Weltbilder - Sira Busch - E-Book

Weltbilder E-Book

Sira Busch

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Beschreibung

Dieses Buch ist über Normen und Stereotype – genauer: wie bestimmte Vorstellungen in der Gesellschaft uns beeinflussen. Daher der Titel »Weltbilder«. In unseren Köpfen sind einige ziemlich feste Schablonen verankert. Manche davon helfen, viele davon schränken uns enorm in unserem Denken ein. Das kann man sowohl psychologisch, philosophisch als auch soziologisch betrachten. Und das passiert in diesem Buch. Es geht nicht nur darum, wie die Schablonen in unseren Köpfen anderen schaden, sondern auch darum, wie sie uns selbst schaden. Wie sie unserer freien Entfaltung im Wege stehen und wie sie uns darin stören, zu Erkenntnissen über uns und die Welt zu kommen. Das Ziel des Buches ist es, Analysetools und Hilfsmittel vorzustellen, die helfen können, uns selbst und unser Denken kritisch zu hinterfragen, aber auch mehr Empathie für andere Menschen zu erlangen. Denn je mehr Perspektiven wir kennenlernen, desto mehr sprengen die Schranken in unseren Köpfen auseinander und desto eher kommen wir zu einer gerechteren Gesellschaft. Ohne Sexismus, Rassismus, Klassismus, Transfeindlichkeit und Ableismus.

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Weltbilder

Wie Normen und Stereotype Gleichberechtigung verhindern

Sira Busch

Erste Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

Copyright 2022 by

Lektora GmbH

Schildern 17–19

33098 Paderborn

Tel.: 05251 6886809

Fax: 05251 6886815

Coverdesign: Yeliz Özmen, Lektora GmbH LayoutInhalt: Denise Bretz, Lektora GmbHLektorat: Yeliz Özmen, Denise Bretz, Lektora GmbH

ISBN: 978-3-95461-226-0

eISBN: 978-3-95461-234-5

Inhalt

Vorwort

1.Stereotype.

1.1 Was sind Stereotype und warum sind sie nicht immer schlecht?

1.2 Wie Stereotype uns beeinflussen.

1.3 Devines Artikel über Vorurteile und Stereotype.

1.4 Die „Police Dilemma“-Studien.

1.5 Die „Essence of Innocence“-Untersuchungen.

1.6 Die „Georgetown Study“.

1.7 Stereotype Bedrohungen im Kontext Frauen und Mathematik.

1.8 Die Effekte von Gender Priming auf Frauen im Kontext Mathematik.

1.9 Wie rassistische Einstellungen in der Familie weitergegeben werden.

1.10 Wie entstehen Stereotype?

1.11 Was tun gegen Stereotype?

2.Epistemische Ungerechtigkeit.

2.1 Erkenntnistheorie und Ethik.

2.2 Vergewaltigung als hermeneutische Lücke.

2.3 Rape Culture.

2.4 MeToo-Fälle.

2.5 Die Schließung hermeneutischer Lücken.

2.6 Schwangerschaftsabbrüche.

2.7 Frauenquote.

2.8 Betroffenen zuhören.

3.Normen.

3.1 Defaults.

3.2 Geschlechter.

3.3 Präsentierung von trans Personen.

3.4 Transidentität nachfühlen.

3.5 Geschlechtsidentität hinterfragen.

3.6 Genderneutrale Pronomen.

3.7 Androgynie.

3.8 Coming Out Culture.

3.9 Der Umgang mit Bi- und Pansexualität.

3.10 Polygame und polyamouröse Beziehungen.

3.11 Attraktivität und Präferenzen.

3.12 Freizügigkeit.

3.13 Erwartungen an Männer.

3.14 Neurodiversität.

3.15 Autismus und Empathie.

3.16 Autistisches Maskieren.

3.17 Autismus Akkommodationen für die Arbeit.

3.18 Wie die Gesundheit von autistischen Menschen in der Arbeitswelt missachtet wird.

3.19 Nerdigkeit.

3.20 Cringe Culture.

3.21 Behinderung.

3.22 Geld.

3.23 Sex Work.

4.Was nicht zu tun ist.

4.1 Fetischisierung.

4.2 Cool Girls.

4.3 Die Frau ist schuld.

4.4 Alphamänner.

4.5 Incels.

4.6 Terfs und Swerfs.

4.7 Super straight.

4.8 Populismus im Feminismus.

5.Was zu tun ist.

6.Anhang.

A.1 Begriffe.

A.2 Genderneutrale Mails schreiben.

A.3 Kommunikationsprobleme auflösen.

Danksagung.

Vorwort

In diesem Buch wird es um Normen und Stereotype gehen und darum, wie sie unser Bild von der Welt beeinflussen. Wir werden sehen, dass das bloße Wissen über Stereotype – selbst, wenn wir nicht an diese glauben – bereits unsere eigenen Haltungen und unser eigenes Verhalten verändert. Das ist psychologisch sehr gut erforscht und wir werden uns einige Definitionen und Studien im ersten Kapitel anschauen. Wir werden uns außerdem damit beschäftigen, wie wir Stereotypen die Macht über uns nehmen können.

Unser gesellschaftliches Weltbild ist aber noch mehr verzerrt. Die:der englische Philosoph:in Miranda Fricker schrieb ein Buch mit dem Titel „Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing“ , das 2007 veröffentlicht wurde, in dem sie:er1 die Schnittstelle von Erkenntnistheorie und Ethik in der Philosophie erforscht. Manche Menschen werden weniger als Wissensquellen anerkannt als andere. Manches Wissen gilt als erforschenswerter als anderes Wissen. Was wir wissen, wird also ganz klar dadurch beeinflusst, was unsere Gesellschaft als wertvolles Wissen auffasst und was nicht. Wir werden im zweiten Kapitel sehen, wie genau Machtstrukturen in der Gesellschaft unser kollektives Wissen beeinflussen und welche Rolle Stereotype hierbei einnehmen.

Welchen Menschen wir mehr Wissen zutrauen, was wir über uns selbst wissen und wie wir uns selbst wahrnehmen, hat wiederum mit den Normen zu tun, die wir in unserer Gesellschaft haben. A priori geht man erst mal von sich selbst aus, „normal“ zu sein. Aber was bedeutet „normal“ und wie sehr schränkt es uns ein, uns in eine „normale“ Schablone zu pressen oder pressen zu lassen? Wie sehr leiden manche Menschen unter unseren Schablonen und wie können wir unser Denken von einigen Schranken befreien, die uns konstruiert wurden? Darum soll es im dritten Kapitel gehen.

Es ist offensichtlich, dass viele Menschen Probleme damit haben, sich durch diese Welt mit all ihren Vorgaben zu navigieren. Einige Menschen verlaufen sich dabei etwas. Warum bestimmtes Verhalten kein sinnvoller Umgang mit dem Zustand in unserer Gesellschaft ist, wird im vierten Kapitel besprochen.

Zum Schluss werden wir darüber sprechen, was potenzielle Lösungen sind und wie wir an uns selbst und der Gesellschaft arbeiten können und was wir von Personen in Machtpositionen fordern sollten. Es ist außerdem ein Glossar mit wichtigen, vielleicht eher unbekannten Begriffen beigefügt.

Diese Zusammenfassung mag sehr theoretisch und abstrakt klingen. Die Thematik wird aber spätestens ab dem dritten Kapitel sehr praktisch. Mein Ziel ist es, in diesem Buch Analysewerkzeuge greifbar zu machen, um viele unterschiedliche Probleme, die aber gleiche Muster aufweisen, besser zu verstehen. Es geht darum, Diskriminierung als solche im Kern zu verstehen und aufzuzeigen, wie sie jeden Menschen beeinflusst, uns allen schadet und was die strukturellen Aspekte von Diskriminierung sind. Es geht vor allem um Sexismus, Rassismus, Klassismus, Transfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit und Ableismus. Mir ist bewusst, dass in diesem Buch einige Lücken geblieben sind. So ist es auch wichtig, zum Beispiel Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Fettfeindlichkeit zu betrachten. Ich sehe mich in diesen Bereichen jedoch nicht als Expert:in und hoffe, dass Leser:innen dieses Buches dafür noch weitere Quellen hinzuziehen.2

In den Bereichen Feminismus und soziale Gerechtigkeit tut sich zurzeit sehr viel. Ich habe mich nach meinem besten Wissen ausgedrückt. Es ist aber möglich, dass spätestens in ein paar Jahren einige Begrifflichkeiten veraltet sind und vielleicht einige Sätze in diesem Buch als problematisch gelten könnten. Das ist zum einen gut, weil Fortschritt immer etwas Positives ist, auf der anderen Seite ist das aber auch schlecht, weil ich absolut keiner Personengruppe schaden möchte. Und da Worte Macht haben, sollte man entsprechend vorsichtig mit ihnen umgehen.

Mein Gedanke war aber der folgende: Ich kann nicht abwarten, bis die Entwicklung im feministischen Diskurs abgeschlossen ist, um ein Aufklärungsbuch zu schreiben. Wenn der Diskurs abgeschlossen ist, bedarf es dann überhaupt noch weiterer Bücher darüber? Und sind nicht gerade Bücher, die den jetzigen Stand festhalten, ein großer Katalysator für die Entwicklung? Ich glaube, dass die Antwort auf die letzte Frage „ja“ ist. Fehler sind unvermeidbar. Und ich möchte lieber etwas beitragen, was nicht perfekt ist, als gar nichts beizutragen, weil Perfektion sowieso nicht möglich ist. Wenn dieses Buch Diskussionen entfacht, so ist das auch produktiv. Ich glaube zum jetzigen Zeitpunkt stark daran, dass dieses Buch mehr hilft als schadet. Trotzdem möchte ich auch anmerken, dass es immer wichtig ist, mehreren Menschen zuzuhören statt nur einem. Ich wünsche mir, dass dieses Buch als ein einzelner Beitrag zum Diskurs gesehen wird und nicht als der einzig Wahre, nach dem es jetzt zu handeln gilt. Ich kann als Individuum nicht für ganze Communitys sprechen. Zeitgleich möchte ich betonen, dass es bei wissenschaftlichen Fakten natürlich nicht um Meinungen geht.

Ich möchte außerdem anmerken, dass ich zwar einen Master of Science habe und sehr in der Lage bin, wissenschaftliche Artikel und Studien zu lesen und zu bewerten, dass ich aber kein:e Psycholog:in bin. Glücklicherweise hat aber ein Psychologe das erste Kapitel fachlich lektoriert. Vielen Dank an Lukas Maher für seine Mühe und Anmerkungen.

Ich habe im Hauptfach Mathematik und im Nebenfach Philosophie studiert. Bereits im Studium habe ich mich mit feministischer Philosophie und epistemischer Ungerechtigkeit befasst. Ich möchte meinen fantastischen Professor:innen für all das danken, was ich durch sie lernen durfte.

Ich bin zudem sehr dankbar für die wundervollen Communitys und Personen, die ihre Perspektiven in Blogs und Posts schildern. Ich habe sehr viel durch die Arbeit von Aktivist:innen lernen dürfen, die selten (genug) für ihre Mühe entlohnt werden.

Zuletzt noch zwei Punkte: 1) Wann immer ich mir nicht sicher bin, welche Pronomen eine Person benutzt, benutze ich sie:er Pronomen. Über sie:er Pronomen schreibe ich in im Kapitel „Geschlechterneutrale Pronomen“ ausführlicher. 2) Ich versuche, so gut es geht, Content Notes bei Unterkapiteln und Absätzen zu setzen, die eventuell Trigger enthalten könnten. Da es in diesem Buch um Diskriminierung geht, sind allerdings viele Stellen enthalten, die negative Gefühle auslösen können.

Vielen Dank schon jetzt für jede gelesene Seite! Ich wünsche viel Freude mit diesem Buch.

1

sie:er sind genderneutrale Pronomen, die ich benutze, weil mir die Pronomenpräferenz von

Miranda Fricker

nicht bekannt ist.

2

Ich bin auch kein:e Expert:in für Rassismus, weil mir dafür

first-hand experience

fehlt. In diesem Buch wird trotzdem auch Rassismus behandelt, weil es sehr viele große Studien zum Thema Stereotype gegen Schwarze Personen gibt.

Stereotype.

Was sind Stereotype und warum sind sie nicht immer schlecht?

Bevor wir über Stereotype sprechen, müssen wir über Kategorisierungen sprechen.

Neutral gesagt, ist die Fähigkeit zum kategorialen Denken ein Werkzeug unseres Kopfes, um Dinge einzuordnen. Dinge können dabei Gegenstände, Personen, Verhaltensweisen und alles Mögliche sein, was wir wahrnehmen. Positiv gesagt, ist kategoriales Denken ein Hilfsmittel, was uns vor Informationsüberlastung respektive Reizüberflutung schützt. Negativ gesagt, sind Kategorisierungen fehleranfällige und übervereinfachte Schablonen, die uns manchmal daran hindern, Dinge korrekt wahrzunehmen.

Darüber, wie kategoriales Denken negativ wirkt, werden wir im Laufe des Buches noch ausführlich sprechen. In diesem Kapitel soll es erst mal darum gehen, warum kategoriales Denken auch gut und wichtig ist, was Stereotype sind und inwiefern sie mit kategorialem Denken zusammenhängen.

Wenn wir durch die Welt gehen, nehmen wir viele Informationen und Eindrücke auf. Wie vielen Menschen begegnet man in einer Großstadt auf dem Weg von einem Geschäft zur U-Bahn? Wie viele Gesichter sieht man, wenn man in einem Restaurant essen geht? Wie viele gesprochene Sätze hört man? Wie vielen Tauben muss man ausweichen, wenn man einen Bahnsteig entlanggeht? Wie viele unterschiedliche Stimmen, Geräusche und Klangkombinationen hören wir an einem Tag? Wie viele Gerüche riecht man, wenn man mit dem Rad an einem Weihnachtsmarkt vorbeifährt? Wir werden quasi bombardiert mit Wahrnehmungen, sobald wir das Haus verlassen.

Was wäre, wenn wir sagen würden: „Du kannst nicht von jedem großen, quaderförmigen Objekt mit verschließbaren rechteckigen Löchern, was an Straßen steht, ausgehen, dass es ein Gebäude ist.“ Vielleicht ist es auch ein Naturphänomen, was einfach so entstanden ist und was man nicht betreten kann. Vielleicht ist es eine Skulptur, ein Kunstprojekt von jemandem und nur zur Betrachtung da. Vielleicht ist es ein großer Kuchen, der krass dekoriert wurde, und eigentlich könntest du anfangen, zu knuspern!”3

Ich glaube, wenn wir durch die Welt gehen würden und bei keinem Ding, was wir sehen würden, annehmen könnten, dass es ein Objekt einer bestimmten Kategorie ist, hätten wir ein richtig anstrengendes Leben. Eigentlich ist es wirklich schon sehr krass, wie unser Gehirn all das verarbeitet, was es als Input kriegt. Eigentlich ist total klar, dass unser Gehirn filtern und kategorisieren muss, um nicht zu explodieren. Wie schwer es ist, große Datenmengen zu verarbeiten, sehen wir ja in der Informatik sehr gut.

Filterung und Kategorisierung helfen uns und sind vermutlich auch einfach notwendig und unvermeidbar. Wenn du im Internet beweisen musst, dass du kein Roboter bist, musst du vielleicht alle Bilder auswählen, auf denen du ein Gebäude siehst. Und eigentlich ist jedem Menschen klar, was mit Gebäuden gemeint ist. Wir haben eine kollektive Vorstellung davon, wie das Aussehen eines Gebäudes ist. Deshalb funktionieren Anti-Roboter-Tests im Internet. Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass das etwas Positives ist. Filterung und Kategorisierung helfen unserem Gehirn nicht nur beim Verarbeiten, kollektive Vorstellungen vereinfachen auch unsere Kommunikation.

Anderes Beispiel: Wenn du von einem kleinen, summenden, fliegenden Objekt genervt wirst, vielleicht wäre dann deine erste Reaktion, es mit der Hand wegzuschlagen, um Distanz zu gewinnen und Grenzen aufzuzeigen. Aber was ist, wenn das Objekt schwarz-gelb-gestreift ist? Vielleicht bist du dann mit deiner Reaktion des Wegschlagens etwas vorsichtiger. Denn viele schwarz-gelb-gestreifte Fliegeobjekte können stechen. In dem Fall hilft dir die blitzschnelle Kategorisierung vielleicht dabei, nicht verletzt zu werden.

Man könnte hier natürlich argumentieren, dass das nicht positiv ist, bestimmte Insekten mit mehr Respekt zu behandeln als andere. Okay. Wenn man aber mal darüber nachdenkt, wie schwer die Menschheit es beim Überleben wohl gehabt hätte, hätte sie nie auf unterschiedliche Tiere unterschiedlich reagiert, können wir vielleicht doch auch ein bisschen Positivität rauslesen. Denn wir hätten einen echt anstrengenden Tag, würden wir vor jeder Blaumeise weglaufen, aber wären echt tot, würden wir keine Acht auf Abstand zu hungrigen Grizzlybären geben.

Der Punkt ist, und ich hoffe, ich konnte das einigermaßen klarmachen: Kategorisierungen sind nicht per se schlecht. Sie helfen unserem Gehirn bei der Datenverarbeitung, sie helfen uns im Miteinander, (noch) im Umgang mit Robotern und sie können uns schützen.4

Nun machen Stereotype aber eigentlich auch genau das. Stereotype helfen uns dabei, schnell Menschen zu kategorisieren, um unserer besten Schätzung nach angemessen auf Situationen zu reagieren. Stell dir vor, du hast ein Bewerbungsgespräch und sitzt im Flur und ein Typ im ganz schicken Anzug geht vorbei. Vielleicht denkst du direkt: „Oh, das ist bestimmt eine wichtige Person in diesem Unternehmen.“ Und die Chancen stehen gut, dass deine Vermutung wahr ist und du dadurch auf eine gewisse Art auf diese Person reagierst, die dir zugutekommt. Oder stell dir vor, du sitzt in einem Park und ein kleines Kind sagt dir, dass du voll unakzeptabel bist. Du würdest darauf sicherlich anders reagieren, als wenn dir ein erwachsener Mensch das Gleiche sagen würde. Vielleicht, weil dein Kopf dir sagt: „Ach, mit vier Jahren weiß man es eben nicht besser. Für das Kind ist das gerade nur ein Spiel.“

Das Lehrbuch „Sozialpsychologie“5 definiert Stereotype wie folgt: „Ein Stereotyp ist eine kognitive Struktur, die unser Wissen, unsere Überzeugungen und Erwartungen über eine soziale Gruppe von Menschen enthält.“

Also: Alles in allem brauchen wir kategoriales Denken, um klarzukommen. Stereotype sind ein Auswuchs davon bezogen auf Personengruppen. Manche Stereotype helfen uns vielleicht im sozialen Miteinander. Als Nächstes können wir betrachten, inwiefern Stereotype unser Handeln und Wahrnehmen beeinflussen, wie sie unser Wissen über die Wahrheit verzerren und warum sie in den meisten Fällen unserem sozialen Miteinander schaden. (Spoiler: weil sie zu Diskriminierung führen und für Unterdrückungszwecke instrumentalisiert werden.)

Wie Stereotype uns beeinflussen.

Für uns und unser soziales Miteinander ist es natürlich besonders interessant, inwiefern und wie stark Stereotype einen Effekt auf unsere Wahrnehmung, unser Selbstbild und unser Verhalten haben. Wissenschaftlich sind wir da schon ziemlich weit. Die Untersuchung der Wirkweise von Stereotypen ist ein elementarer Teil der Sozialpsychologie und es gibt wissenschaftlichen Konsens über die folgenden Fakten:

i) Stereotype haben einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung und unser Handeln.

ii) Auch wenn wir selbst nicht an bestimmte Stereotype über eine bestimmte Personengruppe glauben, beeinflussen sie uns. Sie beeinflussen unsere Einstellungen und Haltungen (zum Beispiel durch Vorurteile) und unser Verhalten (zum Beispiel durch Diskriminierung). Wir werden gleich noch explizit ein paar Studien dazu betrachten, die ich für besonders interessant oder aussagekräftig hielt. Mich beschäftigt vor allem der Einfluss von Stereotypen auf marginalisierte Gruppen und wie sie zu Diskriminierung führen.

Um die Studien gleich besser zu verstehen, brauchen wir aber noch etwas mehr psychologischen Kontext. Ich werde mich hier vor allem auf die sechste Auflage des Lehrbuches Sozialpsychologie beziehen und möchte direkt einen Abschnitt hieraus zitieren, um mit einem Selbsttest zu beginnen:6

„Ein Vater und sein Sohn wurden in einen Autounfall verwickelt, bei dem der Vater starb und der Sohn schwer verletzt wurde. Der Vater wurde am Unfallort für tot erklärt und sein Leichnam ins örtliche Leichenschauhaus gebracht. Der Sohn wurde mit einem Unfallwagen ins nächste Krankenhaus transportiert und sofort in den Operationssaal der Notfallabteilung gerollt. Es wurde ein Mitglied des Chirurgenteams gerufen. Als es eintraf und den Patienten sah, rief es aus: ‚Oh Gott, das ist mein Sohn!‘ Haben Sie eine Erklärung dafür?“

An dieser Stelle musst du erst selbst drüber nachdenken und dann weiterlesen.

Aber okay, Achtung, ich schreibe jetzt die naheliegendste Erklärung, auf die die meisten nicht kommen: Das Mitglied aus dem Chirurg:innenteam ist die Mutter des Sohns. Der Grund dafür, der in dem Buch angeführt wird, warum es vielen nicht gelingt, diese einfachste Lösung zu finden, ist, dass automatisch das Stereotyp bei den Befragten aktiviert wird, dass Chirurg:innen Männer sind. Selbst wenn wir nicht daran glauben oder sogar wissen, dass es falsch ist, dass alle Chirurg:innen Männer sind, kann es uns passieren, dass wir das Stereotyp gedanklich nicht überwinden können.

Ob diese Erklärung die einzig sinnige ist, sei dahingestellt. Trotzdem ist dieses Experiment, wie ich finde, sehr interessant. Im Buch wird in zwei verschiedene Arten von Prozessen unterschieden.7

„Automatischer Prozess (automatic process): Ein Prozess, der ohne Absicht, Aufwand oder Bewusstheit auftritt und andere, gleichzeitig ablaufende kognitive Prozesse nicht stört.“

„Kontrollierter Prozess (controlled process): Ein absichtsgeleiteter Prozess, welcher der willentlichen Kontrolle des Individuums unterliegt, aufwändig ist und bewusst abläuft.“

Es gibt viele Dinge, die einfach automatisch passieren. Zum Beispiel, dass wir große Quader an Straßen als Gebäude kategorisieren. Das ist nichts, worüber die meisten lange nachdenken, um dann zu einer bewussten Entscheidung zu kommen. Wir werden gleich Studien sehen, in denen untersucht wird, inwieweit die Aktivierung bestimmter Stereotype über Personengruppen automatisch geschieht. Um das zu untersuchen, benutzt man sogenanntes „Priming“.

„Wenn ein Konstrukt im Gedächtnis aktiviert ist und vorübergehend zugänglich gemacht wird, bezeichnet man dies als Priming. Der Reiz, der zur Aktivierung dieses Konstrukts führt, wird als Prime bezeichnet.“8

Man versucht, Studienteilnehmer:innen quasi unterbewusst an bestimmte Stereotype zu erinnern (Priming) und schaut dann, inwiefern nur das (der Prime) ausreicht, um ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten zu verändern. Wie das im Detail passiert, wird in den jeweiligen Studien beschrieben und ich werde darauf dann eingehen. Meistens werden die Studienteilnehmer:innen vor einen Bildschirm gesetzt, auf dem blitzschnell einige Wörter aus einem bestimmten Themenfeld auftauchen, aber so, dass die Teilnehmer:innen nicht erraten können, welche Wörter sie gesehen haben, weil sie nur kurz aufgeblinkt sind. Das heißt, den Teilnehmer:innen ist nicht bewusst, was passiert. Es reicht aber trotzdem aus, um sie zu beeinflussen. Wie sich ein bestimmter Prime auf das spätere Verhalten der Teilnehmer:innen auswirkt, kann dann etwas darüber aussagen, inwiefern der Prime automatisch ein bestimmtes Stereotyp aktiviert hat. Das ist eine von verschiedenen Vorgehensweisen in der Priming-Forschung.

Devines Artikel über Vorurteile und Stereotype.

In dem bekannten Artikel „Stereotypes and Prejudice: Their Automatic and Controlled Components“ von Patricia Devine wurden in drei Studien die Unterschiede zwischen Menschen untersucht, die stark an Stereotype über Schwarze Menschen glauben und jenen, die schwach oder gar nicht an diese glauben.9 In dem Artikel werden dafür die Bezeichnungen „high-prejudice person“ und „low-prejudice person“ benutzt.

Wir haben bereits zwischen automatischen und kontrollierten Prozessen unterschieden und Priming definiert. Die erste Studie untersucht, ob Personen, die an Stereotype glauben, und Personen, die nicht an sie glauben, gleich viel Wissen über die Stereotype besitzen (Spoiler: Ja!). In der zweiten Studie geht es darum, herauszufinden, inwiefern Stereotype automatisch aktiviert werden, auch wenn ein Individuum nicht an diese glaubt. Um das herauszufinden, wurde Priming benutzt. (Spoiler: Das Ergebnis ist, dass Stereotype genauso aktiviert werden, selbst wenn du nicht an sie glaubst). Die dritte Studie sollte untersuchen, inwiefern man die Unterschiede zwischen den Personen sieht, wenn sie sich in einem kontrollierten Prozess befinden. Das bedeutet hier: wenn sie die Möglichkeit haben, eine bewusste Entscheidung zu treffen. Hierbei soll herausgefunden werden, ob wir Stereotypen hilflos ausgesetzt sind oder ob es doch eine Möglichkeit für uns gibt, gegen diese anzukämpfen (Spoiler: Gibt es!).

Zu Studie 1: 40 weiße Psychologie-Student:innen in der Einführungsphase des Studiums füllten einen Fragebogen zu ihrem Wissen über kulturelle Stereotype über Schwarze Personen aus. Sie wurden darüber informiert, dass es explizit nicht um ihren Glauben an diese Stereotype geht, sondern um ihr Wissen über diese. Danach wurde jede:r Teilnehmer:in auf der Modern Racism Scale (MRS) gemessen.10 Die Auswertung wies keine signifikanten Unterschiede zwischen dem Wissen über Stereotype von low-prejudice-Personen und high-prejudice-Personen auf.

Zu Studie 2: Über zwei akademische Quartale hinweg wurden Daten über Psychologie-Student:innen in der Einführungsphase erhoben. Sie wurden alle auf der Modern Racism Scale getestet. Allerdings wurde diese eingebettet in andere Tests, um zu verhindern, dass Teilnehmer:innen erraten, dass es um einen Test über Rassismus geht. Insgesamt lagen am Ende Daten von 485 Student:innen vor. Teilnehmer:innen aus dem oberen und unterem Drittel auf der Skala wurden als potentielle Studienteilnehmer:innen ins Auge gefasst (N=323).11 Um erfolgreich die Priming-Methode anwenden zu können, konnten nur Student:innen mit guter Sehkraft zugelassen werden. Das reduzierte die Zahl auf 129 Teilnehmer:innen. Da es um Stereotype über Schwarze Personen ging, sollten nur weiße Personen teilnehmen. Drei Schwarze Personen wurden als potentielle Teilnehmer:innen ersetzt. Eine dyslexische Person wurde ausgeschlossen und drei Personen, weil sie Anweisungen nicht folgen konnten. Die:der Versuchsleiter:in wurde über die Prejudice-Level der Teilnehmer:innen nicht in Kenntnis gesetzt.

Für den ersten Teil der Studie sahen Teilnehmer:innen schwarz auf weiß Wörter, die für 80 ms eingeblendet wurden (hier findet das Priming statt). Die Teilnehmer:innen wurden in drei Gruppen aufgeteilt. An Gruppe 1 sollte die eigentliche Fragestellung getestet werden (N=78), an Gruppe 2 und 3 wurde getestet, ob Teilnehmer:innen die angezeigten Wörter erkennen oder erraten könnten (N=44). Beim Erraten waren von 1.200 Vermutungen nur 20 richtig. Man kann also davon ausgehen, dass die Teilnehmer:innen im ersten Teil der Studie nicht wussten, welche Priming-Wörter ihnen angezeigt wurden.

Gruppe 1 wurde wiederum in zwei Gruppen unterteilt. Der einen Gruppe wurden zu 80 % Wörter angezeigt, die an Stereotype über Schwarze Menschen erinnern sollten und 20 % willkürliche Wörter. Der anderen Gruppe wurden 80 % willkürliche Wörter angezeigt und 20 % Wörter, die an Stereotype über Schwarze Menschen erinnern sollten. Die Wörter, die an Stereotype über Schwarze Menschen erinnern sollten, waren rassistische Fremdbezeichnungen und Wörter wie „faul“, „Jazz“, „Blues“, „Rhythmus“, „athletisch“ etc. Es wurde darauf geachtet, dass keine Wörter angezeigt werden, die einen Bezug zu Feindseligkeit haben.

Das Ding ist nun: Wenn sich der Prime überwiegend mit Wörtern, die zu rassistischen Stereotypen über Schwarze Menschen korrespondieren, bei den Teilnehmer:innen wie ein Prime für Feindseligkeit auswirkt, ist gezeigt, dass die Teilnehmer:innen automatisch Schwarze Menschen mit Feindseligkeit in Verbindung setzen – es findet also die Aktivierung eines weiteren rassistischen Stereotyps statt. Die Auswirkung eines Feindseligkeits-Primes wäre, dass Menschen danach gleiches, bei anderen beobachtetes Verhalten als feindeliger einstufen. Wir müssen also schauen, ob die Gruppe mit 80 % stereotyprelevanten Priming-Wörtern nach der ersten Studienphase gleiches Verhalten als feindseliger einstuft.

Die erste Aufgabe der Teilnehmer:innen während des Primes war es, so schnell wie möglich auf einen linken oder rechten Button zu drücken, je nachdem, ob ein Wort links oder rechts auftauchte. Insgesamt hatten die Teilnehmer:innen 10 Testversuche und danach 100 Versuche, die in die Auswertung eingehen sollten, die insgesamt 11–13 min andauerten.

Die zweite Aufgabe der Teilnehmer:innen war es, einen Paragraphen über eine Person namens Donald zu lesen und sich ein Bild von Donald zu machen. Es wurde kommuniziert, dass die Versuchsleiter:innen daran interessiert wären, wie Leute sich einen Eindruck von jemandem formen. Donald handelt in dem Paragraphen auf mehrdeutige Weise. Danach sollten die Teilnehmer:innen Donald auf zwölf Verhaltens-Skalen von 1–10 einordnen. Sechs der Skalen hatten Bezug zu Feindseligkeit. In den anderen sechs Skalen ging es um willkürliche Dinge.

Nach Vervollständigung der zweiten Aufgabe wurden die Teilnehmer:innen gefragt, ob sie einen Bezug zwischen den beiden Aufgaben festmachen konnten. Kein:e Teilnehmer:in antwortete mit „ja“.

Bei der Auswertung wurde geschaut, ob Leute aus der 80 %-Stereotyp-Wörter-Gruppe Donald als feindseliger beurteilt haben. Es gab signifikante Unterschiede, die dafür sprechen, dass der Prime Auswirkungen auf die Bewertungen der Teilnehmer:innen hatte. Bei den Skalen, die keinen Bezug zu Feindseligkeit hatten, gab es keine Unterschiede. Zwischen Teilnehmer:innen mit hohem Vorurteils-Level und niedrigem Vorurteils-Level gab es keine signifikanten Unterschiede. Die Ergebnisse legen nahe, dass Stereotyp-Priming einen gleichstarken Effekt auf low- und high-prejudice-Personen hat.

Wenn man rassistische Stereotype primt, die nichts mit Feindseligkeit zu tun haben, aktiviert sich also eine Verbindung bei Teilnehmer:innen zu Feindseligkeit, unabhängig davon, ob diese Teilnehmer:innen glauben, dass Schwarze Menschen feindseliger sind oder nicht.

Studie 3: Die Vermutung vor dieser Studie war, dass das, was high- und low-prejudice-Personen voneinander unterscheidet, vor allem die Mühe ist, die sie aufwenden, um sich von stereotypem Denken zu befreien. In dieser Studie wurden Teilnehmer:innen aufgefordert, ihre Gedanken zu Schwarzen Menschen unter anonymen Begebenheiten aufzulisten. Die Annahme war, dass man hier Unterschiede zwischen high- und low-prejudice-Personen sehen würde. 67 weiße Psychologiestudent:innen aus der Einführungsphase haben teilgenommen. High-prejudice-Personen haben eher negative Eigenschaften gelistet. Low-prejudice-Personen haben eher ihre persönlichen Überzeugungen zum Thema Rassismus aufgeschrieben. Es ist uns in kontrollierten Prozessen also durchaus möglich, auf unsere persönlichen Überzeugungen zuzugreifen, wenn wir das wollen.

Diskussion: Es gibt starke Anzeichen dafür, dass Stereotype bereits fest in den Köpfen von Kindern verankert sind, noch bevor Kinder überhaupt die kognitive Fähigkeit besitzen, diese zu hinterfragen. Stereotype werden so schnell Teil unserer Erinnerung und werden durch unser Leben so oft aktiviert, dass sie für unseren Kopf sehr viel leichter zugänglich sind – wesentlich leichter als unsere persönlichen Überzeugungen. Wenn die persönliche Überzeugung eines Individuums also nicht mit einem Stereotyp übereinstimmt, entsteht ein Konflikt, bei dem das Stereotyp die besseren Karten hat. Wenn wir diesen Konflikt gewinnen wollen, müssen wir unseren Kopf entsprechend trainieren, bis neue kognitive Strukturen entstehen. Devine vergleicht den Prozess mit dem, über eine schlechte Angewohnheit hinweg zu kommen. Um das zu schaffen, wurden diese Schritte vorgeschlagen: a) Entscheide dich dafür, das alte Verhalten zu stoppen. b) Erinner dich an dein Vorhaben. c) Entscheide dich wiederholt dafür und versuche wiederholt, das alte Verhalten zu lassen.

Um erfolgreich Veränderung herbeizuführen, müssen wir jedes Mal, wenn ein Stereotyp bei uns aktiviert wird, an unsere persönlichen Überzeugungen denken. Die Frequenz, mit der wir an unsere persönlichen Überzeugungen denken, muss in einem solchen Maße erhöht werden, dass diese Struktur für unseren Kopf zugänglich wird. Es braucht Intention, Aufmerksamkeit und Zeit.

Dazu möchte ich persönlich noch anmerken, dass der Vergleich mit der schlechten Angewohnheit vielleicht funktioniert, um zu realisieren, wie wir gegen rassistische Denkmuster ankämpfen können; aber anders als bei einer schlechten Angewohnheit geht es bei diesem Thema nicht nur um uns, sondern darum, keine Ungerechtigkeit für andere zu verursachen. Außerdem können sich gesellschaftlich determinierte Stereotype auch im Laufe der Zeit verändern.

Die „Police Dilemma“-Studien.

Als Nächstes beschäftigen wir uns mit dem ebenfalls sehr bekannten Artikel „The Police Officer’s Dilemma“. Ich möchte direkt anmerken, dass ich den Titel ungünstig finde, die Studien allerdings interessant.

Also lass uns versuchen, erst mal drüber hinwegzusehen.

Content Note: In diesem Unterkapitel werden Polizeigewalt und insbesondere Gewalt gegenüber Schwarzen Personen thematisiert.

Vorab eine zeitliche Einordnung, die dem Artikel entnommen ist. Die Devine Study, die wir schon kennengelernt haben, ist von 1989 und hat in der Sozialpsychologie einen großen Eindruck hinterlassen. 1997 gab es eine Studie von Brown, die in eine ähnliche Richtung ging und nochmal bestätigte, dass ein Priming über Schwarze Personen Einfluss auf unser Verhalten hat. Eine Studie von Payne aus dem Jahr 2001 zeigte, dass Teilnehmer:innen schneller und akkurater Schusswaffen von Handwerkzeugen unterscheiden konnten, nachdem sie mit einem Gesicht von einer Schwarzen Person geprimt wurden, als wenn sie mit dem Gesicht einer weißen Person geprimt wurden.

Der Artikel, den wir jetzt anschauen, möchte noch einen Schritt weitergehen. Es soll untersucht werden, inwiefern die Hautfarbe eines Menschen die Entscheidung von Teilnehmer:innen beeinflusst, auf jemanden zu schießen.12

Hierzu fanden zwei Versuche statt.

Versuch 1: 40 Student:innen der University of Colorado nahmen an dem Experiment teil. Der Artikel sagt, dass 24 von ihnen weiblich waren und 16 männlich. Ein Mann war Latine13, alle anderen waren weiß. Es wurde ein sehr einfaches Computerspiel entwickelt, in dem Bilder angezeigt wurden mit je einem Hintergrund und einer Person. Es gab 20 verschiedene Hintergründe und 80 verschiedene Personenbilder. Für die Personenbilder haben zehn weiße junge Männer und zehn Schwarze junge Männer gemodelt. Es gab fünf verschiedene Posen. Jedes Model wurde in dem Spiel zweimal gezeigt. Einmal mit Schusswaffe und einmal ohne. Auf den Bildern ohne Schusswaffe wurden andere Gegenstände in der Hand gehalten (silberne Büchse, silberne Kamera, schwarzes Mobiltelefon, schwarzes Portemonnaie). Auf den Bildern mit Schusswaffen wurde einmal eine silberne Schusswaffe und einmal eine schwarze Schusswaffe benutzt. Die Bilder der Models wurden so über die Hintergründe gelegt, dass kein Model zweimal im gleichen Hintergrund auftauchte. Auf den Hintergründen waren sonst keine weiteren Personen enthalten.

Im Computerspiel gab es 80 Tests. Es wurden erst schwarze Hintergründe angezeigt, danach der Hintergrund als Bild und danach dieser Hintergrund mit einem übergelegten Modelfoto. Das Ziel des Spiels war es, so schnell wie möglich zu entscheiden, ob ein Model eine Schusswaffe hält oder nicht, und, wenn es eine Schusswaffe hält, zu schießen. Dafür konnte ein rechter Button für „schießen“ oder ein linker Button für „nicht schießen“ gedrückt werden. Bei guter Performance gab es Punkte, wobei die Performance nach Korrektheit und Schnelligkeit bewertet wurde.

Den Versuchsteilnehmer:innen wurde vor dem Experiment gesagt, dass ihre perzeptuelle Wachsamkeit getestet werden sollte und dass die Personen mit bester Performance einen Preis nach dem Experiment erhalten würden. Außerdem wurde den Teilnehmer:innen vor dem Spielen gesagt, dass sie sich die Gesichter der Models merken sollten, weil sie später noch testen würden, wie gut sie sich an diese erinnern könnten. Im Anschluss wurde das Spiel gespielt und danach der Wiedererkennungstest gemacht.

Ergebnis war, dass Teilnehmer:innen signifikant schneller waren, bei einem bewaffneten Model zu schießen, wenn das Model Schwarz war, und schneller waren, bei einem unbewaffneten Model nicht zu schießen, wenn das Model weiß war. Insgesamt machten Teilnehmer:innen aber sehr wenige Fehler. Die erlaubte Reaktionszeit war ziemlich hoch. Was uns zu Versuch 2 führt.

In Versuch 2 wurde die erlaubte Reaktionszeit verringert, um Fehlerraten zu erhöhen und einen größeren Effekt zu sehen. Der Versuchsablauf war grob der gleiche. Teilnehmer:innen haben auf bewaffnete weiße Menschen eher nicht geschossen als auf Schwarze Menschen. Bei unbewaffneten Models haben Teilnehmer:innen eher auf Schwarze Models geschossen.

Zur Beschreibung von Bild 1

Weitere Analyse ergab, dass die Fähigkeit, zu erkennen, ob ein Model bewaffnet oder unbewaffnet war, nicht von der Hautfarbe des Models abhing. Teilnehmer:innen haben also bei höherer Unsicherheit auf Schwarze Models geschossen. Nach den ersten beiden Versuchen werden in dem Artikel auch noch zwei weitere Versuche beschrieben, die ähnlich abliefen und die Ergebnisse der ersten zwei Versuche bestätigten.1415

Die „Essence of Innocence“-Untersuchungen.

Content Note: In diesem Unterkapitel wird Gewalt gegenüber Schwarzen Personen thematisiert.

Wie die anderen Studien zuvor fand auch diese Studie in den USA statt. Dort gibt es Jugendstrafanstalten und Erwachsenenstrafanstalten. Es ist aber möglich, auch Jugendliche zu Erwachsenenstrafanstalten zu schicken. Der Kontext der Studie ist, dass Schwarze Kinder 18-mal wahrscheinlicher als Erwachsene verurteilt werden als weiße Kinder. Es sollte untersucht werden, woran das liegt. These ist, dass Schwarze Menschen eher dehumanisiert werden.

Dehumanisierung ist definiert als die Verweigerung, bestimmten Menschen ihre volle Humanität zuzugestehen, was dazu führen kann, dass auf diese Menschen weniger Rücksicht genommen wird und sie weniger Schutz und Mitgefühl bekommen. Historisch gesehen wurden Schwarze Kinder in den USA sehr wenig geschützt. 1944 wurde zum Beispiel der 14-jährige George Junius Stinney Jr. legal hingerichtet, nachdem er zuvor zur Todesstrafe verurteilt wurde. Er war die jüngste Person in den USA, die je hingerichtet wurde. Es gibt Forschung dazu, inwiefern Dehumanisierung mit sanktionierender Gewalt zusammenhängt.

In „Not yet human: Implicit knowledge, historical dehumanization, an contemporary consequences“ wurde ein Teil der weißen Studienteilnehmer:innen mit Bildern von Menschenaffen geprimt und alle Studienteilnehmer:innen bekamen danach ein Video zu sehen, in dem ein Polizist einen Schwarzen Mann verprügelt. Die Teilnehmer:innen, die das Affen-Priming erhalten haben, haben der Gewalt eher zugestimmt.

Die folgenden drei Studien sollen testen, ob Schwarze Jungs als weniger kindlich gesehen werden und ob Charakteristiken, die mit Kindheit verbunden sind, weniger Anwendung finden, wenn Menschen speziell an Schwarze Jungs denken, und ob sich diese Trends verschlimmern, wenn ein Affen-Priming stattfindet.16

Studie 1: 123 Student:innen nahmen an der Studie teil. 111 davon gaben an, weiß zu sein, vier gaben an, Schwarz zu sein, und elf gaben an, in eine andere Kategorie zu fallen. Die Teilnehmer:innen wurden in drei Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe musste Aussagen über weiße Kinder treffen, eine über Schwarze Kinder und eine über Kinder im Allgemeinen (im Folgenden „Kindergruppe“). Kinder wurden in Altersgruppen 0–4, 5–9, 10–13, 14–17, 18–21 und 22–25 eingeteilt.

Den Teilnehmer:innen wurden folgende Fragen gestellt: „Wie sehr brauchen [Altersgruppe, Kindergruppe] Schutz?“, „Wie sehr brauchen [Altersgruppe, Kindergruppe] Fürsorge?“, „Wie gut könnten sich [Altersgruppe, Kindergruppe] um sich selbst kümmern?“, „Wie sehr sind [Altersgruppe, Kindergruppe] eine Gefahr für sich selbst?“, „Wie sehr sind [Altersgruppe, Kindergruppe] eine Gefahr für andere?“, „Wie niedlich sind [Altersgruppe, Kindergruppe]?“, „Wie unschuldig sind [Altersgruppe, Kindergruppe]?“. Diese Fragen werden unter der Bezeichnung „Innocent Scale“ gefasst.

Insgesamt wurden hierbei Schwarze Kinder als weniger unschuldig bewertet. Für jede Altersgruppe ab Alter größer 9 wurden Schwarze Kinder und Erwachsene als signifikant weniger unschuldig bewertet als weiße Kinder und Erwachsene oder Kinder und Erwachsene im Allgemeinen. Hingegen gab es keine Unterschiede in der Bewertung von weißen Kindern und Kindern im Allgemeinen. Die wahrgenommene Unschuld von Schwarzen Kindern im Alter von 10–13 war gleichzusetzen mit der von nicht-Schwarzen Kindern der Altersgruppe 14–17 und die wahrgenommene Unschuld von Schwarzen Kindern im Alter von 14–17 war gleichzusetzen mit der wahrgenommenen Unschuld von nicht-Schwarzen Kindern der Altersgruppe 18–21.

Studie 2: 59 Student:innen nahmen an der Studie teil. 53 gaben an, weiß zu sein, eine Person gab an, Schwarz zu sein, eine Person gab an, Latine zu sein, und vier Personen gaben an, in eine andere Kategorie zu fallen. Da Studie 1 eine Differenz bei der Bewertung Schwarzer Kinder ab einem Alter von 10 Jahren feststellte, wurden den Teilnehmer:innen Fotos von Kindern zwischen 10 und 17 Jahren gezeigt. Jedes Bild wurde zusammen mit einer Beschreibung eines kriminellen Aktes gepaart (entweder ein Fehlverhalten (misdemeanor) oder ein Verbrechen (felony)). Die Kinder sollten als Täter dieser Akte erscheinen.

Die Fehlverhalten waren: Grausamkeit gegenüber Tieren, Besitz von Drogen und Paraphernalien, Ladendiebstahl, Besitz von Diebesgut, böswillige Zerstörung von Eigentum und das Aussprechen von Drohungen. Die Verbrechen waren: Brandstiftung, Einbruch, schwere Körperverletzung, Vorsatz, Betäubungsmittel zu verbreiten, Vergewaltigung und bewaffneter Autodiebstahl. Die Kinder wurden so mit den kriminellen Akten gepaart, dass keine sehr unwahrscheinlichen Szenarien herauskamen, wie zum Beispiel: Vergewaltigung durch einen 10-Jährigen. Teilnehmer:innen sollten bei jedem Bild das Alter des Kindes (mutmaßlichen Kriminellen) schätzen.