Weltmeister ohne Talent - Per Mertesacker - E-Book

Weltmeister ohne Talent E-Book

Per Mertesacker

4,8
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In England nennt man ihn liebevoll "Big Fucking German" - aber nicht nur mit seiner Körpergröße von exakt einem Meter achtundneunzig ragt Per Mertesacker heraus: Er ist für seine überaus faire Spielweise bekannt, er hat ein feines Gespür für den Raum und ein exzellentes taktisches Verständnis, er ordnet alles dem Erfolg unter. In seiner Autobiographie blickt der Defensiv-Spezialist auf eine einmalige Karriere zurück. Er erzählt vom deutschen Sommermärchen und dem Titelgewinn in Brasilien, von der Signalwirkung seines legendären Eistonnen-Interviews, von Jogi Löws Taktiktricks und den Motivationskünsten Arsene Wengers. Und er geht immer wieder der Frage nach, welche Rolle Talent im Fußball eigentlich spielt. Ihm selbst wurde in der Jugend oft bescheinigt, zu wenig davon zu besitzen – bis ihn eines Tages Ralf Rangnick zu den Profis von Hannover 96 holte … Pers wunderbare Fußball-Welt: kurzweilig, anekdotenreich und voller unvergesslicher Momente.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
4,8 (20 Bewertungen)
17
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Im Oktober 2004 lief ein damals weitgehend unbekannter langer Schlaks im Alter von zwanzig Jahren erstmals im Trikot der deutschen Elf auf. Als Per Mertesacker in Teheran sein Debüt in der Nationalmannschaft feierte, hatte er zuvor erst wenige Spiele als Profi von Hannover 96 absolviert. Es war der Beginn einer traumhaften Karriere im Fußball, die mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft zehn Jahre später ihren Höhepunkt fand.

In seiner Autobiographie blickt der Defensivspezialist auf eine einmalige internationale Karriere zurück. Er erzählt von seinen Bundesliga-Stationen in Hannover und Bremen, vom Sommermärchen 2006 und dem Titelgewinn in Brasilien, von der Signalwirkung seines legendären Eistonnen-Interviews und von den Erfahrungen in der Premier League.

Immer wieder geht Mertesacker der Frage nach, welche Rolle Talent im Fußball spielt. Ihm selbst wurde in der Jugend des Öfteren bescheinigt, zu wenig davon zu besitzen – bis ihn eines Tages Ralf Rangnick zu den Profis von Hannover 96 holte. Außerdem berichtet er, welche Auswirkungen der tägliche Druck im Profigeschäft bei ihm hinterlassen hat – und wie er in seiner neuen Rolle als Leiter des Nachwuchszentrums beim Arsenal FC die Jungprofis auch für die Schattenseiten des vermeintlichen Traumberufs sensibilisieren möchte.

Die Autoren

Per Mertesacker wurde 1984 in Hannover geboren. Nach Stationen in der Bundesliga bei Hannover 96 und Werder Bremen wechselte der Innenverteidiger 2011 zum Arsenal FC, wo er als Kapitän dreimal FA-Pokalsieger wurde. 2014 gewann Mertesacker mit der Nationalelf die Weltmeisterschaft in Brasilien. Im Mai 2018 beendete er seine aktive Karriere als Spieler und arbeitet seitdem als Leiter der Nachwuchsakademie des Arsenal FC.

Raphael Honigstein, geboren 1973 in München, lebt seit vielen Jahren in London und ist Sportjournalist, TV-Experte und Autor. Für Spiegel Online und 11 Freunde schreibt er über den englischen Fußball, für die TV-Sender BBC, ESPN und BT Sports berichtet er über den deutschen Fußball. Bei Ullstein erschien 2017 von ihm das Buch Ich mag, wenn’s kracht.

Per Mertesacker

mit Raphael Honigstein

WELTMEISTER OHNE TALENT

MEIN LEBEN, MEINE KARRIERE

ullstein extra

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem Buch befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1770-0

Copyright © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018 Covergestaltung: ZERO Media, München Covermotiv: © Marc Wagener

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Inhalt

Über das Buch und die Autoren

Titelseite

Impressum

Das Ende

1 Pattensen

2 Bundesliga

Hannover 96

Werder Bremen

3 Premier League

4 Weltmeister

Deutschland 2006

Österreich / Schweiz 2008

Südafrika 2010

Polen / Ukraine 2012

Brasilien 2014

Der Anfang

Danksagung

Bildteil

Bildnachweis

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Das Ende

Ich spielte in meinem ersten Jahr in der C-Jugend von Hannover 96, als es anfing. Ich war fünfzehn Jahre alt, schoss urplötzlich in die Höhe und bekam fürchterliche Wachstumsschmerzen. Im linken Knie war es besonders schlimm. Meine Eltern sind mit mir zu einigen Ärzten gegangen. Alle sagten das Gleiche: Da kann man nicht viel machen. Keiner wusste, woher die Schmerzen genau kamen, was es genau damit auf sich hatte. Keiner wusste, wann oder ob das irgendwann wieder vorbeigehen würde.

Ich hatte jeden Tag Schmerzen, schluckte unzählige Tabletten. Fast ein ganzes Jahr lang konnte ich weder spielen noch trainieren. Ich probierte es immer mal wieder, aber es ging nicht. Ich schaffte es gar nicht mehr auf den Rasen.

Im Verein hieß es: »Der Junge packt das nicht. Er ist fußballerisch sowieso nicht begabt genug, und jetzt wächst er auch noch so schnell. Er ist zu groß. Die Hebel funktionieren nicht.« Mein damaliger Trainer meinte zu mir: »Per, das wird nichts. Dir fehlen die körperlichen Voraussetzungen. Das Tempo ist nicht da.« Selbst mein Vater, der mich bis vor ein paar Monaten in der D-Jugend von 96 trainiert hatte, kam nach einer Weile zur Einsicht, dass es für mich keinen Sinn mehr machen würde. Für ihn war immer wichtig, dass man sich über das Training verbessert, dass man Schritt für Schritt nach vorne kommt, aber bei mir war über Monate hinweg nichts als der totale Stillstand. Er hat keine realistische Perspektive mehr für mich gesehen. »Für dich geht es hier nicht weiter«, hat er eines Tages gesagt. »Du schaffst es eh nicht. Komm, lass uns die Sache abhaken.«

Für einen Jungen, der alles daransetzt, Fußballprofi zu werden, ist das natürlich ein verheerender Satz. Ein Todesurteil. Der eigene Vater zweifelt an dir, er glaubt nicht mehr an dich. Liebt er mich jetzt nicht mehr? Solche Fragen können da hochkommen. Aber bei mir war das gar nicht so. Für mich ist in dem Moment die Welt nicht zusammengebrochen. Denn bei uns in der Familie war eines immer klar: Fußball ist nicht alles.

Mein großer Bruder Denis hatte eine Sprachbehinderung und ging auf Sonderschulen. Meine Eltern sind damit sehr offen umgegangen, das hat mich immens beeindruckt. Er hat sich dann sensationell entwickelt, er hat heute Familie und einen normalen Job. Damals habe ich schnell gemerkt, dass es wichtigere Dinge gibt als Fußball. Fußball war höchstens der Plan B. Plan A war, das Abitur zu machen und dann in Hannover Sport zu studieren.

Die Idee, Profi zu werden, lag gar nicht in meinem Fokus. Nicht mal im Ansatz. Für mich stand im Vordergrund, dass ich Spaß am Kicken hatte. Es war mein Hobby, meine Leidenschaft, obwohl mich Papa mit vier Jahren quasi dazu gezwungen hat, anzufangen. Er war damals Trainer in unserem Heimatverein, dem TSV Pattensen, und er hat gesagt: »Okay, wir machen das jetzt.« Er ging dann später zu Hannover 96 als Jugendtrainer und hat mich und zwei andere Spieler aus Pattensen, die beide bessere Fußballer waren als ich, mitgenommen. Ich war zwölf, alleine hätte ich das nie gemacht. Ich war nur ein Anhängsel und habe relativ zügig erkannt, dass andere viel mehr Talent hatten als ich. Ich wurde nicht gehypt. Ich stand nie im Zentrum der Aufmerksamkeit. Für mich selbst war hundertprozentig klar, dass das alles an einem gewissen Punkt vorbei sein würde, und das würde dann so auch in Ordnung sein. Als nun die Schmerzen kamen, dachte ich, jetzt ist ebendieser Punkt erreicht. Der Trainer und Papa sprachen nur aus, was ich insgeheim für mich schon immer wusste.

Ich war nicht wütend. Ich habe das, wie auch meine Eltern, so akzeptiert: Gehe ich halt einen anderen Weg. Ich wollte niemandem etwas beweisen oder allen zeigen, dass sie sich in mir täuschten. Von so einer Trotzreaktion war ich meilenweit entfernt. Der Traum, Fußballprofi zu werden, war nicht zerstört. Ich hatte ihn nie gehabt.

1 Pattensen

Kennen’se Pattensen? Eine Kleinstadt südlich von Hannover. Achttausend Einwohner im Ortskern, mit den umliegenden Dörfern sind es dreizehntausend. Ländlich geprägt, alles zu Fuß zu erreichen, Schule, Bolzplatz, Schwimmbad, Fußballverein, Tennisplatz. Massenhaft Freunde. Wie im Bilderbuch.

»Pattensen, Peine, Paris«, war ein beliebter Spruch bei uns in der Klasse. Das hieß so viel wie: Pattensen ist eigentlich nicht zu toppen. Stimmt ja auch. Alles, was man für ein schönes Leben brauchte, fand man direkt vor der Haustür, in einem Neubaugebiet. Wer unbedingt wollte, konnte sich eine halbe Stunde in den Bus setzen und war in Hannover.

Meine Eltern engagierten sich in vielen Sportvereinen. Mama gab Nordic-Walking-Kurse und Turnkurse, Papa war Langläufer, Fußballer und dann Trainer. Beide waren und sind komplett sportverrückt. Wir drei Jungs – mein drei Jahre älterer Bruder Denis, mein drei Jahre jüngerer Bruder Timo und ich – spürten das auch. Immer sonntags um 10 oder 11 Uhr war für die ganze Familie verbindlich ein Fünfkilometerlauf angesetzt. Am Klärwerk vorbei, in den Wald hinein und wieder heraus. Wir liefen bei Wind und Wetter, Ausnahmen waren nicht gestattet. Das war Teil unserer Erziehung. Mein Vater steht noch heute früh auf und dreht seine Runden in einem Tempo, bei dem viele nicht mithalten können.

Mit Sport und Bewegung gesund durchs Leben kommen, dem Körper etwas Gutes tun: Dieses Bewusstsein war bei uns stark ausgeprägt. Wir hatten auch eine Sauna bei uns im Haus. Wenn ich an meine Großeltern denke, kann ich nicht unbedingt sagen, dass Mama und Papa dies alles in die Wiege gelegt worden war. Sie haben sich vielmehr selbst motiviert und waren sich selbst gegenüber unheimlich diszipliniert.

Ich kam mit vier Jahren in den Fußballverein. Das wurde so entschieden. Papa hatte damals eine G-Jugend-Mannschaft beim TSV Pattensen ins Leben gerufen. Er trainierte aber nicht nur mich, sondern uns alle drei. Der Familienlegende nach war ich in Spanien fußballerisch sozialisiert worden, daher habe ich wahrscheinlich diese überragende Technik. Im Urlaub auf Menorca hatte mir Papa am Strand einen Ball vor die Füße geworfen und gemerkt: »Ah, der kann kicken.« Ich war damals knapp drei.

Einmal die Woche Fußballtraining, später noch Tennis und Tischtennis, eine Zeit lang ging ich nach der Grundschule auch noch Rollerskates fahren. Das war damals ziemlich in bei uns in Pattensen. Ohne die entschiedene Unterstützung meiner Eltern hätte ich nie derart viel Sport treiben können. Ich bin ihnen sehr dankbar dafür. Sie öffneten mir damit Türen, die später sehr groß werden sollten.

Meinen Vater hatte es beruflich in die Gegend verschlagen. Er hatte eine Dozentenstelle an der Sparkassenakademie in Hannover angetreten. Pattensen gefiel ihm: Es vereint grüne Landschaft mit guter Verkehrsanbindung.

Groß geworden war er wie meine Mutter im Harz. Er stammt aus Wildemann, sie aus Sankt Andreasberg, die beiden Orte liegen dreißig Minuten voneinander entfernt. Uns Kinder hätte es aber dennoch beinahe nie gegeben. Nachdem mein Vater in jungen Jahren laut eigener Aussage einen nicht näher definierten »Mist« gebaut hatte, wollte Mama ihn nicht mehr sehen. Aber ihre Mutter hat ihn dann doch wieder reingelassen. Mein Papa – wie wir alle – hatte Glück.

Papa ist ein Einzelkind, meine Mutter hat dagegen zehn Geschwister. Bei der letzten Zählung hatte ich dreißig Cousins und Cousinen, davon sind fünfundzwanzig Jungs. Es herrscht ein gewisser Männerüberschuss in unserer Familie.

Dass es im Harz schön ist, wusste Papa, aber er sah auch voraus, dass viele Leute in die Großstädte ziehen würden und es perspektivisch wenige Arbeitsplätze geben würde. Er bildete sich deswegen früh weiter und las viel, studierte zunächst in Bonn und entschied sich dann, mit Mama eine Familie an einem neuen Standort zu gründen. Beide wollten sich in Pattensen, ihrer neuen Heimatgemeinde, nicht einigeln, sondern aktiv einbringen. Egal, um was es ging, sie waren dabei. Teamsport war ihr Weg, sich sehr schnell zu integrieren.

Meine Brüder und ich waren begeisterte Esser, am liebsten Tomatensuppe mit Nudeln und Apfelkuchen. Wir wuchsen auch extrem schnell. Für Mama war viel zu tun. Sie musste ständig für Nachschub sorgen. Jeden zweiten Tag kam sie mit einem vollen Einkaufswagen nach Hause. Wenn man zu spät an den Tisch kam, hatte man trotzdem Pech. Dann hatten die Brüder schon alles verputzt.

In der Urlaubszeit wurden meine Brüder und ich oft bei den Eltern meines Vaters in Wildemann einquartiert. Das liegt direkt am Berg, im Winter gibt es dort viel Schnee. Wir hatten einen sehr großen Freundeskreis und unheimlich viel Spaß. Mit Cousins und Bekannten kickten wir stundenlang fünf gegen fünf auf kleine Tore, jeden Tag. Heute sagen die Leute dort zu meinem Vater: »Ist doch klar, dass aus Per was geworden ist. So viel, wie der als Kind immer gekickt hat!«

Im Sommer nahmen wir in Wildemann an Sportfesten teil: Weitsprung, Weitwurf. Wir gingen auch mit Kumpels in den Wald und bauten eine Holzbude auf. Opa Michael half uns dabei, weil er als gelernter Maschinenschlosser handwerklich geschickt war. Er war aus dem Krieg mit unzähligen Narben im Gesicht und auf dem Oberkörper zurückgekommen: Granatsplitter. Das hat mich als kleinen Jungen unheimlich fasziniert und auch neugierig gemacht. Aber geredet wurde darüber nicht.

Zur Osterzeit sammelten wir Reisig, rammten einen Stamm in den Boden und legten Tanne ringsum, für das Osterfeuer. Das war ein Riesenereignis, Jahr für Jahr. Es gab vier dieser Osterfeuer in Wildemann: eins vom Gesangsverein, eins von den Junggesellen, eins vom Sportverein und eins von der Gemeinde. Zusammen etwas aufzubauen und zu erleben gab mir und meinen Brüdern und Freunden sehr viel, es war ein Ritual, das uns stark prägte.

Es war eine beschauliche Zeit, in der die Gemeinschaft im Vordergrund stand – und die Idee, sich mit einfachen Dingen zu beschäftigen; ein ganz anderes Leben, wenn man es damit vergleicht, wie die heutige Generation aufwächst. Alle starren auf ihr Handy, sind abgetaucht in eine Social-Media-Welt, die ja nicht wirklich sozial ist, sondern extrem isoliert. Digitale Netzwerke sind oft Pseudonetzwerke: Die Technologie trennt die Menschen eher voneinander, als dass sie sie zusammenführt.

Opa Michael kam ursprünglich aus dem Rheinland und war katholisch. Mertesacker ist um den Rhein herum ein recht verbreiteter Name, er hat mit dem Heiligen St. Martin zu tun. »Mertesacker« heißt so viel wie: Martins Acker.

Opa und Oma Irmgard lebten nach dem Krieg in sehr überschaubaren Verhältnissen. Mein Vater erinnert sich noch, wie er seinem Vater das Essen in einer Milchkanne brachte. Das Mettbrötchen am Samstag war ein Highlight, Fernseher oder Telefon gab es nicht im Haus. Die Kinder spielten im Wald oder auf der Straße, so was wie Freizeitangebote existierten damals nicht.

Opa hat seinen rheinländischen Humor in den Harz mitgenommen. Er lachte sehr viel, sah vieles locker. Das Glas war bei ihm immer halb voll, nie halb leer. Er war treues Mitglied im Gesangsverein und feierte gerne, was sich von meinem Papa auch auf uns übertragen hat. »Immer, immer positiv, auch mal fünfe gerade sein lassen, du musst mal einen durchziehen, Spaß haben mit anderen, dann sieht die Welt gleich wieder anders aus. Das bringt dich viel weiter, als wenn du immer nur Trübsal bläst und darüber nachdenkst, was alles besser sein könnte.« Das war seine Einstellung. Er hat uns in allen Dingen und insbesondere beim Sport immer angefeuert.

Opa liebte es, die Tour de France im Fernsehen zu schauen. Er war leidenschaftlich beim örtlichen Sportverein, der TSG Wildemann, engagiert und hat das Klubheim mit aufgebaut. Früher war er Schiedsrichter gewesen. Mein Vater hörte als kleiner Junge mit ihm sonntags immer die Fußballübertragungen aus der Oberliga West im Radio und musste für ihn alle Ergebnisse in ein Notizbuch schreiben. Er glaubt heute, dass sein Talent für Zahlen da herrührt. Papa liebt Statistiken. Wer hat wo gespielt, wer hat wann gespielt, wer hat die Tore geschossen? Olympia, Weltmeisterschaften, Europameisterschaften … Papa hat das alles abrufbereit, gespeichert auf der Festplatte zwischen den Ohren. Er ist wirklich ein wandelndes Buch. Alle Telefonnummern kennt er auswendig. Er braucht kein Handy.

Papa und Opa fuhren gemeinsam zu den Spielen, die Opa als Schiedsrichter leitete, und manchmal auch zum Zuschauen nach Braunschweig. Sie waren bei den Auswahlspielen, die es damals noch gab – Nord gegen Süd –, und sahen auch das allererste Bundesligaspiel von Eintracht Braunschweig, einen 1:0-Sieg gegen Preußen Münster im Sommer 1963. Das hat bei meinem Vater die Fußballbegeisterung und den Ehrgeiz geweckt. Er nahm als Skilangläufer an mehreren Meisterschaften teil und spielte in den Sommermonaten Fußball, bei TuSpo Petershütte und bei den Sportfreunden Ricklingen in der Bezirksoberliga. Er sagt von sich, dass er viel laufen konnte, dass er überall auf dem Platz unterwegs, aber nicht unbedingt der Schnellste war. Nach dem Umzug in die Region Hannover hat er seine B- und A-Lizenz als Fußballtrainer gemacht.

Kurz bevor ich Profi bei Hannover 96 wurde, ist Opa Michael verstorben. Ich glaube und hoffe, dass er das irgendwie alles sehen konnte, aber es wäre natürlich schöner gewesen, wenn er es noch auf Erden erlebt hätte. Er hat meinen sportlichen Werdegang in der Jugend sehr intensiv verfolgt und alle Artikel der Lokalzeitungen, in denen ich oder meine Mannschaft erwähnt wurden, abgeheftet. Oma Irmgard führte das weiter und bekam auch noch mit, wie mir bei Hannover der Sprung in den Profikader gelang. Als ich noch klein war und niemand wissen konnte, dass ich selbst einmal Fußballprofi werden würde, hat sie mir eingebläut: »Bayern geht gar nicht. Werde bloß kein Bayern-Fan. Dieses Trikot kommt mir nicht ins Haus.« Es war ein ganz besonderes Verhältnis, das ich zu beiden Großeltern hatte.

Aber auch die Mutter meiner Mutter, Oma Erika, hat uns viel Liebe geschenkt. Wer so viele Kinder zur Welt bringt, muss das Herz am rechten Fleck haben. Ihr Mann war früh an Gelbsucht verstorben, aber sie lachte viel, war stets optimistisch gestimmt. Selbst als sie im hohen Alter wegen Durchblutungsstörungen ein Bein verlor, büßte sie nicht die Kraft und den Mut ein, zufrieden weiterzuleben. Ihre unerschütterliche Willensstärke war beeindruckend.

An Erikas Geburtstag, dem dreiundzwanzigsten Dezember, traf sich immer die ganze Familie im Harz. Zwischen Weihnachten und Neujahr steht noch heute eine Weihnachtswanderung auf dem Programm. Man wandert, setzt sich in irgendeine Gaststätte und singt zusammen. Einer spielt dazu begleitend auf dem Akkordeon. Diese Traditionen wurden von der Generation vor mir ins Leben gerufen, ich bin damit aufgewachsen. Aber wer macht heutzutage noch ähnliche Dinge? Wenn man sich mit Kollegen unterhält, gerade im Fußballbereich, wissen die oft gar nicht, wovon ich rede. Wie bitte? Wandern und singen, mit der ganzen Familie?

Nach meinem Wechsel zum Arsenal FC im Sommer 2011 war ich von dieser Welt ein paar Jahre lang abgeschnitten, da wir auf der britischen Insel an Weihnachten durchspielten und ich, wenn überhaupt, im Januar ein paar Tage freibekam. Mir wurde erst bewusst, welchen Stellenwert dieses Treffen hat, als ich nicht mehr daran teilnehmen konnte. Beim ersten Mal war das ein regelrechter Schock. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Familie – und all das, was wir in der Vergangenheit gemeinsam aufgebaut hatten – im Stich ließ. Das schlug mir aufs Gemüt. Prompt lag ich in London drei Tage lang krank im Bett. Ich freue mich, dass ich jetzt nach dem Karriereende diese Tradition neu aufleben lassen kann. In der Zwischenzeit haben mich meine Brüder und Eltern dort gut vertreten.

Gerade jetzt, da immer weniger Leute in der Harzregion leben und die Bevölkerung dort veraltet, ist es uns ein großes Anliegen, die Verbindung zur Heimat aufrechtzuerhalten. Einmal im Jahr im Sommer trifft sich die Familie für ein Wochenende in einer Jugendherberge in Sankt Andreasberg. Es können nicht immer alle kommen. Manche haben andere Termine oder Interessen. Manche wollen es mehr, manche weniger. Aber es ist trotzdem ein schönes Gefühl, die Verwandtschaft zu sehen, sich gegenseitig zu erzählen, wie es geht, ein Interesse für Leute zu entwickeln, die zur Familie gehören. Das muss jedes Jahr aufs Neue aktiv geplant und organisiert werden. Sonst würde es ausfallen, und vermutlich würde man sich dann allmählich aus den Augen verlieren. So eine Großfamilie zusammenzuhalten, vor allem nachdem die Großeltern nicht mehr da sind, ist nicht so einfach. Auch deswegen können wir ein bisschen stolz auf uns sein.

Mein großer Bruder fährt heute noch an Ostern in den Harz und baut das Osterfeuer bei den Junggesellen mit auf. Wir alle pflegen die Gräber der Großeltern in Wildemann. Meine Eltern schauen zu, dass das Haus von Opa und Oma in Schuss bleibt. Möbel, die ich einst in Bremen in meiner Wohnung hatte, stehen heute darin, damit es wohnlich bleibt. Da das Haus nicht leer stehen soll, versuchen wir, so oft wie möglich dort zu sein. Wenn Familienmitglieder zur Weihnachtswanderung oder Gäste kommen, haben sie hier eine Schlafgelegenheit. Wir sind, so gut es geht, überall noch mit dabei – und prägen so weiterhin die Geschichte, in die wir hineingeboren wurden.

Der Harz ist wirklich wunderschön. Wildemann wird aufgrund seiner Berge und Täler auch »Klein-Tirol« genannt. Vor der Haustür geht es direkt steil hinauf. Es gibt dort wunderschöne Wanderwege und Laufstrecken, man atmet eine ganz eigene Luft. Wenn meine Frau und ich mit unseren Söhnen aus dem insgesamt doch eher grauen London dort hinfahren, geht ihnen regelrecht das Herz auf. Auch mit uns befreundete Familien machen Urlaub im Harz, und dann unternehmen wir gemeinsame Touren.

Oscar, unser zweiter Sohn, wurde in Wildemann getauft. Die Hochzeit von Ulrike und mir fand auf der Marienburg statt, in der Nähe von Pattensen. Heimatverbundenheit ist für mich nicht nur eine Idee oder ein Gefühl. Man muss sie leben. Ereignisse an den Orten zu feiern, an denen wir groß geworden sind, mit denen wir uns verwachsen fühlen, erneuert den Zusammenhalt.

Mit vielen alten Freunden aus dem Harz bin ich heute noch sehr eng. Auch das bleibt aber nicht von alleine so. Diese Fernbeziehungen müssen immer wieder gepflegt werden. Wie viele solcher echten Freunde und Kumpels hast du im Fußball? Man kann sie an einer Hand abzählen. Als Profi sitzt du jahrelang neben jemandem in der Kabine, ohne ihn wirklich zu kennen. Man trainiert und spielt, ansonsten macht jeder sein eigenes Ding. Das Geschäft entwickelt sich auf jeden Fall in diese Richtung. Ich bin sehr froh, dass ich als Fußballer, der die Welt bereist hat, Freunde und Familie hatte, die mich zu jeder Zeit auf dem Boden bleiben ließen, die genau wussten, wer ich unter dem Trikot wirklich bin. Man soll seine Wurzeln nicht vergessen. Das wurde uns von den Eltern nicht gepredigt, sondern unausgesprochen mitgegeben.

Im Spätsommer 1989 ging es mit dem Fußball richtig los, kurz vor meinem fünften Geburtstag. Zusammen mit Denis bestritt ich das erste Punktspiel. Wir waren ein Dutzend Kinder, Jungs und Mädchen, mit uneinheitlichen Trikots und ein paar Mark in der Mannschaftskasse. Andere Mannschaften in unserer Altersstufe waren damals schon mit dem Spielbetrieb vertraut und besser organisiert. Wir verloren viele Spiele, ließen uns davon aber nicht den Spaß verderben.

Ich spielte von Anfang an hinten drin, ein paar Meter vor dem Torwart. Die meisten Kinder laufen immer dem Ball nach und wollen Tore schießen, aber das hat mich – aus Gründen, die ich selbst nicht genau erklären kann – nie gereizt. Mein Vater sagte: »Mensch du, geh doch mal, mach doch ein bisschen mit!« Kein Interesse. Ich wollte kein Held sein, ich wollte absichern, anderen den Rücken frei halten. Sollten die anderen ruhig glänzen und ihre Tore feiern. Ich passte auf, das nichts passierte, immer schön hinten drinnen. Daran hat sich mein ganzes Leben lang nichts mehr geändert.

Papa war beim Fußball sehr emotional. Er meckerte den Schiedsrichter an, wurde in der Umkleidekabine schon mal etwas lauter. Ich aber hatte auf dem Platz eher das Gemüt meiner Mutter: zurückhaltend, ruhig, unaufgeregt. Gefühlsausbrüche waren nicht mein Ding. Laut Papa konnte man mir nach dem Schlusspfiff nur selten das Resultat ansehen.

Wer nur eine Position spielt, ist nicht flexibel verwendbar. Aber dafür hatte ich eine sehr anständige Spieleröffnung, war beidfüßig und konnte ein gutes Stellungsspiel vorweisen. Wenn eine Million Bälle auf dich zufliegen, kennst du nach einiger Zeit alle Flugschneisen und weißt, wo du dich hinstellen musst. Mein Kopfballspiel war gut, daran hatten auch Papa und meine Brüder ihren Anteil. Im Schwimmbad und in jedem Urlaub standen wir zu viert mit einem Plastikball im Wasser und prüften, wer am meisten Kopfbälle schaffte. Fünfzig-, sechzig-, siebzigmal. Das machte auf Dauer schon etwas aus.

Das erste Jahr lief nicht so gut, im zweiten hatten wir beim TSV dann aber eine durchaus passable Mannschaft zusammen, komplettiert mit ein paar guten Spielern aus der Stadt. Dieses Team wurde auch deshalb richtig stark, weil Papa sehr viel Zeit investierte und uns gewissenhaft trainierte. Anderswo mussten Kinder noch an Hütchen vorbeidribbeln, doch bei Papa wurden damals schon konkrete Spielformen geübt.

Wir gingen oft mit Freunden ins Freibad, wo es auch einen kleinen Bolzplatz gab. Wer dort zwischen Pommesbude und Planschbecken einigermaßen kicken konnte, wurde gleich von den Älteren gefragt: »Ja, wo spielst du denn überhaupt?«

»Ich spiele in der E-Jugend vom TSV Pattensen!«

Ich war sehr stolz, das sagen zu können. Ich spielte damals auch Tennis und Tischtennis, aber Fußball war für mein Selbstwertgefühl am wertvollsten und machte auch am meisten Spaß. Papa unternahm viel, um meine fußballerische Ausbildung zu fördern. Er ließ mich beispielsweise stundenlang mit meinem schwächeren linken Fuß den Ball hoch halten.

Aufgrund meiner beachtlichen Größe war ich Gleichaltrigen einen Schritt voraus und konnte gleich einige Fußballjahrgänge überspringen. Von der F- bis zur D-Jugend waren wir mit Pattensen immer in der Spitzengruppe der Liga, wurden Kreismeister, gewannen sogar Spiele gegen die Jugendmannschaften von Hannover 96. Heute spielen viele ehemalige Mannschaftskameraden aus dieser Anfangszeit beim TSV im Alte-Herren-Team und warten sehnsüchtig darauf, dass ich wieder dazustoße. Das kann aber noch ein paar Jahre dauern …

Durch unsere guten Ergebnisse gerieten wir schnell in den Fokus von 96: »Wieso sind die so gut? Wer trainiert die?« Die Geschichte des über Gebühr erfolgreichen Kleinstadtklubs sprach sich schnell herum, was dazu führte, dass Papa 1995 zusammen mit einem Co-Trainer aus Pattensen ehrenamtlich die zweite Mannschaft der D-Jugend in Hannover übernahm. Dort waren praktischerweise gerade zwei Trainerposten frei geworden. Es gab darüber hinaus auch eine persönliche Verbindung des TSV zu 96. Der Vater von Florian Gramann, einem unserer Spieler, war Schatzmeister bei Hannover. Florian, Markus Weck, der Sohn unseres Co-Trainers, und ich wechselten als Trio in die D-Jugend der großen Stadt.

Die beiden anderen waren zu jenem Zeitpunkt deutlich weiter in ihrer Entwicklung und galten als die größeren Talente. Ich war eher so mit reingerutscht. Von Pattensen zu Hannover zu gehen war eine mittlere Sensation – auf Provinzebene. Jeder im Ort hatte eine Meinung dazu und tat diese auch ungefiltert kund. Vor drei Jahren entschuldigte sich bei mir ein Journalist, der für die Leine Nachrichten schreibt – den Regionalteil der Hannoverschen Allgemeinen für Pattensen, Hemmingen und Saarstedt – , für seine damalige Fehleinschätzung. »Was will der? Fußball? Der soll lieber zum Schwimmen gehen«, hat er damals über mich geschrieben. Er habe das etwas falsch eingeschätzt, beichtete er.

Alleine wäre ich mit zwölf Jahren wahrscheinlich nicht zu Hannover 96 gegangen. Zu dritt fiel der Schritt leichter. Es stellte sich bald heraus, dass die beiden anderen einiges draufhatten. Besonders Markus war richtig, richtig gut. Er kam gleich in die C-Jugend, spielte ein Jahr über mir und immer besser. Ich kickte ein wenig in seinem Schatten. Man dachte, dass er es eher schaffen könnte. Aber bei ihm ging es körperlich irgendwann nicht mehr weiter. Er hatte starke Rückenschmerzen. Markus war zum Glück gut in der Schule, hatte vernünftige Eltern und konnte das auffangen. Er machte schließlich eine Lehre bei der Sparkasse. Aber an seinem Werdegang sah ich zum ersten Mal, wie schnell sich der Wind im Fußballgeschäft drehen konnte. Das größte Talent, das ich kannte, war von heute auf morgen weg vom Fenster.

Ich sammelte Panini-Bilder, aber ein echtes Spielervorbild hatte ich nicht. Ich mochte Ingo Anderbrügge, wegen seines super linken Hammers und seines Auftretens bei einem Freundschaftsspiel von Schalke 04 in Ricklingen, einem Stadtteil von Hannover. Hinterher hatten er und seine Mitspieler den Zuschauern Autogramme gegeben, ich hatte auch eines bekommen. Das imponierte mir ungemein. Seit jenem Tag hatte ich Sympathien für Schalke 04. Aber Hannover 96 war selbstverständlich die Nummer eins für mich. Als Jugendspieler durfte man sich samstags mit einer Arbeitskarte ins altehrwürdige, damals noch sehr weitläufige Niedersachsenstadion setzen, auf eine Holzbank unterhalb der Fankurve. Das war für mich das Allergrößte.

Manchmal stand ich mit Freunden aus Pattensen im Fanblock H 31, manchmal war ich Balljunge und klatschte im Tunnel die Spieler ab. Es war etwas ganz Besonderes, am Spielfeldrand zu stehen. Ich fühlte mich zugehörig, wirklich als Teil des Vereins. Hannover spielte damals zweite Liga und stieg 1996, ausgerechnet zum hundertsten Jubiläum der Vereinsgründung, in die Regionalliga ab. Ich war als Zuschauer im Stadion dabei, als Hannover gegen Energie Cottbus unter Flutlicht in der Relegation um den direkten Wiederaufstieg in die zweite Liga spielte. Das Hinspiel ging 0:0 aus, in Cottbus verloren wir 1:3.

Hannover hatte infolge dieses Rückschlags große finanzielle Probleme. Die Existenz des Klubs stand auf dem Spiel. Aber das bot zugleich Nachwuchsspielern eine Chance. Mit Fabian Ernst, Gerald Asamoah und Sebastian Kehl kamen Jungs direkt aus der A-Jugend in die erste Mannschaft und verhalfen dem Verein schließlich zum Aufstieg in die zweite Liga. Die Durchlässigkeit im Verein war damals notgedrungen sehr groß. Es gab schlichtweg kein Geld, um erfahrenes Personal einzukaufen.

Die Europameisterschaft, die 1996 in England stattfand, war das erste Turnier, das ich bewusst als Fan wahrnahm. Das Elfmeterschießen im Halbfinale gegen den Gastgeber ist mir in sehr guter Erinnerung geblieben: Andy Köpke hielt gegen Gareth Southgate, den heutigen Nationaltrainer Englands, den entscheidenden Elfmeter. Das Endspiel gegen Tschechien habe ich auch noch im Kopf: Oliver Bierhoff entschied es mit einem Golden Goal. Mein prägnantestes Fernseherlebnis aber war das UEFA-Pokal-Endspiel von Schalke 04 gegen Inter Mailand ein Jahr später. Ich durfte lange aufbleiben und lag nach Schalkes Sieg meinem Vater in dem Armen.

Ein paar Jahre später fuhr ich mit meiner Familie mit dem Auto nach England, um meine Tante Ute in Plymouth zu besuchen. Die Sommerreise ging auch durch London, wo mein Vater die Devise ausgab: Jedes Familienmitglied muss ein Fußballtrikot mitnehmen. Soll heißen: die Jungs. Mama war davon befreit. Mein kleiner Bruder Timo entschied sich für Manchester United, Denis für Aston Villa, mein Vater für Ipswich Town. Und meine Wahl fiel auf ein rotes Trikot mit weißen Ärmeln und einem weißen »JVC«-Schriftzug: Arsenal FC. An jenem Tag wurden die Gunners mein englischer Klub.

Einmal im Jahr, zum Geburtstag, durften wir uns ein neues Trikot wünschen. Timo und ich blieben bei Man United und Arsenal. Wir waren beide fußballbegeistert und ergänzten unsere sportliche Rivalität um die »unserer« Klubs in der Premier League. In den späten Neunzigern und frühen Nullerjahren ging es zwischen Arsenal und United hoch her, sie machten die englische Meisterschaft unter sich aus. In der DSF-Sendung »La Ola« liefen einmal die Woche die Highlights von der Insel. So blieb man auf dem Laufenden.

Neben Schule und Sport standen PC-Rollen- und Sportspiele auf dem Programm: NHL98 oder NBA Live, Eishockey oder Basketball. Mein älterer Bruder war ein großer Fantasyfan. Er hatte ein Brettspiel, »Das schwarze Auge«, und wir spielten zusammen »Might and Magic« auf dem Rechner. Man lief darin mit vier verschiedenen Charakteren – Druide, Kleriker, Ritter und Bogenschütze – durch die Landschaft und bekam es in Höhlen mit diversen Monstern zu tun.

In der Ernst-Reuter-Schule kam ich nach der Orientierungsstufe auf den gymnasialen Zweig. In Pattensen konnte man nur bis zur 10. Klasse aufs Gymnasium gehen, deswegen wechselten viele schon früh, um den Übertritt nicht im späteren Alter machen zu müssen. Meine Eltern wollten aber, dass ich im Ort bleibe. Dort hatte ich mein Umfeld.

Es gab bei uns nur eine Gymnasialklasse und die war überschaubar: fünfzehn bis zwanzig Leute. In diesem kooperativen System wurden Fächer wie Religion und Werte und Normen übergreifend unterrichtet und unterschiedlich bewertet. Im Examen bekamen die Gymnasiasten zwei Punkte abgezogen und die Hauptschüler zwei Pluspunkte. Realschüler blieben bei ihrer Punktzahl.

Als einer der wenigen Gymnasiasten auf der Schule wurde man gewohnheitsmäßig geschnitten. Man galt als Streber, als jemand, der sich für etwas Besseres hielt. Die anderen gaben dir das starke Gefühl, nicht dazuzugehören, besonders nach dem Unterricht. Die Haupt- und Realschüler standen da in ihren eigenen Rauchergrüppchen, als Gymnasiast ging man vorbei und sagte nichts. Zu Feierlichkeiten oder Partys wurde man grundsätzlich nicht eingeladen, es sei denn, man kannte zufällig jemanden. Beim Altstadt- oder Schützenfest gehörte man auch nicht richtig dazu. Und wer in dem Alter nicht immer und überall dabei ist, ist ja automatisch ein bisschen außen vor. Dazu kam die sportliche Rivalität. Es gab übergreifende Schulturniere: Basketball, Handball, Fußball, Beachvolleyball. Die Zweige spielten gegeneinander. Wir waren eine super Sporttruppe, natürlich mit mir als Anführer. Ich hatte Ballgefühl – egal, wie der Ball aussah. Wir waren extrem stark in allen Disziplinen, über Jahre hinweg quasi unbesiegbar. Dementsprechend verhasst waren wir auch. »Ihr blöden Gymnasiasten. Ihr braucht nichts zu sagen, geht ruhig weiter!« Solche Sätze hörte man auf dem Pausenhof. Einige konnten sich noch über die Schiene Rauchen oder Kiffen bei der Masse beliebt machen, aber das war keine Option für mich. So blieb man zwangsläufig unter sich.

Ich hatte zwei ganz enge Freunde. Wir spielten in der Pause Skat und hörten Musik auf dem Walkman. Wir hatten keine Lust, in den Hof zu gehen. Wir aßen unser Pausenbrot und warteten auf die nächste Stunde.

Meine erste CD war von den Prinzen. Aber dann kam Bob Marley, nur noch Bob Marley. Seine Musik war damals unser Soundtrack. Er war nur fünfunddreißig Jahre alt geworden, hatte aber gefühlt hundert Lieder veröffentlicht, von denen fünfzehn absolute Tophits waren. Und er war ein großer Fußballfan gewesen, was ich aber erst später herausfand. Mit Bob Marley assoziierte jeder sofort Kiffen. »Alles Kiffermusik!« Aber uns reizte das nie. Wir wollten die Texte und die Geschichten dahinter verstehen. An wen richteten sich seine Lieder? Welche Zusammenhänge gab es? Meine Kumpels und ich beschäftigten uns eingehend mit der Musik und merkten bald, dass es darin um ganz andere Dinge ging, als viele annahmen. »No woman, no cry«, zum Beispiel. Auf Deutsch wörtlich: »Keine Frau, kein Leid«, ein trauriger Abgesang auf die Liebe. Dachte man. War aber komplett falsch. »No woman, no cry« bedeutet vielmehr »Weine nicht, Frau«. Das Lied handelt von politischen Spannungen in Marleys Heimatstadt und von dem Versprechen, zu seiner Frau zurückzukehren – verbunden mit der Hoffnung, dass bald alles besser werden würde. Der Mann und seine Musik waren einfach genial.

Hip-Hop war ebenfalls ein großes Ding. Ich kaufte mir eine CD vom Wu-Tang-Clan, als wir für einen Schüleraustausch eine Woche nach Hastings an die Südküste Englands kamen und auch die Hauptstadt besuchten. Die Lehrerin sagte: »Schaut euch London an.« Aber was machen Jungs mit fünfzehn, sechzehn? Sie gehen nicht in Museen und zum Big Ben. Sie gehen Flippern. Wir waren fünf Stunden in einer Spielhölle am Piccadilly Circus und knallten mit Laserpistolen. Das Sightseeing-Programm habe ich dann zwanzig Jahre später ausführlich nachgeholt.

Bei mir an der Wand hing eine riesige Jamaikafahne mit Bob Marley neben einem Poster von Anna Kournikova und der Hannover-96-Pokalsieger-Elf von 1992. Das war mein Zimmer. Und Ordnung halten war nicht gerade meine größte Stärke. Mein Vater fluchte, wenn er zur Tür hereinkam und all die Sachen am Boden rumliegen sah: »Meine Fresse. Hier muss man ja aufpassen, dass man sich keinen Bänderriss holt!« Ich hätte ein »Haufensystem«, schimpfte er.

Bemerkenswert war, dass einige aus der Schule, die mich damals nicht mit dem Arsch anguckten, wie man so schön sagt, auf einmal ein ganz anderes Gesicht zeigten, als ich bei Hannover etwas höher spielte und vorankam. Plötzlich machten sie auf besten Freund: »Hast du mal eine Karte fürs Stadion?« Für mich war das eine krasse Erfahrung; wie schnell es nicht mehr darum geht, wer du bist, sondern was du bist. Auf einmal hatte ich einen ganz anderen Status, die Leute nahmen mich ganz anders wahr. Aber mir war klar, wo ich herkam, wer meine Freunde waren, mit wem ich wirklich etwas zu tun hatte und mit wem nicht. »Wo warst du, als ich damals die Arschkarte hatte? Damals hast du kein Wort mit mir geredet.«

Anfangs empfand ich es als sehr angenehm, dass mein Vater mein Trainer bei Hannover 96 war. Das erleichterte mir die Umstellung von Pattensen auf den »richtigen« Fußball sehr. Papa pushte mich, aber so, dass ich es nicht als pushen empfand. Ich war erst mal froh, dass ich dabei war und einigermaßen mithalten konnte.

Bei Hannover spürte man den Druck, gewinnen zu müssen. Papa erzählte, dass die Trainer der Jugendmannschaften montags zur Besprechung zusammensaßen und Ergebnisse verglichen. Für den, der mit seiner Truppe verloren hatte, war das nicht sehr angenehm. Es drehte sich damals vor allem um Titel. Man musste Kreis- und Bezirksmeister werden, was uns auch gelang; die individuelle Entwicklung der einzelnen Spieler stand nicht im Vordergrund. Von Vereinsseite hat kaum jemand danach gefragt. Dafür war das Interesse der Eltern in Hannover sehr viel ausgeprägter als in Pattensen. Viele spekulierten schon darauf, dass ihre Kinder Profis werden würden, und trugen diese Erwartungshaltung in die Mannschaft hinein. Wenn Spiele verloren wurden, sorgte das für Unruhe, weil die ehrgeizigeren unter den Eltern sich sofort Sorgen um die Zukunft ihrer Söhne machten.

Nach zwei Jahren D-Jugend wollte ich nicht mehr, dass Papa mich trainiert. Irgendwann rebelliert es in dir: Ich möchte nicht nur spielen, weil mein Trainer mit Nachnamen »Mertesacker« heißt. Ich wollte mich unter einem anderen Trainer bewähren; zeigen, dass ich es objektiv verdiente, dabei zu sein. Es war auch besser für mich, Fußball und Familienleben strenger voneinander zu trennen. Ich wollte mich ein bisschen davon befreien, unter ständiger Beobachtung zu stehen und die ganze Woche über der Kritik von Papa ausgesetzt zu sein. Die Zeit war reif, auf dem Platz andere Einflüsse zuzulassen. Es war damals sehr wichtig für mich, diesen Schritt in die fußballerische Selbstständigkeit zu machen.

Ich stieg in die C-Jugend auf, unter einem neuen Trainer, aber es reichte bei mir nur für den jüngeren Jahrgang, die C2. Heute würde man sagen: die U14. Ich war damals schon relativ groß, und die Übersetzung funktionierte nicht so richtig. Bis der Impuls aus dem Gehirn unten in den Füßen ankam, waren Ball und Gegner schon wieder weg. Ich war nicht der Schnellste. Dementsprechend musste ich mein Spiel anpassen. Sonst wurde es riskant. Für das eigene Tor und auch für die eigene Gesundheit.

Mirko Slomka, der damals Trainer der A-Jugend war, lud einige der C-Jugendspieler zu einem gemeinsamen Training mit den Älteren ein. Das war so eine Art interne Talentsichtung. Einer der A-Jugend-Spieler senste mich von der Seite um. Klares Foul. Ich denke: Das wird jetzt gleich gepfiffen. Aber Slomka rief: »Weiterspielen. Ist kein Foul.« Ich war den Tränen nahe. Du wirst von einem vier Jahre älteren Jungen mit voller Härte umgetreten, und der Trainer sagt »Alles okay so«. Als Dreizehn-, Vierzehnjähriger verstehst du dann die Welt nicht mehr. Diese Ungerechtigkeit tut mehr weh als der Tritt an sich. Erst ein paar Jahre später begriff ich, dass sich Slomka etwas dabei gedacht hatte. Er wollte sehen, wie junge Spieler in so einer Situation reagierten, er wollte sie ein bisschen herausfordern.

Das war das einzige Mal, dass es mich in den Nachwuchsmannschaften derart erwischte. Ich war früh gut darin, Zweikämpfe vorab richtig einzuschätzen und abzuwägen: Hast du eine Chance, den Ball sauber zu gewinnen oder kracht es gleich? Wenn mir ein Gegner zu nahe kam, hatte ich den Ball immer schon wieder abgespielt. Auch wegen meiner Position stand an oberster Stelle, klare Pässe zu spielen. Ich war, das wird kaum jemanden verwundern, auch als Jugendlicher nicht der Typ Dribbler. Es gibt junge Spieler, die versuchen, unbedingt die Aufmerksamkeit des Trainers zu wecken, indem sie die älteren Spieler reizen und sie tunneln. Dann wird es kritisch. Es gab Mitspieler, die aus Rache das eine oder andere ganz böse Ding mitbekamen.

Die größten Talente spielten alle schon in der ersten C-Jugend. In dem Alter kam ich das erste Mal in die Kreisauswahl, in die Bezirksauswahl, in die Niedersachsenauswahl. Niedersachsenauswahl, das war schon eine große Nummer. Ich fuhr in ein Trainingslager, verbrachte zwei, drei Tage in Barsinghausen. Dort wurde sehr rabiat aussortiert. »Ihr kommt weiter, ihr nicht.« Markus, der damals mit mir aus Pattensen zu 96 gekommen war, spielte dauerhaft in der Auswahl, bei ihm ging der Hype schon schwer los: Eltern und Großeltern fuhren zu den Spielen. In diese Spirale bin ich nicht gekommen, denn ich wurde nach zwei Lehrgängen nicht mehr berücksichtigt. Es gab keine Ansage, niemanden, der mich beiseitenahm und mir das behutsam erklärte. Es kam einfach keine Einladung mehr.

Mein Vater sagt, dass ich damals geheult habe, was sonst nie vorkam. Ich zeigte nach Niederlagen eigentlich keine Emotionen, aber diese Ausbootung traf mich hart; auch, weil es Markus geschafft hatte, sich dort und in der C1 festzuspielen. In der Kategorie »Schlüsseltalent, auf den müssen wir aufpassen«, war ich nie gewesen, aber jetzt war ich sogar nur noch ein Jugendspieler zweiter Klasse. Ich stand im zweiten Glied und fühlte mich auch so. Zum ersten Mal merkte ich: Okay, hier ist Schluss für dich. Weiter geht es nicht.

Ich sah die erste C-Jugend von Hannover bei einer Bezirks- oder Niedersachsen-Meisterschaft als Zuschauer und staunte über das allgemeine Leistungsniveau. Das war ein himmelweiter Unterschied zu dem, was ich auf den Platz brachte. Das war Wahnsinn. Emmanuel Krontiris spielte da mit, er war damals ein Ausnahmetalent. Er hatte einen linken Hammer, machte Tore. Krontiris ging danach zu TeBe Berlin und bestritt ein paar Spiele für Dortmund. Ich stand da und dachte: »Das ist Fußball. Die werden mal Profis.«

In der C2 war ich so lala. Ich fiel nicht auf, weder positiv noch negativ. Ein paar Monate später, in der C1, war dann tatsächlich Endstation. Viele Jungs waren körperlich einfach weiter als ich, hatten dickere Oberschenkel, einen breiteren Oberkörper, mehr Kraft, sie waren belastbarer. Die Trainer setzten auf sie, weil sie mit ihnen die Spiele gewannen. Ich sah diese Jungs in der Kabine und auf dem Platz und dachte: Du hast keine Chance. Ich fühlte mich in diesem Konstrukt nicht mehr wohl. Es macht keinen Spaß, wenn dir die eigenen Unzulänglichkeiten alle paar Tage ins Gesicht schreien.

Und dann fingen die Wachstumsprobleme an. Ich hatte so starke Schmerzen in den Knien, dass ich ein Dreivierteljahr so gut wie gar nicht mehr spielen konnte. Ich versuchte es immer wieder, aber es ging nicht.

Offiziell blieb ich Teil der Mannschaft, und ich durfte weiter die Spiele der Profis im Stadion anschauen. Man kannte mich im Verein, ich war der Sohn von Stefan Mertesacker, der im Jugendbereich von 96 viel bewegte. Ein kleiner Teil des Respekts, der ihm entgegengebracht wurde, fiel auch auf mich ab. Aber ich war nicht mehr im Training und bei den Spielen meines Teams. Es war so ein Zwischenstatus; schwer, den richtigen Zugang dazu zu finden. Ich verbrachte auf einmal viel mehr Zeit zu Hause und mit der Schule. Ein komisches Gefühl.

Mein Glück war, dass ich über die Kontakte von meinem Vater an Edward Kowalczuk vermittelt wurde, der damals Konditionstrainer der ersten Mannschaft war. Kowalczuk machte mit Florian Gramann, dem Sohn des Schatzmeisters, Sondereinheiten im Bundesleistungszentrum in der Nähe des Niedersachsenstadions, da Gramann wegen Knieproblemen ebenfalls nicht am geregelten Übungsbetrieb teilnehmen konnte. Bei diesem Krafttraining war ich dann öfters dabei. Außer diesen individuellen Übungen ohne Ball ging aber gar nichts. Das war der Hauptgrund, warum mein Vater damals mit dem Thema abschloss. »Na ja, Profifußballer kann nichts werden.« Er sprach das ganz offen aus.

Meine Mutter war sehr gelassen. »Du machst deine Schule zu Ende, dann sehen wir weiter.« Ihre Ruhe hat die Enttäuschung gut ausbalanciert. Ich sagte mir selbst: Okay, dann spielst du eben wieder, wenn du wieder spielen kannst. Fußball ist einfach dein Hobby, du kannst dich entspannen, weil es sowieso keine Zukunft als Profi gibt. Sieh nur zu, dass du irgendwann wieder kicken kannst. Auf welchem Niveau ist nicht so wichtig.

In der Schule war ich nicht tipptopp, kam aber gut über die Runden. Ich war immer im oberen Drittel dabei, obwohl ich fürwahr nicht der Fleißigste war. Sport: immer eine eins. Das war meinem Vater am wichtigsten. Fremdsprachen: nicht so gut. Deutsch: Okay. Meine Stärken waren eher Geschichte und Erdkunde, das waren so meine Fächer. Ich konnte mir Dinge gut merken. Mündlich war ich nicht so gut, eher ein Schweiger. Ich meldete mich nur, wenn ich wirklich etwas Fundiertes zu sagen hatte. Hätte ich viel lernen müssen, um durchzukommen, wäre es kritisch geworden. So aber konnte ich das alles managen. Die Versetzung war nie gefährdet, meine Eltern wurden nie zum Direktor zitiert. Sie ließen mich machen, sie waren beruhigt. »Er macht sein Abitur.«

Ich sprach zu Hause nicht viel über Klausuren und Noten. Die guten wurden vorgelegt, die weniger guten verschwiegen. Vieles habe ich schon damals mit mir selbst ausgemacht, sagt meine Mutter. Da es in der Schule im Großen und Ganzen reibungslos lief, fühlten sich die Fußballprobleme auch nicht wirklich dramatisch an. Die schulische Ausbildung ging bei uns im Haus sowieso vor.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.