Weltreise 2er Bodyguards - Justa L. Goblin - E-Book

Weltreise 2er Bodyguards E-Book

Justa L. Goblin

0,0

Beschreibung

Die ersten vier Monate als persönlicher Bodyguard Mr. Superstars, hat Goblin erfolgreich hinter sich gebracht, ihrem Boss mehrfach das Leben gerettet und sich als überraschend fähig erwiesen. Mit der Fortsetzung ihrer gemeinsamen Reisen im neuen Jahr, wendet sich jedoch das Blatt. Der Weltstar, der eigentlich von ihr beschützt werden sollte, muss plötzlich das Leben seiner Leibwächterin retten. Zu allem Überfluss taucht auch noch Konkurrenz in Form eines weiteren Bodyguards auf, der sich auf Goblins Kosten amüsiert und droht, ihr den Rang abzulaufen. Goblin muss sich nun mächtig ins Zeug legen... Der zweite Teil der Trilogie steht dem ersten Band in absurden Situationen und unerwarteten Wendungen in nichts nach. Mit Herz und Humor erzählt die Leibwächterin ihre abenteuerliche Geschichte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 424

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für alle Kinder böser Menschen

Inhalt

Wie alles begann

Silvester in New York

Zurück in Australien

Japan

China

Wundenlecken in Sydney

Promotion rund um die Welt

Bella Italia

Gipfeltreffen

Noch ein paar Lieder?

Ende Endzeitdrama

Wieder was gelernt

Die Tücken der Technik

Wie alles begann

Darf ich mich vorstellen? Goblin mein Name.

Mein Codename zumindest. Seit etwa einem Jahr inzwischen.

Mr. Superstar hat mich so getauft, nachdem ich in seinem Badezimmer gekotzt hatte wie ein Reiher und reichlich grün aus der Wäsche sah.

An jenem Tag hat sich mein Leben radikal verändert. Bis dahin hatte ich keinen Job länger als maximal acht Monate behalten. Auf zahllosen Gebieten begabt, ein geistiger Überflieger, aber sozial völlig inkompetent. Das beschreibt mich und meine beruflichen Schwierigkeiten ziemlich gut.

Fachlich standen mir zu viele Möglichkeiten offen, die allesamt sehr schnell eintönig und langweilig geworden waren. Wenn es daran nicht lag, hatte es mit den Kollegen oder vor allem mit den Chefs nicht hingehauen.

Nach Sprach- und Geschichtsstudium und kaufmännischer Ausbildung – ja, genau in der Reihenfolge – hatten Anstellungen im Schnitt drei Monate lang gehalten. Wer glücklicher über meinen Abgang war, mein jeweiliger Vorgesetzter oder ich, kann man nicht mit Sicherheit sagen. Vermutlich beruhte die Erleichterung über meine Kündigung auf Gegenseitigkeit. Idioten in den Hintern kriechen oder ihnen nach dem Mund reden ist keines meiner Talente.

Ausgerechnet diesen problematischen Mangel an Schleimerqualitäten weiß mein Boss – ja, so habe ich ihn tatsächlich anzusprechen – zu schätzen. Er ist froh, wenn ihn jemand hin und wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt – notfalls mit sehr klaren Worten – statt ihm unentwegt Zucker in den A… zu blasen. Wir hatten uns zwar nicht gesucht, aber trotzdem gefunden. Meine große Klappe kann ich eh nicht halten! Bei ihm muss ich es nicht mal versuchen.

Dank Mr. Superstars diversen Workaholic-Tätigkeiten, häufigen Ortswechseln, vielseitigen Freunden, Kollegen, Verwandten und Bekannten wurde es bisher auch nicht langweilig mit ihm. Der hauptberufliche Schauspieler mit Weltruhm/Vater/Neffe/Ehemann ist nebenher Singer-Songwriter, Regisseur, Produzent, fahrender Musiker, Showmoderator und so weiter. Welche Hollywoodgrößen nicht in seinem Telefonbuch stehen, welche Konzertlocations er noch nicht bespielt, welches Land noch nicht besucht hat, gilt es noch herauszufinden. Bei den Oscarverleihungen gibt er sich auch regelmäßig die Ehre. Wenn nicht als Preisträger, dann als Nominierter, Präsentierender oder Teil des Showprogramms.

Klingt ziemlich angeberisch, wenn man das so hört. So in der Art von: Mein Haus, mein Auto, mein Pool, mein Boss. Es entspricht aber den Tatsachen. Und ja, ich bin stolz darauf, für ihn zu arbeiten und auch irgendwie Teil seines Lebens geworden zu sein. Also lasst mich angeben!

Wie ich an diesen, meinen Traumjob bei Mr. Superstar gekommen bin? Wie die Jungfrau zum Kinde! Gänzlich überraschend, ungeplant, ungewollt, ohne den geringsten Plan, was ich tun sollte.

Kurzbeschreibung des originellen Vorstellungsgesprächs: Auf der Jagd nach einem Autogramm von Mr. Superstar war ich in eine vermeintliche Geiselnahme geplatzt, die sich im Nachhinein als Mordversuch herausstellte. Statt ein Autogramm von ihm zu bekommen, rettete ich auf blöd sein Leben. Im Anschluss daran kotzte ich wie ein Reiher, was mein Boss positiv fand, weil: In der Gefahr hatte ich funktioniert, als alles vorüber war, entlud sich der Schock. Für meinen Boss ein sicheres Zeichen, dass ich doch nicht ganz so verrückt war, wie es auf den ersten Blick erschienen sein mochte. Wer wäre ich, ihm zu widersprechen?

Während der Rettungsaktion hätte man den Eindruck gewinnen können, dass eine Hab-mich-lieb-Jacke und gepolsterte Wände angebracht wären. Sinn und Wahnsinn liegen ja oft nahe beieinander. Bei manchen näher als bei anderen…

Wieso das so erschien? Naja, nennen wir meine Art, mit bewaffneten Männern umzugehen, mal unkonventionell bis kreativ. Auf der verzweifelten Suche nach dem stillen Örtchen hatte ich plötzlich den Lauf einer Pistole im Gesicht gehabt. Aus dem Nichts heraus. Einfach so, hinter der nächstbesten Flurecke. Die Gedanken „Wenn jetzt kein Klo auftaucht, geschieht ein Unglück!“ und „Fuck, wie komm ich hier heil wieder raus?“ wechselten sich im Bruchteil einer Sekunde ab und verschmolzen zu: „Ich muss mir den Weg zum Klo freikämpfen.“

Um meine noch nie im Ernstfall erprobten Kampfkünste anwenden zu können, musste ich den Mann irgendwie aus dem Konzept bringen. Das beste und naheliegendste Ablenkungsmanöver, das mir gerade eingefallen war, lautete, ihn nach dem Weg zur Toilette zu fragen. Der geistig ohnehin schon verwirrte Attentäter war so perplex, dass er die Waffe weit genug sinken und mich nahe genug herankommen ließ, um ihn überwältigen zu können. Es hilft auch, wenn man keinerlei Skrupel hat, einem Mann kräftig in die Kronjuwelen zu treten.

Die beiden professionellen Sicherheitsleute, mit denen Mr. Superstar an dem Tag unterwegs gewesen war, hatten sich äußerst tapfer im Hintergrund gehalten und mir die Arbeit überlassen. Sie waren blöde vor ihrem Schützling gestanden, ohne sich zu rühren oder etwas zu unternehmen. Das war auch dem Schutzbefohlenen aufgefallen. Und ich war ihm aufgefallen. Er wollte mich (!) engagieren. Als seinen persönlichen Bodyguard, der mit ihm um die Welt reist.

Er erklärte mir, ich hätte sein Leben gerettet, was mir bis dahin noch gar nicht aufgefallen war. Sorry, das war nicht mit Absicht. Meine Entgegnung, dass ich nur um mein eigenes Leben gekämpft hätte, ohne ihn überhaupt zu registrieren und mir schlicht und ergreifend nicht in die Hose hatte machen wollen, ließ ihn kalt. Eher bestärkte ihn sein Lachflash über diese gnadenlose Ehrlichkeit sogar noch darin, mich engagieren zu wollen.

Sein Interesse an dem grünhaarigen Überraschungspaket in Menschengestalt war geweckt und der Name Goblin geboren.

Wieso Goblin? Ganz einfach. Dank grüner Haare, überwiegend grüner Kleidung und einer nach dem Vorfall sehr grünen Erscheinung um die Nase herum, befand Mr. Superstar, ich sähe aus wie ein kranker Goblin. Ernsthaft? Ja, sein voller Ernst. Er begann, mich Goblin zu rufen und der Name blieb kleben.

Zuerst lachte ich ihn herzlich aus, als er mit seinem Jobangebot herausrückte. Ist ja auch lächerlich, ein weiblicher Bodyguard, wenn auch mit 1,80 m Körpergröße und knapp 100 Kilo Lebendgewicht. Man sieht mir die 100 Kilo nicht so richtig an, weil ein ganz hübscher Anteil davon Muskelmasse ist, die sich unter der Speckschicht verbirgt. Tarnen und Täuschen sozusagen. Aber trotzdem, sehr abwegig das Ganze. Sehr gefährlich und ein unkalkulierbares Risiko für einen nicht ausgebildeten Personenschützer. Einen Amateur, einen reinen Hobbykampfsportler.

„Hast du sie noch alle?“, lautete meine erste Reaktion. Und das nicht nur, weil er mir die Luft aus den Reifen gelassen hatte, um mich zu einem gemeinsamen Abendessen zu überreden. Er wollte eben unbedingt mit mir reden, war seine Begründung für seinen Affront gegen mein Auto gewesen. Wie war das noch mal mit dem Wahnsinn, der bei manchen stärker ausgeprägt ist?

Der Vertrag, den er über Nacht von einem eifrigen Anwalt erstellen ließ, während ich – nach besagtem Abendessen – im Gästezimmer seines Kurzzeitappartements tief und fest schlief, überzeugte mich jedoch. Eine überaus gut bezahlte Weltreise schlägt man nicht so ohne Weiteres aus. Eine Chance, sein armseliges Leben zu ändern, auch nicht. Jeder Mensch ist käuflich, da bilde ich keine Ausnahme. Er fand meinen Preis und darüber hinaus meinen wunden Punkt. Den hatte er eigentlich vorher schon gefunden. Beziehungsweise der wunde Punkt hatte ihn gefunden. In Lichtgeschwindigkeit hatte er festgestellt, dass ich nicht viel zu verlieren oder zurückzulassen hatte, was mich auch indirekt an diesem Tag zu ihm gebracht hatte.

Klingt verwirrend? Ja, ist es auch irgendwie.

Dann entwirren wir das Ganze eben Schritt für Schritt.

Punkt eins: Meine Mutter war mir noch geblieben und ein uraltes Schrottauto – klappriger, rostiger VW-Bus, Marke rollendes Wohnzimmer. Mehr gab es nicht mehr, was mich an meine Heimat band.

Zwei Drittel meiner Familie hatte ich mit Anfang Zwanzig innerhalb kurzer Zeit verloren und dazu noch fast einen Fuß. Meine Mutter hatte innerhalb dieser nicht einmal ganz elf Monate viel zu erleiden gehabt. Auch durch mich. Spät gezündetes Arschlochkind könnte man sagen. Ich hatte mich mit der Nachricht vom Selbstmord meines Bruders komplett aus der Realität verabschiedet, sämtliche menschlichen Regungen aus mir verbannt, jeden vor den Kopf gestoßen, nur noch Mist gebaut und nichts mehr auf die Reihe bekommen. Selbst den Tod meiner Oma nahm ich in dieser Zeit eher stoisch hin, obwohl sie mich mit aufgezogen und ich sie geliebt hatte.

Erst der Crash mit einer viel zu starken Maschine konnte meine Vernunft und den Rest von mir wieder zurückbringen. Oder besser gesagt war der Knochen, der mich aus meinem Schienbein heraus über das zerschellte Motorrad hinweg angelächelt hatte, während ich bewegungsunfähig auf der Straße gelegen und auf den Notarzt gewartet hatte, der Weckruf gewesen. Gaffer sind übrigens super! Vor allem solche, die einem im Vorbeigehen das zerrissene Hosenbein hochziehen, um die Verletzungen besser sehen zu können. Ich liebe diese Menschen.

Punkt zwei: Nachdem sich auf diese Weise mein Hirn wieder eingeschaltet hatte, fing ich langsam an, den Tod meines Bruders zu verarbeiten. Wirklich langsam. Sehr langsam. Besonders langsam. Er verfolgte mich über mehr als ein Jahrzehnt hinweg.

Warum? Schlechtes Gewissen und Schuldgefühle.

Aus Stolz oder Sturheit oder um den großen Bruder zu ärgern oder weil Geschwister nun eben mal so sind – schwer zu sagen, was es genau war – hatte ich ihm einen bestimmten Wunsch nie erfüllt. Er liebte meine Zeichnungen – das wusste ich –, hatte mich aber nie darum gebeten ihn zu portraitieren. Ohne diese Bitte hatte ich keinen Anlass gesehen, seinem Wunsch nachzukommen. Er sollte gefälligst fragen, wenn er etwas haben wollte.

Erst zu seiner Beerdigung hatte ich sein Bleistiftportrait gezeichnet, das dann mit ihm zusammen begraben wurde. Die Folge dieser schuldgefühlgetriebenen Schnellzeichnung waren zitternde Hände gewesen. Wenn zukünftig ein Bleistift in meine Hand geriet, fiel er mir postwendend wieder aus den Fingern, die ihn vor lauter Zittern nicht halten konnten.

Psychisch bedingte, regional begrenzte Schüttellähmung? Ergibt das irgendeinen Sinn? Gibt es das im Diagnosehandbuch? Wohl eher nicht. Klingt aber sehr medizinisch und damit rational nachvollziehbar. Nicht einfach nur kaputt.

Punkt drei: Über die Jahre half mir Musik nach und nach mit diesem Trauma fertig zu werden. Genauer gesagt war es eine Reihe besonderer Lieder, die sich mit Selbstmordund Verlustthemen befassten. Das letzte und wichtigste Lied in dieser Reihe war ein Song meines Bosses, den er selbst geschrieben hatte. Dieses Lied hatte mich so ins Mark getroffen, dass ich unbedingt ein Portrait des Sängers und Songwriters zeichnen musste. Koste es, was es wolle. Nach einem Fehlversuch und viel Verzweiflung gelang es mir schließlich, eine in meinen Augen perfekte Zeichnung von ihm hinzubekommen. Mit komplett ruhigen Händen. Erlösung!

Punkt vier: Ohne Mr. Superstars Unterschrift, also die Unterschrift des zweiten beteiligten Künstlers, der diese Darstellung möglich gemacht hatte, war sie für mich nicht komplett. Deswegen hatte ich an jenem Tag versucht, seine Signatur auf die Zeichnung zu bekommen. Nur deswegen war ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, als er Hilfe brauchte.

Und so schließt sich der Kreis. In seiner Punktezählung auf dem Lebensrettungskonto bedeutete unser erstes Zusammentreffen 1:0 für mich. In meiner Zählung war es der Ausgleichstreffer, wir waren quitt.

Das war jedoch nicht das einzig Verworrene, das es nach und nach zu lösen galt. Durch diese schicksalhafte Begegnung ergaben sich noch ganz andere Zirkel, Zufälle, Bekanntschaften, Verwicklungen und Probleme.

Wie hätte ich zum Beispiel ahnen können, dass mein bester Freund ein junger australischer Gärtner werden würde? George, der am Hauptwohnsitz meines Bosses in Sydney arbeitet. Wir beide adoptierten uns quasi gegenseitig, fast von Anfang an. Aber eben nur fast, wohlgemerkt! Unser Kennenlernen stand unter keinem guten Stern. Das erste Mal, als ich ihn sah, war er hinter mir im Spiegel erschienen, während ich beinahe nackt war. Er beobachtete mich durch das Fenster meines Schlafzimmers beim Anprobieren von Dessous und tanzte mit mir und meiner lauten Rockmusik mit. Angeblich wollte er den Efeu vor dem Fenster schneiden, als er mich entdeckte und sich nicht mehr losreißen konnte. Wie bei einem Unfall: Man kann einfach nicht wegsehen…

Naja, wir haben das ausdiskutiert – wenn er es jemals jemandem erzählt, werde ich ihn töten – und haben seitdem viel Spaß miteinander. Also, das heißt, wenn unser Boss und ich gerade in Sydney sind und er uns nicht braucht. Was selten genug vorkommt. Dass wir in Sydney sind und der Leibwächter frei hat, meine ich. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Babysitter, Chauffeuse, Laufburschin, Gesellschafterin, Krankenpflegerin, Roadie, Statistin und so weiter und so fort. Das gehört alles zu meinem Job, wenn wir unterwegs sind.

An den australischen Wohnsitzen Mr. Superstars habe ich generell frei, solange er sich auf seinem Anwesen in der Stadt oder seiner Ranch aufhält. Innerhalb des Zaunes ist eine Security-Firma zuständig, die das ganze Gelände sichert und mir außerhalb der Anwesen Personal sowie Gerätschaften und Software zur Verfügung stellt, wenn nötig.

Wie schnell ich allerdings trotzdem innerhalb des Zaunes spontan gebraucht werden konnte, hatte sich durch einen verrückten Verfolger gezeigt.

Der Durchgeknallte hatte die ersten drei Monate meiner Anstellung als persönliche Leibwächterin sehr spannend werden lassen. Um die halbe Welt hatte der Wahnsinnige uns verfolgt und versucht Mr. Superstar den Garaus zu machen. Mehrere Mordanschläge hatte ich abwenden können und meinem Boss wiederholt das Leben gerettet.

Endstand des vergangenen Jahres auf der nach oben offenen Lebensrettungsskala, die mein Boss mit Begeisterung eingeführt hatte, war 5:1 für mich gewesen. Das gab einen dicken Bonus.

Den letzten dieser fünf Punkte ergatterte ich am 23. Dezember, nachdem ich mich eigentlich bereits bis Silvester aus dem Dienst verabschiedet hatte.

Der Gestörte hatte meinen Boss und George überfallen, während ich auf dem Weg zum Flughafen war. Weihnachten wollte ich nach Hause fliegen. Zum Glück hatte George mir noch, kurz bevor er überwältigt worden war, ein Handyvideo geschickt, auf dem ich den Attentäter erkannte.

Die Polizei hielt meinen darauf folgenden Notruf für einen geschmacklosen Scherz und reagierte nicht wie gewünscht, also musste ich selber handeln. Wie eine Irre war ich vom Flughafen zum Wohnsitz Mr. Superstars gerast, hatte dabei alle Verkehrsregeln missachtet und erst mal bis auf Weiteres meinen Führerschein abgeben müssen. Naja, kleinere Opfer muss man eben in Kauf nehmen.

Jedenfalls war es mit Georges Hilfe schließlich gelungen, dem Geiselnehmer Herr zu werden. Die Polizei hatte den Attentäter nur noch abholen müssen, nachdem sie endlich doch noch kam. Wenigstens Mr. Superstars Anruf – als alles schon vorbei war – hatte die Leitstelle ernst genommen, wenn auch nicht auf Anhieb.

Klingt ja auch komisch: „Hallo, hier ist Mr. Superstar. Mein Gärtner und ich wurden in meinem gut gesicherten Haus als Geiseln genommen, unsere Handys in viele kleine Scherben zerlegt. Mein Bodyguard hat ihren Heimflug verpasst und wir haben gemeinsam den Geiselnehmer begraben. Ihr müsst den Bekloppten, der mich um die halbe Welt verfolgt hat, nur noch ausgraben. Sein Motiv werdet Ihr mir im Übrigen niemals glauben.“

Das anschließende Verhör dauerte Stunden.

Meinen Heimflug hatte ich gründlich verpasst.

Alle Versuche, noch ein Last-Minute-Ticket nach Deutschland oder Österreich zu bekommen, waren vergebens. Alles komplett ausgebucht, mit Warteliste so lang wie eine Klopapierrolle. Auch alle angrenzenden Länder, über die man einen Umweg hätte machen können, waren überbucht. Wer rechnet schon damit, dass unmittelbar vor den Festtagen jemand einen Langstreckenflug brauchen könnte… Wäre ja blanker Unsinn da zusätzliche Flüge anzubieten.

Keine Chance, Heim zu kommen. Meine Mutter war am Ende. Weihnachten ist ihr wichtig und sie hat ja nur noch mich. Verdammte Scheiße!

In dieser Situation stellte sich überraschend Hilfe aus einer ganz und gar unerwarteten Richtung ein. Ausnahmsweise hatte dieses Mal das Aufbauschen sämtlicher Ereignisse durch die Medien etwas Gutes.

Die Geiselnahme und die dazugehörige Rettungsaktion gingen natürlich innerhalb kürzester Zeit um die ganze Welt. Rauf und runter auf allen Kanälen aller Nationen. Man konnte nicht den Fernseher oder das Radio einschalten ohne über Superstars Geiselnahme und Befreiung zu stolpern. Die Tränendrüse wurde überstrapaziert, weil die tapfere Heldin nicht heimkehren konnte. „Driving home for Christmas“ von Chris Rea hatte ich noch nie gemocht. Nachdem es nun auch noch ständig als Hintergrundmusik in den entsprechenden Beiträgen zu hören war, mochte ich es noch viel weniger.

Aber! Ein hilfreicher Einwohner Down Unders mochte es und war für diese Art von Propaganda empfänglich. Er hörte die tragische Geschichte der Retterin in der Not, die nun ein Problem hatte. Es ging ihm ans Herz und er kontaktierte meinen Boss. Am Abend des vierundzwanzigsten Dezembers bekam ich seinen Privatjet für den Heimflug.

Seine Begründung für diese großzügige Leihgabe lautete: „So eine Beschützerin hätte ich auch gerne. Mut darf nicht bestraft werden.“

Auf diesem Flug befand sich zum ersten Mal seit Beginn meiner abenteuerlichen Reise die Zeichnung, mit der alles begonnen hatte, nicht in meinem Koffer. Von Anfang an hatte sie mich begleitet und auf die passende Gelegenheit gewartet, die zweite Signatur zu erhalten. Die Gelegenheit hatte sich allerdings nie ergeben. Oder besser gesagt, hatte mir immer der Mut gefehlt, sie meinem Boss zu zeigen und ihn um seine Unterschrift darauf zu bitten. Es bestand schließlich die Gefahr, dass er sie nicht so perfekt finden würde, wie sie es in meinen Augen war. Oder dass er womöglich wissen wollte, was hinter den drei kleinen Worten steckte, die als Danksagung neben seinem Charakterkopf standen. Die Geschichte zum Bild zu erzählen und die möglichen Folgen dieser Offenlegung wollte ich mir gerne ersparen. Ich hasse Gefühlsduselei und könnte George dafür schlachten, unserem Boss überhaupt jemals von dem Bild erzählt zu haben.

Ich selbst hatte Superstar einmal im Vollsuff – und auch nur auf vehemente Nachfrage – offenbart, was hinter der Zeichnung steckt, warum sie mir so viel bedeutet und dass sie verantwortlich für unser erstes Zusammentreffen gewesen war. Zum Glück war er noch betrunkener gewesen als ich und konnte sich am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern. Erst recht wusste er nicht mehr, dass wir im Löffelchen beieinander – ja, beieinander! Nicht miteinander, das möchte ich ganz klar betonen – geschlafen hatten, nach diesem Besäufnis. Seine Frau würde uns beide töten, wenn sie davon wüsste… Auch wenn außer Schlafen nichts war.

Sie hatte mich bei unserem ersten Zusammentreffen ohnehin falsch interpretiert und mit Blicken getötet. Lag wohl daran, dass ich im offenen Bademantel mit nichts als sehr aufreizender Unterwäsche darunter in eine lautstarke ähh… nennen wir es „Diskussion“ zwischen den beiden geplatzt war.

Der Lärm der … „Unterhaltung“ hatte sich für mich gefährlich angehört und ich war zwar nicht direkt aus der Dusche, aber doch fast unmittelbar aus meinem begehbaren Kleiderschrank heraus losgerannt, um meinen Job zu machen und meinen Boss zu beschützen.

Leider ging der Schuss gründlich nach hinten los. Seine Frau war stinksauer und verließ sowohl die Küche als auch das Anwesen im Sturmschritt. Seitdem hatte ich sie nicht wiedergesehen. Andernfalls wäre ich vermutlich einen Kopf kürzer. Diese Dessous taugen wirklich nicht als Dienstkleidung! Eher als Waffe oder Kriegserklärung.

Der besagte begehbare Kleiderschrank, aus dem heraus ich durch das Fenster meines Schlafzimmers gesprungen und quer durch den Garten zur Hintertür des Haupthauses gerannt war, befand sich im Gästehaus meines Bosses in Sydney. Welches inzwischen mein zweites Zuhause geworden ist, „mein“ Haus. Es fühlt sich zumindest so an.

Mein wertvollster Besitz – meine Zeichnung Mr. Superstars – hängt dort gut aufgehoben an der Wohnzimmerwand, im Zentrum einer Collage aus Mitbringseln von unseren Reisen. Nicht einmal George, der das zweite Nebengebäude des Anwesens sein Zuhause nennt und mich besser kennt als die meisten anderen Menschen, weiß von der Bedeutung dieses Bildes. Er weiß nur, dass es mir sehr wichtig ist und ich es nicht lustig fand, dass er Superstar davon erzählt hatte. Soweit reichte der Filmriss bei Letzterem dann leider doch nicht zurück. Aber er fragte auch nicht noch mal danach.

Wie auch immer. Weihnachten in meinem ersten Zuhause, dem Haus meiner Mutter im schönen Bayern, hatte doch noch geklappt, war erholsam und friedlich gewesen und endete gefühlt erst am sehr, sehr späten Abend des dreißigsten Dezembers mit meinem Flug nach New York.

Gott sei Dank fliege ich nur noch erster Klasse seit ich für Mr. Superstar tätig bin. Der breite Sitz war nötig nach einer Woche am heimischen Feiertagsherd.

Silvester in New York

Mein Boss war am Silvestermorgen vor mir im Hotel in New York angekommen, hatte mein Weihnachtsgeschenk auf meinem Kopfkissen drapiert und die zweite Schlüsselkarte für sein Zimmer auf meinen Nachttisch gelegt. Juhu! Ich brauche wieder eine Karte!

Jetzt gab es keine Verbindungstür mehr. Wozu auch? Der Attentäter war ja nicht mehr auf freiem Fuß und griff Mr. Superstar nicht mehr mitten in der Nacht an. Jetzt musste es wieder genügen, wenn ich im Notfall schnell durch den Flur zu ihm gelangen konnte. Endlich wieder ein bisschen mehr Privatsphäre. Für uns beide. Und keine blöden Sprüche oder abwertenden Blicke durch das Hotelpersonal mehr, das die Verbindungstür in den falschen Hals bekommen hatte. Ja nee, ist klar. Er bringt sich seine Groupies selber mit und parkt sie im Nebenzimmer. Und damit seine Frau auch ja alles mitbekommt, lässt er beide Zimmer ganz offiziell auf seinen Namen buchen. Was sonst?

Wir verbrachten ohnehin schon oft sechzehn Stunden am Tag oder mehr miteinander. Angefangen beim gemeinsamen Frühstück mit Tagesbesprechung bis hin zur abendlichen Durchsuchung seines Zimmers auf Eindringlinge. Wenn wir die Nächte über im Flugzeug zum nächsten Ziel saßen, wurden es auch mal schnell zwei bis drei Tage komplett am Stück. Da musste nicht auch noch für die wenigen Stunden im Hotel eine Verbindungstür offenstehen, damit wir uns gegenseitig beim Schnarchen zuhören konnten. Nein danke! Ist ja schlimmer als verheiratet sein.

Letzteres kam nun wirklich nicht in Frage. In meinem Fall begeisterter Single durch und durch. Männer konnten zwar für gewisse Stunden manchmal doch ganz interessant sein, aber eben nur kurzfristig und zweckgerichtet. Sich langfristig mit einem bestimmten Exemplar abzugeben war nur in freundschaftlicher Hinsicht vorstellbar. In dem Fall dann aber definitiv ohne Extras. Entweder, oder.

Freundschaften halten bei mir oft ewig, solange keine Extras passieren. Nach erfolgtem Extra war ich immer am Morgen verschwunden.

„Never fuck the company“ galt hier noch zusätzlich und mein Boss war außerdem verheiratet. Auch wenn die beiden aktuell getrennt lebten wäre es mir nie in den Sinn gekommen, auf fremdem Terrain zu wildern. Wilderer werden standrechtlich erschossen.

Gespannt wie ein Flitzebogen führte mein erster Weg in diesem hochklassigen Hotelzimmer nicht wie üblich ins Badezimmer oder zum Rauchen ans offene Fenster. Nein, das hübsch beschleifte Paket auf dem Bett war viel interessanter. Viel, viel, viel interessanter. Und so groß!

Obwohl wir unsere Weihnachtsgeschenke weitgehend gemeinsam erjagt hatten, hatte ich keinen blassen Schimmer, was sich in dem saftig grünen Geschenkkarton verbarg. Entweder hatte er das irgendwo bestellt oder es in den unendlichen Minuten aufgetrieben, die ich ihn in der Mall aus den Augen verloren und verzweifelt gesucht hatte.

Egal. Auspacken! Die Schleife fiel, der Deckel hob sich etwas. Darunter kam schwarzes Seidenpapier zum Vorschein, darauf eine beige Karte mit Goldrand und dunkelroter Schrift:

Hallo Goblin,

willkommen zurück und viel Spaß mit deinem Geschenk heute Abend. Maggy hat es speziell für dich anfertigen und nach New York schicken lassen. Sie lässt dich lieb grüßen.

Ich hoffe, es gefällt dir.

Wenn du über die Festtage etwas zugelegt hast, kein Problem. Es ist leicht größenvariabel. ;-)

Schön dich wieder zu haben!

Dein Boss

Maggy? Dann kann es ja nur super sein!

Maggy hatte mir beim Dienstantritt in L.A. meine komplette Dienstkleidung zusammengestellt. Die perfekte Garderobe für alle Anlässe. Inklusive einiger Teile, die nicht auf der Einkaufsliste meines Bosses gestanden hatten, mir aber sehr viel Freude bereiteten. Und Mr. Superstar Ärger mit seiner Frau eingebracht hatten. Was sollte sie auch denken, als eine ihr bis dahin Unbekannte in halb durchsichtigen Dessous und wehendem Bademantel fullspeed in die Küche gerannt kam? Maggys Geschmack war unbestechlich und unübertrefflich. Sie wusste, was mir stand und zu mir passte. So umfangreich hatte mich vorher noch nie jemand vermessen und abgeschätzt.

Das Geschenk sollte ich heute Abend benutzen? Heute Abend war mein Boss Ehrengast auf einem großen Maskenball im ersten Hotel am Platz. Also in dem Hotel, in dem ich gerade den Brief zur Seite legte und das Seidenpapier aufklappte. Wo sollte Mr. Superstar auch sonst absteigen? Mal ehrlich: Manche Jobs haben ihre Vorzüge und meinen liebe ich.

Eine Halbmaske im venezianischen Stil kam zum Vorschein. In einem dunklen Rotton gehalten, mit rubinroten und schwarzen Glitzersteinen eingefasst. Ein passendes rotes Seidenband diente zum Festbinden. Schwarze Federn bildeten einen üppigen, buschigen Kopfschmuck, der über der Nasenwurzel ansetzte, nach oben führte und sich leicht über Kopfhöhe, wie die Fontäne eines Springbrunnens, in alle Richtungen ergoss. Schwarzglitzernde Ornamente zogen sich in elegant geschwungenen Schleifen vom Nasenrücken aus rund um die Augenöffnungen bis zu den Schläfen.

Die Maske lag auf einem seidig glänzenden Stoff im gleichen Rot. Beim Herausnehmen aus der Schachtel entpuppte sich der Stoff als langärmeliges Kleid mit Schnürung am Rücken. Aha, deswegen größenvariabel. Und mein Tattoo soll wieder rausblitzen. Wiedererkennungswert für die Paparazzi, die mich schon in Miami von hinten mit Mr. Superstar abgelichtet und ihm eine Flamme unterstellt hatten. Diese Mistkäfer!

Allerdings war der untere Teil des Kleides diesmal glockenförmig geschwungen ohne Seitenschlitz. Meine nicht sehr zierenden Unfallnarben am Bein würden also kein zweites Mal erkennbar sein. Bewegungsfreiheit war trotzdem gegeben. Ganz in meinem Sinne.

Von der rechten Schulter ausgehend zog sich, in schwarzen Pailletten, das gleiche Ornament wie auf der Maske über die rechte Brust bis hinunter zur linken Hüfte. Der großzügige Halsausschnitt wurde von kleinen schwarzen Federn eingefasst, die sich vom Dekolleté über die Schlüsselbeine und den Rücken hinab bis zu den oberen Lendenwirbeln zogen. Am unteren Ende des schnürbaren Rückenschlitzes – der gerade rechtzeitig aufhörte, um meine naturgegebene, rückwärtige Spaltung nicht offen zu legen – trafen sich die Federbahnen und führten von da an in einer einzigen Linie weiter hinab. Am Po endeten sie in einem Schweif aus buschig angeordneten, leicht abstehenden, schlanken, unterarmlangen Federn, passend zu denen an der Maske. Irre! Nicht erkenntlich, was das Kostüm darstellen soll, aber es ist toll. Wie Karneval in Venedig.

Zum Anprobieren kam ich nicht, denn es klopfte an der Tür.

„Hallo, ich bin Claire, bis heute Abend gehören Sie mir.“

Das ist mal eine Ansage, aber okay. Klingt nach meinem Boss. Nach dem Kittel der jungen Frau zu schließen gehörte sie zum hoteleigenen Schönheitssalon. Solche Überraschungen kannte ich schon. „Hallo Claire, womit fangen wir an?“

Fango war des Rätsels Lösung. Gefolgt von Massage, diversen Gesichtsbehandlungen, Ganzkörperpeeling, Maniküre, Pediküre, Augenbrauenzupfen und, und, und. Mein Boss ließ mich wieder aufhübschen, damit die Leibwächterin als Begleitung durchging.

Ein netter kleiner Trick, der schon mal funktioniert hatte. Sogar so gut, dass die Medien spekuliert hatten, wer wohl die unbekannte Rückansicht an seiner Seite sein mochte. Anscheinend wollte er dieses Spielchen wieder aufgreifen. Warum auch immer. Er wird schon wissen, was er tut.

Ich genoss das Programm in vollen Zügen, ließ mir von Claire nebenbei die neuesten Infos aus und zu den angesagtesten Locations der Stadt brühwarm erzählen, hielt ein ausgiebiges Schläfchen im Ruheraum, futterte die Gurkenscheiben von meinen Augen und nutzte den Champagnerservice. Ein sehr entspannter und informativer Nachmittag.

Kurz vor acht packte ich fix und fertig gestylt noch schnell Zigaretten, Diensthandy, Ausweis, Schlüsselkarte und etwas Geld in die Handtasche, die sich auch noch zusammen mit den nicht ganz flachen Schuhen im Päckchen befunden hatte. Mein Boss lernte dazu.

Ohne Handtasche war es letztes Mal etwas schwierig gewesen, die nötigsten Dinge im Kleid unterzubringen. Dieses Mal hätte ich nicht einmal etwas in den BH stopfen können. Ich trug keinen. Rückenfrei und BH passt nicht, finde ich. Die Schnürung am Rücken und die dadurch entstandene Enge mussten reichen, um die Schwerkraft im Zaum zu halten. Hoffentlich schafft es wirklich keiner, ein Bändchen zu lösen, sonst steh ich im Freien.

Claire hatte ganze Arbeit geleistet und die Schnürbänder bombenfest verknotet. Alleine würde ich da nicht mehr rauskommen. Zu zweit würde die Entfesselung mehrere Minuten dauern, hatte sie behauptet. Je nachdem, wie geschickt mein Begleiter wäre, kam mit einem Augenzwinkern hinterher. Bitte? Ich geh da mit meinem Boss hin. Rein dienstlich. Keine Gelegenheit für einen Aufriss. Hoffen wir lieber, dass ein Zimmermädchen greifbar ist, wenn wir von der Party zurückkommen.

Pünktlich um acht klopfte mein Boss an die Tür.

Er trug das Gegenstück zu meinem Kostüm. Zwei perfekt aufeinander abgestimmte Galaroben aus dem Hause Maggy. Hose, Gürtel und Hemd schwarz, Fliege und Jackett dunkelrot, mit aufgesetzter Pseudoschnürung am Rücken und einem Saum aus kleinen schwarzen Federn am Kragenaufschlag. Das Ornament, das sich bei mir quer über den gesamten Oberkörper zog, fand sich auf seinem linken Ärmel und rechten Hosenbein wieder. Seine rote Maske hatte keine Glitzersteinchen, nur das Ornament und den schwarzen Federschmuck. Letzterer weniger üppig, nicht zentriert über der Nase, sondern wie bei einem Uhu über den Augen. Seine Manschettenknöpfe waren auf der einen Seite rubinrote, auf der anderen schwarze Funkelsteine. Er sah super aus, begrüßte mich mit einer kleinen Umarmung, machte Komplimente, bot mir seinen Arm an, nahm meinen Dank für das tolle Geschenk entgegen und fragte: „Wann bekomme ich mein Geschenk?“ Das war so klar.

„Du wolltest ja nicht, dass ich es dir da lasse, bevor ich heimflog. Sonst hättest du es längst.“ Jetzt lass ich dich zappeln.

„Ja, aber doch nur, weil deines auf dem Weg hierher war und ich nicht Geschenke tauschen konnte.“

„Pech für dich. Bisher hatte ich noch keine Zeit, es rauszuholen. Bekommst du morgen früh.“

„Also erst nächstes Jahr!“, entsetzte er sich gespielt.

„Diva!“, gab ich zurück. Jetzt musste er kichern. Schon zu oft hatten ihn irgendwelche Medienfuzzies als Diva bezeichnet, als dass er es noch ernst genommen hätte. Man darf nur nicht den Humor verlieren. Oder den Geschmack an gesunder Selbstironie.

„Verrätst du mir, warum man mich als die geheimnisvolle Lady aus Miami wiedererkennen soll?“, erkundigte ich mich im Aufzug.

„Was meinst du?“, fragte er schelmisch zurück.

„Offener Rücken, damit man das Tattoo schön sieht? Als Begleiterin mitten drin statt als dezenter Schatten im Hintergrund nur dabei? Eigentlich hatte ich erwartet, mit den anderen Bodyguards hübsch unauffällig im schwarzen Anzug am Rand zu stehen. Vielleicht hätte ich mir noch einen schwarzen Sack mit Gucklöchern aufgesetzt.“ Kostüm moderner Henker. Simpel aber wirkungsvoll. Und ich hätte mir die ganze Farbe im Gesicht gespart.

Verschmitzt lächelnd gestand er: „Das war die Idee meiner Frau.“

„Was? Ich dachte, sie kann mich nicht leiden.“ Nach unserem ersten und einzigen Zusammentreffen, den Flammengerüchten und anderen Mutmaßungen der Medien sowie meiner Daueranwesenheit an der Seite ihres Mannes, würde ich mich an ihrer Stelle auch nicht ausstehen können.

„Sie meinte, es wäre ihr lieber zu wissen, wen sie auf den Fotos sieht, und auch die Jungs wüssten dann auf den ersten Blick Bescheid, wenn Gerüchte um den Globus schallen. Bei dir wissen sie ja, dass deine Anwesenheit nichts Zweifelhaftes an sich hat. Meine Jungs feiern dich und George übrigens als Helden.“

„Eine Heldin ohne Führerschein…“ Kollateralschaden…

„Den bekommst du wieder. In drei Wochen ist die Anhörung. Mein Anwalt rechnet dir gute Chancen aus. Die Polizei hat dich ja praktisch gezwungen, selbst aktiv zu werden.“

„Die habe ich aber erst angerufen, als ich schon vor dem Haus stand. Vorher hab ich nur dem Sicherheitsdienst gesagt, die sollen Polizei, Feuerwehr, SWAT und Hundestaffel schicken und wusste noch nicht, dass die nicht kommen würden“, gab ich zu bedenken.

„Hundestaffel? Ernsthaft?“, lachte er. Dann nahm er sich zusammen: „Haarspalterei. Mach dir keinen Kopf, jetzt feiern wir erst mal.“

Mit diesen Worten reichte er dem Türsteher vor dem Ballsaal die Einladung und die riesigen Flügeltüren öffneten sich.

Warme Luft, Stimmengewirr, Musik und ein optisches Feuerwerk schlugen uns entgegen. Wie die Pforte zu einer anderen Welt.

Paradiesvögel aller Gattungen schwärmten über die Tanzfläche, zwischen Tischen hindurch, umeinander herum und sogar übereinander hinweg. Nein, nicht auf diese Weise übereinander hinweg. Wer Böses dabei denkt, ist selbst ein Schwein. Von der Decke hingen Schaukeln und Seile, an denen sich phantastisch bunte Gestalten akrobatisch wanden, während sie durch die Luft schwangen. Die Künstler waren hoch genug oben, um nicht versehentlich einen Gast bei ihren Kunststücken zu erwischen. Die eine oder andere Dame mit hohem Kopfputz oder besonders große Herren zogen dennoch die Köpfe ganz automatisch ein. Leider war keiner davon als Schildkröte verkleidet. Das Bild wäre zu genial gewesen.

Egal ob barocke Turmfrisur, obstkorbähnliches Gebilde, prächtiger Federschmuck oder überragende Körpergröße, keiner lief Gefahr, einen Fuß abzubekommen. Die turnenden Vögelchen schafften es kaum gewollt, Kontakt zum Fußvolk am Boden aufzunehmen. Als sich eines nach einer Wasserflasche reckte, hing es nur noch mit den Knöcheln an seiner Stange und schaffte es gerade noch so, die erstrebte Flasche aus einer nach oben gereckten Hand zu ergreifen. Das auch nur, weil der Mann, der diese hinaufreichte, locker Basketballprofi hätte sein können.

Die Akrobaten trugen zudem Sicherungsgurte um den Bauch, die am jeweiligen Turngerät festgehängt waren. Trotzdem wurden unterhalb der herabhängenden Gestalten großzügige Inseln frei gelassen. Mit zunehmender Stunde und Gästezahl würden diese sich füllen und es könnte amüsant werden, wenn sich ein Spaßvogel bei vollem Haus in seinen Gurt fallen ließe. Bei diesem Bild auseinanderspritzender Celebrities in meinem Kopf ließ sich ein Schmunzeln nicht vermeiden.

Am anderen Ende des Saales spielte eine große Tanzkapelle vor der Fensterfront. Alle Musiker in Smoking oder schlichtem Abendkleid, mit ebenso schlichter Zorromaske, hoben sich deutlich vom farbenfrohen Rest ab. Ausnahmsweise waren auf Seiten der Gäste selbst die Herren mal bunt und nicht alle im gleichen langweiligen klassischen Smoking unterwegs. Die meisten Aufmachungen waren mehr elegant als humoristisch, ließen es aber dennoch nicht an Phantasie fehlen. Historische Könige und Königinnen, karibische Schönheiten, neckische Fabelwesen, aufgepolsterte Barbieverschnitte, noble Vampire, feurige Teufelchen, knackige Catwomen, zauberhafte Feen, zierliche Elfen, irische Kobolde, exotische Außerirdische, vornehme Ritter, edle Robin Hoods, grazile Pfauen, prunkvolle Pharaonen, sexy Schmetterlinge, herrschaftliche Generäle und venezianische Aristokraten gaben sich die Ehre.

Eine ältere Lady im weißen Kleid, die einen Engel mit enormen Flügeln, Rauschgoldlocken und Heiligenschein darstellte, sah etwas verärgert aus, weil sie wiederholt nach Getränken gefragt wurde. Kein großes Wunder, aber doch vermeidlich. Die Kellner und Kellnerinnen waren alle in weiße Anzüge mit kleinen weißen Flügelchen an den Jacketts gekleidet, aber ohne Heiligenschein. Wenn man die Augen aufmachte bestand keine wirkliche Verwechslungsgefahr. Aber wer der hier Anwesenden machte sich schon die Mühe, eine potentielle Bedienung näher anzusehen?

Die diversen Leibwächter der durchweg hochkarätigen Gäste stachen direkt ins Auge, auch ohne zweiten Blick. Nicht nur ihre Körperhaltung und Standortwahl verrieten sie. Diese Herren waren als einzige nicht kunterbunt oder wenigstens maskiert. Jetzt wurde mir klar, warum mein Boss beziehungsweise seine Frau mich im passenden Kostüm an seine Seite geholt hatte. Ich war der einzige Personenschutz, der nicht gleich jeden neutralen Beobachter förmlich ansprang. Wenn ich jetzt noch möglichst den Mund hielt, würde die mysteriöse Maskenträgerin am Arm eines der Ehrengäste weiterhin ein Rätsel bleiben. Könnte lustig werden. Besonders, wenn die Circen versuchten, mir Details über meinen Begleiter und/oder mich aus der Nase zu ziehen.

„Sag mal Boss, legst du viel Wert darauf, dich mit mir zu unterhalten? Sonst könnte ich heute stumm spielen.“

Er sah mich überrascht an: „Du redest doch sowieso meistens nicht viel. Warum jetzt gar nicht mehr?“

„Wenn ich schon die mysteriöse Begleitung gebe, dann wäre es doch lustiger, echt mysteriös zu sein. Ich wette, sobald du dich kurz von mir wegdrehst, hab ich eine Horde neugieriger Waschweiber am Hals, die mich ausquetschen wollen.“

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Augen hinter der Maske. „Es wäre aber noch lustiger, sie deine Herkunft nach deinem Akzent erraten zu lassen. Der ist nicht immer typisch deutsch. Manchmal klingst du nach amerikanischer Ostküste, manchmal nach Mittlerem Westen. Inzwischen hast du auch kleine australische Elemente angenommen. Deine Aussprache, Betonung und Wortwahl verändern sich, je nachdem, wo wir gerade sind oder mit wem du dich unterhältst“, gluckste er.

Jetzt war ich erstaunt. Bewusst die Sprache zu wechseln, je nach Gesprächspartner, ja, selbstverständlich. Unbewusst zwischen verschiedenen westdeutschen Dialekten und Hochsprache wechseln, ja, kann passieren. Das geschieht ganz automatisch ohne mein Zutun, wenn ich länger einem bestimmten Dialekt ausgesetzt bin. Oft registriere ich es nicht einmal.

Jetzt machte mein Hirn diesen Mist also auch schon im Englischen. Das kann ja heiter werden. Irgendwann verliere ich meine sprachliche Identität komplett. Nicht mal auf seinen fiesen deutschen Akzent kann man sich verlassen.

Okay, ich hatte schon festgestellt, dass der harte Deutschton wesentlich stärker ausgeprägt war, wenn jemand nasales britisches Englisch mit mir sprach oder selbst einen starken nicht-amerikanisch-englischen Akzent hatte. Aber war das so ausgeprägt, dass es auch anderen auffiel? Ich sah meinen Boss groß an: „Ist das echt so schlimm? Manchmal merke ich ja selbst, dass der Akzent mehr oder weniger wird. Aber bin ich wirklich so ein sprachliches Chamäleon?“

Ein zauberhaftes Lächeln antwortete: „Diskutieren wir das morgen. Wenn du stumm spielen willst, solltest du jetzt die Klappe halten, sonst glaubt es dir keiner mehr.“

Einverstanden, gab ich mit einem Nicken zu verstehen.

Nach der üblichen Begrüßungsrunde mit Küsschen links und Küsschen rechts, Schulterklopfen und aufgesetztem Lächeln, gegenseitiger Lobhudelei und Austausch von Höflichkeiten schaffte mein Boss es schließlich an seinen Tisch. Zum Glück musste ich nicht an den Ritualen und Schmeicheleien teilnehmen.

Mein Boss stellte mich der Höflichkeit halber als seine Begleitung vor und merkte an, dass ich leider auf Grund einer Stimmbandentzündung nicht sprechen dürfe. Damit hatte ich meine Ruhe, musste mich nicht unterhalten, konnte in Frieden die Umgebung und die Anwesenden sondieren.

Die anderen Ehrengäste zu begrüßen dauerte noch länger als beim Rest. Noch mehr gegenseitige Wertschätzung war zu bekunden. Die Laudatoren, die eine halbe Stunde später zu Wort kamen, schafften es unglaublicher Weise, die Schleimspur sogar noch zu übertreffen, die zuvor am Ehrentisch begonnen hatte. Eine bemerkenswerte Leistung. Vor allem, dass keiner darauf ausgerutscht war.

Gegen halb zehn war das offizielle Geschmeichel endlich vorbei und der angenehme Teil begann. Erst mal zur Bar. Mr. Superstar bestellte einen Bourbon für sich und einen Ipanema für mich. Im Dienst war ein richtiger Caipi ja nicht angebracht. Erst recht nicht nach der halben Flasche Schampus, die sich am Nachmittag bereits in meinen Magen verirrt hatte.

Kaum drehte mein Boss sich einmal um, geschah auch schon genau das, was ich prophezeit hatte. Nur mit anderem Geschlecht als vermutet.

Ein feuchter Traum von einem Waldläufer mit wallender brauner Mähne und kurzem, gepflegtem Bart stellte sich neben mich, stieß mit mir an und versuchte ein Gespräch zu beginnen.

„Guten Abend, schöne Frau. Darf ich fragen, was Euch den weiten Weg aus Venedig zu mir geführt hat?“

Och, ehrlich jetzt? Hättest du doch den Mund gehalten. So sexy und doch schon durchgefallen. An einem anderen Abend vielleicht. Da kannst du noch so lecker riechen… Mit dem Spruch… keine Chance.

Entschuldigend zeigte ich erst auf meinen Hals, auf die Stelle, an der ich die Stimmbänder vermutete, und schwenkte dann den erhobenen Zeigefinger von links nach rechts und wieder zurück, während ich den Kopf schüttelte.

Mein Gegenüber sah zuerst etwas dumm drein, bis er begriff: „Oh, die holde Dame ist des Sprechens nicht mächtig.“

Dieses Mal nickte ich, stieß noch einmal mit dem stattlichen Robin-Hood-Verschnitt an und ging. Mein Boss war drei Meter weiter in eine Unterhaltung verstrickt und warf gerade einen Blick in meine Richtung. Zeit für mich, nachzurücken.

Der fast noch junge Mann ließ sich aber nicht so leicht abwimmeln. Er stellte seinen Drink ab, folgte mir, legte eine Hand auf meine Schulter – Wow! Blitzschlag! – die andere auf die Schulter meines Bosses und sprach nun diesen an: „Edler Herr, darf ich Eure schweigsame Begleitung für einen Tanz entführen?“

Mein Boss sah erst die Hand auf seiner Schulter kritisch an, dann auf meine explosionsartig beginnende Gänsehaut am Dekolleté und das angedeutete Kopfschütteln, schwenkte zum Gesicht des Aufdringlings und starrte ihm einfach nur in die Augen.

Der zog seine Hand umgehend, aber nicht eilig, vom Superstar weg und verbeugte sich: „Vergebt mir meine Vermessenheit.“ Nur, wenn du dich sofort verkrümelst!

Ich verdrehte die Augen und schob seine Hand von meiner Schulter. Von mir hatte er sie nicht von selbst weggenommen.

Er warf mir einen frechen Blick zu, trat aber einen Schritt zurück. Betont langsam hängte ich mich demonstrativ bei Mr. Superstar ein und sah die zu nahe gekommene Sahneschnitte noch mal abschätzend über meine Schulter an. Der Betrachtete grinste nur süffisant, während er sich in Zeitlupe rückwärtsgehend zu seinem Drink an die Bar zurückzog. Dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen. Die kleinen Härchen, die sich bei seiner Berührung aufgestellt hatten, legten sich allmählich, die zwei kleinen Beulchen im vorderen, oberen Bereich meines Kleides – meine beiden Nippel hatten sich ebenso wie sämtliche Härchen sofort senkrecht, betonhart aufgestellt – reduzierten sich wieder. Tief durchatmen! Ich wandte mich wieder meinem Boss und seiner unmittelbaren Umgebung zu, bemühte mich den Kerl zu verdrängen.

Einfach ignorieren klappte bei diesem mittelalterlich angehauchten Zeitgenossen aber nicht. Jedes Mal, wenn mein Boss sich entfernte – sei es in Richtung Toilette, zum Mikrofon, in eine Männerrunde oder auf die Tanzfläche – tauchte der grünbraune Schatten neben mir auf, bot mir Drinks an, forderte mich zum Tanzen auf, textete mich mit irgendwas zu oder stellte Ja-Nein-Fragen.

„Ihr braucht nur zu nicken. Auch ein Schütteln Eures Hauptes gibt mir Antwort“, erklärte er besonders geistreich, als ich ihn zum wiederholten Mal schlicht stehen ließ.

Ach echt? Da wäre ich jetzt nicht drauf gekommen. Gibt dir auch ein Tritt in deine Hinterbacken etwas Verständliches kund? Unfassbar! So was Aufdringliches.

Wie sollte ich meinen Job machen mit diesem Nervbolzen im Nacken? Mit diesem sexy, leckeren, herrlich duftenden Nervbolzen zum Anbeißen. Ich kann nicht klar denken, wenn der neben mir steht! Stecken niedere Instinkte im Reptilienhirn oder im Frontlappen?

Solche Ablenkung konnte ich nicht gebrauchen. Machte der das mit Fleiß? Verfolgte er ein bestimmtes Ziel, außer dem, mich zu nerven?

„Dein Verehrer ist ganz schön hartnäckig“, bemerkte mein Boss.

Meine Antwort bestand aus einem Darth-Vader- Schnaufen.

„Zu schade, dass du beschlossen hast, stumm zu spielen. Den Spruch, mit dem du ihn sonst in die Wüste schicken würdest, hätte ich zu gerne gehört. Hahahaha…“ Du willst nicht wissen, was mir gerade auf der Zunge liegt. Oder was die gerne mit ihm machen würde.

Ob er unter der Maske sehen konnte, wie meine Augenbraue stieg? Scheint so. Beide Hände beschwichtigend vor sich gehalten lachte er weiter: „Was hältst du von einer Pause von deinem Verehrer und etwas frischer Luft? In zehn Minuten ist Mitternacht. Auf dem Dachgarten können wir in Ruhe eine rauchen und das Feuerwerk gut sehen.“

Die Idee werden mehrere haben. Das Dach wird noch voller sein als der Saal, dachte ich mir, nickte aber trotzdem, hakte mich bei ihm ein und ließ mich aus dem Saal führen. Mein Schatten folgte in einigem Abstand, unterließ es dann aber kurzfristig doch, uns auf den letzten Metern in den Fahrstuhl zu folgen. Lag vermutlich an dem Schritt, den Mr. Superstar noch mal kurz mit gestrafften Schultern und geschwellter Brust in Richtung der sich schließenden Türen machte, als der Waldläufer sich näherte. Ich liebe primitive männliche Drohrituale! Und manchmal hätte ich zu gerne einen Elektroschocker als Dienstwaffe. Und sei es nur, um solche Typen zu verjagen!

Zum Glück würde der breitschultrige Grinsekater mich in meiner normalen Aufmachung nie im Leben wiedererkennen, falls wir uns in den nächsten Tagen hier noch mal über den Weg laufen sollten. Ich musste nur heute Nacht überstehen.

Mein Boss dachte in ähnlichen Bahnen: „Ruhig Blut. Das ist niemand Wichtiges oder Bekanntes. Vielleicht hat er die Karte gewonnen oder jemand war ihm einen Gefallen schuldig. Vermutlich wird er nie wieder irgendwo auftauchen“, klopfte er mir auf dem Handrücken herum. Was soll das denn? Soll das beruhigend wirken? „Warum reagierst du eigentlich so gereizt auf ihn? Sonst flirtest du doch gerne“, setzte er nach.

Ja, ich flirte gerne. Wenn ich dabei alle meine Sinne beieinander habe und die Oberhand behalte. Solange es nur ein Spaß für mich ist. Nicht, wenn schon bei seiner Hand auf meiner Schulter und seinem Geruch in meiner Nase alles in mir nach Parisern schreit. Und seine Stimme… Gänsehaut pur.

„Kein Kommentar.“

Der Dachgarten, wenn man die paar Gemüsehochbeete und den grünen Teppich so nennen wollte, war bereits gut besucht. Bis zu einer kleinen Absperrung drängte man sich schon für das kommende Feuerwerk zusammen. Wir ergatterten noch ganz am Rand einen Stehplatz nahe einer Art Schießscharte, die mit einem metallenen Gitter den Raum zwischen den Zinnen sicherte. Ein Mann im Mottenkostüm hatte diesen Aussichtsplatz gerade frei gegeben, um sich zu einer größeren Gruppe zu gesellen. Weggegangen, Platz gefangen.

Das war nicht der höchste Punkt des Hotels, aber auf die Dächer der Türme durfte man nicht rauf. Von hier aus hatten wir trotzdem hoffentlich eine schöne Sicht auf das Feuerwerk, auch wenn die umgebenden Gebäude sicher einiges an Sicht rauben würden. Von unseren Zimmern, weiter oben in einem der Türme, hätten wir vermutlich mehr gesehen. Aber was solls. Silvester in New York hatte ich schon immer mal erleben wollen. Wobei mir eher ein Partyboot oder der Times Square vorgeschwebt hatten, mit dem legendären Ball Drop. Voller als hier konnte es dort auch nicht sein.

Und kälter auch kaum. Den lausig kalten Wind hatte ich nicht auf dem Plan gehabt. Im Saal war das lange Kleid grenzwertig warm gewesen, nun schlugen meine Zähne im Stakkato aufeinander. Besonders der ungeschützte Rücken hatte unter der beißenden Kälte zu leiden. Ganz instinktiv versuchte ich meinen Boss als Windfang zu benutzen. Mich direkt drandrücken wollte ich nicht, also Windfang auf Distanz. Leider kamen die Böen abwechselnd aus unterschiedlichen Richtungen, menschliche Schutzwand klappte somit nicht besonders gut. Mr. Superstar war auch zu sehr mit diversen Gesprächspartnern beschäftigt, um es zu bemerken. Ihn zu unterbrechen wäre unhöflich und unpassend gewesen. So schlang ich die Arme um den Oberkörper, biss die Zähne zusammen und hoffte, Warmzittern würde funktionieren.

Auf dem roten Teppich haben die Damen oft weniger an, bei vergleichbarem Wetter. Bei Open Airs war ich auch schon luftiger bekleidet. Nicht verweichlichen, jetzt! Ich werde doch wohl eine läppische halbe Stunde oder Stunde so aushalten.

Bis der Countdown gezählt, das typische New Yorker Neujahrslied gesungen und das Feuerwerk im Gange war, hatten meine Finger eine dezent blaue Färbung angenommen. Der Körper war ein einziger Eisklumpen, alle Muskeln starr vor Kälte, sämtliche Gelenke steifgefroren. Keine Standfestigkeit oder Wehrhaftigkeit war mehr vorhanden. Jeder kleine Rempler, der sonst gar nicht aufgefallen wäre, brachte mich ins Schwanken. Ein kleiner Schubs ließ mich zur Seite stolpern, die Stoßenergie an die Nächsten neben mir weiterreichen. Die schubsten zurück. Entweder aus Spaß oder aus Ärger. Das variierte. Es hatte etwas von Ping-Pong mit mir als Ball. Flippern kam dem auch nahe. Immer schön abprallen, kurz zurückrollen und wieder angeschoben werden. Das Spiel überforderte meine steifen Gliedmaßen.

Der einzige Ausweg, den ich sah, war die Zinne gleich neben mir. Daran konnte man sich sicher anlehnen und hatte eine stabile Stütze. Ganz langsam, sonst bricht noch ein Bein ab, oder ein Muskel zerspringt in hundert kleine Scherben. Vorsichtig das Ziel ansteuern. Bin ich am Boden festgefroren? Beine heben ist echt schwer!

Im Krebsgang versuchte ich mich zur Seite zu schieben ohne wieder mit jemandem zu kollidieren. Vergeblich. Ein Schmetterling mit enormen Flügeln hatte die Lücke neben mir als Einflugschneise zu ihrem Nachtfalter gesichtet. Das Insekt bremste nicht vor dem schenkelweichenden Krebs ab. Sie machte einen kleinen Schwenk nach links, weg von der Zinne, streifte mich so hart, dass ich zum Rand des Daches hin beschleunigt wurde.

Wie eine angeschnittene Billardkugel mit Drall bewegte ich mich dadurch nicht geradeaus zur anvisierten Zinne, sondern leicht nach rechts versetzt zum Raum zwischen den Zinnen. Achtung, Albatros im Anflug! Mit einem torkelnden Schritt traf meine Schulter das eiserne Gitter in diesem Zwischenraum. Es gab nach! Ist der Mörtel auch gefroren und zerbrechlich? Das Metall spröde durch die Kälte? Von den vier Ankerpunkten des Gitters hielten nur drei dem Aufprall stand: Die beiden unteren und der obere rechte. Die obere linke Ecke der Absperrung schwang nach außen. Das Gitter verbog sich, stand in null Komma nichts zwanzig Zentimeter ab – im freien Luftraum – und gab weiter nach. Die Schulter, die dies verursacht hatte, folgte dem Metall über den Dachrand hinaus. Der Schulter folgte wiederum der Oberkörper und der Rest des starren Eiszapfens namens Goblin. Das Mäuerchen unter dem Gitter war nicht einmal hüfthoch.

Wo ist mein Schwerpunkt gleich noch mal?

Wow, gehts da tief runter!

Das wurde mir nur zu bewusst, als ich die Straße zwanzig Stockwerke unter mir plötzlich aus der Vogelperspektive wahrnahm, mit der Aussicht auf einen Sturzflug samt Bruchlandung. Die zahlreichen Federn am Kostüm würden nicht helfen, den Sturz zu bremsen, kräftig mit den Flügeln schlagen war keine aussichtsreiche Option.

Mitsamt dem Gitter unter mir geriet ich zusehends immer weiter in die Waagerechte. Die steifgefrorenen Finger konnten keine Steinkante zu fassen bekommen, die Muskeln und Gelenke keinen Gegendruck aufbauen. Zum Schreien fehlte mir die Luft vor Schreck.

Langsam rutschte ich über die Kante. Der Oberkörper hing schon im Freien, die Hüfte noch am Gitter. Allmählich verlor ich den Boden unter den Füßen. Das wars dann wohl. Als Federvieh vom Dach gesegelt. Ein Abgang, gefedert, aber nicht geteert. Mein Ende hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.

Der Schrei, den sich meine Kehle auszustoßen weigerte, erklang stattdessen hinter mir, einige Tonlagen tiefer als meine. Ein paar Fingernägel kratzten über meinen Rücken, das Kleid spannte plötzlich um den Brustkorb herum extrem, mir blieb endgültig die Luft weg. Es ging leicht rückwärts, weg vom Abgrund. Meine Füße meldeten wieder Bodenkontakt – auf dem Dach, nicht über fünfzig Meter tiefer. Eine Hand schloss sich um meine Schulter, zog mich zusammen mit den Fingern, die meinen Rücken aufgekratzt hatten, in einem heftigen Ruck zurück.

Ein knallendes Geräusch. Anders als die Klänge des Feuerwerks. Irgendwie schnalzend. Reißend. Der Druck um meinen Oberkörper war verschwunden. Die Hand an meiner Schulter drehte mich um. Mein Boss starrte mich entsetzt an. Erst in die Augen, dann eine Etage tiefer. Mein Blick folgte seinem in Zeitlupe an meiner Front herab. So viel zur stabilen Schnürung. Wenigstens muss ich nachher kein Zimmermädchen mehr suchen, um mich aus dem Kleid zu befreien. Das hat nun doch mein Begleiter erledigt, in unter drei Sekunden.

Mein Hirn war wohl auch steifgefroren. Denn ich machte keinerlei Anstalten, meine Blöße zu bedecken. Starrte nur sehr langsam von meinem herabgerutschten Kleideroberteil zu meinem Boss und zurück auf meine blanken Brüste. Superstar schaltete nun, riss sein Jackett auf, machte einen Schritt auf mich zu, schloss Arme und Jacke zugleich um mich. Oh, schön warm an seiner Brust.

Meine Augen schlossen sich automatisch, ich versuchte Luft zu holen. Es fiel unendlich schwer. Das war knapp. Zu knapp. Mein Zittern nahm zu. Die menschliche Wärmflasche, die mich umschlossen hielt, zitterte mit.

Ein kreischendes, schrilles Lachen und Blitzlicht verpassten mir eine Ohrfeige. Die Realität schlug über mir zusammen und ich die Augen wieder auf. Der überzüchtete Schmetterling, der mich zuvor in die missliche Richtung angestoßen hatte, flatterte hinter Mr. Superstar auf und ab, johlte, kreischte und kriegte sich gar nicht mehr ein über die tolle Show, die sie eben erlebt hatte. Dummes Huhn!

Der Nachtfalter, den sie umschwirrte, war nicht recht viel heller als sie. Er machte breit grinsend Fotos mit dem Handy und hielt mit der anderen Hand einen hochgereckten Daumen in meine Richtung. Ja, super Show. Wohl Motten im Hirn!

Der Rest der Umstehenden hatte die Lage besser erkannt, lachte nicht – zumindest nicht offen –, zückte aber auch die Handys. Das würden Bilder werden… Und ich konnte nichts dagegen tun.