Wendepunkte - Ulrich Menzel - E-Book

Wendepunkte E-Book

Ulrich Menzel

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wohin steuert die Welt?

Die internationale politische und wirtschaftliche Ordnung sowie deren Erklärungsmodelle sind durch eine Krisenkaskade erschüttert worden, die mit Putins Angriff auf die Ukraine ihre Klimax erreicht hat. Vor diesem Hintergrund identifiziert der renommierte Politikwissenschaftler Ulrich Menzel die Wendepunkte einer Welt in Aufruhr. Die Globalisierung ist entzaubert, die USA und China ringen um die Hegemonie. Wir erleben eine Rückkehr alter Grenzen, der Anarchie der Staatenwelt, des Autoritären (weltweit und in den liberalen Gesellschaften), ja sogar des Krieges in Europa. Stehen wir am Übergang vom liberalen amerikanischen zum autoritären chinesischen Jahrhundert? Wie soll sich Europa, wie soll sich Deutschland in dieser Übergangsphase positionieren?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 354

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover

Titel

3Ulrich Menzel

Wendepunkte

Am Übergang zum autoritären Jahrhundert

Suhrkamp

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Zur Gewährleistung der Zitierfähigkeit zeigen die grau gerahmten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2795.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77682-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung Eine Wortmeldung aus gegebenem Anlaß

I

Alte und neue Grenzen

1. Das Eigene und das Fremde Revisited

II

Der Wiederaufstieg Asiens

2. Der doppelte Einfluß Europas Der langsame Abstieg und der rasche Wiederaufstieg Asiens

Das alte Weltsystem

Die »Teilung« der Welt in Tordesillas und die Gründung des Estado da Índia

Mare clausum versus Mare liberum

Die Teilung des Estado da Índia zwischen

VOC

und

EIC

Der englische Merkantilismus und der Niedergang »Indiens«

Freihandel und Kanonenbootdiplomatie

Transportrevolution und Treaty Ports

Der Wiederaufstieg Asiens

3. Asiatische Produktionsweise vs. angelsächsischer Kapitalismus China als bürokratischer Entwicklungsstaat in Reinkultur

4. Die Neue Seidenstraße als Projekt einer eurasischen Weltordnung

III

Der doppelte Übergang

5. Vom amerikanischen zum chinesischen Jahrhundert

6. Aufstieg und Niedergang des kapitalistischen Weltsystems aus der Logik des Profits und der Logik der Rente

IV

Das Ende der großen Erzählung vom Segen der Globalisierung

7. Corona und andere Totengräber der Globalisierung

8. Der Einfluß der Globalisierung auf den Strukturwandel des Parteiensystems

V

Zeitenwende

9. Der Strukturwandel des internationalen Systems in Richtung Ost-West-Konflikt 2.0

10. Putins Krieg und die Zukunft der liberalen Weltordnung

Die alte Weltordnung

Die Krisenkaskade als Folge der Globalisierung

Putins Krieg

Was heißt das für die Paradigmen der

IB

und

IPÖ

?

Die gegenwärtige paradoxe Konstellation

Fazit

Druck- und Onlinenachweise

Fußnoten

Informationen zum Buch

3

5

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

21

22

23

24

25

26

27

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

61

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

181

183

184

185

186

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

225

226

227

229

230

231

232

233

234

235

236

237

238

239

240

241

242

243

244

245

246

247

248

249

250

251

252

253

254

255

256

257

258

259

260

261

262

263

264

265

266

267

268

269

270

271

272

273

274

275

276

277

278

279

280

281

282

283

284

285

286

287

288

289

290

291

292

293

294

295

296

297

298

299

301

302

303

304

305

306

307

308

309

310

311

312

313

314

315

316

317

318

319

320

321

322

323

324

325

326

327

328

329

330

331

332

333

334

335

336

337

338

339

340

341

342

343

344

345

346

347

348

349

7Einleitung Eine Wortmeldung aus gegebenem Anlaß

In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 hat Olaf Scholz in Reaktion auf den Angriff russischer Truppen gegen die Ukraine mit dem viel zitierten Begriff »Zeitenwende« das Stichwort zur Kennzeichnung der Weltlage geliefert. »Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.«[1]  Seitdem drehte sich die Debatte um die praktischen Konsequenzen des Begriffs und welche Zeit diese in Anspruch nehmen. Anfang des Jahres 2023 verengte sie sich immer wieder auf die Frage, welche Waffen die Bundesrepublik in welchem Zeitraum und in welcher Stückzahl bereit und vor allem in der Lage ist, an die Ukraine zu liefern, ohne damit in einen regelrechten Krieg mit Rußland hineingezogen zu werden. Ein echtes Dilemma, dessen scheinbare Auflösung immer neue »rote Linien«, 8die nicht überschritten werden dürfen, verlangte. Die Gegenposition lautete, einen Verhandlungsprozeß in Gang zu setzen, ohne klarzumachen, wie Putin dazu bewegt werden könnte.

Dieses enge Verständnis des Begriffs »Zeitenwende« verschleiert leider, daß die Welt an einer viel epochaleren Wende steht. Es reduziert den Begriff auf das Kriegerische, verwendet ihn aus einer eurozentrischen Perspektive, weil es nur auf den Krieg in Europa fokussiert ist, es unterschlägt, daß es in den letzten Jahren nicht nur einen, sondern eine ganze Kette von Anlässen gegeben hat, von einer Zeitenwende zu sprechen, und es macht sie vor allem an einem Ereignis, gar an einem Tag, nämlich dem 24. Februar 2022, fest. Demgegenüber läßt sich anführen, daß auch 9/11, der Tag des Angriffs auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 und der anschließende weltweite Kampf gegen den Terror eine Zeitenwende markiert hat. Der Terror ist dadurch nicht weniger geworden, sondern hat eine neue Konfrontation zwischen der westlichen und der muslimischen Welt befördert. Oder die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 mit der anschließenden globalen Finanzkrise, die etliche Staaten an den Rand des Staatsbankrotts getrieben hat und trotz einer bis vor Kurzem von den Zentralbanken rund um den Globus verfolgten Null-Zins-Politik noch keineswegs überwunden ist. Oder die Flüchtlingskrise des Jahres 2015, die sich zu einer neuen Völkerwanderung und einer Abschottung des Nordens gegenüber dem Süden ausgewachsen hat. Oder die Coronakrise 2020/21 mit den weltweiten Lockdowns und Unterbre9chungen der Lieferketten und und und. Kriege gibt und gab es nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Komplex Irak/Syrien, im Komplex Äthiopien/Eritrea, in Afghanistan, im Jemen, in Libyen, im Sudan, in der Sahelzone und und und, wobei jeweils die Grenzen zwischen klassischem Krieg und Bürgerkrieg mit oder ohne Intervention von dritter Seite, ob staatlich oder durch private Söldner exekutiert, verschwimmen. Gerade Letzteres ist auch in der Ukraine der Fall. Wie lassen sich Putins Krieg und dessen leidvolle Folgen gewichten gegenüber der Finanzkrise, der Flüchtlingskrise, der Coronakrise und vor allem der Klimakrise und deren Folgen? Wie kommt es, daß sich in den letzten Jahren die Krisen mit globalen Folgen so sehr häufen, sie in immer dichterer Abfolge auftreten mit dramatischen Wechselwirkungen, die ihre Handhabbarkeit immer schwerer machen? Besonders fatal ist der Effekt, daß der eigentlich prioritär zu führende Kampf gegen den Klimawandel immer wieder aus aktuellem Anlaß in den Hintergrund rückt, manchmal wie im Falle der Energiekrise sogar Maßnahmen verlangt, die kontraproduktiv für die Eindämmung des Klimawandels sind. Nicht zuletzt muß die Frage gestellt werden, warum sich Putin stark genug gefühlt hat, diesen Krieg vom Zaun zu brechen in der trügerischen Annahme, ihn nach wenigen Tagen siegreich beendet zu haben – widerspricht sein Verhalten doch allen empirisch gesättigten und argumentativ schlüssigen Gewißheiten, die die Lehre von den Internationalen Beziehungen mit ihren konkurrierenden Paradigmen Idealismus, Institutionalismus und Realismus anbietet, warum so ein Krieg im Herzen von Europa im 21. Jahr10hundert nicht mehr stattfinden kann. Die Antwort auf alle diese Fragen liefert das vierte Paradigma, der Strukturalismus.[2]  Der Begriff »Wende« muß demnach in dem Sinne verstanden werden, daß wir uns in einer Welt des Übergangs befinden, der zudem in mehreren Dimensionen stattfindet. Insofern ist es präziser, von Wendepunkten in einer Übergangsphase zu sprechen, wie der Titel dieses Bandes annonciert.

Der erste Übergang ist politischer Natur und liegt begründet im relativen Abstieg der USA als globale Führungsmacht gemessen an dem Zenit, in dem sie nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und der Auflösung der Sowjetunion in den Jahren 1989/90 gestanden haben. Auch dieses Ereignis wurde damals und wird immer noch, gerade im Hinblick auf die Konsequenzen für die DDR, als »Wende« bezeichnet. Er liegt ferner begründet im relativen Aufstieg Chinas als künftige globale Führungsmacht. Xi Jinping hat angekündigt, die Volksrepublik werde diese Rolle bis zum Jahr 2049, dem Jubiläum zum hundertsten Geburtstag ihrer Gründung, übernehmen. Aus der Perspektive der Hegemonietheorie befinden wir uns also in der kritischen Phase des hegemonialen Übergangs, in der die alte Führungsmacht immer weniger bereit und in der Lage ist, ihre ordnungsstiftende Führungsrolle zu spielen, und die potentielle neue Führungsmacht dazu noch nicht willens ist, weil ihr noch das nötige Fundament fehlt. Deshalb kehrt in der Übergangsphase die Anar11chie der Staatenwelt zurück, wie sie sich in den skizzierten und vielen weiteren Konflikten offenbart. Das Moment der relativen Schwäche der USA, das sich sowohl in der politischen Spaltung des Landes wie den Konflikten mit Europa offenbart, dürfte bei Putins Entscheidung eine Rolle gespielt haben.

Die zweite Dimension des Übergangs ist wirtschaftlicher Natur und betrifft das Thema Globalisierung in gleich doppelter Hinsicht. Die Finanzkrise, die Coronakrise und die Energiekrise als Folge von Putins Krieg haben eindrucksvoll demonstriert, daß die Globalisierung mittlerweile ein Ausmaß erreicht hat, das die Welt bei jeder Störung der Lieferketten an den Rand einer Weltwirtschaftskrise bringt, die nicht mehr mit den Mitteln des Marktes, sondern nur durch massive Staatsinterventionen abgewendet werden kann. Der Neoliberalismus als die große Erzählung vom Segen der Globalisierung ist diskreditiert und der Staat mit seinen Steuerungsfunktionen auf allen Ebenen zurückgekehrt mit der Folge, daß wir an der Wende zur Deglobalisierung stehen, die ein slow and ethical living verlangt.

Mit dieser Wende ist allerdings nur eine Variante der Globalisierung gemeint, nämlich diejenige, die darunter die Durchkapitalisierung der ganzen Welt bis in den letzten Winkel versteht.[3]  Es gibt aber noch eine andere 12Form von Globalisierung, die nicht der Logik des Profits, sondern der Logik der Rente entspricht. Letztere ist weiterhin auf dem Vormarsch, hat paradoxerweise durch die genannten Krisen sogar noch weiteren Auftrieb bekommen. Dabei geht es einerseits um die wachsende Zahl rentenbasierter Staaten, wie sie klassischerweise am Persischen Golf mit seinem Ölreichtum zu finden sind. Putins Rußland und seine Oligarchenclique gehören mit seinem Rohstoffreichtum ebenso dazu wie die »Volksrepublik« China, die keineswegs ein Land ist, wo das Kapital oder gar das Volk regiert, sondern die Partei. Deshalb können dort selbst Milliardäre jederzeit kaltgestellt oder verhaftet werden. Andererseits geht es um die vielen neuen rententrächtigen »Geschäftsfelder« – nämlich um Drogen, Waffen, Diamanten, Coltan, die Katastrophenhilfe, das Schleusergeschäft mit den Flüchtlingen, den Handel mit Müll und abgewrackten Schiffen, Schutzgeld, Piraterie, Geldwäsche, Briefkastenfirmen, Cyberkriminalität etc. Der Unterschied zwischen der Logik des Profits und der Logik der Rente besteht kurz gefaßt darin, daß im ersten Fall Einkommen aus unternehmerischer Tätigkeit und im zweiten Fall aus der politischen Kontrolle einkommensträchtiger Ressourcen entstehen, zu denen selbst Notlagen gehören können. Im ersten Fall muß man investieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben, im zweiten Fall muß man in die Organe der Macht aus Armee, Polizei, Präsidentengarde, Geheimdiensten, Sitten13wächter und ggf. privaten Söldnertruppen »investieren«, um die Kontrolle zu behaupten. Viele Konflikte auf der Welt, auch wenn sie ethnisch oder religiös aufgeladen werden, sind Kämpfe um die Rente. Der immer wieder verwendete Begriff »Korruption« verschleiert nur die kategoriale Bedeutung des dahinterstehenden Verhaltens.

Im 15. Kapitel meines Buches Die Ordnung der Welt habe ich den zweiten amerikanischen Hegemoniezyklus über den Zeitraum 1990-2035 behandelt. Es endet mit dem zweiten American decline, der chinesischen Herausforderung und der Zukunft der internationalen Ordnung, soweit sie durch die Bereitstellung der internationalen öffentlichen Güter gewährleistet ist.[4]  Das Buch ist nach einer fast zehnjährigen Entstehungszeit 2015 erschienen. Wäre es 2023 veröffentlicht worden, hätte es sicher noch ein weiteres Kapitel über den chinesischen Aufstieg enthalten unter der Fragestellung, was den Aufstieg Chinas erklärt und ob und wann das Land in der Lage ist, die internationale Rolle der USA zu übernehmen.

Die Kapitel der hier identifizierten »Wendepunkte am Übergang zum autoritären Jahrhundert« verstehen sich deshalb als eine Art Fortsetzung von Die Ordnung der Welt und liefern einen strukturellen Zugang zu den eingangs aufgeworfenen Fragen. Dabei bedienen sie sich wieder der historisch-komparativen Methode als des Königswegs zur Erkenntnis. Sie greifen auf Aufsät14ze zurück, die seit 2015 verstreut erschienen sind. Insofern handelt es ich nicht um einen Schnellschuß wie Carlo Masalas Weltunordnung, Peter R. Neumanns Die neue Weltunordnung oder Peter Rudolfs Welt im Alarmzustand, die bei genauerem Hinsehen überarbeitete Neuauflagen bzw. montierte Aufsätze sind, die den Erkenntnisstand des Jahres 2015 wiedergeben. Die genannten Bücher wurden unter dem Eindruck von Putins Krieg aktualisiert, wiederholen aber lediglich Grundpositionen, die die Autoren schon immer vertreten haben. Für den englischsprachigen Raum sei exemplarisch auf das Schwerpunktheft von Foreign Affairs mit dem Titel »The Age of Uncertainty« und darin auf den Beitrag von Richard Haass, Präsident des Council on Foreign Relations, »The Dangerous Decade: A Foreign Policy for a World in Crisis« verwiesen.[5] 

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich nicht um ein reines Best-of-Album, die Zusammenstellung meiner wichtigsten Aufsätze der letzten Jahre. Vielmehr wurden alle Kapitel gründlich überarbeitet, ergänzt und, wo nötig, aktualisiert. Um Überschneidungen zu vermeiden, sind nicht alle Aufsätze, die zur Wahl standen, in das Buch aufgenommen worden.[6]  Statt dessen wur15den auch »Bootlegs« berücksichtigt.[7]  Gemeint sind unveröffentlichte Aufsätze, die aber demselben Prozedere wie die bereits veröffentlichten unterzogen wurden.

Kapitel 1 über alte und neue Grenzen mit dem Beitrag »Das Eigene und das Fremde Revisited« ist in der unveröffentlichten Urfassung vor 25 Jahren entstanden und bezog sich damals auf das Ende des Ost-West-Konflikts, das auch einen Wandel im Verständnis vom Eigenen und Fremden bedeutete. In der Revisited-Version geht es um einen neuerlichen Wandel, der die Wende-Sicht der Jahre 1989/90 nicht nur im Hinblick auf Osteuropa wieder in Frage stellt.

Im Kapitel 2 über den Wiederaufstieg Asiens geht es in drei Beiträgen um die Frage, wie dieser, namentlich der von China, zu erklären ist. Wenn man von Wiederaufstieg spricht, muß es zuvor einen Niedergang gegeben haben und davor einen ersten Aufstieg, für den sich die Theorie der asiatischen Produktionsweise als Erklärung anbietet. Heute reüssiert sie modifiziert mit der Theorie des bürokratischen Entwicklungsstaates. Auch dieser Aufsatz beruht auf einer im Vorfeld meiner Dissertation zu Theorie und Praxis des chinesischen Entwicklungsmodells 1975 verfaßten unveröffentlichten Studie, mit der ich damals die Stagnation Chinas im Vergleich zu dem aufstrebenden kapitalistischen Westen erklären wollte.[8]  Ein schönes Beispiel, wie durch 16die neue Kontextualisierung eines alten Textes neue Erkenntnisse gewonnen werden können. In den siebziger Jahren, die in der Entwicklungstheorie durch die Debatte zwischen Modernisierungs- und Dependenztheorie geprägt wurden, lieferte die Theorie der asiatischen Produktionsweise die Erklärung für die Stagnation der alten Hochkulturen im Vergleich zum westlichen Kapitalismus, heute unter dem Eindruck Chinas, Japans, Koreas, Vietnams etc. die Erklärung für ihren Wiederaufstieg! Wenn aber China zwar im Wiederaufstieg begriffen ist, aber noch nicht an der Spitze steht, wie geht das Land selbst mit der Übergangsphase um? Meine Antwort lautet: Die »Neue Seidenstraße« soll eine »eurasische Weltordnung« unter chinesischer Führung begründen wie seinerzeit das Tributsystem, bis China als Land der Mitte diesen Platz und den damit verbundenen Anspruch wieder für die ganze Welt erheben kann.

In Kapitel 3, »Der doppelte Übergang«, werden der politische Übergang vom amerikanischen zum chinesischen Jahrhundert und der wirtschaftliche von der profitbasierten zur rentenbasierten Globalisierung thematisiert. Das amerikanische Jahrhundert wurde am 17. Februar 1941 von Henry Luce im Life Magazin ausgerufen, das chinesische am 18. Oktober 2017 von Xi Jinping auf dem XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas. Allein der Vergleich der beiden Foren ist bereits aussagekräftig. Der Aufstieg und Niedergang des kapitalistischen Weltsystems aus der Logik des Profits und der Logik der Rente wird hier anhand der Sechs-Bücher-Pläne von drei Großtheoretikern, nämlich Karl 17Marx, Immanuel Wallerstein und Hartmut Elsenhans, beleuchtet.

In Kapitel 4 geht es um das Ende der großen Erzählung vom Segen der Globalisierung. Bevor es zur Deglobalisierung in der Sache kommen kann, bedarf es der Dekonstruktion ihrer Erzählung, die durch die genannten Krisen und insbesondere die Coronakrise zu Grabe getragen wurde. Deshalb der Titel »Corona und andere Totengräber der Globalisierung«. Erst wenn eine Erzählung nicht mehr hegemonial ist im öffentlichen Diskurs, dann ist auch die Politik bereit, einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel einzuleiten, wie wir gerade auf vielen Feldern, nicht nur im Energiesektor, erleben. Der Diskurswandel hat auch gravierende innenpolitische Konsequenzen, wie sich am Strukturwandel des Parteiensystems in der Bundesrepublik verfolgen läßt, der in anderen Ländern schon viel früher eingesetzt hat und viel radikaler verlaufen ist. Die These lautet, daß die Gewinner und Verlierer der Globalisierung neue Milieus gebildet haben, in die die neuen Parteien der Kosmopoliten und Populisten eingebettet sind.

Damit kommen wir zum Schlußkapitel, der Zeitenwende, wie sie hier verstanden wird, die sich am »Strukturwandel des internationalen Systems in Richtung Ost-West-Konflikt 2.0« festmachen läßt. Die Begrifflichkeit von Ost und West hat nicht mehr die frühere ideologische Konnotation, sondern folgt dem Verständnis des alten Orients und Okzidents mit China und den USA als Zentralmächten. Damit sind wir wieder bei der Eingangsthematik vom Eigenen und Fremden. Die Gegenwart holt der Band im zehnten und letzten Beitrag über 18»Putins Krieg und die Zukunft der liberalen Weltordnung« ein, in dem herausgearbeitet wird, inwiefern der Krieg in der Ukraine mitsamt seinen direkten und indirekten westlichen und östlichen Unterstützern auch ein Stellvertreterkrieg um die Zukunft einer Welt nach autoritärem oder liberalem Muster ist.

Da ich nicht mehr im aktiven Dienst stehe, erübrigen sich die Danksagungen an meine früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Institut für Sozialwissenschaften der TU Braunschweig. Danken möchte ich nur meiner Tochter Marie Menzel, die mich tatkräftig und zuverlässig bei der Materialrecherche und der technischen Bearbeitung der Manuskripte unterstützt hat.

Vechelde, März 2023

19IAlte und neue Grenzen

211. Das Eigene und das Fremde Revisited

Vor gut 25 Jahren, im Frühjahr 1997, habe ich einen Essay verfaßt mit dem Titel »Das Eigene und das Fremde«. Der Text wurde nicht publiziert, sondern ist in mein Archiv in die Abteilung »unveröffentlichte Manuskripte« gewandert. Aus gegebenem Anlaß habe ich ihn wieder hervorgeholt und festgestellt, daß vieles darin zwar immer noch aktuell ist, manches aber der radikalen Revision bedarf. Deshalb habe ich den Titel umbenannt in »Das Eigene und das Fremde Revisited« in Anspielung auf das berühmteste aller Bob-Dylan-Alben.[9]  Anlaß meines ursprünglichen Essays waren die vermeintlich so radikalen Umbrüche der Jahre 1989/90, Anlaß der Revisited-Version meines Highway 61 sind die aktuellen Umbrüche, die viel tiefgreifender sind als das, was wir damals mit dem Fall der Berliner Mauer wahrgenommen haben. Für den alten Westen, gerade auch die alte Bunderepublik, hatte sich grundsätzlich doch kaum etwas verändert. Das Phänomen des irrlichternden Donald Trump ist nur der Auslöser, nicht aber die Ursache, warum mittlerweile weltweit eine neue Debatte geführt 22wird über die Frage, was gemeint ist, wenn man von dem Eigenen und dem Fremden spricht. Die korrespondierenden Begriffe im Englischen lauten »them« und »us«, wobei Letzteres in Versalien zugleich das Akronym für »United States« ist.[10] 

Grenzziehungen zur Definition des Eigenen und des Fremden, zur Bildung lokaler, regionaler, nationaler oder auch Nationalstaaten übergreifender geopolitischer Identitäten durch die Bildung von Wertegemeinschaften, politischen Unionen, Wirtschaftsgemeinschaften oder Sicherheitspartnerschaften, sind zugleich immer Ausgrenzungen gegenüber denen, die nicht dazugehören bzw. nicht dazugehören sollen, sind immer Konstrukte, da ihr jeweiliger Verlauf und ihre Reichweite entsprechend dem gegebenen Anlaß variabel sind: Asien gegen Europa, Islam gegen Christentum, Sunniten gegen Schiiten, Islamischer Staat gegen Taliban auf der einen und Protestanten gegen Katholiken, Lutheraner gegen Calvinisten auf der anderen Seite, ferner Neue Welt gegen Alte Welt, Osteuropa gegen Westeuropa, Deutschland gegen Frankreich, Bayern gegen Preußen, Hannover (96) gegen (BTSV Eintracht) Braunschweig.[11] 

Die älteste dieser Grenzziehungen mit der größten Reichweite, soweit die damals bekannte Welt als Gan23zes ins Blickfeld genommen wurde, war die zwischen Asien und Europa, zwischen Morgenland und Abendland, zwischen Orient und Okzident, zwischen Osten und Westen. Sie geht zurück bis in die Antike, als bereits Aristoteles den Gegensatz zwischen der Demokratie der griechischen Polis und der Despotie des persischen Königs herausstellte. Die Kriege zwischen den Griechen und den Persern und später den Römern und den Parthern waren der militärische Ausdruck dieser Grenzziehung.

Seit der europäischen Aufklärung wurde dieser Gegensatz festgeschrieben – etwa bei Montesquieu in den Persischen Briefen (Lettres persanes), die zwei fiktive Perser, Usbek und Rica, anläßlich eines Paris-Aufenthaltes in die Heimat senden und darin in einer Mischung aus Staunen, Verständnislosigkeit, Spott und Mißbilligung die kulturellen und politischen Verhältnisse des zeitgenössischen Frankreichs schildern. Dieses zentrale Werk der Aufklärung wurde gleichsam über Bande gespielt. Obwohl es den Kulturrelativismus propagierte, konnte es nur anonym in Amsterdam erscheinen und wurde in Frankreich verboten. In diese Reihe gehört auch Hegel mit seine Philosophie der Geschichte, in der die stagnierende orientalische Welt der fortschreitenden griechischen, römischen und germanischen Welt gegenübergestellt wird, oder die von Marx popularisierte »asiatische Produktionsweise«, die nur bürokratische Systeme und Stagnation hervorbringe, sich aber nicht in den fortschrittsfördernden Kapitalismus transformiere wie der europäische Feudalismus. Engels sprach in diesem Zusammenhang sogar im Kontext der Revo24lutionen von 1848/49 im Hinblick auf Osteuropa von den »geschichtslosen Völkern«.[12] 

Einflußreicher als Marx' entwicklungstheoretische Schriften über die nichteuropäische Welt (Indien, China und Rußland) waren Webers religionssoziologische Studien über die Ethik der Hochreligionen, in denen er die den Geist des Kapitalismus fördernde protestantische Ethik in ihrer puritanischen Variante der die Entwicklung blockierenden mystischen Weltflucht von Hinduismus und Buddhismus oder dem die fatalistische Schickung in die Welt fordernden Islam gegenübergestellte.

In der Frühphase des Ost-West-Konflikts diente Karl August Wittfogels Studie über Die orientalische Despotie auf der Grundlage von hydraulischen Gesellschaften zur Erklärung von Maoismus in China und Stalinismus im »halbasiatischen« Rußland, das durch die Mongolenherrschaft von Renaissance und Aufklärung abgeschnitten worden sei. Selbst Barrington Moores komparative Studie über die Sozialen Ursprünge von Diktatur und Demokratie, die er an der Frage festmacht, welche Rolle Grundbesitzer und Bauern im Westen und im Osten bei der Entstehung der modernen Welt gespielt haben, gehört in diese Reihe. Die amerikanische Modernisierungstheorie und ihre Zwillings25schwester, die »Comparative Politics«, wurden in den fünfziger und sechziger Jahren zur theoretischen Folie eines ganz neuen Politikfeldes: der Entwicklungshilfe. Hier die modernen westlichen, dort die vormodernen nichtwestlichen Gesellschaften.

In all diesen Schriften wurde ein idealtypischer Gegensatz konstruiert: Auf der einen Seite der sich aufklärende, das finstere Mittelalter (the Dark Ages) verlassende, die Welt entzaubernde Okzident, in dem es gelingt, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik, Bildung und Ausbildung alle Lebensbereiche dem Rationalitätsprinzip zu unterwerfen. René Descartes, Isaac Newton oder David Ricardo sind einige der Leuchttürme auf dem Weg zur rationalen Durchdringung der Welt und der Beherrschung der Natur durch die Erkennung ihrer Gesetze.

Im Verlauf eines langen Prozesses, als dessen Fixpunkte wahlweise die Magna Charta, die Goldene Bulle, der Reichstag zu Worms, der Augsburger Religionsfrieden, der Westfälische Frieden, die Bill of Rights, die Declaration of Independence und die Unterzeichnung der Constitution, der Ballhausschwur und die Deklaration der Menschenrechte, der Slogan »Make the World Save for Democracy« von Woodrow Wilson, die »Four Freedoms« von Franklin D. Roosevelt und zuletzt die Charta der Vereinten Nationen gelten, wurden im Okzident bzw. im Westen in unsortierter Reihenfolge Privateigentum, Gewaltenteilung, Föderalismus, Herrschaft des Rechts, Demokratisierung, Säkularisierung, Trennung von Kirche und Staat, Puritanismus, Emanzipation von Sklaven und Leibeigenen, Modernisierung, Lei26stungs- statt Abstammungsprinzip, Logik des Profits statt Logik der Rente, Wachstum, Liberalismus, Gleichberechtigung, Bekenntnisfreiheit und Menschenrechte, im weitesten Sinne eine Zivilgesellschaft, etabliert und verfassungsmäßig garantiert. Dem wird der Orient gegenübergestellt, wo in allen Dimensionen das glatte Gegenteil herrsche, also Zentralismus, Bürokratismus, Klientelismus, Despotie, Einheit von Kirche und Staat, Unaufgeklärtheit, Fanatismus, Hedonismus, Traditionalismus, Renten- statt Profitorientierung und Stagnation.

Das Material für dieses Bild des Orients lieferten neben den zitierten Schriften der abendländischen Großtheoretiker die Reisebeschreibungen, Tagebücher, Autobiographien, aber auch wissenschaftliche Abhandlungen und nicht zuletzt die fiktive Literatur von Abenteuerschriftstellern, Seefahrern und Entdeckern, Kaufleuten, Missionaren, Forschungs- und Gesandtschaftsreisenden, im 19. Jahrhundert auch die zahlreichen Berichte privater Reisender. Karl May, der nie im Orient war, haben in Deutschland alle gelesen. Der in den USA lebende Palästinenser Edward Said hat dieses Konstrukt des Orients in seinem gleichnamigen Buch »Orientalismus« genannt.[13]  Die Persischen Briefe waren das Gegenstück zu den Geschichten aus tausendundeiner Nacht. Absicht der genannten Autoren war es entweder, einen dauerhaften Kulturrelativismus und damit den Bestand 27der Grenzen und Gegensätze zu propagieren oder einen Universalismus, der diese Grenzen perspektivisch aufhebt.

Geographisch wurde im Zuge von »Entdeckungsfahrten«, auch so ein distanzierender Begriff, und europäischer Welteroberung der Orient immer weiter ausgedehnt. Er erstreckte sich schließlich vom Osmanischen Reich über Persien, Indien, Indochina und die indonesische Inselwelt bis nach China und Japan, wobei ggf. auch das »halbasiatische« Rußland dem Orient zugeschlagen wurde. Während die Portugiesen, die noch pauschal von »Indien« bzw. der Welt des »Indischen Ozeans« gesprochen hatten, aufgebrochen waren, den Seeweg nach Indien zu finden und den Estado da Índia zu gründen, wurde die Begrifflichkeit mit dem Aufkreuzen der Holländer und Engländer differenzierter, sprach man seitdem von Britisch-Indien, Niederländisch-Indien und später dem französischen Indochina. Der »Ferne Osten« begann jenseits von Aden. Die immer noch gebräuchliche Unterscheidung zwischen dem Nahen, dem Mittleren und dem Fernen Osten, die selbst in den USA verwendet wird, obwohl von dort aus diese Regionen im Westen liegen, unterstreicht die eurozentrische, mehr als nur geographisch gemeinte, Grenzziehung. Der Nullmeridian verlief zu Zeiten des Estado da Índia durch die westlichste der Kanarischen Inseln – El Hierro – und seit der Internationalen Meridiankonferenz im Jahr 1884 durch die Sternwarte von Greenwich bei London.

Sogar die Unterteilung der zusammenhängenden Landmasse der Östlichen Hemisphäre in die drei Erdtei29le Europa, Asien und Afrika ist eine solche Konstruktion, da jene nicht mit kongruenten Kulturräumen identisch sind. So erstreckt sich der Kulturraum des Islam von Marokko ganz im Westen Nordafrikas bis in den fernen Westen von China und die indonesische Inselwelt hat als Erbe des Osmanischen Reiches Spuren auf dem Balkan und im Kaukasus hinterlassen. Umgekehrt diente ein kaum weniger idealtypisches Konstrukt des Westens seit Ende des 19. Jahrhunderts den intellektuellen Oppositionsbewegungen in orientalischen Ländern zur programmatischen Folie ihrer Modernisierungsbestrebungen. Diese gab es nicht nur in Rußland unter dem Begriff »Westler« bzw. »Okzidentalisten«,[14]  sondern gleichermaßen auch in der Türkei, in Ägypten, in China, in Japan, in Siam und anderen asiatischen Ländern. Selbst die Eliten der afrikanischen Befreiungsbewegungen der fünfziger und sechziger Jahre bezogen sich noch auf ein Gedankengut, das sie während des Studiums in Paris oder London erfahren hatten.

Abbildung 1: Die Ostgrenzen Europas von Abraham Ortelius 1570 bis Wilhelm Müller-Wille

Quelle: © infotext-berlin.de.

Auch die Grenze zwischen Europa und Asien ist ein Konstrukt, ist Europa im geographischen Sinne doch kein eigener Kontinent, sondern nur der westliche Appendix der eurasischen Landmasse. Zwischen 1570 (Abraham Ortelius) und 1963 (Wilhelm Müller-Wille) lassen sich 13 von Geographen gezeichnete Grenzen zwischen Europa und Asien identifizieren. Am prominentesten ist die des Schweden Philipp Johann von Strahlenberg (1730), der auf der Suche nach einer ver30meintlich natürlichen Grenze im Auftrag des Zaren den Ural bestimmte, obwohl die Birkenwälder hinter dem Ural genauso aussehen wie jene vor dem Ural. Ein delikates Problem liegt im Südosten, wo es keinen Ural gibt. Manche Geographen bestimmen deshalb die Wasserscheide im Kaukasus als Grenze. Demnach liegt das christliche Georgien in Asien, das muslimische Tschetschenien in Europa. Die am weitesten im Westen liegende Grenze zog 1912 Ewald Banse. Sie verläuft von St. Petersburg bis zur Mündung der Donau ins Schwarze Meer, schließt gerade noch die baltischen Staaten ein, definiert aber bereits Belarus und die Ukraine aus Europa heraus. Die eigentliche Logik der Grenzziehungen entsprach den Interessen des jeweiligen Auftraggebers. Der russische Zar wollte eine Grenze weit im Osten, um möglichst viel von Rußland nach Europa zu verlagern, ein westeuropäischer Machthaber eine Grenze möglichst weit im Westen, um Rußland herauszudefinieren. Wir nähern uns der Gegenwart, möchte doch auch Putin sich im Verbund mit der orthodoxen Kirche vom Westen abgrenzen.

Auch innerhalb Europas führen alte Grenzen ein zähes Leben – etwa die Grenze zwischen West- und Ostrom bzw. der römisch-katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche, die Grenze zwischen dem Habsburger Reich und dem Osmanischen Reich auf dem Balkan oder die Grenzen des Reichs Karls des Großen, das in etwa identisch ist mit dem, was man unter »Kerneuropa« versteht.

Seit dem Zweiten Weltkrieg lieferte die Geographie erneut die Begrifflichkeit für großräumige Grenzzie31hungen, wenn auch die Verwendung der Begriffe »Westen« und »Osten« nicht mehr der alten von »Okzident« und »Orient« entsprach. Gemeint waren im engeren Sinne die Verteidigungsgemeinschaften des Westens und des Ostens mit ihrem organisatorischen Ausdruck von NATO und Warschauer Pakt. Der Ost-West-Konflikt war demzufolge sicherheitspolitisch bestimmt. Erst in zweiter Linie war er auch ein Gegensatz von Marktwirtschaft und Planwirtschaft, von Liberalismus und Sozialismus oder von Demokratie und sogenannter Diktatur des Proletariats. In der angeblichen »Stunde Null« im Mai 1945 wußte jeder Deutsche sofort, ob er zu den eigentlichen Verlierern oder Gewinnern des Krieges gehörte. Eine Kurzfassung der Jahre 1939 bis 1945 im Westen lautete: »Erst kam der Krieg, dann kam der Zusammenbruch, und dann kamen die Amerikaner.« Im Osten lautete es am Ende des Dreisatzes: »und dann kam der Russe«, wobei selbst die Verwendung von Plural und Singular bereits eine latente Wertung zum Ausdruck brachte.

Das im Westen gebräuchliche Begriffspaar »freier Westen« und »Ostblock« korrespondierte im Osten mit den Begriffen »Lager des Imperialismus« und »Weltfriedenslager«. Auf diese Weise war es möglich, auch solche Länder als dem westlichen oder östlichen »Lager« zugehörig zu definieren, die über Militärbündnisse und/oder eine verwandte ordnungspolitische oder ideologische Grundorientierung der einen oder anderen Seite verpflichtet waren. Der »Osten« begann an der Elbe, da, wo zuvor in Preußen die Gutswirtschaft angefangen und das freie Bauerntum aufgehört hatte, auch so 32eine alte Grenze, die womöglich die DDR-Zeit überlebt hat. Sie endete am 38. Breitengrad, der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea mit isolierten Ablegern in Südostasien, der Karibik und Afrika. Umgekehrt konnten Länder des »Fernen Ostens« wie Japan oder Taiwan, manchmal auch muslimische Länder wie der Iran zu Zeiten des Schahs zum Westen gezählt werden.

Auch die Begriffe »Norden« und »Süden« dienten einer solchen Grenzziehung. Der »Norden«, das waren die modernen Industriegesellschaften der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), am einfachsten meß- und damit abgrenzbar über ein Mindest-pro-Kopf-Einkommen oder andere quantifizierbare Entwicklungsindikatoren wie Alphabetisierungsrate oder durchschnittliche Lebenserwartung. Der »Süden«, das waren die vormodernen oder nur teilmodernisierten Agrargesellschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika, die bestimmte Ausprägungen und damit Grenzwerte dieser Indikatoren nicht erreichten. Die jährlichen Ranglisten des seit 1978 erscheinenden Weltentwicklungsberichts der Weltbank mit ihren zusammenfassenden Gruppierungen sind ein schönes Beispiel für eine statistische Art der Grenzziehung, wobei die Weltbank immer neue Akronyme kreierte, um den Süden begrifflich zu differenzieren. Zum Norden konnten so ohne weiteres Australien, Neuseeland und ggf. auch Südafrika zur Zeit der Apartheid, obwohl alle auf der südlichen Halbkugel gelegen, gehören, nicht aber die europäischen Siedlerkolonien Argentinien, Chile und Uruguay, während Mexiko oder das NATO-33Land Türkei zum Süden gezählt wurden, auch wenn beide geographisch auf der nördlichen Halbkugel liegen.

Der französische Demograph Alfred Sauvy hat 1952 die Begriffe »tiers monde« (Dritte Welt) und »tiers mondisme« im Sinne von Dritte-Welt-Bewegung geprägt.[15]  Die Begriffe waren emanzipatorisch gemeint, da an den »Dritten Stand« der Französischen Revolution erinnernd. Es handelte sich um ein strukturalistisches Konstrukt der Nachkriegsordnung, indem Sauvy unterstellte, daß die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen und insofern, wie der Dritte Stand in der Französischen Revolution, auch zu gemeinsamen Aktivitäten im Sinne des Tiers mondisme zur Durchsetzung ihrer Interessen gegen die Erste und Zweite Welt fähig seien. Die im indonesischen Bandung 1955 gegründete Bewegung der Blockfreien Staaten unter Beteiligung Chinas, das offenbar nicht zum »Ostblock« gehören wollte, war der politische Ausdruck dieses Denkens. Später hat der Begriff eine Umdeutung im Sinne von arm, rückständig, unterentwickelt, sogar eine abwertende Konnotation im Sinne von drittklassig erhalten. Auch wenn er heute keinen Sinn mehr hat, führt er ein zähes Eigenleben. Seit einiger Zeit wird er durch den angeblich politisch korrekteren Begriff »Globaler Süden« ersetzt, um die abwertende Konnotation der Reihung zu vermeiden. Sie scheint aber immer noch durch, wenn man den Glo34balen Süden dem Globalen Norden gegenüberstellt. Was bei Sauvy positiv besetzt war, hatte und hat sich in sein Gegenteil verwandelt.

Der harte Kern des Westens war jedenfalls seit Anfang der fünfziger Jahre die Schnittmenge aus der Sicherheitsgemeinschaft der NATO, der Industriegemeinschaft der OECD, der Wertegemeinschaft der durch die Aufklärung geprägten Länder und der Glaubensgemeinschaft des Christentums, bestehend aus den Ländern beiderseits des Nordatlantiks. »Atlantizismus« lautete der korrespondierende, aber unkorrekte politische Begriff, lagen doch Brasilien und Angola auch beiderseits des Atlantiks, nur daß diese keine britischen, sondern portugiesische Kolonien gewesen waren. Also spielte auch die Identität der früheren Kolonialmacht eine Rolle bei der Semantik des Begriffs. Je nach Problemlage konnten dennoch neutrale Staaten wie die Schweiz, Schweden, Österreich und Finnland, ferner Israel, Japan, Südkorea, Südvietnam, Taiwan, Hongkong, Australien, Südafrika oder die Türkei, selbst arabische Feudalstaaten wie Saudi-Arabien durchaus dem Westen zugeschlagen werden. Dieser ging dann in der weiter gefaßten begrifflichen Entität der »freien Welt« auf. Daß gerade die Ölstaaten am Persischen Golf weit entfernt waren von dem, was man im Westen unter Freiheit verstand, wurde geflissentlich ausgeblendet.

Geopolitische Identitäten stehen aber nicht für alle Zeiten fest, sondern bedürfen der dauernden Rekonstruktion bzw. Anpassung an neue Gegebenheiten. Sie müssen immer wieder durch intellektuelle Anstrengungen, durch politische Praxis und die darum geführte 35Auseinandersetzung im Bewußtsein der Menschen verankert werden. Genau diese Situation schien nach 1990 wie nach 1945 wieder gegeben, weil die vertraute Identität des Westens brüchig geworden war. Dafür habe ich in der Urfassung des Manuskripts von 1997 fünf Ursachen genannt:

Der Zusammenbruch des Sozialismus, die Auflösung des Warschauer Pakts und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, die Auflösung der Sowjetunion und der Untergang des sowjetischen Imperiums hatten nicht nur das alte sicherheitspolitische Verständnis von Westen und Osten erschüttert, sondern zudem neue bzw. ganz alte Grundsatzfragen aufgeworfen, weil auch das ordnungspolitische und das ideologische Gegenstück des Westens weggebrochen war. Bedeutete die doppelte Transformation der ehemaligen Länder des »Ostblocks« in Richtung Marktwirtschaft und Demokratie, zwischenzeitlich sogar Transformationsgesellschaften genannt und von der neuen Teildisziplin Transformationsforschung bzw. »Transition Theory« eines Philippe Schmitter, Guillermo O'Donnell und Juan Linz analysiert,[16]  daß damit auch die anderen Facetten des Ost-West-Gegensatzes aufgehoben waren, daß diese Länder seitdem gar in toto zum Westen gehörten? Reichte damit der Westen im Osten bis zum Ural oder gar bis Wladiwostok und im Süden bis zum Kaukasus? Wenn man berück36sichtigt, wer mittlerweile alles beim Eurovision Song Contest oder bei der Fußballeuropameisterschaft der UEFA mitsingen oder mitspielen darf, dann scheint einiges für diese These zu sprechen. Sollten bzw. durften demnach all die Länder zum Westen gehören, die wollten oder nur diejenigen, die in diesem Transformationsprozeß erfolgreich waren?

Wenn Letzteres galt, worin maß sich der Erfolg? Die Kopenhagener Kriterien, die erfüllt sein müssen, wenn ein Land Mitglied der Europäischen Union werden will, sind ein prominentes und wirkungsmächtiges Beispiel für dieses Denken. Die nicht enden wollenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gehen auf die Nichterfüllung dieser Kriterien zurück. Wie groß der Ermessensspielraum ist, zeigte sich bei den Verhandlungen mit Bulgarien und Rumänien, die die wirtschaftlichen Kriterien viel weniger erfüllten als die Türkei. Die Schweiz hätte, wenn sie nur wollte, im Handumdrehen Mitglied der EU werden können. Oder trat nach 1990 an die Stelle sicherheits- und ordnungspolitischer Kriterien wieder die alte Vorstellung einer christlich-weströmischen Kultur- und Wertegemeinschaft, die die orthodoxen Nachfolgestaaten Ostroms, also die Glaubensgemeinschaft der russisch-orthodoxen, der serbisch-orthodoxen, der bulgarisch-orthodoxen Kirche ausschließt? Wurde womöglich das erste Kirchenschisma auf dem Konzil von Nicaea aus dem Jahre 325 wieder aktuell? Hätte man aus dieser Logik nicht Griechenland und Zypern aus der Gemeinschaft des Westens herausdefinieren müssen? Aber auch das Erbe des europäi37schen Teils des Osmanischen Reiches, das in Bosnien, in Albanien, in Nord-Makedonien fortlebt, meldete sich zurück und ließ sich zur Grenzziehung nutzen. Jugoslawien war nur der grandios gescheiterte Versuch, die alten Grenzen auf dem Westbalkan zu überwinden. Oder war das Abgrenzungskriterium zwischen Ost und West in Europa gar ein ethnisches, nämlich der lateinischen und germanischen Länder im Westen gegenüber den slawischen im Osten? Während der NS-Zeit wurde durchaus mit diesen Kategorien hantiert. Selbst bei Hegel oder Marx und explizit bei Engels, ganz zu schweigen von Wittfogel, lassen sich dafür Belege finden.

2.

Der Industrialisierungsprozeß in Ost- und Südostasien, der aus den früheren »Ländern der Dritten Welt« Schwellenländer gemacht hatte, die wiederum in solche der ersten, zweiten und dritten Generation unterteilt wurden. Nach den vier Tigerstaaten Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur wurden die meisten Länder des Verbands Südostasiatischer Nationen (Association of Southeast Asian Nations, ASEAN) dazu gezählt und zu potentiellen OECD-Kandidaten. Solange sich die asiatische OECD-Mitgliedschaft auf Japan beschränkt hatte, war das Land, zumal es in enger Sicherheitspartnerschaft mit den USA verbunden war, ohne Umschweife als eine Art Ehrenmitglied dem Westen zugeschlagen worden, hatte es sich doch durch seine bereitwillige Imitation westlicher Institutionen und Adaption westlicher Technik seit der Meiji-Restauration als gelehriger Schüler 38erwiesen. Die »Verwestlichung« der kemalistischen Türkei oder Rußlands seit Peter dem Großen, der Zar und Zimmermann sein wollte, ist demgegenüber nie so richtig als solche akzeptiert worden. Gehörten jetzt auch Südkorea und Taiwan, Singapur und Hongkong, demnächst Malaysia, Thailand und Indonesien zum Westen? Und vor allem: Welchen Einfluß auf diese Frage hatte die sich beschleunigende Industrialisierung Chinas nach der Öffnung des Landes 1978? Daß es in China nach dem »Pekinger Frühling« nicht zur Abdankung der Kommunistischen Partei, sondern zur militärisch erzwungenen Restauration ihrer Herrschaft kam, war so gesehen sogar hilfreich, weil man die Frage unbeantwortet lassen konnte. Es blieb allerdings der Zweifel, ob angesichts des anhaltenden wirtschaftlichen Reformprozesses Industrialisierung nicht doch mit einem autoritären System vereinbar sei, das zwar westliche Konsummuster übernimmt, aber westliche Werte explizit nicht akzeptiert.

Zumindest die Kriterien »moderne Industriegesellschaft« und »marktwirtschaftliche Grundorientierung« (in den meisten) und »Demokratisierung« (in manchen) der genannten Fälle waren gegeben. Umgekehrt nahmen in Asien mit wachsendem wirtschaftlichem Erfolg auch das kulturelle Selbstbewußtsein und die Bereitschaft zu, diesen Erfolg unter Rückgriff auf traditionelle Werte wie den Konfuzianismus und gerade nicht durch »Verwestlichung« zu erklären. Das stellte nicht nur die Weber-These auf den Kopf, sondern brachte auch die »Westler« in den Schwellenländern in die Defensive. Statt dessen wur39de versucht, eine asiatische Identität im Sinne eines »Asianismus« zu konstruieren, die positiv besetzt ist und nicht das Gegenbild einer westlichen Identität.[17]  Ob es diese übergreifende Identität angesichts hinduistischer, buddhistischer, muslimischer, konfuzianischer, shintoistischer und sogar christlicher Traditionen in Asien tatsächlich gibt oder sie nur das kontrafaktische Gegenkonstrukt zur Identität des Westens ist, blieb eine offene Frage. Wenn aber alle diese Länder nicht zum Westen gehören sollen oder wollen, mußte dann nicht auch die japanische Mitgliedschaft in Frage gestellt werden?

3.

Die demographische Entwicklung in vielen Ländern, die zum eigentlichen Kern des alten Westens gehörten, hatte Anlaß zu der These von der sich abzeichnenden »Versüdlichung« des Nordens und damit der »Dekonstruktion« des Westens im Faktischen gegeben. Aufgrund von Migration und unterschiedlichem generativen Verhalten der zugewanderten bzw. zwangsweise verschleppten nichtweißen Ethnien wurde z. ‌B. für die USA prognostiziert, daß dort etwa im Jahre 2050 Latinos, Asiaten und Afroamerikaner zusammen einen größeren Anteil an der Bevölkerung als die Abkömmlinge europäischer Einwanderer stellen werden. Würden dann die USA, insbesondere deren südliche und westliche Bundesstaaten, noch zum Westen gehören? Ähnliche Überlegungen gab es in 40Australien hinsichtlich der dortigen beträchtlichen asiatischen Einwanderung. In Europa wurde diese Debatte insbesondere in Frankreich mit seiner nordafrikanischen Einwanderung geführt, die Autoren wie Gilles Kepel von Frankreich als der »Banlieue des Islam« sprechen ließen.[18]