Weltuntergang live und in Farbe im Fernsehen verfolgt.

Sein Verschwinden verstärkt seine Aura geradezu. Dem neuen Menschenalter gefällt das, weil es Allgegenwärtigkeit genauso schätzt wie Abwesenheit, die heutzutage einzig wahren Daseinsweisen. Hunderte Denker und junge Aktivisten berufen sich auf sein Vermächtnis. Die Gründung der IKKW lässt sich zu großen Teilen der Staubwolke zuschreiben, die Erschütterungenaufgewirbelt hat, und seinem restlichen Schaffen; Adam Thobias nun mit dessen Vorsitz zu betrauen, versteht sich von selbst. Dass er diesem Ruf nachkommt, hingegen nicht.

Wenn ihr zugunsten dieser Unfähigen Gelder zum Fenster rausschmeißen wollt, nur zu, unterstützt diesen neuen Zirkus, platzt Rex Tillerson, Außenminister der USA und ehemaliger Leiter von ExxonMobil, heraus. Wir müssen unsere Wirtschaft ankurbeln, da sind Menschen, die auf unsere Arbeit zählen.

Kurz nach der Wahl des neuen US-Präsidenten und dem Austritt der USA aus dem Pariser Klimaabkommen hatte die Gründung der Kommission auch Klarheit in die Verhältnisse gebracht. Einige machten einen weiten Bogen um die Katastrophen, die sie selbst verschuldet hatten, andere blieben mit beiden Füßen mittendrin, auf der Suche nach einer Lösung, einer Fährte, einer Zukunft. Mit heißen, schlammbedeckten Körpern, den Blick nach vorn.

Ich möchte Ihnen mit einigen knappen Worten die Idee hinter dieser neuen Institution erklären, die ich zu meiner großen Freude leiten darf, beginnt Adam Thobias seine Ansprache an die Schar von Staatsoberhäuptern, die an diesem Montag, den 6. Februar 2017, in Brüssel versammelt sind: Wir wollen die Fülle menschlichen Wissens in allen relevanten Bereichen zusammentragen und erneuern, um ein globales Bild zu erstellen. Wir können uns nicht mit politischen Arrangements und wirtschaftlichem Wandel zufriedengeben, die sicherlich unentbehrlich sind, aber das Problem nicht an seiner Wurzel angehen. Wir müssen unsere gesamte Einstellung zum Leben und zu unserer Erde überdenken. Von Beherrschung und Zerstörung muss ein Übergang zu Bündnissen, Miteinander und Durchmischung stattfinden. Aber wir wissen nicht wie, denn wir verstehen die Welt nicht, wir missachten Pflanzen und Tiere, 40 Prozent der Meere bleiben unerforscht.

Adam macht eine Pause, räuspert sich dezent, um manierlich das Schleimfädchen zerplatzen zu lassen, das ihn beim Reden stört, und ganz nebenbei nicht zu überschwänglich zu wirken.

Im 16. Jahrhundert haben wir eine neue Welt entdeckt. Hunderte Aufgeklärte haben sich mit Appetit und Neugier auf diesen neuen Fleck Erde gestürzt. Nun ja, das ist ordentlich schiefgegangen, aber das ist ein anderes Thema. Wir befinden uns heute in der gleichen Situation: Vielleicht sieht man es mit bloßem Auge nicht, aber vor uns tut sich ein gewaltiger Raum auf, den es zu erforschen gilt. Die Umweltkrise nötigt uns dazu, die Welt anders zu bewohnen. Alles, was wir errichtet haben, muss neu aufgebaut werden – glauben Sie mir, ich bin der Erste, dem das aufrichtig leidtut. Versuchen wir, es nicht als Niederlage, sondern als einmalige Herausforderung und Chance zu sehen.

Fächerwedeln, es ist ein wenig stickig in dem nicht klimatisierten Raum im Brüsseler Europaviertel.

Die beiden Grundpfeiler des Projekts sind unabdinglich und lassen sich nicht voneinander trennen. Es sind politische Maßnahmen nötig, internationale Abkommen müssen berücksichtigt werden, aber allem voran müssen wir uns neu erfinden. Das ist ein ambitioniertes Vorhaben, keine Frage, aber alles andere hätte heute wenig Sinn. Ich danke Ihnen.

Adam Thobias lächelt und mischt sich wieder unter die Anwesenden. Die Leute stehen auf, es wird geklatscht, und man gratuliert sich gegenseitig. Das ist es, mit Sicherheit, die Lösung, er hat ja so Recht. Man kann die Politik nicht wie ein isoliertes Ding betrachten, sagt eine elegante Dame zu ihrem etwas weniger vornehmen Sitznachbarn, man muss die gesamte Festplatte austauschen. Oh ja, ja, nickt Letzterer, während er den vorbeiziehenden Lachshäppchen hinterherschielt.

Plötzlich erstrahlt die Zukunft in neuem Licht.

Ein kleiner Kreis aus Mitgliedern der Kommission hat sich um Adam Thobias gebildet. Alle haben Champagnergläser in den Händen, die beim Anstoßen ein schwaches Plastikgeräusch von sich geben. Der Raum vibriert von Tausenden unbedeutenden und entscheidenden Unterhaltungen. Die Stimmung ist ausgelassen, Hände wandern in die Macaron-Schalen. Auf Adams Gesicht lässt sich ein vages Lächeln ablesen; tatsächlich ist es das erste Mal, dass Chloé ihn so sieht.

So, jetzt müssen wir nur noch eine letzte Sache klären, bevor es losgehen kann, sagt er plötzlich. Meine liebe Chloé, Sie müssen dringend anfangen, mich Adam mit ame wie in »Madame« zu nennen. »Adan« auf die französische Tour, das geht gar nicht. Da trage ich schon den Namen des ersten Mannes auf Erden, wenn er dann auch noch französisch klingt, das geht zu weit, finden Sie nicht?

Ja, allerdings, sagt Chloé lächelnd. Ich werde darauf achten.

Im Weggehen lacht er so herzhaft, dass alle Umstehenden miteinstimmen. Doch schon verschließt sich sein Gesicht wieder, und er steuert mit seinem leeren Champagnerglas in der Hand diskret die Bar an.

2

Nathan Régnier hat schon früh begonnen, sich von den Dingen zu lösen – wann, das kann er nicht genau sagen. Was er weiß, ist, dass es sich erst kürzlich verschlimmert hat.

Dabei hatte alles gut begonnen. Nathan ist inmitten der roten Wälder von Labrador groß geworden, unendliche Weite in greifbarer Nähe.

Er wächst zwischen Bäumen mit seiner Schwester Elena heran, umgeben von Winden und Meeren, bezaubert von einer Welt voller Bärenstraßen und geheimer Frischlingstunnel.

Sein Vater, Exil-Franzose in Kanada und Förster, nimmt ihn mit in die Wälder. Seine Mutter, Argentinierin, arbeitet als Informatikerin – aus der Gemütlichkeit ihres Wohnzimmers – für ein multinationales Unternehmen mit Sitz in Montreal.

Nathan ist ein fröhliches und unbekümmertes Kind, das sich still durch Weidenruten hangelt. Er wächst mit ungebremster Neugier in der friedlichen Heidelandschaft auf.

Er durchstreift Wälder, Flüsse, Unterwelten, betrachtet Kletterpflanzen, Feuersteine, Zebra- und kunterbunte Pfauenspinnen, studiert Hornissen und Rentiere, alles, was ist, zieht ihn magisch an.

Sein Körper (er spürt in ihm schon bald die Präsenz einer haselnussgroßen Seele, die in seinem Gerippe im Takt hin- und herschwingt, die Wände streift, abprallt, mit einem schellenden Geräusch hinab bis zum Fuß fällt und seinen Weg in den Arm oder die Hüfte fortsetzt) folgt dem Wind, vorbei an Hindernissen, wobei er sich oft in plötzlich auftretendem Nebel verliert.

Er biegt sich, jedoch nicht bis zum Boden, wartet auf seine Zeit. Und schon ist sie da. Nathan ist achtzehn Jahre alt, und all das Warten, die Ruhe und das Studium haben ihm, ganz ohne sein Zutun, eine ungeheure Anziehungskraft verliehen, die er gelassen annimmt.

Das Mysteriöse in seinen langsamen und präzisen Bewegungen, sein nachdenkliches und niemals affektiertes Auftreten wirken auf Mädchen sehr attraktiv; wenn er vorbeigeht, bleibt ihnen die Luft weg. Er aber sieht sie nicht, die starken Novemberwinde treiben ihn voran, er versinkt in den Wurzeln der mehrjährigen Pflanzen.

Er untersucht die Farne, er berührt, er bewegt sich zwischen Hortensiengärten und Balsamtannen, Wildkräuterwucherungen und dem Unterholz der Fichten, streift mit seinen Händen über Espen und Eiben; dem Gesamtbild auf der Spur vertieft er sich in Bücher über Botanik und vervollständigt seine instinktiven Studien. Er gleitet lässig über den Boden und durch die Luft, er beobachtet Elche und Seidenschwänze, Silbermöwen mit bepunktetem Schnabel, Karibus und Bisamratten, er lässt seine Hand hinabschnellen, um Lachse zu fangen, und läuft in die von Lärchen beschatteten Täler; er entwickelt eine Leidenschaft für Maulwürfe und Nacktschnecken und für alles Leben unter der Erde, die uns lautlos trägt.

Nathan ist seit seiner Jugend in den Bergen von Labrador von einem Rätsel besessen. Die in Form von Rhizomen miteinander verbundenen Böden, Pflanzen, Pilze, die Luft, die Gesamtheit alles Lebenden und Toten rauben ihm schlechthin den Atem, dort vermutet er das Geheimnis und den Schlüssel zugleich, und er weiß schnell, dass er ihnen sein gesamtes Leben widmen muss.

Nathan verschwindet im Lebensgewebe und taucht in regelmäßigen Abständen wieder auf, ein gänzlich durchlöcherter Korken, von allen Wassern durchtränkt.

Er lässt seine Hände durch das Dornengestrüpp gleiten, kommt völlig zerschrammt wieder daraus hervor, beim Einbruch der Dunkelheit schwimmt er in Seen, studiert die Sterne mit seiner Schwester. Etwas Großes ergreift ihn. Der Himmel erdrückt und überwältigt ihn nicht, fast schon unbeeindruckt gelingt es ihm, die Ergriffenheit und den Schrecken zu bändigen, er fühlt sich, als könnte er, für einen Augenblick wenigstens, die Unendlichkeit in seinen Händen halten.

Hören Sie, Frau Régnier: Mit Ihrem Kind stimmt etwas nicht. Manchmal ist es, als wäre er gar nicht da.

Ganz im Gegenteil, ich denke, er ist es weitaus mehr als wir.

Mit zwanzig nimmt Nathan ein Studium in Biowissenschaften an der University of Illinois auf. Bald gehört er zu den Ersten seines Jahrgangs. Seine Beziehung zu den Elementen ist so stark, dass sie ihm ohne Umschweife ihre Geheimnisse offenbaren.

Danach geht er nach Europa, um in Oxford zu studieren. Dort kann er sich für einfach alles begeistern, angefangen bei der Molekularbiologie bis hin zur Gegenwartsgeschichte und lateinamerikanischen Literatur. Besonders ein Professor lotst ihn in völliges Neuland: Adam Thobias, einer der großen Namen der modernen Wissenschaft. Bei ihm lernt er noch mehr über Bodenphysik, entwickelt ein Bewusstsein für das, was zu fallen droht (alles), vertieft sein Wissen über Botanik und Wildtiere. Nathan rennt durch die Innenhöfe und Gänge der Bibliothek, gierig nach Nietzsche und Frauen, Henry Miller, Alkohol in rohen Mengen und dem Beat der Nächte.

Er entspricht keineswegs dem Klischee des verträumten und unbeteiligten Wissenschaftlers, der mit den Dingen des Lebens nicht zurechtkommt; im Gegenteil, er ist vollkommen da, fühlt sich wohl in seinem Körper, ist fröhlich und von entwaffnender Anmut. Er wird für seinen Scharfsinn, seinen sicheren Instinkt und seinen Wissensdurst bewundert.

Bald schon löst er sich von der Universität, dreht einen, dann zwei Filme, in denen er unterschiedliche Disziplinen zu einem gleichen Thema verbindet, Geografie und Poesie, Botanik und Philosophie, trockener Humor und Nahaufnahmen, die einen Zusammenhang zwischen Bibern und Kometen, Photosynthese und dem Ende der Welt herstellen und ein ganz neues Genre bilden, das Tausende Zuschauer bezaubert. Seine eher in engeren Kreisen bekannten Essays in der Fachpresse bringen ihm die Anerkennung seiner Kollegen ein.

Nathan Régnier wird sehr jung zu einem Weltstar auf den Gebieten der Mikrobiologie und der Pflanzenkunde. Er erhebt seine Arbeiten in den Stand einer Kunst aus Pop-Didaktik und fröhlicher Wissenschaft – ohne dies gezielt anzustreben oder einzufordern. Er surft nicht auf der grünen Welle, macht nicht einen auf »Baumflüsterer«, die Welle ist es, die dank ihm erst Fahrt aufnimmt.

Alle Welt lädt ihn ein, Vorträge zu halten über das Pilzmyzel, die Ausdehnung der Böden, die größte Aasblume der Welt. Er geht nicht hin, er hat zu tun: schreiben, in Parks vor sich hinträumen, argentinischen Wein trinken.

Ab und zu bricht er noch auf, um neue Forschungsansätze anzuregen, die letzten Vertreter einer gelb gepunkteten Froschart aufzuspüren, seine Theorien auf den Prüfstand zu stellen, jedoch immer seltener. Gibt es denn etwas Geschmackloseres, als seinen Koffer durch überfüllte Bahnhofshallen zu ziehen und in Hotelzimmern für Suizidgefährdete in spe zu nächtigen? Man muss schon einen Hang zum Masochismus haben, um sich freiwillig in derartige Situationen zu bringen. Man reist los und hat nur Ärger, Missgeschicke, Verspätungen und böse Überraschungen. Er bleibt lieber zu Hause und sieht dabei zu, wie die Sonnenstrahlen auf die Dinge fallen.

Nathan ist jetzt fünfunddreißig Jahre alt, hat stellenweise weiche Haut, ein Lächeln in den Augen. Er ist von mittlerer Statur, sein Gesicht wirkt harmonisch und zart, sein Körper ist der eines etwas aus dem Training gekommenen Leistungssportlers, der Oberkörper noch muskulös, aber so, als wäre er es aus Gewohnheit, die schlanken Arme eines Pianisten, der er nicht ist. Gerade zeichnen seine Hände etwas in die Luft. Er sitzt in einem Restaurant in Montreal, Le Chien Fumant, an einem Tisch etwas abseits, der letzte, den wir Ihnen anbieten können, tut mir leid, aber so haben Sie Ihre Ruhe, vor ihm seine Frau, Léa, und ein Seeteufelfilet mit einem Hauch Olivenöl aus Apulien, etwas jamaikanischem Piment und einem Basilikumzweig gewürzt. Nathan hält Léas Hand in seiner, sie haben sich zwei Wochen lang nicht gesehen, sie ist aus beruflichen Gründen in New York gewesen (sie arbeitet als Casting-Direktorin bei einer Filmproduktionsfirma), er sieht sie an, eines ihrer langen, kastanienbraunen Haare hängt zwischen ihren Lippen, alles ist so, wie es sein soll, er ist zu Hause, er hält ihre Hand. Sie beginnt zu essen. Köstlich, sagt sie. Er führt das Weinglas zum Mund. Und dann plötzlich Schwarz. Nichts mehr, nichts vor ihm, Schwarz überall. Dabei hatte er einige Sekunden zuvor noch alles gesehen, ganz bestimmt. Er war sogar der Meinung, sich erstaunlich gut beim Zerteilen des Fisches angestellt zu haben, es sei denn, es war ein Huhn. Es beginnt mit einem Schwindelgefühl, die Dinge verschwimmen, der Tisch, der Teller, Léas Gesicht (er kann noch Formen erkennen, ja, und auch seine Erinnerung ist ihm eine Hilfe). Der Schwindel lässt schließlich nach. Nathan? Alles gut? Ja, ja, ich weiß nicht, nur etwas schwummerig, komisch, nicht weiter schlimm. Sie reden weiter, ja also, New York, Janet geht es gut, der Dreh lief – und da ist es erneut. Alles fängt an, sich zu drehen. Es ist bestimmt die Hitze nach der Kälte draußen, der Temperaturschock, ja, das muss es sein. Aber Nathan hält sich an Léas Hand fest, alles dreht sich noch schneller, kommt schließlich wieder ins Gleichgewicht. Und da taucht der Fleck auf. Er sieht ihn dort, schwarz, im inneren Winkel seines rechten Auges, er wird größer, er sieht nur noch ihn. Ein Fleck, schwarz wie Ebenholz, schiebt sich zwischen ihn und die Dinge.

Alles in Ordnung, Schatz?

Nein, Léa, ich sehe nichts mehr.

Soll ich einen Arzt rufen?

Da ist ein Fleck in meinem Auge. Ein schwarzer Fleck.

Atme, Nathan, atme. Vielleicht liegt es am Fisch.

Ich habe doch noch gar nichts gegessen.

Drei Monate vergehen. Der Fleck ist immer noch da.

Nathan tut so, als wäre nichts, er hat seine Forschungen wieder aufgenommen, das Schreiben; in seiner unzureichend isolierten und dennoch gemütlichen Wohnung am Square Saint-Louis macht er das, was man eben tut, wenn der Tag beginnt. Aber der Fleck bleibt. Er geht zu seiner Hausärztin. Es ist schwierig zu beschreiben, fängt er an. Es befindet sich nicht an einem bestimmten Ort, na ja, schon, da, in meinem Auge, aber nicht nur. Es ist auch überall sonst, genau genommen nicht in meinem Körper, nicht in meinen Beziehungen zum Außen, nicht in der Welt, eher in allem auf einmal. Ich weiß nicht, wie ich es anders erklären soll. Versuchen Sie es noch einmal, sagt Dr. Nadeau, wobei sie ganz leicht an ihrem Stift kaut. Nathan würde gerne sagen, dass es ein Unwohlsein ist, eine Verwirrung, etwas Unförmiges und gleichzeitig sehr Präzises, aber mit Worten gelingt es ihm nicht. Selbst wenn er sie fände, diese Sätze, und sie aneinanderreihen könnte, um einen Gedanken zu formen, trotz all der Nuancen, die sie im Raum entfalten können, um sich als eine Art Netz über die Dinge zu legen, Sätze können nicht alles, vielleicht sogar rein gar nichts, besonders wenn es um die aufgewühlten Gefühle geht, die einen Mann überkommen, wenn er in seinem tiefsten Innern, ja, in seinem Sein erschüttert ist. Na schön, dann werde ich Sie mal untersuchen, sagt Madame Nadeau. Zehn Minuten und neunzig Dollar später ist ihr Urteil sehr formell: Lieber Monsieur Régnier, Ihnen fehlt nichts. Sie sind völlig gesund. Nathan sieht sie an, sagt Danke oder vielleicht Entschuldigung und geht hinaus.

Das ganze Jahr 2016 geht es so weiter. Dabei ernährt sich Nathan überaus gesund, er achtet darauf, verschiedenfarbiges Gemüse, Obst und Getreide zu essen, reduziert den Zuckerkonsum und nimmt sogar den Sport wieder auf, geht joggen im Park. Der Fleck bleibt.

Léa versucht, ihn aufzuheitern, er sieht aus dem Fenster. Trotz allem schafft er es, ein Buch zu schreiben, über die Bedeutung der Bienen und ihres Überlebens für den Menschen. Alles wird endlich etwas besser – bis es schlagartig wieder bergab geht.

Es ist diese Arbeit, deine Forschungen. Du brauchst eine Pause.

Wie bitte, sagt Nathan.

Das alles frisst dich auf, merkst du das nicht.

Er lacht.

Das hat damit doch gar nichts zu tun, Léa, es ist eine Krankheit und sonst nichts.

Und Krankheiten kommen einfach so, ohne Grund.

Ja, ganz genau, Krankheiten kommen einfach so. Es ist vielleicht noch nicht mal eine Krankheit, nur eine Sehstörung, ein Ungleichgewicht.

Ja, genau. Ein leichtes Burnout, so, als ob du frontal von einem Bus gerammt wirst oder man dir ein Bein amputiert.

So in etwa.

Die Pflanzen sterben. Die Bienen sterben. Die Insekten sterben, Säugetiere, Böden. Du beobachtest sie. Also stirbst auch du.

Es geht doch schon viel besser, sagt er hustend.

Eines Abends bekommt er einen Anruf.

Wissen Sie noch, wer ich bin?, fragt ihn die Stimme aus dem Hörer.

Nein, sagt Nathan.

Hier ist Adam Thobias. Ihr alter, sehr alter Professor.

Ah, Adam. Wie geht es Ihnen?

Gut. Wo sind Sie gerade, mein lieber Nathan? In Montreal, zu Hause.

Wunderbar, sagt Adam. Ich werde Ende der Woche dort sein.

Nathan freut sich, ihn wiederzusehen. Wie lange ist es her, zehn, zwölf Jahre? Die hölzernen Hörsaalsitze in Oxford, die gegen ihre Rückenlehnen knallen, die mondlosen Nächte in den Kellergewölben, Bibliotheken gefüllt mit seltsamen Buchtiteln, Adam Thobias’ tiefe Stimme, die es schafft, Biologie und elisabethanische Literatur, Kopernikus und Mozart zu verbinden. Sein offener Blick auf die Welt hatte ihm viel bedeutet.

Sie treffen sich in einem schönen, von Säulen gesäumten Café im Stadtzentrum. Adam sieht gut aus, natürlich ist die Zeit an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Nur ein- oder zweimal verliert er den Faden, letztendlich nicht öfter als Nathan selbst. Sie verabschieden sich etwas gerührt, ein leichtes Klopfen auf den Rücken anstelle einer Umarmung, zu der ihnen der Mut fehlt.

Was wollte er denn?, fragt Léa.

Och, nichts weiter, er wollte, dass ich mit ihm zusammenarbeite, in der neuen Kommission in Brüssel, die er jetzt leitet.

Und, was hast du gesagt?

Nein.

Selbst die geringste Bewegung scheint Nathan unmöglich. Etwas gärt in ihm, sein ganzes Leben wird ihm fremd. Er versucht, dennoch seinen Sinn für Humor zu bewahren, mimt vor Kindern den fallenden Clown, aber unter seinem Jeanshemd perlt der Schweiß. Schließlich befragt er Google. So etwas sollte man niemals tun. Man stößt unweigerlich auf abscheuliche Fotos von vereiterten Füßen oder Löchern in der Kehle, Wundbrand, der den gesamten Oberkörper befällt, Schlangenbisse, nie gehörte Krankheiten, die einen innerhalb von fünf Sekunden niederstrecken, mitten auf der Straße, an einem Frühlingstag. Trotzdem gibt er Fleck im Auge, Angst, ein zähflüssiges Gefühl, Atemprobleme ein. Die Kombi verspricht von vornherein nichts Gutes, und in der Tat ist sie es nicht. Krankheiten mit unaussprechlichen Namen in schauerlichen Berichten quellen aus allen vier Ecken des Bildschirms hervor und bieten vielfache Verlinkungen an zu Schlaganfällen, Herzstillständen, Syphilis, Zirrhosen, Depressionen, Lebensmittelallergien, Luftröhrenkrebs, die in aller Regel mit entsetzlichen Schmerzen und schlagartigem Tod enden. Er sucht trotzdem weiter. Er spürt sehr seltene Krankheiten auf, schlecht verheilte Infektionen, die zu Herzenge führen, Insekten, die im Auge Hunderte Eier legen, aus denen Nachkommen schlüpfen, die die Hornhaut, Pupille, das gesamte Auge besetzen, bis sie schließlich auf der anderen Seite der Netzhaut wieder herauskommen und das Gehirn zerfressen. Er klappt den Bildschirm zu, geht in den Parkalleen spazieren. Kommt noch aufgebrachter als vorher zurück. Er ruft einen Freund an, Jake, der ihn auch nicht beruhigen kann; seine Mutter ist kürzlich verstorben, und nun sieht er sein eigenes Ende herannahen. Nathan schaltet den Computer wieder ein. Er öffnet das Dokument Ontologie der Pflanzen. Er schreibt gerade an einem neuen Buch, und wenn er bei der Arbeit gut vorankommt, kann ihn das meistens beruhigen. Er klickt auf das Symbol, um das Dokument zu öffnen. Nichts. Er klickt erneut. Wieder nichts. Okay, atme, Nathan. Er steht auf, schenkt sich ein Glas Saft ein. (Er hat sich den Kaffee abgewöhnt, trinkt stattdessen Tee, um die Koffeinzufuhr und Angstzustände zu reduzieren. Bis er erfahren hat, dass Teein ebenso stark ist wie Koffein und seine Konzentration in einer Tasse Tee höher als in einem Espresso; seitdem hat er auf Orangensaft umgestellt.) Er setzt sich wieder und drückt erneut auf das Symbol. Das Dokument öffnet sich, er fängt an. Statt des Rauschens seiner Gedanken erklingt in seinem Kopf vor allem sein eigener Herzschlag. Er arbeitet, obwohl ihm das Formulieren schwerfällt, und seine Sätze erinnern ihn eher an das Einrollen von Panzern in Prag als an den Gesang einer Nachtigall. Schließlich steht er auf und geht duschen.

Er reist nach Berlin, wo er einen Heilungsprozess durchlebt. Sein Körper entspannt sich, er lässt sein Studium des Verfalls ruhen und verbringt einen schönen Frühling voller Nichtstun auf Plätzen, am Ufer von leicht traurigen Seen. Traurigkeit interessiert ihn, vor allem, wenn sie andere betrifft. Er mag es, besonders seitdem der Fleck da ist, wenn es den Leuten schlecht geht und ihm etwas besser. Er erfreut sich beispielsweise daran, wenn andere Männer ihre Haare verlieren oder ergrauen, während seine eigenen noch all ihren Glanz haben. Er nimmt die S-Bahn, läuft durch die breiten, ruhigen Straßen in Prenzlauer Berg, verschlingt eine Currywurst nach der anderen. Er kommt so oft er kann zurück, verliert sich zwischen den steil aufragenden Gebäuden und den verblassenden Farben, die sein Berlin seit so vielen Jahren nun schon schichtweise sammelt. Er erinnert sich, wie er einmal mit dem Fahrrad in dieser Tramschiene, da, vor dem Friseur Vokuhila, stecken geblieben ist, eine Bahn kam von hinten, er war zwanzig, es war Winter, er schlief zum ersten Mal in besetzten Häusern, auf kalten Matratzen, entdeckte Kellerräume, in denen die Nächte in Facetten vorübergehen, seine Freunde liefen hinter ihm und bliesen in ihre Handschuhe. Berlin, das war die große Freiheit, und für ihn ist es das noch heute, obwohl er jetzt ein erwachsener Mann ist, den der Junge von damals sicher für einen unausstehlichen Schnösel und Hypochonder gehalten hätte, den man besser in die Geschlossene steckte. Egal, er läuft durch die Kastanienallee, und alles ist da, versammelt, präsent, Hunderte Kaffees an diesem Holztisch vor dem Café mit dem schönen Namen An einem Sonntag im August, die Partys da oben in diesem seit 1991 besetzten Haus, Karaoke im Mauerpark, das Mädchen und diese stille Melancholie, die ihm damals die Hand hielten, er läuft weiter, er streckt die Arme gen Himmel, fühlt sich leicht und voll, die Tram kommt in diesem Augenblick, er weicht den Schienen aus und blickt ihr nach, wie sie in den Maimorgen hineinfährt.

Aber dann muss er schon wieder los, und an die Stelle des Frühlings, an den er sich wie an eine Rettungsboje geklammert hat, treten wieder eisige Finger.

Und da steht er, hier, an diesem Abend, vor dieser Fensterfront, die den Blick auf den Parc Outremont in Montreal freigibt, in der Hand eine Tasse mit dem Aufdruck eines wahrscheinlich balinesischen Sonnenuntergangs.

Adam Thobias hat ihm geschrieben, um ihm die wichtigste Aufgabe seines großen Projekts anzuvertrauen. Er hat nicht geantwortet.

Natürlich machst du das, sagt Léa.

Ich habe wirklich Besseres zu tun, ich muss dieses Buch zu Ende schreiben. Und ich hasse es zu reisen, das weißt du doch.

Es würde dir guttun, sagt Léa. Du könntest mit deinen Forschungen vorankommen. Und ein bisschen rauskommen. Und dann kommst du in Topform zurück.

Ich habe langsam den Eindruck, du wärst ganz froh, mich loszuwerden.

Er kann schon hören, wie Léa sich Weißwein einschenkt, die Füße auf dem Couchtisch, ferner Blick.

Nein, sagt sie lachend. Ich sage das für dich.

Nathan geht noch einmal die Mail von Adam durch, zwei Finger an der Schläfe. Er würde den Fleck gerne vergessen, den Schmerz um den Solarplexus und im Bauch. Er fängt an zu schreiben: Das ist purer Wahnsinn, Ihre ganze Idee, aber eigentlich nicht mehr als alles andere. Wo Sie schon Leute wie Bowlingkugeln in alle Ecken der Welt schicken, habe ich einen Vorschlag für Sie: Sie sollten diese Pflanze suchen, von dessen Existenz Lizbeth Mearmet in ihrem Science-Artikel spricht. Das könnte die Lösung für alles sein. Genau damit wollte ich Sie beauftragen, lieber Nathan, antwortet Adam schon in der darauffolgenden halben Stunde. Wann wollen Sie aufbrechen? Neben ihm ist Léa in den Abgründen ihres Instagram-Feeds voller glücklich wirkender Menschen versunken. Nathan legt sein Handy weg und sinkt in den Sessel, der langsame Rhythmus der balinesischen Tänzerinnen um ihn herum beruhigt ihn und schickt ihn schließlich sanft auf die andere Seite der Dinge.

3

Der kurze charakteristische Signalton ist überall auf der Welt zu hören gewesen.

In Anchorage, San José, Granada, Manila sind E-Mails in den verschiedenen Posteingängen angekommen, ebenso SMS und Sprachnachrichten, die einige erst Tage später abgehört haben, als sie daran gedacht hatten, ihre Handys aufzuladen.

Tomas Grøben war gerade auf der Toilette in einer Bar namens Kenpsen in Göteborg, als sein Telefon in der Jackentasche vibriert hat. In Paris bekommt Nicolas eine Mail mit dem IKKW-Logo über der europäischen Flagge – kenn ich nicht. In Panama empfängt Camila eine SMS. Oliver Zoey, Fabrizio, Rada, Jian, Kyra, Hiro, Kirsten, Seydou bekommen alle die gleiche E-Mail, abgesehen von kleinen Unterschieden, unterschrieben vom berühmten Adam Thobias, der ihnen anbietet, sich einer Forschungsgruppe anzuschließen, dem Telemach-Team. Sie sind Ingenieure, Lehrer, Weltenbummler, Botaniker, Architekten, Geologen, Schriftsteller. Sie haben alle schon einmal mit Adam Thobias zusammengearbeitet, sind ihm auf einem Kongress begegnet, bei einer Tagung in Johannesburg, waren seine Schüler, sind zusammen gereist, haben sein Buch gelesen, er ihre Arbeiten, haben sich noch nie gesehen. Sie gehen die Nachricht noch einmal durch, nicht sicher, alles richtig verstanden zu haben. Ein schönes Projekt. Teil einer Gruppe von Aufklärern sein, die vielleicht wirklich etwas verändern können. Das hohe Gehalt und die Aussicht auf ferne Reisen gefällt ihnen insgesamt ganz gut. Einige antworten mit Ja. Andere tun es später. Wieder andere antworten gar nicht. Die Letzteren gehen ruhig ihrer Wege in den Straßen von London, Rennes oder Mexiko-Stadt, sie haben Dringenderes zu tun und werden ein paar Stunden später, wenn sie zu Hause sind, das Angebot ablehnen.

Tomas Grøben beobachtet sein schäumendes Bier. Er traut der E-Mail nicht. Warum er? Er hat schon mal Spam mit offiziellen Briefköpfen erhalten, das passiert gar nicht so selten, das muss wieder so etwas sein. Eine Woche später vibriert sein Handy erneut, aber jetzt ist es ein Anruf.

Woher haben Sie meine Nummer?

Tomas, Sie sind achtundzwanzig Jahre alt, Sie leben im 21. Jahrhundert: Denken Sie wirklich, dass man Telefonnummern heute mit Laternen suchen muss?

Laternen?

Mein Name ist Chloé Tavernier, ich arbeite bei der IKKW in Brüssel, und ich rufe Sie im Namen des Kommissionsleiters an, Adam Thobias. Er ist im Internet auf Ihre Arbeiten gestoßen. (Die interessieren nicht mal meine Mutter, denkt Tomas.) Ich komme direkt zur Sache: Was wir Ihnen anbieten, könnte simpler gar nicht sein. Sie müssen lediglich bei sich zu Hause auf einem Stuhl sitzen, eine Decke über den Beinen oder eine Katze auf dem Schoß, ganz wie Sie wollen, und durch Google Earth spazieren. Dafür bezahlen wir Sie gut. Acht oder neun Stunden am Tag streifen Sie durchs Netz, und jede Woche berichten Sie auf unserer digitalen Plattform, was Sie gesehen haben.

Und wo ist der Haken?

Es gibt keinen. Wir werden nichts weiter von Ihnen verlangen. Es gibt keine unerfreulichen Ausgänge für Sie – vielleicht glückliche, das kann ich Ihnen nicht vorhersagen.

Und das ganze Geld?

Es gibt Gelder, ja. Es handelt sich um einen wichtigen Auftrag innerhalb eines umfangreichen Projekts. Die Arbeit erscheint Ihnen vielleicht unbedeutend, aber sie ist es nicht. Ganz im Gegensatz zu dem Drecksjob, den Sie momentan machen.

Woher wissen Sie –

Also, was sagen Sie?

Da hat Tomas aufgehört, Fragen zu stellen. Manchmal ist das besser. Er hat die App auf sein Handy heruntergeladen. Der blaue Hintergrund wurde angezeigt und die weißen Icons in der Mitte.

Nachrichten

Aufträge

Kalender

Gebiete

Er hat auf Gebiete geklickt, eine große, mit Punkten gespickte Karte hat sich vor ihm aufgetan. Er ist auf Mongolei gegangen, ein langer Bericht über die dortzulande typischen nomadischen Lebensformen hat sich geöffnet. Er ist zur vorigen Seite zurückgekehrt. Die Punkte überall schienen eine geheime Konstellation zu bilden. Mitten im Pazifik war eine Kugel, rot und rund. Er hat daraufgeklickt.

Mia Casal, gepostet am 28. März 2017im Telemach-Netzwerk

Wir erreichen Gem Island, Südpazifik, an Bord von Nussschalen. Totale Stille. Breite Strände. Ich kenne diese Gegend ein bisschen, aber von der Existenz dieser Insel wusste ich nichts. Die Begrüßung war kühl. Ich bin das gewohnt.

Ich bin ins Landesinnere aufgebrochen. Wunderschöne Insel, mit Puderzucker bestäubt. Hinter dem Ende der Welt, randvoll mit blauen Winden, die einem fast Angst machen. Ich bedaure, die Schönheit nicht besser beschreiben zu können, obwohl das ja mein Job ist.

Ich bin also endlich in dieser Art Hinterland angekommen. Der Stamm der Palanka, habe ich gefragt. Warum, war die Antwort. Ich habe nicht gesagt, weil die halb Mensch, halb Tier oder vielmehr Pflanze sind, nur, bringt mich zu ihnen.

Ich bin mir nicht sicher, Adam, was ich dort gesehen habe, ob ich geträumt habe. Es gibt Dinge in den Nächten von Rumpala, die herumschwirren, Glühwürmchen, Wesen. Es war von Zentauren die Rede, menschliche Amphibien, von fließenden, wirren Dingen. Ich habe tagelang in diesem Wald geschlafen, habe alles ausgekundschaftet, habe Geräusche gehört, aber nichts gesehen.

Falls es stimmt, dass sich die Frauen hier unter die Pflanzen und Tiere mischen und schließlich selbst zu Schwammwesen werden, wie man sagt, kann ich es nicht belegen, ich habe keine handfesten Beweise mitbringen können (was könnte das auch sein?). Was ich sagen kann, ist, dass die Orte von einer gewissen Dichte sind, etwas bleibt an der Haut haften, wie eine Art durchsichtiger Teig – ich musste da schnell weg, das müssen Sie mir verzeihen, sonst hätte es auch mich niedergerungen.

Mia Casal ist eine post-punk, öko-feministische Anthropologin und modern witch, auch wenn sie selbst nicht mehr so genau weiß, was das eigentlich heißt. Jedenfalls bewegt sie sich im Dazwischen: Sie erforscht indigene Völker, die queeren Communitys Mexikos, ihr Spezialgebiet, die matriarchalen Gesellschaftsformen Französisch-Polynesiens, sie schreibt kurze, knackige Artikel über mutierende Körper und das Geschlecht von morgen, manchmal auch Reportagen. Sie ist eine Abtrünnige, eine laterale Denkerin, eine radikale Aktivistin, bekannt für ihre genaue Beobachtungsgabe und ihre Kühnheit.

Mia ist auf beunruhigende Weise im Hier und Jetzt, rockige Eleganz; mit den Händen in den Taschen und die Taschen voller Löcher, finsterer Blick, läuft sie rum, ohne das geringste Bemühen, sympathisch zu wirken, und ist es dadurch sofort.

Mia ist dreiunddreißig, ultrablondierte Haare im Irokesenstyle, ein Gesicht von fast erschreckender Schönheit, Augen, die einem in den Schädel blicken, streng ebenmäßig, ein mysteriöser Gen-Mix (alles Mögliche musste sie sich schon anhören, Japse, man sieht sofort dein arabisches Blut, da brodelt das Feuer der Latina in dir, nur Skandinavierinnen können so herzlos sein), den sie einer komplexen Abstammung verdankt mit einem Vater, der in Osaka als Sohn einer Russin und eines Japaners geboren wurde, und einer Mutter, die Brasilianerin ist, Tochter eines Deutschen und einer Carioca. Sie bewegt ihren langgliedrigen Körper mühelos. Hat braune Sommersprossen auf Höhe der Wangenknochen und tanzt zu Techno und Mazurka wie keine andere.

Auf der Straße sieht man diesem verblüffend androgynen Gesicht hinterher, wie eine Maske, schmale Augen, flächige Wangen.

An diesem Abend raucht sie eine Montecristo auf einem der Dächer von Gracia in Barcelona. Ein paar Freunde, Alex und Carlota, haben sie zu einem üppigen Essen eingeladen, das sie jetzt mit gen Himmel steigenden Rauchkringeln beenden. Sie greift nach ihrem Rotweinglas, ihre Hand schlingert.

Du bleibst doch hoffentlich noch.

Ja, sagt Mia. Ich bin fertig.

Ruhe wirst du hier aber nicht finden.

Sie lässt ihre Haare wachsen, sie fühlt sich hier wohl jedes Mal, wenn sie wiederkommt. Einen Teil ihrer Jugend hat sie unter dem Persischen Flieder verbracht und verdankt diesem Ort einige enge Freundschaften und eine Vorliebe für das kräftige Blau der Tage.

Liebe Mia Casal. Ich habe Ihre E-Mail-Adresse von einem Kollegen aus Yale. Ich schreibe Ihnen –

Sie macht einige Wochen Pause zwischen zwei Reisen. Sie atmet tief durch in den Straßen von El Raval, sie liest auf der Plaça del Sol. Sie zieht mit alten Freunden von Terrassen in Bars, Wermut, Bier und Gin Tonics, kein Grund zur Eile.

Ich habe einige Ihrer Texte gelesen. Das Fieber, das Sie auf Ihren Gonzo-Exkursionen packt, hat mich beeindruckt, die Genauigkeit, mit der Sie vorgehen, auch. Das ist es, wonach ich suche.

Willst du eine Line?

Carlota verschwindet auf der Toilette, und Mia wirft einen Blick auf ihr Handy. Sie ist beim vierten Bier, ihr liebstes, von hier an eröffnen sich unendliche Möglichkeiten.

Die Nacht gehört ihnen, unbekanntes, gigantisches Terrain; sie sind bereit. Drei Stunden später, im Apolo, eingehüllt in die Elektro-Sounds eines deutschen DJs, bewegen die Freundinnen auf dem Dancefloor monoton ihre Arme vor und zurück. Eine halbe E später, und weiter geht’s zu einer dämonischen After-Party am anderen Ende der Stadt, sie rauchen Zigarette nach Zigarette, versuchen, ihre übertriebene Lebensfreude zu bändigen.

Als sie zwei Tage später wieder zu sich kommt, öffnet Mia ihre Mails und liest die Nachricht von Adam Thobias erneut durch. (Sie hatte ein Buch von ihm gelesen, jetzt fällt es ihr ein, das ist Jahre her, Ungnade der Erde, oder war es Wiedergeburt