Welt im Zwiespalt - Edgar Wolfrum - E-Book

Welt im Zwiespalt E-Book

Edgar Wolfrum

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Beschreibung

Meisterhaft schildert Edgar Wolfrum das außergewöhnlichste Jahrhundert der Weltgeschichte und bietet zugleich eine neue Interpretation des ganzen Zeitalters unter länderübergreifender Perspektive. Ein beeindruckendes, großes Panorama des 20. Jahrhunderts, dessen ungelöste Probleme unsere Gegenwart bis heute bestimmen. Das 20. Jahrhundert war durchfurcht von Kriegen, Ideologien, Krisen und Terror. Doch es war auch eine Epoche der Durchbrüche zur Freiheit und der Ausbildung globaler Kulturen und des Welthandels. Aus unterschiedlichen Perspektiven porträtiert Edgar Wolfrum ein zutiefst widersprüchliches Zeitalter mit all seinen dunklen und hellen Seiten. Dabei berücksichtigt er viele Ausprägungen menschlichen Daseins in Zeit, Raum und Kultur: Krieg und Frieden, Demokratie und Diktatur, Liebesglück und Geschlechterungleichheit, Wohlstand und Hunger, Säkularisierung und Rückkehr der Religionen ... Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Ereignisse kommen dabei ebenso zur Sprache wie die kulturellen und mentalen Entwicklungen. Ein beeindruckend argumentierendes und umfassendes Geschichtspanorama für alle, die das 20. Jahrhundert und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts verstehen wollen. "Edgar Wolfrum ist ein Glücksfall für den Leser. Nichts ist dem Historiker aus Heidelberg oberflächlich, nichts langweilig geraten." Marcus Sander, Stuttgarter Zeitung

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Seitenzahl: 598

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Edgar Wolfrum

Welt im Zwiespalt

Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts

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KLETT-COTTA

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung von »Map« (Weltkarte), 1967–71 von Jasper Johns

akg-images / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN978-3-608-94306-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10092-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Einleitung: Das Jahrhundert begreifen

Teil 1:Die Väter und Mütter aller Dinge

1. Krieg und Frieden

2. Demokratie und Diktatur

3. Dritte Welt zwischen erster und zweiter

4. Starke Staaten und gescheiterte Staaten

Teil 2:In den Dramen des Lebens

5. Naturbeherrschung und Umweltkatastrophen

6. Impfung und Aids

7. Vertreibung und Mobilität

8. Genozide und Völkermordkonvention

Teil 3:Vom Wahren, Schönen, Guten

9. Künstlerische Avantgarde und Repression der Kunst

10. Liebesglück und Geschlechterungleichheit

11. Säkularisierung und Rückkehr der Religionen

12. Wissen und Analphabetismus

Teil 4:Die Ökonomie als Schicksal

13. Überbevölkerung und Bevölkerungsrückgang

14. Wirtschaftswachstum und Verelendung

15. Hunger und Wohlstand

16. Holzpflug und Mikrochip

Schluss: Ins 21. Jahrhundert – Welt aus den Fugen?

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Dank

Register

Tafelteil

Einleitung: Das Jahrhundert begreifen

Das 20. Jahrhundert war zum Verzweifeln grausam, durchzogen von fürchterlichen Kriegen, extremistischen Ideologien, abgrundtiefen Krisen und menschenverachtendem Terror. Kaum ein Tag verging, ohne dass Schreckliches vermeldet werden musste. Die Welt, so könnte man meinen, drehte durch, und die Menschheit war dabei, sich selbst abzuschaffen. Kriege, Vertreibungen, Genozide, Zwang, Unterdrückung und Ausbeutung prägten das Jahrhundert. Viele Historiker sahen in diesem »Zeitalter der Extreme« oder dem »radikalen Zeitalter« das »schrecklichste Jahrhundert der Weltgeschichte«.1 Doch trotz allem Grauen – ganz so klar liegen die Dinge nicht. Dies ist nur die halbe Wahrheit. Das 20. Jahrhundert hielt nicht nur Katastrophen von bislang unbekanntem Ausmaß bereit, sondern ebenso große menschliche Triumphe. Eine Menge Gutes und Nützliches geschah, in vielem war das Jahrhundert besser, als die vorangegangenen Jahrhunderte es waren. Es weckte Hoffnungen. Die Freiheit bahnte sich ihren Weg, und es gelangen emanzipatorische Durchbrüche. Es kam zu friedlichen transnationalen Verflechtungen und zu einem medizinischen und technischen Fortschritt, der immense Erträge und Verbesserungen für die Menschheit lieferte. Globale Kulturen bildeten sich aus, der Welthandel verdichtete sich, die Vereinten Nationen(1) versuchten, den Hunger zu bekämpfen und Kriege einzudämmen oder zu verhindern. Etliches, was zunächst Anlass zur Hoffnung bot, wurde aber am Ende nicht erfüllt oder drehte sich wieder ins Gegenteil. Manchmal gab es einen Fehlstart, der dann doch noch in einen unerwarteten Erfolg mündete. So ließe sich beispielsweise der Weg vom Völkerbund(1) 1919 bis zur Gründung der UNO 1945 erzählen. Und viele Errungenschaften bedingten wiederum die Größe von Katastrophen. Solche Dimensionen von Scheitern und Erfolg, von Elendem und Prächtigem waren charakteristisch für dieses zutiefst widersprüchliche Zeitalter.

Im 20. Jahrhundert eröffnet sich eine disparate und vielgestaltige Welt, zusammengehalten durch unzählige Ereignisse und zahlreiche Strukturen und Prozesse. Es verbietet sich deshalb, dieses Jahrhundert allein aus einer einzigen Perspektive zu betrachten. In der Geschichtsschreibung war es bisher fast ausschließlich die dunkle, die katastrophische Seite, die Beachtung fand. Doch zu jeder dunklen Seite gehörten auch eine helle Seite und unendlich viele Mischungen und Übergänge zwischen dunkel und hell. Die Welt des 20. Jahrhunderts befand sich in einem permanenten Zwiespalt, und mit diesem Zwiespalt und seinen Schattierungen beschäftigt sich dieses Buch. Das Disparate, Zerrissene und Exzentrische sollen entschlüsselt werden. Ich möchte sowohl die dunklen als auch die hellen Seiten des Jahrhunderts darstellen. The Dark Side of the Moon hieß ein legendäres Album der Rockband Pink Floyd(1) aus dem Jahr 1973. Die Band selbst wandelte ein Bonmot von Mark Twain(1) ab, dem scharfzüngigen amerikanischen(1) Schriftsteller, der für alle Lebenslagen Passendes zur Verfügung hält. Der Mensch sei ein Mond, der eine dunkle Seite habe, die er verberge. Die dunkle Seite der Erde im 20. Jahrhundert ist für die Zeitgenossen und die nachfolgenden Historiker alles andere als verborgen geblieben.2 Im Gegenteil, sie hat in den meisten unserer Deutungen die hellen Seiten und freundlicheren Schattierungen fast völlig überlagert. Diesem Umstand will die Darstellung entgegenwirken und das Jahrhundert umfassender und alles in allem vielleicht gerechter deuten.

Durch die Welt des 20. Jahrhunderts ging ein Riss. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehören zwar immer zusammen, doch die Welt gestaltete sich im 20. Jahrhundert räumlich und zeitlich sehr unterschiedlich. Ernst Bloch(1) hat im Jahr 1932 die emblematisch gewordene Figur von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« geprägt. »Nicht alle sind im selben Jetzt«.3 Diese Denkfigur vermag die Verwobenheit und die Vielschichtigkeit der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verdeutlichen. Bei Hermann Hesse(1), dem eigensinnigen Wanderer zwischen den Welten, der für alle Zweifel, Krisen und Hoffnungen eines Klassikers der Weltliteratur steht, findet man eine Stelle, die in ähnlicher Weise anregend wirkte. Das »magische Theater«, eine Schlüsselszene in Hesses Roman »Der Steppenwolf«, der 1927 erschien, beschreibt genau diesen Umstand des Gleichzeitig-Ungleichzeitigen. Darüber, dass seine Leser die mythische Dimension des »Steppenwolf« weitgehend verkannten, ärgerte sich Hesse enorm. In einem Fragment aus dem Nachlass heißt es: »… für Augenblicke begriff ich, dass Worte des Mythos wie Chaos und Schöpfung, Worte der Vernunft wie Vorzeit und Entwicklung im Grunde nicht ein Nacheinander meinen, sondern ein Zugleich und Ineinander. Urwelt war nicht älter als Heute, war nicht gewesen: Urwelt und Heute waren zugleich«.4 Das also war der tiefste Sinn des magischen Theaters: die Zeitaufhebung, die Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit in der Collage.

Ist dies ein Schlüssel für das exzentrische Zeitalter? Eine wohlwollende historische Rückschau könne das 20. Jahrhundert nicht erwarten, bemerkte der Historiker Tony Judt(1) in seinem letzten Buch. Er schrieb: »Vom Massaker an den Armeniern bis zum Völkermord in Bosnien(1), vom Aufstieg Stalins(1) bis zum Ende Hitlers(1), von den Schlachtfeldern Flanderns bis nach Korea(1) – das 20. Jahrhundert ist ein gnadenloses Narrativ von menschlichem Unglück und kollektivem Leid, aus dem wir trauriger, aber klüger hervorgegangen sind.«5 Und doch folgte anschließend eine Einschränkung: Was würde eigentlich passieren, wenn man nicht von einer solchen »Horrorgeschichte« ausginge? Hatte die Epoche nicht auch bemerkenswerte Verbesserungen gebracht? Dank medizinischen Fortschritts, politischen Veränderungen und gesellschaftlichen Neuerungen lebten die meisten Menschen gesünder und länger als in allen Zeiten zuvor. Sie erfreuten sich zumeist großer Sicherheit und sozialer Errungenschaften. Technische Möglichkeiten ließen den Menschen sogar ins Weltall vorstoßen. Das 20. Jahrhundert war also von zutiefst paradoxen Entwicklungen geprägt. Nie zuvor hat sich die Menschheit als Ganzes gleichzeitig teuflischer gebärdet und nie so Gottähnliches geleistet. Um beides zu beschreiben, braucht es allerdings andere Bausteine als solche, die nur ein Modell von Tod und Abgründen errichten.

Die vorliegende Darstellung geht deshalb von dramatischen Kontrasten aus. Gegensätzliche Entwicklungen im Zeitverlauf des 20. Jahrhunderts werden erzählt. Dabei sollen möglichst zahlreiche Ausprägungen menschlichen Daseins in Zeit, Raum und Kultur einbezogen werden, also politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle und mentale Entwicklungen: Krieg und Frieden, Demokratie und Diktatur, Genozide und Völkermordkonvention, Liebesglück und Geschlechterungleichheit, Wohlstand und Hunger, Überbevölkerung und Bevölkerungsrückgang, Säkularisierung und Rückkehr der Religionen, um nur einige zu nennen. Der Gedanke ist, dass wir das 20. Jahrhundert bei globaler Betrachtungsweise nicht auf einen einzigen Nenner bringen können, sondern dass die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem vorherrscht, dass wir es mit parallelen Welten zu tun haben, mit Licht und Schatten, Tag- und Nachtseiten zugleich.

Diese parallelen Welten sind jedoch nicht durch wasserdichte Schotten voneinander getrennt. Sie stellen also keine schlichten Gegensatzpaare dar, sondern ergänzen sich und stehen in einer Art schöpferischem Spannungsverhältnis zueinander. Es geht nicht darum, das 20. Jahrhundert in eine binäre Logik hineinzuzwingen. Vielmehr sollen die Überschneidungsfelder herausgestellt werden. Einfach gesagt: Es gab viele dritte, vierte … Wege, und diese gilt es zu beachten. Wichtig sind die Schnittmengen und Übergänge zwischen den beiden Extremen. Um Beispiele zu nennen: Wie vollzieht sich der Übergang von Krieg zu Frieden? Warum werden Diktaturen überwunden und wie gelingen Durchbrüche zur Demokratie? Wie kommt es zu Emanzipationsbewegungen und warum sind dennoch Geschlechterungleichheiten nicht verschwunden? Das Lokale und das Globale oder das Nationale und das Transnationale sind oft nur scheinbar binäre Pole, in Wahrheit jedoch Aspekte, die miteinander verbunden sind und in Beziehung zueinander stehen. Sie agieren auf vielfältige Art und Weise miteinander, sind also »koproduktive Gegenstücke«.6

Damit ist die Leitlinie dieser Deutung des 20. Jahrhunderts umrissen. Hell und Dunkel stießen aufeinander und erzeugten in ständigem Austausch mannigfache Mischungsverhältnisse. So entstanden dynamische Spannungen. Es gab keine alleinige »Triebkraft« oder eine »Lokomotive« der Geschichte, jedoch einige Basisprozesse. Dazu zählt ohne Zweifel die Herrschaft gewalttätiger politischer Ideologien. Unter allgemeinerem Blickwinkel stechen jedoch andere Aspekte heraus: das dramatische Schrumpfen von Raum und Zeit, die Mobilitätssteigerung von Ideen und Gütern, die Revolution im Kommunikations- und Verkehrswesen, insgesamt eine rasante Beschleunigung auf allen Ebenen des menschlichen Lebens.

Dieses Buch versucht, Sichtachsen auf das 20. Jahrhundert freizulegen. Dennoch enthält es, wie könnte es anders sein, Auslassungen. Zu jedem Spezialkapitel wird es Experten geben, die Details vermissen und alles viel genauer wissen, als dies in einer gerafften Erzählung gelingen kann. Doch das veröffentlichte Wissen dieser Experten ist die Grundlage meines Buches. Die verwendete Literatur ist umfänglich, und sie wird zu jedem Kapitel im Anhang aufgeführt. Gleichwohl habe ich, um der Lesbarkeit willen, nur sparsam Anmerkungen gesetzt. Vollständigkeit der Darstellung wird nicht im Entferntesten angestrebt, sie wäre ja auch, wie immer, eine Illusion. Denn die Totalität der Geschichte zu erfassen, ist unmöglich. Vielfalt und Komplexität der historischen Wirklichkeit werden verringert, und in dieser Verringerung liegt der Entwurf eines geschichtlichen Narrativs, nämlich der Welt im Zwiespalt begründet.

Eine Bemerkung muss zur Standortgebundenheit gemacht werden. Meine Deutung ist eurozentrisch angelegt. Die Antworten auf die Frage: Wie lässt sich das 20. Jahrhundert begreifen, versuche ich von meinem Standort aus zu geben. Ich vermag nicht den »Sehepunkt« eines asiatischen(1) oder afrikanischen(1) Kollegen einzunehmen, das wäre vermessen und könnte nur scheitern. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man deren wertvolle Arbeiten ignoriert. Das Gegenteil ist der Fall. Viel unterschiedliche Literatur floss in diese Darstellung ein. Doch der Fluchtpunkt der Selbstverständigung bleibt europäisch. Das Buch ist also aus europäischer, oft deutscher(1) Perspektive verfasst, und um bestimmte Aspekte zu veranschaulichen, kommen Beispiele aus Deutschland etwas häufiger vor als aus anderen Ländern. Ich halte dies für sachlich legitim. Darüber hinaus gibt es auch ein inhaltliches Argument dafür: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Deutschland der Welt vor allem im Schlechten seinen Stempel eingebrannt. In der zweiten, friedlicheren Hälfte war die Bundesrepublik(1) die drittgrößte Industrienation der Welt. Nach der Wiedervereinigung war Deutschland ein führender Staat in Europa(1), aber auch darüber hinaus, und in erstaunlichem Maße weltweit geachtet.

Dem 20. Jahrhundert wurden nicht nur verschiedene Etikettierungen wie »Katastrophenjahrhundert« verliehen, die umstritten sind. Wie man das Jahrhundert treffend zeitlich vermessen soll, ist ebenfalls noch nicht geklärt. Einige Historiker haben von einem kurzen Jahrhundert der Gewalt gesprochen, das die Zeit vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 (oder der Russischen Revolution 1917) bis zum Untergang des sowjetischen(1) Imperiums 1989 und der Sowjetunion 1991 umfasst. Andere suchten Erklärungen in einem »langen« Jahrhundert, das von etwa 1880 bis an die Gegenwart heran reicht und als Hochmoderne beschrieben wird. Wiederum andere modellieren ein »langes« 19. Jahrhundert, das weit in das 20. hineinragt.7 Häufig gerät so die kalendarische Chronologie aus den Fugen. Ich werde mich im Wesentlichen an das kalendarische 20. Jahrhundert halten. Natürlich ist der Kalender eine menschliche Konstruktion und nicht einmal ein Jahrtausendwechsel vermag Anspruch auf übergeordnete Bedeutung zu erheben. Die Zeit fließt dahin, und der 1. Januar hat die gleiche Substanz wie der 31. Dezember. Weder folgen Mentalitäten, noch wirtschaftliche oder politische Entwicklungen einer Jahrhundertschwelle, sodass es ein simples Davor und Danach gäbe. Alles ist einem jeweils zeitlichen und zeitversetzten Wandel unterworfen. Doch es bringt auch nichts, jedenfalls nicht für diese Darstellung, das 20. Jahrhundert für jeden einzelnen Bereich nach hinten oder nach vorne auszudehnen. Denn alles hat eine Vorgeschichte, die wiederum eine Vorgeschichte hat, die wiederum … Das Gleiche gilt für den Ausgang des Jahrhunderts. Geschichte hat kein Ziel und bleibt stets offen. Wie häufig ist nach 1945 das »Ende der Nachkriegszeit« ausgerufen worden? Wie oft schon sind allein in den ersten 17 Jahren des neuen Jahrtausends »entscheidende« Zäsuren für ein »definitives« Ende des 20. Jahrhunderts genannt worden? Fast jährlich kamen neue hinzu, von 9/11 im Jahr 2001 bis hin zur aktuellen Flüchtlingskrise in Europa und zum Brexit oder der amerikanischen Präsidentschaftswahl 2016.

Sämtliche 16 Kapitel dieses Buches werden mit einer Auswahl an zeitgenössischen Zitaten eröffnet. Sie sind jeweils in einer chronologischen Abfolge vom Beginn bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts angeordnet und umkreisen so das Zeitalter thematisch. Es sind Prismen, durch die wir auf Schlüsselereignisse und Themen blicken, welche dann in der Darstellung beleuchtet werden.

Das Buch erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts in vier Teilen. Der erste Teil »Die Väter und Mütter aller Dinge« nimmt das berühmte Zitat des vorsokratischen Philosophen Heraklit auf, wonach der Krieg der Vater aller Dinge und der König aller sei, und untersucht den Komplex von Macht und Herrschaft. Zentrale Signaturen des 20. Jahrhunderts kommen zur Sprache: Krieg und Frieden, Demokratie und Diktatur, die Entstehung der »Dritten Welt« und die Bewegung der Blockfreien sowie das Wechselspiel von starken Staaten und zerfallenden Staaten. Der zweite Teil »In den Dramen des Lebens« handelt von großen Tragödien shakespeareschen Ausmaßes. Der größte Dramatiker aller Zeiten entdeckte in seinen Figuren und Ereignissen die Seele des modernen Menschen8: »Hamlet« ist bis heute die Symbolfigur des moralischen Protestes eines jungen Menschen gegen die Erwachsenenwelt; Richard III.(1) verkörpert einen Verbrechertypus, der im 20. Jahrhundert mühelos wiederzuerkennen ist; »Othello« ist auch ein Lehrstück über Rassismus und Fremdenhass. In diesem Kapitel geht es also um gesellschaftliche Entwicklungen, um klägliches Scheitern und stattliche Erfolge. Diskutiert werden die Beherrschung der Natur und die Umweltzerstörung sowie unter der Überschrift »Impfung und Aids(1)« medizinische Fortschritte, die den Sieg über heimtückische Krankheiten brachten. Anschließend gilt das Augenmerk dem größten Verderben des Jahrhunderts, den Vertreibungen und den Genoziden, die das Jahrhundert in die absolute Dunkelheit führten. Der dritte Teil »Vom Wahren, Schönen, Guten« zitiert Platon, den wegweisenden Denker der Geistesgeschichte und auch der Kunsttheorie. Es handelt im weitesten Sinne von der Kultur, ihren Freiheiten und auferlegten Reglementierungen. Eine künstlerische Avantgarde trieb die Kunst voran, wirkte oft subversiv und war deshalb beständig von Repressionen bedroht. Vergleichbares lässt sich auch über den Abschnitt »Liebesglück und Geschlechterungleichheit« sagen, wo einerseits die Frauenemanzipation und andererseits fortbestehende Unterdrückung behandelt werden. Ein weiterer Aspekt gilt dem Wissen und der Kehrseite, dem Analphabetismus. Dieses Gegensatzpaar durchzog das gesamte Jahrhundert. Und die »Rückkehr der Religionen«, wie ein daran anschließendes Kapitel überschrieben ist, widerlegte den Glauben an eine fortschreitende Säkularisierung, die angeblich zur modernen Welt dazugehörte. Der vierte Teil »Die Ökonomie als Schicksal« bezieht sich auf einen Ausspruch von Walther Rathenau(1), der in einer seiner Reden vor Industriellen im Jahr 1921 fiel, wonach die Wirtschaft »unser Schicksal« sei.9 In diesem Teil werden das erstaunliche Wirtschaftswachstum auf der einen Seite und die fortschreitende Verelendung auf der anderen Seite dargestellt. Damit zusammen hing die skandalöse Entwicklung, dass man es trotz einer bis dahin unvorstellbaren Wohlstandssteigerung in den Industrieländern nicht fertig brachte, den Hunger in der Welt zu besiegen. »Holzpflug und Mikrochip« wiederum erzählt von den technologischen Entwicklungen, die an vielen Regionen der Welt vollkommen vorbei gingen. Das explosive Wachstum der Weltbevölkerung war der Basisprozess von allem. Doch es gab ein Spannungsverhältnis von Überbevölkerung in einigen Teilen der Welt und Bevölkerungsrückgang in anderen. Aus dem außerordentlichen Wachstum der Menschheit im 20. Jahrhundert von anfangs nur wenig mehr als eine Milliarde Menschen hin zu sieben Milliarden am Ende ergaben sich zwangsläufig erhebliche Probleme.

Millionen Menschenleben hat das zurückliegende Jahrhundert zerstört. Auch das von Stefan Zweig(1), der um 1930 der weltweit meist übersetzte lebende Schriftsteller war. Dann geriet der Kosmopolit zwischen die Mühlsteine der Diktaturen, wurde vom Nationalsozialismus verfemt und verließ Europa(2). Im brasilianischen Exil nahm er sich 1942 das Leben. Zuvor schrieb er seine hellsichtigen Erinnerungen »Die Welt von Gestern«. In tiefster Verzweiflung formulierte er darin einen hoffnungsvollen Schlusssatz. Die erste Hälfte dieses Satzes kann als Motto meiner Darstellung zum 20. Jahrhundert gelten: »Aber jeder Schatten ist im letzten doch auch Kind des Lichts, und nur wer Helles und Dunkles, Krieg und Frieden, Aufstieg und Niedergang erfahren, nur der hat wahrhaft gelebt.«10

Teil 1:

Die Väter und Mütter aller Dinge

1.

Krieg und Frieden

Infernalische Zeiten, versöhnliche Zeiten

Abgeordnete, Männer des Deutschen Reichstags! Seit Monaten leiden wir alle unter der Qual eines Problems, das uns einst das Versailler Diktat beschert hat und das nunmehr in seiner Ausartung und Entartung unerträglich geworden war. (…) Polen(1) hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!

Adolf Hitler(2) vor dem Deutschen Reichstag, Berlin(1) 1. September 19391

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Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit.

Stefan Zweig(2), Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, 19422

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Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können?

Joseph Goebbels(1), »Sportpalastrede«, Berlin(2) 18. Februar 19433

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Die Vereinten Nationen(2) setzen sich folgende Ziele: 1. Den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen.

Auszug aus der Charta der Vereinten Nationen(3), Kapitel 1, Artikel 1, 26. Juni 19454

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Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welt.

Robert Oppenheimer(1), nach dem ersten erfolgreichen Atombombentest der USA am 16. Juli 19455

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Wenn die Vernichtung des Lebens Aller auf dem Spiel steht, ist jeder künftige Krieg sinnwidrig geworden, so lange er ein Ziel in dieser Welt haben soll.

Karl Jaspers(1), Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, 19626

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Sozialismus oder der Tod

Fidel Castro(1), 1961 und immer wieder7

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Langsam, aber, wie ich meine, sicher entwickelt sich eine internationale Norm gegen die gewaltsame Repression von Minderheiten, die Vorrang über die ›Sorgen‹ der Souveränität nehmen wird und muss. (…) Es ist wahrhaft tragisch, dass die Diplomatie versagt hat, aber es gibt Zeiten, wo die Anwendung von Gewalt zur Erreichung des Friedens gerechtfertigt sein kann.

UN-Generalsekretär Kofi Annan(1), 9. April 1999, anlässlich des 50. Jahrestages der Erklärung der Menschenrechte8

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Guten Abend, heute sind unsere Bürger, unsere Lebensweise, ja, unsere Freiheit mit einer Serie von mutwilligen und tödlichen Terroranschlägen attackiert worden. Es gab Opfer in Flugzeugen und in Büros: Sekretärinnen und Geschäftsleute, Mitarbeiter des Militärs und der Bundesbehörden, Mütter und Väter, Freunde und Nachbarn. Tausende Menschenleben wurden plötzlich ausgelöscht von bösen niederträchtigen Terrorakten.

Die Bilder von Flugzeugen, die in Gebäude fliegen, von lodernden Flammen, von riesigen Gebäudestrukturen, die kollabieren, haben uns mit Fassungslosigkeit erfüllt, mit schrecklicher Trauer und mit einem stillen, unnachgiebigen Groll. Dieser Massenmord sollte dazu dienen, unsere Nation einzuschüchtern und in Chaos und Resignation zu treiben. Dies ist nicht gelungen. Unser Land ist stark. Ein großes Volk ist dazu angespornt worden, eine große Nation zu verteidigen. Terroristische Anschläge können zwar die Fundamente unserer größten Gebäude erschüttern, aber nicht das Fundament Amerikas(2). Sie können Eisen und Stahl zerbersten lassen, aber sie können der eisernen Entschlossenheit Amerikas nichts anhaben. Amerika wurde zum Angriffsziel, weil wir in der Welt die strahlendste Fackel der Freiheit und der Selbstverwirklichung sind. Und niemand wird den Glanz dieses Lichtes auslöschen. (…) Niemand von uns wird diesen Tag jemals vergessen, dennoch schreiten wir voran, um unsere Freiheit zu verteidigen und alles, was in unserer Welt gut und gerecht ist. Danke. Gute Nacht und Gott segne Amerika.

Fernsehansprache des US-Präsidenten George W. Bush(1), 11. September 20019

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Flug über das mörderische Jahrhundert

Die Geschichte der Gewalt prägte das 20. Jahrhundert zutiefst, und Eric Hobsbawm(1) bezeichnete es zu Recht als das »mörderischste Jahrhundert von allen«. Es war mehr als alle Jahrhunderte zuvor eine Zeit mit Kriegszügen von bis dahin nie gekannten Ausmaßen, sowohl in der Heftigkeit, der Häufigkeit, als auch in der Dauer.10 Das »tragische« und »katastrophische« Narrativ,11 zu dem dieses Jahrhundert mit all seinem unermesslichen Leid uns verurteilt, darf in keiner Weise bestritten werden. Es trifft allerdings vor allem für seine erste Hälfte zu, für die zweite Hälfte weit weniger. Der Erste Weltkrieg seit 1914 bildete den Auftakt eines Jahrhunderts, durch das sich eine breite Blutspur grausamer Kriege zog und das sich durch zügellose Gewalt ins Gedächtnis gebrannt hat. Gleichzeitig jedoch war das 20. Jahrhundert, besonders nach 1945, stärker als jemals zuvor von Bemühungen geprägt, mit neuen Instrumenten Frieden zu sichern oder Krieg einzuhegen. So oder so: Krieg und Frieden sind die Signa eines Zeitalters der Extreme, und beide durchliefen in dieser Epoche vielgestaltige Strukturwandlungen.

Bereits der Erste Weltkrieg, die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«,12 barg den Keim des neuen, des totalen Krieges in sich. Dazu gehörten Massenmobilisierung, eine totale Kriegsführung, überspannte Kriegsziele, der Einsatz neuer Waffen wie Maschinengewehre, Panzer, Flugzeuge, Giftgas und zudem Ideologien und Propaganda. Viele dieser Elemente wiesen schon auf den Zweiten Weltkrieg voraus. Das 20. Jahrhundert ohne die Weltkriege zu beschreiben, erscheint im Grunde unmöglich. Erster und Zweiter Weltkrieg bleiben für die Nachgeborenen die Grundkategorien dieses radikalen Säkulums. Die Zeiten davor wurden deshalb häufig zur Vorkriegs-, die Zeiten dazwischen zur Zwischenkriegszeit erklärt, was indessen deren Eigenständigkeit verleugnet und die Möglichkeiten oder gar Alternativen gering achtet. Darüber hinaus definierten die beiden Weltkriege auch die Zeit danach mit aller Konsequenz: Die beständige große Angst vor einem Weltkrieg Nummer drei war bezeichnend für die Epoche des Kalten Krieg(1)es. Doch nicht zuletzt die Vorstellungen eines »dritten Weltkrieges«, der angesichts von Atomwaffen zu einer Vernichtung der Menschheit geführt hätte, haben den Kalten Krieg zwischen den Supermächten davor bewahrt, »heiß« zu werden, obwohl man ein um andere Male in den Abgrund blickte und es zahlreiche Kriege unterhalb der Schwelle eines Atomkrieges gab.

Ging im Ersten Weltkrieg das alte Europa(3) zugrunde, so war der Zweite Weltkrieg nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbor(1) 1941 und dem Kriegseintritt der USA noch viel stärker ein weltumspannender, ein globaler Krieg. Die gesamte Welt stand in Waffen. Der Ausdruck »Weltkrieg« ist natürlich in beiden Fällen berechtigt, doch auch dazu angetan, regionale Differenzen in diesem Zeitraum zu verschleiern. Denn man muss sich zumindest eine Auffälligkeit klar machen: Im Ersten Weltkrieg war der Einfluss Asiens(2) marginal, Japan(1) war zu Beginn aktiv, China(1) am Schluss, aber es war kein asiatischer Konflikt. Im Zweiten Weltkrieg hingegen waren der Krieg und seine Folgen für den südostasiatischen Raum dramatisch, die europäische Vorherrschaft war dort danach definitiv zu Ende, und in China bewirkte der Sieg den Übergang zum Kommunismus. Zwar hatten sich die Alliierten auf die Devise »Germany first« geeinigt, Deutschland(2) sollte zuerst niedergerungen und der Nationalsozialismus besiegt werden, doch der pazifische Krieg gegen den ebenso verbissenen Gegner Japan spielt nicht nur in der amerikanischen(3) Erinnerung bis heute eine weit größere Rolle als der europäische.

Beendet wurde der Krieg im Fernen Osten durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima(1) am 6. August 1945 und Nagasaki(1), drei Tage später. Diese Bombardierungen waren die ersten und bislang einzigen Einsätze von Atomwaffen in einem Krieg. Sie läutete eine völlig neue Ära ein: das Atomzeitalter. »Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welt«. Dieser Vers aus der Bhagavad Gita, einer zentralen Schrift des Hinduismus, soll Robert Oppenheimer(2) entfahren sein, als er die enorme Zerstörungskraft der ersten Atombombe nach ihrer Zündung am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexiko(1) mit eigenen Augen verfolgt hatte. Oppenheimer war seit 1943 der technische Leiter des »Manhattan-Projekts«, mit dem während des Zweiten Weltkrieges die Entwicklung der amerikanischen(4) Atombombe vorangetrieben wurde.

In Europa(4), dem Kontinent, von dem aus das »Dritte Reich« nach der Weltmacht gegriffen hatte, im Osten einen rassischen Vernichtungskrieg führte und das Menschheitsverbrechen des Holocaust(1) verübte, endete der von Goebbels(2) ausgerufene »totale Krieg« 1945 mit einem totalen Sieg der Alliierten und einer »bedingungslosen Kapitulation« des »Dritten Reiches«. Die Deutschen waren vollständig besiegt, nur die wenigsten von ihnen befreit. Denn die meisten hatten sich mit dem NS-Regime eingelassen, viele waren direkt an Verbrechen beteiligt. Die immensen, bis dahin unvorstellbaren Gewalterfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die erschütternden menschlichen und materiellen Verluste, wirkten in der zweiten Hälfte pazifizierend. Zumindest insofern, als es darum ging, einen neuen großen Weltenbrand zu verhindern. Die beiden Weltkriege hatten die Mächtekonstellation auf der Welt grundlegend verändert: Die USA und die Sowjetunion(2), Letztere unter riesigen Menschenverlusten, stiegen zu Supermächten auf, während die europäischen Länder sich von Subjekten zu Objekten der Weltpolitik wandelten. Und in Ostasien schickte sich China(2) an, Großmacht zu werden. Der bis 1989 anhaltende »Kalte Krieg« durchzog im Westen wie im Osten sämtliche Lebensbereiche,13 führte zu einer sich immer schneller drehenden Rüstungsspirale und zu »Stellvertreterkriegen« der Supermächte in der »Dritten Welt«.

»Krieg«

Was genau ein Krieg ist, scheint schwieriger zu bestimmen, als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Das gilt jedenfalls für die Zeit nach 1945. Ganz allgemein gesprochen ist Krieg ein kollektives Gewalthandeln. Alle nötigen Differenzierungen bleiben problematisch, da Krieg historischen Veränderungen unterliegt. Das gilt für die gesamte Menschheitsgeschichte. Wie will man Krieg beispielsweise exakt abgrenzen von Unruhen, Massakern oder Terrorakten? Eine relativ gute qualitative Beschreibung lautet, dass Krieg ein gewaltsamer Massenkonflikt ist, der folgende drei Merkmale aufweist: Erstens sind an den Kämpfen zwei oder mehrere Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf der einen Seite um reguläre Streitkräfte einer Regierung handelt. Zweitens muss bei allen Beteiligten ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der Truppen und des Kampfes gegeben sein, was auch eine politische Verantwortlichkeit für den Gewalteinsatz einschließt. Drittens müssen sich die bewaffneten Operationen mit einer gewissen Kontinuität und nicht nur als gelegentliche Zusammenstöße ereignen.14 Nimmt man diese Definition auf, dann war Nordamerika(1) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts völlig kriegsfrei. An den Rändern Europas(5) fanden zwölf Kriege statt, in Lateinamerika(1) 29, gefolgt vom Vorderen und Mittleren Orient(1) mit 41 Kriegen, Afrika(2) mit 58 und Asien(3) mit 54 Kriegen.

Die Frage, warum seit etwa 130 Jahren die Zahl der bilateralen Konflikte beständig zugenommen haben, ist ebenfalls nicht leicht zu klären. Sie wird häufig damit beantwortet, dass die Anzahl souveräner Staaten in diesem Zeitraum enorm gewachsen ist. Staaten führen offenbar beständig miteinander Krieg.15 Und gleichzeitig sieht man am Ende des 20. Jahrhunderts, nach dem Auslaufen des Ost-West-Konflikts, eine weitere gravierende Veränderung. Die Ära des klassischen zwischenstaatlichen Krieges fand ihr Ende; stattdessen traten seit den 1990er Jahren »neue Kriege« auf16 und zwar innerhalb von Gesellschaften in zerfallenden Staaten wie etwa Jugoslawien(1), Somalia(1) oder Ruanda(1). Wir werden darauf zurückkommen.

Zeitalter der Weltkriege

Am Anfang stand der Weltenbrand. Der Erste Weltkrieg war entscheidender Faktor bei der Erzeugung der »modernen« politischen Gewalt. Dies zum einen, weil Intensität und Ausmaß des Krieges enorm waren, dann aber auch weil er eine neue Legitimierung erfuhr. Ein großer Teil der Bevölkerung eines jeden Landes empfand den Krieg aus unterschiedlichen Gründen heraus als »gerecht« – oft war dies eine Folge staatlicher Propaganda. Man hat sich angewöhnt, von der »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts zu sprechen, was ein imposanter Begriff ist. Aber wenn man genauer hinschaut, kommen einige Zweifel auf. Erst die Pariser Vorortverträge nach dem Krieg in den Jahren zwischen 1919 und 1923 haben die Landkarte Europas(6) und des Nahen Ostens(1) verändert – und auch nur dort. Epochale Einschnitte sind hingegen meist schon vor dem Ersten Weltkrieg erfolgt: die Revolutionen gegen absolute Monarchien in Russland(1) 1905, im Iran(1) 1906, im Osmanischen Reich 1908, in Mexiko(2) 1910, in China(3) 1911. Vieles hat der Erste Weltkrieg allerdings gänzlich unberührt gelassen – etwa die europäische Kolonialherrschaft oder die innere Entwicklung der USA oder Südamerikas(1) oder Japans(2). Und blicken wir nach Afrika(3), dem »vergessenen Kontinent«, so müsste man sagen: Es herrschte eine kontinuierliche Kolonialzeit zwischen 1880 und 1965, als die Dekolonisation ihren Höhepunkt erreichte.

Dennoch halten die meisten Historiker am Begriff »Urkatastrophe« fest. Das Schlüsseljahr bildet 1917. Auf der einen Seite stand die Oktoberrevolution in Russland(2), auf der anderen Seite der Kriegseintritt der USA. Damit war die Zweiteilung der Welt, wie sie bis zum Fall der Berliner Mauer(1) 1989 und zum Untergang der Sowjetunion(3) 1991 bestand, vorgezeichnet: hier Sowjetkommunismus, dort Liberalkapitalismus. Der Erste Weltkrieg als »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts bedeutete Gravierendes, denn er zerstörte die alte Ordnung und die weltpolitische Vormachtstellung Europas(7); er ließ zwei neue Großmächte mit antagonistischen Gesellschaftssystemen entstehen, die die Welt bis 1991 prägten, die USA und die UDSSR; er löste ideologische Spaltungen und einschneidende territoriale Veränderungen aus, die bis 1989 die Landkarte bestimmten. Der Weltkrieg war eine Ansteckungszeit für einen aggressiven Nationalismus und für einen radikalen Antisemitismus. Der italienische Faschismus und der deutsche(3) Nationalsozialismus wären ohne ihn nicht denkbar. Der Weltkrieg beschleunigte den Niedergang des Bürgertums als führender gesellschaftlicher Schicht in Europa. Er hatte 40 Staaten involviert, mindestens 65 Millionen Soldaten mobilisiert und kostete etwa 17 Millionen Menschen das Leben.

Eine Epochenwende bedeutete der Erste Weltkrieg auch deshalb, weil er der erste Krieg war, in dem mit Mitteln der modernen Technik Menschen massenhaft und anonym vernichtet wurden – durch Flammenwerfer, Gas, durch Torpedos von Unterseebooten, durch Bomben. Er war der erste, in jeder Hinsicht totale Krieg, wenngleich vor ihm der Amerikanische Bürgerkrieg 1861–1865 diesen Keim bereits in sich trug. Wie in allen Konflikten, so gab es auch im Ersten Weltkrieg nicht nur ein »Kriegserlebnis«, sondern viele Kriegserlebnisse. Die Soldaten hatten den Krieg anders erfahren als die Zivilisten, die Front anders als die Etappe, Akademiker anders als »einfache« Menschen, Männer anders als Frauen(1) usw. Völker, die dem Ersten Weltkrieg die ersehnte nationale Unabhängigkeit verdankten, die Polen(2) etwa, die Finnen, die Tschechen oder die Neuseeländer, blicken auf diesen Krieg mit anderen Gefühlen zurück als Deutsche, Franzosen oder Briten, für die der Krieg Niederlage, Zerstörung oder unvollkommener Sieg bedeutete. Für alle beteiligten Nationen war jedoch zumindest im Nachhinein eine Erfahrung besonders erschreckend: wie rasch die gewohnten Normen des bürgerlichen zivilisierten Lebens ihre Gültigkeit verloren hatten.

Man könnte sagen: Der Erste Weltkrieg war der große »Weichensteller«, zumindest für die deutsche(4) und europäische Geschichte. Während viele andere Nationen vom »Great War«, vom »Großen Krieg« sprechen, wurde in Deutschland der Erste Weltkrieg nur als »Vorgeschichte« zu etwas noch Negativerem, und Böserem gesehen, nämlich zum Nationalsozialismus, rassistischen Vernichtungskrieg und Holocaust(2). Auch gibt es eine Kehrseite der »Urkatastrophe«, die ebenfalls beachtet werden muss. Als zukunftsweisendes Moment trat eine Forcierung der Moderne ein. In der Folge des Krieges kam es zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel und zu Revolutionen, insgesamt zu einer beschleunigten Demokratisierung(1). Dafür stand zum Beispiel das Frauenwahlrecht. Ganz allgemein kamen Selbstbestimmungsrechte dazu, und der internationale Völkerbund(2), der so schlecht nicht war wie sein Ruf heute ist, wurde aus der Taufe gehoben.

Einmal mehr zeigt sich also, wie ambivalent die Geschichte ist. So könnte man auch fragen, ob der Erste Weltkrieg überhaupt zum 20. Jahrhundert gehört – oder ob er eine »Kulminationskatastrophe« des 19. Jahrhunderts darstellt.17 Damit wäre das »lange 19. Jahrhundert« modelliert, das von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg reichte. Dies gilt allerdings wiederum nur für das alte Europa(8) und nicht für die ganze Welt. In Ostasien beispielsweise war die Zeit des Ersten Weltkrieges Teil einer Aufstiegsgeschichte. Weil sich die Europäer zurückzogen, konnte sich China(4) emanzipieren. Vor diesem komplexen Hintergrund könnte man, alles in allem genommen, formulieren: Es entstanden überall auf der Welt Ordnungskonkurrenzen in noch offenen Situationen.18 Und diese offenen Situationen schlossen sich mit den Jahren irgendwann, aber auf sehr unterschiedliche Weise. In Italien(1) war dies 1922 mit dem Sieg des Faschismus der Fall, in Deutschland(5) 1933 mit der Machtübernahme der Nazis, in China jedoch erst 1948 mit dem Sieg Maos im Bürgerkrieg.

Umstritten ist auch, den Zweiten Weltkrieg unbedingt und exakt 1939 beginnen zu lassen, jedenfalls dann, wenn man die europäische Perspektive verlässt. In globaler Sicht fällt eine verdichtete Gewaltdynamik bereits ab den frühen 1930er Jahren auf. Die japanische Besetzung der reichen chinesischen Provinz Mandschurei(1) im Jahr 1931 könnte als Signaldatum für eine sukzessive Gewaltsteigerung angesehen werden. Hier wurde deutlich, wie sich internationale und regionale Konfliktherde zu einem Globalkrieg verknüpften. Zu diesen regionalen Konflikten, die sich schließlich verbanden, zählte auch der italienische Krieg gegen Äthiopien(1) 1935 – ein erster rassischer Vernichtungskrieg. Mussolinis(1) Italien(2) zielte darauf ab, ein mittelmeerisch-afrikanisches »Imperio Romano« aufzubauen. Und der Spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 spiegelte die ideologische Polarisierung Europas(9) und wies auf den Zweiten Weltkrieg voraus. Die massive Bombardierung von Städten gehörte ebenso dazu wie eine auf Hochtouren laufende Propagandamaschinerie in Rundfunk und Film. Dass der Putschist General Franco(1) siegreich aus dem Bürgerkrieg hervorging, war der internationalen Situation geschuldet. Das »Dritte Reich« und das faschistische Italien standen unverbrüchlich an seiner Seite. Die iberische Halbinsel war für Hitler(3) und Mussolini ein Probefeld neuer Waffentechniken, im deutschen(6) Fall besonders der Luftwaffe. Im Morgengrauen des 26. April 1937 machte die deutsche Legion Condor(1) die heilige Stadt der Basken, Guernica(1), dem Erdboden gleich. Während sich die westlichen Mächte weitgehend aus dem Krieg heraushielten, unterstützte die stalinistische Sowjetunion(4) die Verteidiger der Republik. Doch moskautreue Kommunisten versuchten in Konkurrenz zu den Anarchisten und weiteren linken Gruppierungen in Spanien(1) ihr eigenes Süppchen zu kochen, und so befehdeten die »Roten« sich bald untereinander. Diese innere dritte Front schwächte die Republikaner erheblich. Auch die bunte Mischung von Antifaschisten aus aller Welt, die sich in den Internationalen Brigaden sammelten, konnte dies nicht mehr wettmachen.

Das besonders aggressive und vom Willen zum Krieg getragene »Dritte Reich« legte zwischen 1933 und 1939 die Grundlagen dafür, durch Eroberungen ein kontinentales »Großdeutsches Reich« in Mittel- und Osteuropa(1) zu errichten und dann nach der Weltmacht zu greifen. Nationalsozialismus und Krieg gehörten untrennbar zusammen. Judentum und Bolschewismus wurden zum nahezu identischen Gegner erklärt, und die Führung der Wehrmacht folgte dieser Radikalität und Ungeheuerlichkeit, die sich um kein Kriegs- oder Völkerrecht scherte, bereitwillig und nur gelegentlich zweifelnd. Dieses Verhalten stellte den »absoluten Tiefpunkt der deutschen(7) Militärgeschichte« dar.19 Im September 1940 trat Japan(3) der Achse Berlin(3)-Rom(1) bei. Es bekämpfte jedoch nicht die Sowjetunion(5), wie die Deutschen es nach dem Überfall des Landes gewünscht hatten, sondern eroberte die südostasiatische, von Europäern kolonisierte Inselwelt. Als Reaktion auf US-amerikanische(5) Sanktionen erfolgte der Angriff auf Pearl Harbor(2), wodurch Kaiser Hirohito(1) den Pazifikkrieg gegen Amerika ausweitete. Der Traum von der japanischen Hegemonie zerbrach jedoch an zwei Mauern: der US-amerikanischen Militärstärke und dem anhaltenden Widerstand des chinesischen Volkes gegen die japanischen Unterdrücker.

Vor allem für die Deutschen ist der 8. Mai 1945 absolut zentral geworden. Doch nicht überall wurde und wird er als Tag des Sieges oder der Befreiung wahrgenommen. In Osteuropa(2) begann mit der »Befreiung« die Unterjochung durch die sowjetische(6) Vorherrschaft. Frankreich(1) feiert eher die Befreiung von Paris(1) im August 1944. So markiert der 8. Mai nur das offizielle Kriegsende und das auch nur für Europa(10), denn der Zweite Weltkrieg war im Mai 1945 nicht zu Ende. Japans(4) Sonne ging erst dreieinhalb Monate später unter mit der Unterzeichnung der Kapitulation am 2. September. Dies hat auch für die amerikanische(6) Erinnerungskultur Auswirkungen, in welcher der 8. Mai nur am Rande vorkommt. Wenn es um Europa geht, wird eher an den D-Day der Landung in der Normandie(1) im Juni 1944 erinnert. Man könnte den Reigen um die Welt fortsetzen und sehen, wie stark der Stellenwert des 8. Mai und die Erinnerung an ihn in internationaler Perspektive variieren.20

Der Zweite Weltkrieg teilte Deutschland(8) und Europa(11) bis 1989 entlang der Blockgrenzen in zwei erinnerungskulturell separierte Lager. Eine postkatastrophische Opfererzählung obwaltete im Westen mit dem Holocaust(3) im Zentrum. Dagegen prägte eine antifaschistische Heldenerzählung den Osten. Die Topoi der westdeutschen Erinnerung waren Stalingrad(1), das Grauen des Bombenkrieges, Flucht und Vertreibung sowie das Schicksal der Wehrmachtssoldaten in der Kriegsgefangenschaft. Blindstellen gab es allenthalben. Jahrzehntelang blieben die von der Wehrmacht gedeckten und zum Teil mit durchgeführten Massenmorde hinter der Ostfront sowie die Auslöschung der gesellschaftlichen Eliten in Polen(3) praktisch ausgeblendet, ebenso das Verbrechen an den über drei Millionen in deutscher Kriegsgefangenschaft umgekommenen sowjetischen(7) Soldaten oder der Holodomor(1), die Umsetzung des Plans, Millionen von Zivilisten in Weißrussland(1) und der Ukraine(1) verhungern zu lassen. In der DDR war es nicht anders: Nur wurden hier der mörderische Antisemitismus und die Shoa(1) ausgespart, auch die Kriegsverbrechen der Roten Armee fanden keine Erwähnung. Japan(5) benötigte bis 2015, um sich für Kriegsverbrechen an koreanischen Frauen(2) offiziell zu entschuldigen. Mehr als 200 000 »Trostfrauen« waren während des Krieges zur Prostitution gezwungen worden. Die menschlichen Verluste durch den Weltkrieg waren schier unermesslich, die Gesamtzahl lässt sich nur schätzen. Durch direkte Kriegseinwirkungen wurden bis zu 56 Millionen Menschen getötet. Bezieht man Verbrechen und Kriegsfolgen mit ein, erhöht sich die Zahl der Opfer auf etwa 80 Millionen. Die höchsten Verluste erlitten die Sowjetunion und China(5), dort verloren 27 bzw. fast 14 Millionen Menschen ihr Leben, dann folgten Polen und Deutschland mit mehr als sechs Millionen Opfern. Doch während in Deutschland etwa fünf Millionen Soldaten fielen, waren es in Polen »nur« 300 000. Über 5,7 Millionen polnische Zivilisten wurden ermordet.

Kalter Krieg(2) und heiße Kriege nach 1945

Der Kalte Krieg trieb die Siegermächte im Westen und im Osten auseinander und erreichte mit der Berlin(4)-Krise 1948 einen ersten Höhepunkt. Der Kalte Krieg war ein welthistorisch merkwürdiger Konflikt, weil die beiden Großmächte gar keine gemeinsamen Grenzen zueinander besaßen. Doch die »Dritte Welt«, die Ozeane, ja der Weltraum – zu denken ist etwa an den »Sputnik(1)-Schock« von 1957 – wurden zu Bereichen, in denen die USA und die Sowjetunion(8) miteinander konkurrierten. Die Strategie der zwei dominierenden kollektiven Bündnisse nach 1945 – der NATO und des Warschauer Pakts – unterschied sich in vielen Bereichen von politischen und militärischen Bündnissen der früheren Jahrzehnte und Jahrhunderte. So bildeten sie bereits in Friedenszeiten ein gemeinsames militärisches Oberkommando; außerdem gingen sie weit über reine militärische Absprachen hinaus, und ihr Kennzeichen war eine tiefergehende Interessenverbundenheit ökonomischer, ideologischer und gesellschaftspolitischer Natur. Ferner dienten sie der Absicherung des Hegemonialanspruchs der beiden Weltmächte; schließlich war es kaum möglich, den jeweiligen Block zu verlassen, zu schädlich wären die Auswirkungen auf das entsprechende Gesamtbündnis gewesen.

Die Frage nach den Ursprüngen des Kalten Krieg(3)es bot immer wieder Anlass zum Streit. Die traditionelle Auffassung des Westens, dass er durch das sowjetische(9) Expansionsstreben verschuldet sei, wurde seit den 1960er Jahren in den USA durch eine »revisionistische« Historiker- und Politologenriege grundsätzlich in Frage gestellt, die statt dessen die auslösende Rolle der amerikanischen(7) Politik betonte. Aber wann in der Geschichte lässt sich schon eindeutig urteilen? Beide Supermächte, und auch Europa(12), hatten ihren Anteil am Scheitern einer kooperativen Nachkriegsordnung, es gab eine Fülle von Weichenstellungen. Der Kalte Krieg war kein unvermeidliches Schicksal – allen Gegensätzen zwischen liberaler Demokratie amerikanischer Prägung und sowjetkommunistischer Mobilisierungsdiktatur zum Trotz. Er war aber andererseits sicherlich auch kein bloßes Missverständnis. Angesichts der Repressionen im Ostblock(1) und der amerikanischen »Eindämmungspolitik« liegt diese Interpretation weit entfernt von der Wirklichkeit. Doch dass der Kalte Krieg auch aus Fehlperzeptionen erwuchs, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Sowjetunion steigerte sich in eine Furcht vor dem »amerikanischen Imperialismus« hinein, und die USA in die Furcht vor der revolutionären Dynamik des Sowjetkommunismus. Bei näherem Hinsehen waren viele Vorstellungen übertrieben, und immer wieder machten sich in beiden Lagern Stimmen bemerkbar, die daran zweifelten, ob die Gegenseite wirklich so aggressiv und so mächtig war, wie die furchtsamen Dogmatiker behaupteten. Es kam zu einer Eskalation der Ängste, und diese wiederum löste neue Präventivmaßnahmen aus. Aus der »Strategie der Abschreckung«, dem »Gleichgewicht des Schreckens« und der »atomaren Overkill-Kapazität« wurde seit den 1950er Jahren, besonders nach dem Koreakrieg, regelrecht eine Wissenschaft gemacht.

Dass der Kalte Krieg immer »kalt« blieb, stimmt natürlich nicht. Der Krieg in Korea(2) zwischen 1950 und 1953 war ja ein Schlachtfeld der Supermächte, die direkt involviert waren. Nur um ein Haar erfolgte kein amerikanischer(8) Atombombeneinsatz, den der amerikanische General MacArthur wünschte, den US-Präsident Eisenhower ihm jedoch verweigerte. Am Rande des Abgrunds stand die Welt in den Wochen der Kuba(1)-Krise im Herbst 1962. Damals galt noch das militärische Paradigma der »massiven Vergeltung«, falls es zu einem Atomschlag der Gegenseite kommen sollte. Dies hätte die Erde verwüstet. Erst nach der Krise trat ein neues Abschreckungsparadigma an die Stelle des alten: das der »flexiblen Antwort«. Die Kuba-Krise schien nur Hasardeure zu kennen, das machte sie so gefährlich. Die über Europa(13) hinausgreifende Sowjetunion(10) verlegte Raketen mit atomaren Sprengköpfen auf die Karibikinsel – die USA in unmittelbarer Reichweite. Natürlich konnte die geschockte Kennedy(1)-Administration dies nicht tatenlos hinnehmen, wenngleich zu beachten ist, dass die Sowjetunion eine solche Bedrohung vor der eigenen Haustüre ihrerseits schon seit Jahren kannte – nämlich in Form der in der Türkei(1) stationierten NATO-Raketen. Was die Kuba-Krise so brenzlig machte, war die Desperado-Politik von Fidel Castro(2) und seinen Getreuen, die gewillt waren, gegen den Teufel USA »heroisch« in den Tod zu gehen. »Sozialismus oder der Tod« lautete ihre tatsächlich ernstgemeinte Parole. Selbst den ausgekochten Generalsekretär der UDSSR, Nikita Chruschtschow(1), erschreckte dieser nukleare Bellizismus zutiefst, und seinem klugen Nachgeben war es letztlich zu verdanken, dass die Krise nicht eskalierte.

Konnte die Kuba(2)-Krise von 1962 noch in letzter Stunde entschärft werden, indem die Amerikaner und die Russen einen »Deal« bezüglich Kubas und der Türkei(2) aushandelten, so erwies sich der kurze Zeit später aufflammende Vietnamkrieg als besonders fatal.21 Er war die längste militärische Auseinandersetzung im 20. Jahrhundert und hat über drei Millionen Opfer gefordert, die meisten davon vietnamesische Zivilisten. Er hat eine ganze Region auf Jahrzehnte hinaus verwüstet und die Ökologie aufs Schwerste geschädigt. Er hat der Supermacht USA die erste Niederlage ihrer Geschichte beigebracht, die Nation gespalten und traumatisiert – und das Ganze infolge eines überdimensionierten Eindämmungsdenkens, das jeden kommunistischen Erfolg als Etappensieg nach dem Dominoprinzip betrachtete. Man glaubte, wenn ein Stein fallen würde, so täten dies in einer Kettenreaktion auch alle anderen. Der Vietnamkrieg befeuerte die Proteste in den USA und heizte die 68er-Rebellion in der westlichen Welt an. Er ließ die Friedensbewegung wachsen, führte zu Antiamerikanismus und stieß das amerikanische(9) Selbstverständnis, das bisher von Sieg zu Sieg geeilt war, in eine tiefe Krise. Die meisten amerikanischen Soldaten, die in Vietnam(1) kämpften, waren noch nicht einmal im wahlfähigen Alter. Das Durchschnittsalter der amerikanischen Bodentruppen in Vietnam lag bei 19 Jahren, im Zweiten Weltkrieg hatte es noch 26 Jahre betragen. Die Niederlage im Vietnamkrieg brach der amerikanischen Supermacht beinahe das Rückgrat. Und als würde sich Geschichte wiederholen, war es ein Jahrzehnt später mit Blick auf die sowjetische(11) Supermacht nicht anders. Was Vietnam für die USA bedeutete, das wurde Afghanistan(1) für die Sowjetunion, nachdem die Rote Armee im Dezember 1979 dort einmarschiert war. Dieser Krieg, der ebenfalls nicht zu gewinnen war, demütigte und demoralisierte die bis dahin kraftstrotzende Militärmacht und trug erheblich dazu bei, dass sich der Niedergang der UDSSR beschleunigte.22

Mit Blick auf den Vietnamkrieg sollte indes nicht vergessen werden, dass selten in der bisherigen Geschichte eine Friedensbewegung einen so deutlichen Beitrag zur Beendigung eines Krieges geleistet hat wie in diesem Fall. Insofern war der Kommentar von Edwin O. Reischauer(1), dem ehemaligen US-Botschafter in Japan(6), treffend. Als nämlich 1973 der amerikanische(10) Außenminister Henry Kissinger(1) gemeinsam mit dem nordvietnamesischen kommunistischen Politiker Luê Đức Thọ(1) den Friedensnobelpreis erhielt, bemerkte er: »Entweder haben die Menschen in Norwegen(1) nur wenig Ahnung was da passiert ist, oder sie haben Sinn für Humor.«23 Lê Đức Thọ lehnte im Übrigen den Preis mit der Begründung ab, dass die Amerikaner den vereinbarten Waffenstillstand durch das Weihnachtsbombardement gebrochen hätten. Kissinger gab seine Medaille 1975 wieder zurück. Vielleicht hätte der Preis der Anti-Kriegsbewegung gebührt. Die neue Friedensbewegung unterschied sich von älteren pazifistischen Bestrebungen durch die gesellschaftliche Breite, in die das Friedensziel eingebettet war. Sie verknüpfte sich mit neuen sozialen Bewegungen, etwa der ökologischen oder der Frauenbewegung. Einen ihrer Höhepunkte in Europa(14) erreichte sie am Anfang der 1980er Jahre anlässlich der sowjetischen(12) atomaren Aufrüstung und der NATO-Nachrüstung. Auch von daher greift es zu kurz, das Ende des Kalten Krieg(4)es mit dem Fall der Berliner Mauer(2) 1989 allein der westlichen Politik der Stärke zuzuschreiben. Als mitentscheidend für seine Überwindung erwiesen sich friedenspolitische Ansätze, die Entspannungspolitik und der KSZE-Prozess (»Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa«). Die Schlussakte von Helsinki(1), die am 1. August 1975 unterzeichnet worden war, bestärkte die Friedensbewegung im Westen, aber auch friedenspolitische Gruppen im Osten, die unter viel schwierigeren Bedingungen agieren mussten. Doch alles hatte mit dem Protest gegen den Vietnamkrieg begonnen.

Friedensdividende

Trotz aller Kriege und Konflikte gewann im 20. Jahrhundert, besonders nach 1945, Frieden eine nie dagewesene Qualität und Intensität. Das betraf Friedenskonzepte allgemein, die Friedensbewegung, die UNO und die Menschenrechte. Schon in den Friedensverträgen nach den beiden Weltkriegen machte sich ein gravierender Wandel bemerkbar. Die Frage, die sich stellte, war ja elementar: Konnte nach einem totalen Krieg ein versöhnlicher Frieden folgen? Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren »Oblivionsformeln« – also Vergessensformeln – und Amnestieklauseln ein fester Bestandteil von Friedensverträgen gewesen. Nur Vergeben und Vergessen der Kriegstaten, so der Gedanke und Glaube, konnte einen dauerhaften Frieden verbürgen, das Gewesene, so grauenhaft es auch war, sollte vergessen und ein Schlussstrich gezogen werden. Dieses »friedewirkende Vergessen«24 enthielt der Versailler Vertrag 1919 zum ersten Mal nicht mehr, was einen großen Bruch darstellte. Und nach dem Zweiten Weltkrieg kamen zwar Friedensverträge zustande zwischen den Alliieren und Italien(3), Bulgarien(1), Rumänien(1), Ungarn(1) und Finnland(1) in Paris(2) im Februar 1947, zwischen 48 Alliierten und Japan(7) in San Francisco(1) im August 1951 und zwischen den Alliierten und Österreich(1) durch den Staatsvertrag vom Mai 1955. Der Kriegszustand mit dem Hauptgegner Deutschland(9) ist indes allein durch gegenseitige Erklärungen beendet worden, da das geteilte Deutschland im völkerrechtlichen Sinne als Rechtssubjekt handlungsunfähig war. Erst der »Zwei-plus-Vier-Vertrag« auf dem Weg zur deutschen Wiedervereinigung 1990 kam einem Friedensvertrag gleich. Die Epoche der Weltkriege und die Teilung der Welt sind seit dem »Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland« vom 12. September jenes Jahres überwunden. Statt »Vergeben und Vergessen« sind nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg(1) und in Tokio(1) Kriegsverbrecher abgeurteilt worden, womit ein neues Kapitel in der Geschichte des Völkerrechts geschrieben wurde. Etwas anderes war angesichts der monströsen Verbrechen nicht denkbar. Erstmals in der Weltgeschichte wurden die Schuldigen eines Krieges und an Kriegsverbrechen Schuldige zur Verantwortung gezogen. Dahinter stand die Absicht, Angriffskriege und Kriegsverbrechen ein für alle Mal zu ächten.25

Dass dies zur Gänze nicht gelungen ist, stellte der Weltgemeinschaft kein gutes Zeugnis aus. Dennoch war nicht alles umsonst und vergebens.26 Dem Krieg mit seiner destruktiven Kraft wird gemeinhin Dynamik zugeschrieben; Frieden hingegen kennzeichnet offenbar ein statischer Zustand. Aber dieser Eindruck täuscht. Frieden ist im 20. Jahrhundert zu einem der schwierigsten dynamischen Zustände überhaupt geworden. Wenn man Krieg definieren kann als die Anwendung organisierter militärischer Gewalt in den Beziehungen zwischen zwei oder mehreren politischen Einheiten, so lässt sich Frieden zunächst als das Fehlen dieser Gewaltanwendung bezeichnen. Eine viel umfassendere Friedensstruktur beruht, wie unter anderem die Friedensforscher Dieter und Eva Senghaas(1) formulierten, auf vier Säulen: Rechtsstaatlichkeit (Schutz der Freiheit), Erwartungsverlässlichkeit (Schutz vor Gewalt), ökonomischer Ausgleich (Schutz vor Not) und Empathie (Schutz vor Chauvinismus). Damit ist der Prozesscharakter, die Dynamik von Frieden betont und somit Frieden als das Produkt gelungener Zivilisierung begriffen. Außerdem werden die verfassungspolitischen, institutionellen, materiellen und emotionalen Voraussetzungen von Frieden reflektiert. Schließlich lässt sich so der zwischenstaatliche mit dem inneren Frieden verklammern.27 Diese Verklammerung führte in den 1970er Jahren dazu, dass der Begriff »Frieden« neu formuliert wurde. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung(1) unterschied die Abwesenheit von direkter Gewalt, also Krieg, von struktureller Gewalt. Ungleiche Machtverhältnisse, ungerechte Ressourcenverteilung, Hunger und Verelendung – all dies gehörte für Galtung zur strukturellen Gewalt. Macht und Herrschaft bedurften also gar nicht der militärischen Gewalt, um ausgeübt zu werden. Um sich Vorteile zu sichern oder ungerechte Strukturen durchzusetzen, konnten sich Mächtige viel subtilerer Instrumente bedienen. War also alles »Gewalt«? Diese Entgrenzung des Gewaltbegriffes rief heftige ablehnende Reaktionen hervor. Was sich jedoch durchsetzen konnte, war die Unterscheidung zwischen einem »positiven« und einem »negativen« Frieden. Unter einem negativ bestimmten Frieden wird die Abwesenheit von Krieg verstanden. »Negativer Frieden« erscheint allerdings als unglücklich gewählter Begriff, suggeriert er doch zunächst, es handele sich um eine schlechte Sache. Unter einem positiven Frieden fasst man die höchst variabel interpretierbare Realisierung sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit, die Entfaltung menschlicher Fähigkeiten und die Möglichkeiten zu Selbstverwirklichung.

Internationale Organisationen

Wenn man vom Frieden spricht, kommt einem unweigerlich Immanuel Kants(1) Schrift »Zum Ewigen Frieden« (1795) in den Sinn. Das suggestive Büchlein des Königsberger Philosophen war nach der Art realer Friedensverträge gegliedert. Kant forderte, dass das Völkerrecht auf eine Föderation freier Staaten zu gründen sei. Wenngleich die Wege verschlungen waren, so lässt sich die Wirkung der Schrift nicht bestreiten. Die außerordentlich gestiegene internationale Verflechtung stellt eine wichtige Grundtendenz seit 1945 dar. Dabei ist zuerst an die UNO zu denken, deren Anfänge bis 1942 zurückreichen. Sie bildete ursprünglich den Versuch, das Kriegsbündnis der Gegner des »Dritten Reiches« in eine neue Weltordnung zu überführen und dabei auf den Prinzipien der kollektiven Sicherheit aufzubauen. »The League is dead. Long live the United Nations«. Mit diesen Worten beendete der britische Delegierte Robert Cecil(1) 1946 die letzte Sitzung des Völkerbundes(3).28 Bereits seit über einem halben Jahr hatten die Vereinten Nationen damals ihre Arbeit aufgenommen. Damit endete offiziell das Kapitel jener im Zuge der Pariser Friedenskonferenz 1919/1920 entstandenen ersten internationalen Organisation, deren Hauptzweck es gewesen war, den Frieden in der Welt zu sichern. Die Konstruktionsfehler und die Versäumnisse des gescheiterten Völkerbundes sollten nun vermieden bzw. getilgt werden. Für eine Friedenswahrung konnte die UNO fortan selbst den institutionellen Rahmen vorgeben, sie konnte eigene Initiativen entwickeln, Forum und Plattform sein und war nicht zuletzt deshalb in der Lage, einen moralischen Druck auf die beteiligten Streitparteien auszuüben. Sie konnte und kann als letzte Konsequenz UN-Friedenstruppen einsetzen. Dieses »Peace-keeping« durch den Einsatz von »Blauhelmen«, erstmals angewendet in der Suez-Krise 1956, ging auf einen der bedeutendsten Generalsekretäre der UNO zurück, auf den Schweden(1) Dag Hammarskjöld(1). Er amtierte von 1953 bis zu seinem Tod durch einen ungeklärten Flugzeugabsturz in der Grenzregion zwischen dem Kongo(1) und Nordrhodesien(1) 1961. Das Problem war jedoch, dass die UNO als eine Vertragsgemeinschaft von Staaten konzipiert worden war, nicht als ein Weltstaat; dieser Umstand setzte ihrem Wirken Grenzen, vor allem in der Zeit des Ost-West-Konflikts. Bis 1989 hatte die Sowjetunion(13) im Weltsicherheitsrat in 115 Fällen durch ihr Veto Beschlüsse verhindert, gefolgt von den USA (69), Großbritannien(1) (30), Frankreich(2) (18) und China(6) (3). Außerdem war die UNO chronisch unterfinanziert. Es ist einmal ausgerechnet worden, dass die UNO mit den weltweiten jährlichen Ausgaben für Rüstung 65 Jahre hätte finanziert werden können und dass allein der von Amerika(11) angeführte Militäreinsatz zur Befreiung Kuwaits(1) 1991 an einem einzigen Tag mehr Geld verschlang, als der UNO in einem Jahr zur Verfügung stand.

Bei der internationalen Verflechtung, die einen Grundzug der Geschichte nach 1945 markiert, darf man allerdings nicht nur an die UNO denken. Darüber hinaus müssen die über 200 staatlich getragenen internationalen Organisationen (IGOs) und die heute über 2300 nichtstaatlich getragenen internationalen Organisationen (NGOs) erwähnt werden. Sie sind eine ganz außerordentliche Neuerscheinung des 20. Jahrhunderts. Auch wenn ihre rechtliche und mehr noch politische Stellung oftmals umstritten blieb, so zeugen sie vor allem von einer Bürgerbeteiligung und einem zivilgesellschaftlichen Engagement im (globalen) politischen Prozess. »Human Rights Watch« oder »Ärzte ohne Grenzen(1)« sind zu globalen »Playern« geworden, die die Weltöffentlichkeit erreichen und die Entscheidungen von Regierungen massiv beeinflussen können. Weitere, für das 20. Jahrhundert typische Grundtendenzen traten hinzu. Doch einige von ihnen erleichterten das Handeln nicht, sondern erschwerten es. An erster Stelle ist der einfache Umstand zu nennen, dass seit 1945 die Zahl der souveränen Staaten stark anwuchs, vor allem als Folge der Dekolonisation in den 1960er Jahren. Neue Krisenherde entstanden aus sozioökonomischen Ungleichheiten und regionalen Ungleichgewichten großen Ausmaßes. Das wurde besonders im Nahen Osten deutlich. Zu keiner Weltregion gab es so viele UN-Resolutionen wie zum Nahen Osten, wo sich Araber, Palästinenser und Israelis in ständigem Konflikt befanden. Die Region galt seit den 1950er Jahren als die gefährlichste Spannungszone der Erde, und lange herrschte die Furcht, dass ein neuer Weltkrieg am ehesten über eine Nahostkrise ausbrechen könnte. Auch die Frage, was als ein echter Frieden und was »nur« als Waffenstillstand zu werten war, musste angesichts der dortigen Spannungsfelder immer wieder aufs Neue gestellt werden.

Obwohl der Nahostkonflikt etwas anderes suggeriert – der vorherrschende Kriegstyp in der Epoche nach 1945 war der innere Krieg. Nur eine relativ geringe Rolle spielte der klassische Krieg zwischen Staaten mit Grenzüberschreitungen, militärischen Frontlinien, Fahnen und dem gesamten Ensemble staatlicher Insignien, wenngleich er in besonderen Fällen, wie dem Golfkrieg von 1990/1991 zwischen den USA und ihren Verbündeten und dem Irak(1), in der Öffentlichkeit spektakulär betont wurde. Die »Dritte Welt« lag mehr und mehr mit sich selbst im Krieg. Das große zahlenmäßige Übergewicht innerer Kriege stellte eine grundlegende historische Umwälzung in der weltgesellschaftlichen Entwicklung dar, die mit den napoleonischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwar begonnen hatte, sich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg verdichtete.

Neue Kriege und humanitäre Interventionen

Wer nach dem Ende des Kalten Krieg(5)es 1989 von einem ewigen Frieden oder zumindest globaler Vernunft träumte, wachte rasch in der harten Realität auf. Gab es neue »gerechte« Kriege? Wie sollte eine Konfliktprävention aussehen, wenn man es mit völlig neuen Formen von Kriegen zu tun hatte? Während der Konflikte auf dem Balkan(1) in den 1990er Jahren ist ein solcher »neuer« Kriegstyp in Erscheinung getreten. Maßgeblich für ihn war, dass von allen Seiten eine »Politik der Identität« verfolgt wurde, die sich – nicht zuletzt als Reaktion auf den ständig wachsenden Globalisierungsdruck – aus kruden partikularistischen historischen Mythen speiste und bis zu ethnischen Säuberungen reichte. Vom Völkerrecht beachtete Unterscheidungen zwischen Militär und Zivilbevölkerung verschwanden in diesen Auseinandersetzungen zusehends. In den kriegerischen Konflikten kam es zu einer Art Rückkehr der Methoden des Mittelalters. Diese Entwicklung stand völlig quer zu allem, was im 20. Jahrhundert bis dahin in Erscheinung getreten war.

Die Terroranschläge auf das New York(1)er World Trade Center vom 11. September 2001 waren Ausdruck eines »neuen Krieges«. Nicht allein der amerikanische(12) Präsident, George W. Bush(2), war schockiert. Rund um die westliche Welt gingen ähnliche Stellungnahmen ein, wie sie der deutsche(10) Kanzler Gerhard Schröder(1) formulierte. Der 11. September werde als »schwarzer Tag für uns alle in die Geschichte eingehen«. Er habe dem amerikanischen Präsidenten die »uneingeschränkte Solidarität Deutschlands zugesichert. (…) Diese Art von terroristischer Gewalt, das wahllose Auslöschen unschuldiger Menschenleben stellt die Grundregeln unserer Zivilisation in Frage«.29 Die USA fassten die Attacke als Kriegserklärung auf und formierten eine »Koalition der Willigen« im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte erklärte die NATO den Bündnisfall. Aber er war ganz anders, als man es sich bis dahin vorgestellt hatte: Nicht die USA kamen zur Hilfe, sondern die USA brauchten Hilfe. Vielleicht endete mit diesem Datum tatsächlich das 20. Jahrhundert.

Diese neueste Form des Krieges erschien noch viel bedrohlicher als das bisher Dagewesene. Wenn der Feind der international organisierte Terrorismus war, dann stellte sich die Frage, wo er überhaupt seine Heimat hatte. Um wen handelte es sich konkret? Die Gestalt des Feindes blieb schemenhaft, und auch territorial war er nicht genau zu definieren. Der Staat in seiner Funktion als Monopolist des Krieges, wie er sich seit dem 16. und 17. Jahrhundert herausgebildet hatte, schien der Vergangenheit anzugehören. Schlachtfelder hatten keine klaren Fronten mehr, Hochhäuser und Dörfer wurden und werden zu Schauplätzen von Massakern. Eine Rebarbarisierung der Kampfweise war die Konsequenz. Der Terrorismus war am Ende des 20. Jahrhunderts auch eine »Kommunikationsstrategie«, die Gewalt als eine Nachricht zur Brechung des gegnerischen Willens einsetzte: Bei den Angegriffenen sollten Furcht und Schrecken verbreitet und die eigenen Reihen geschlossen werden. Aufgrund seiner Netzwerkstruktur entzog sich der Terrorismus zunächst einem unmittelbaren Gegenschlag. Aber ohne ihre sozialen Wurzeln konnten diese terroristischen Netzwerke nicht gedeihen. Vor allem jedoch: Die alte Kunst des Friedensschlusses – wie sie seit dem Westfälischen Frieden von 1648 nach fast jedem Krieg gelungen ist – und sonstige »einhegende« Regeln wirkten nicht mehr im Zeitalter des religiösen Fanatismus und des Terrorismus mit seiner offenen Lust an der Gewalt.

Hatte die »Welt von gestern«, wie sie Stefan Zweig(3) in seinen Erinnerungen beschrieb, noch (scheinbar) Sicherheit geboten, die gegenwärtige Welt am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert gewährt sie nicht mehr. Zweig blickte auf die Welt vor dem Ersten Weltkrieg und sprach von einem »goldenen Zeitalter«. Dieses Zeitalter ist unwiederbringlich vorbei. Und dennoch gehören die Kehrseiten ebenso zur Wahrheit: Nie gab es solch große internationale Bestrebungen, Sicherheit zu schaffen, wie am Ende des 20. Jahrhunderts. In Reaktion auf die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien(2) beschloss der UN-Sicherheitsrat im Februar 1993 die Einsetzung eines Internationalen Strafgerichts zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, und 1998 traf eine internationale diplomatische Konferenz in Rom(2) die Entscheidung, Grundlagen zur Errichtung eines Ständigen Internationalen Strafgerichts (ICC) zu schaffen – ein wichtiger Schritt hin zur endlich erfolgreichen Ächtung von Angriffskriegen. Seit dem 1. Juli 2002 ist das Statut des ICC wirksam. Diese Errichtung des ICC, der in Den Haag(1) sitzt, war ein Meilenstein auf dem Weg zur globalen Durchsetzung und Sicherung des Rechts. Der neue Gerichtshof stellte keine politische Institution dar. Er war weder von einem Staat noch von der UNO abhängig. Vielmehr stellte er ein unabhängiges Gericht dar, auf den die Vertragspartner einen Teil ihrer bisherigen nationalstaatlichen Souveränität übertrugen. Das Gericht sollte nur in den Fällen tätig werden, in denen ein an sich dazu berufener Nationalstaat schwerste Verbrechen nicht selbst verfolgen konnte oder wollte.

Die Suche nach Frieden hatte sich am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert trotz vieler gegenläufiger Tendenzen und Wahrnehmungen fortentwickelt. Eine Zäsur bildete das von Kofi Annan(2), Generalsekretär der Vereinten Nationen(9) von 1997 bis 2006, vorangetriebene UN-Prinzip der »Responsibility to Protect« – das Prinzip der Schutzverantwortung.30 Der Genozid in Ruanda(2) 1994, wo fast eine Million Menschen getötet wurden, und der Massenord von Srebrenica(1), einem kleinen Städtchen in den bosnischen Bergen, wo 1995 mehr als 8000 Menschen massakriert wurden, trieb die Debatte voran. Beim letzten Fall handelte es sich um den größten Massenmord in Europa(15) nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Genozide – die unter den Augen anwesender, aber zur Untätigkeit verurteilter UN-Blauhelmsoldaten stattfanden – führten nicht nur zur Einrichtung von Kriegsverbrechertribunalen, sondern auf grundsätzlicher Ebene dazu, dass der Schutz von Menschenrechten mehr Gewicht gegenüber der Souveränität der Staaten erlangte. Das Prinzip der Schutzverantwortung, welches Völkerrechtler ins Spiel brachten, bedeutete: Die Staaten hatten die Pflicht, ihre Bürger zu schützen. Versagte ein Staat dabei, wurde er gar selbst zum Massenmörder, durfte, ja musste die Weltgemeinschaft eingreifen. Bei einem UN-Gipfel 2005 bekannten sich fast alle Staaten zu dieser Idee. Der Schutz der Zivilbevölkerung und jedes einzelnen Menschen war fortan vorrangig anzusehen gegenüber dem staatlichen Souveränitätsanspruch, dem das 20. Jahrhundert so lange gehuldigt hatte. Dieses Recht auf eine »humanitäre Intervention« bedeutete einen wahrlich tiefen Einschnitt in der Geschichte von Krieg und Frieden. Und diese Entwicklung wiederum war untrennbar verbunden mit den Durchbrüchen zur Demokratie, von denen das nächste Kapitel handelt.

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