Wenn alles reisst, hält die Schweiz? - Beat Kappeler - E-Book

Wenn alles reisst, hält die Schweiz? E-Book

Beat Kappeler

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Beschreibung

In den letzten Jahren hat sich die Welt stark verändert. Die Schweiz hingegen wird trotz allem und immer noch von Beobachtern im In- und Ausland als stabil, leistungsstark und zukunftsfähig gesehen. In alten Tugenden zu verharren, wenn sich rundherum alles ändert, ist gefährlich. Beat Kappeler will Leitplanken bieten, um das widrig gewordene Umfeld der Schweiz verständlich und um aus einem zuversichtlichen Selbstbild aus Geschichte und Aktualität die Reformen erkennbar zu machen, welche die Zukunft des Landes sichern werden. Denn die Einrichtungen haben bestanden, sie sollen nun aber genutzt werden für Neuerungen im Aussenverhältnis, auf dem Arbeitsmarkt, in der Sozialpolitik, bei der Bildung und im Gesundheitswesen.

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Seitenzahl: 133

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Schweiz – ein Uhrwerk, das sich als Staat verkleidet

Das Volk setzt die Agenda

Kritik des Uhrwerks

Selbstbild Schweiz der Kritiker

Import des Selbstbildes

Verteidigung des Uhrwerks

Selbstverwaltung und urbane Wurzeln

Eidgenossenschaft – in guter europäischer Gesellschaft

Den Sonderweg nahmen die anderen Länder im 19. Jh.

Freiheitliche Selbstorganisation im 19. Jh.

«Inclusion» und Föderalismus

Noch ein Sonderweg der anderen Länder im 20. Jh.

Identität heute, ohne importierte Selbstbilder

Reichtum – Scham oder Stolz

Zwei Selbstbilder und zwei Lager – seit jeher und überall

Wenn Geldschöpfung einreisst

Geld seit 1914 überall manipuliert

Verteidigung durch Solidität

Erneute Sabotage des Geldwerts 2020

Verteidigung durch Bravheit?

Abschied von den faulen Früchten der Bravheit

Die Schweiz unter lauter Verschwendern

Buchführen, Fälligkeiten, Rückzahlungen ausser Kurs

Alle Welt ist aus dem Marktsystem ausgetreten

Zeichen an der Wand in Grossbritannien

Dekadenz wohlfahrtsstaatlicher Massen­­gesellschaften

Verteidigung durch Markt und Mass und Mahnen

Verträge zerrissen – die EU macht sich selbst zum Staat

Zwei Spielarten des Binnenmarkts

Der «Wettbewerb der Lösungen» hat Europa grossgemacht

Der Euro – eine rissige Währungsunion 

Die Risslinien zeigen sich nun

Fiskalunion nur beim Zahlen, nicht bei der Disziplin

Die Schweiz und ihr Handlungsspielraum gegenüber der EU

Abkommen mit der EU

Künftiges Verhältnis zur EU

Das bessere Europa gibt es schon, die EFTA und übergreifend die WTO, Pazifikfreihandel

Der Bundesrat und das Regierungssystem sind nicht EU-kompatibel

Wenn das Band des Friedens reisst – plötzlich Krieg

Die zwei mentalen Lager der Schweiz, auch bezüglich Krieg

Handlungsmöglichkeiten für eine gerüstete Schweiz

Neutralität und Sanktionen

Zentralbankreserven: where is the money?

Die Schweiz – vom US-Clearing geröntgt

Unter dem Clearing-Radar durch?

Die Schweiz und die Aussenseiternationen

Energiefluss reisst ab – Europas Quellen liegen hors-sol

Vom Klimanotstand zum Energienotstand

Zu viele Energiepolitiken der Politiker

Und wenn man einfach spart?

Die Schweiz handelt: Speicherseen als Batterien

Fazit aus Energiekrise, Finanzkrise, Eurokrise, Covid-19

Zuwanderung oder «Staatsvolk»

Freier Zuzug, aber gebrochene Regeln?

Rechtsstaat, nicht Stammesherrschaft

Der Staat ist rassen- und religionsblind

Internationale Organisationen – auch übernational zuständig?

Der «Mission creep» als Rechtsanmassung

Organisationen als Gesetzgeber

Die Schweiz stiftet und befolgt Völkerrecht

Handeln auf internationalem Parkett

Die Schweiz in der Welt

Globalisierung richtig angepackt

Schwesterrepublik der USA – auch in der Landwirtschaft

Das neue Asien und das komplizierte, ach so soziale Europa

Kluge Werte und Worte

Gefühlswerte, Moral

Rationale Aufklärung oder deutsche Romantik

Mythen, Tragik, Staatsaltar

Orientalismus

Braucht die Schweiz andere Institutionen?

Stäbe sind eben Stäbe, sperrig

Rekurswucherungen im Gesetz selbst abschneiden

Eine mächtige Nationalbank oder Politik

Neue Ideen für föderale Gewichtung

Mut zur Lücke

Kein Sprachendiktat aus Bern

Arbeiten schafft Arbeit – durch Lücke im Kündigungsrecht

Lohnnebenkosten sind keine Nebensache

Arbeitsvertrag und Lehrvertrag

Flankierende Massnahmen – eine Lücke zu wenig

Parteikassen interessieren nicht

Soziales, Waffen, Verfassungsgericht: Lücken

Index der Konsumentenpreise mit Rolex?

« Jean-Jacques, aime ton pays ! » 

Die Netze – und der Staat

Netzarchitekturen

Neue Architektur für Google, Amazon, Facebook?

Physik ist stärker als Politik

Neue Selbstständige, neue Absicherungen

Daten – staatlich oder selbstverwaltet

Arbeitsmarkt – Berufsbildung in den Netzen

Risse im Rentensystem?

Renten der AHV

Renten der beruflichen Vorsorge

Bürokratie als Falle für Leistung, Lebenslust, Bürgersinn

Abhilfen liegen bereit

Verwaltete Bildung

Bessere Bildung

Längere Bildung, bessere Bildung?

Verwaltete Sozialpolitik

Mit Menschen rechnen, die rechnen können: situativ

Sozialhilfe soll das Arbeiten belohnen

Gesundheitswesen – freie Wahl statt verwalten

Das Uhrwerk braucht Reparaturen

Die Schweiz ist im Weltgang, nicht im Alleingang

Energie, nicht Ideologie

Soziale Netze, aber situativ

Neue IT-Netze, neue Chancen

Arbeiten, nicht regulieren

Solidität, Bürgersinn, Markt

Die Schweiz im «Engelskreis»

Die Schweiz steht für Freiheit, für Klartext, und sie hält durch

Kleine Leseliste

Online-Quellen

Autor

Landmarks

Cover

Beat Kappeler
Wenn alles reisst – hält die Schweiz?
Krieg, Euro, Migration, Schulden, Inflation, Aufruhr, Geopolitik

Beat Kappeler

Wenn alles reisst – hält die Schweiz?

Krieg, Euro, Migration, Schulden, Inflation, Aufruhr, Geopolitik

Stämpfli Verlag

Der Stämpfli Verlag wird vom Bundesamt für Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: www.dnb.de© Stämpfli Verlag AG, Bern, www.staempfliverlag.com · 2023Gestaltung Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld, www.diaphan.chKorrektorat Stämpfli Kommunikation, Bern, www.staempfli.comUmschlagbild ginosphotos1 / depositphotos.com

ISBN 978-3-7272-6162-6

Vorwort

In anderthalb Jahrzehnten hat sich die Welt bis zur Unkenntlichkeit verändert, und nicht nur zu ihrem Guten. Die Schweiz wird hingegen von Beobachtern im In- und Ausland als stabil, leistungsstark und zukunftsfähig dargestellt. Immer öfter aber melden sich die Krisen, die Verwerfungen, andere Politikauffassungen von aussen als Probleme auch des Inlandes. In alten Tugenden zu verharren, wenn rundherum sich alles ändert, ist gefährlich. Doch die wirklichen, eigenen Tugenden zu verkennen und aufzugeben, ist noch gefährlicher. Es gilt also klarzusehen.

Neu ist die Lage nicht – schon der Bundesbrief vom Rütli sprach 1291 von der «Arglist der Zeit» und zeigte die Abhilfe auf.

Die Verwerfungen auf der internationalen Bühne mit Schockwellen bis in die Schweiz folgten aufeinander: Da war eine Finanzkrise im fernen Amerika, und plötzlich schwankte eine der beiden Schweizer Grossbanken 2008, dann die andere 2023. Sie mussten von der Nationalbank und dem Bundesstaat gestützt werden – das erste Mal seit den Dreissigerjahren des 20. Jahrhunderts. Die Re­­geln des Finanzplatzes mussten geändert und Dutzende von Milliarden Franken innert Tagen zugesprochen werden.

Die neue europäische Währung, der Euro, schlitterte sodann nach nur zehn Jahren in eine Existenzkrise und wertete sich drastisch ab. Die Schweizerische Nationalbank bremste den Frankenkurs einige Zeit, musste aber 2015 kapitulieren. Die Exportindustrie stand unter Schock.

Die Migrantenströme aus zerfallenden Staaten nahmen stetig zu, weniger wegen Armut an sich, sondern wegen höherer Verdienste und besserer Institutionen in Europa, dann aber abrupt, als die deutsche Kanzlerin alle Tore öffnete.

Die Europäische Union hatte sich, ohne erkennbare Vertragsänderungen, praktisch zu einem Staat gewandelt und bot der Schweiz ein unannehmbares Rahmenabkommen an.

Die schweizerische Steuerhoheit fiel unter einen Beschluss der OECD-Staaten, die Unternehmensbesteuerung gleichzuschalten.

Die weltweite Covid-Pandemie lähmte längere Zeit auch die Schweizer Institutionen, die Wirtschaft, das Arbeiten, die Kultur – eine erste Pandemie seit hundert Jahren.

Die laufenden Ausgabesteigerungen fast aller Länder seit der Finanzkrise brachten unentrinnbare Schuldenlagen, in den USA, in Europa. Die Notenbanken finanzierten diese und private Schulden mit einer nie gesehenen Geldschöpfung, diese mündete in die Inflation.

Dann brach erstmals seit 1945 ein Angriffskrieg in Europa aus, Russland überfiel die Ukraine. Als Folge ergriffen die westlichen Staaten scharfe Sanktionen, die das traditionelle Verständnis umfassender schweizerischer Neutralität erschütterten.

Vorläufig letzter Punkt dieser Abfolge von Krisen waren plötzlich knappes Öl und Gas, alle Länder bangen nun um Geld und Wohlstand, um den Lebenssaft Energie.

Geopolitisch rücken durch Krieg und Ölinteressen grosse Teile der nicht demokratisch verwalteten Welt zusammen – China, Russland, Iran, Türkei; sie lehnen die Rechtsgewinne der Menschen aus der Aufklärung offen ab.

Hält die Schweiz die Risse der Sicherungen in der Welt aus, verfügt sie über den Spielraum zu eigenem Handeln? Dieses Buch versucht einen Überblick darüber zu verschaffen und da und dort einen Rat zu erteilen. Vorab fragt es: Wer sind wir – abseits der biederen rechten oder linken Selbstbilder?

Die Schweiz – ein Uhrwerk, das sich als Staat verkleidet

Regierung und Verfahren sind stabil, für manche fast zu stabil. Der Bundesrat wird einzeln ergänzt durch das Parlament, handelt aber kollektiv und ist seit 1848 noch nie insgesamt zurück­getreten. Wenn auch die Verfassung seither jener der USA als Schwesterrepublik in vielen Teilen abgeguckt worden ist, der regierungsführende «Präsident» ist jedoch dem französischen Directoire von 1795 nachgebildet.

Das Parlament, föderal in zwei gleichberechtigte Kammern gegliedert, ist souverän, ein «régime d’assemblée» ausdrücklich ohne Verfassungsgerichtsbarkeit über seine Entscheide. Volks- und Kantonsvertreter anstatt Juristen führen das Land. Diese «stimmen ohne Instruktionen», wie die Verfassung schreibt, ohne bindendes Mandat ihrer Kantone. Dies hat aber, sieht man auf die «parlamentarischen Demokratien» umgebender Länder, seine tiefere Bedeutung: Die Wähler können panaschieren, ku­­mulieren, streichen und damit die Wahllisten selbst gestalten, an den Parteistäben vorbei. Die Gewählten können daher mit Fug und Recht sagen, sie bringen der Partei den Sitz. Umgekehrt werden in den anderen Ländern die Kandidaturen auf vielen Wegen durch die Parteizentralen beeinflusst, oder gar vergeben, und während der Legislatur gilt das scharfe Kommando, mit der von der Parteizentrale gestellten Regierung zu stimmen – oder sonst in einer anberaumten Vertrauensabstimmung unterzugehen. Das ist die erste Schiene des Regierens, die Souveränität nicht nur des schweizerischen parlamentarischen Verfahrens, sondern auch für jene der einzelnen Parlamentarier. Die Regierung, die Parteistäbe können nichts durchpeitschen, sondern die Gewählten folgen auch ihren hochgeschätzten Panaschierern aus allen Lagern.

Das Volk setzt die Agenda

Die Volksrechte kennzeichnen die zweite Schiene des Regierens durch das Wählervolk als Auftraggeber. Das Referendum schwebt über den Regierungs- und Parlamentsgeschäften. Daher zieht die Regierung vor einer Gesetzgebung in einem breiten Vernehmlassungsverfahren die Wünsche der Verbände, der Parteien, der Kultur und Wirtschaft in Betracht. Man schätzt, dass bei einer breiten Vernehmlassung mehrere Tausend in solchen Organen der Zivilgesellschaft aktive Bürger schon informiert und angehört werden. Die entsprechenden Kurskorrekturen im Gesetzesvor­haben der Regierung und des Parlaments dürften die häufigeren ­Folgen der Volksrechte sein als die tatsächlichen, zwar vielen, Abstimmungen.

Das Initiativrecht seinerseits steht diesen Gruppen und den Einzelnen zu, ist keine gelegentlich gewährte Gnade der Regierung wie in den anderen Ländern. Das Volk setzt die Agenda von unten. Falsch ist die Kritik vieler Beobachter von anderswo, diese Abstimmungen festigten die Willkür der Mehrheiten über die Minderheiten. Denn jede Minderheit kann wieder mit den Volksrechten die Revanche suchen, und die fast regelmässig vierteljährlich abgehaltenen Abstim­mungen schaffen vielfache Gelegenheiten dazu, und schliesslich ergänzt das erforderliche Kantonsmehr bei Verfassungsänderungen die befürchtete uniforme Walze eines Volksmehrs.

Da die Steuersätze in der Bundesverfassung verankert sind, bleiben Volk und Kantone souverän darüber, wie viel sie den Politikern zugestehen wollen. Die an der Schweizer Politik Beteiligten sind insgesamt eine «lernende Organisation».

Der Föderalismus mit seinen zwei Ebenen unterhalb des Bundesstaates, mit Kantonen und Gemeinden, spielt trotz vielen Quer­finanzierungen, trotz zunehmenden zentralen Kompetenzen im­­mer noch seine Rolle. Vor allem die Leistungen «im Territorium» werden so direkt vom Bürger bestimmt, bewertet und bezahlt – Spitäler, Schulen, Versorgung, Entsorgung, Ortsplanung, Fürsorgeleistungen, Gerichte. Die Elektrizität wird den über 8 Millionen Einwohnern über 600 lokale Netztarife verrechnet – kein sinnloser Föderalismus, sondern dies hält zu kostenorientierten und verursachergerechten Infrastrukturen an.

Neben diesen Institutionen pflegt die Zivilgesellschaft spontane Rückkoppelungen unter sich und mit Behörden, Feedbacks. Man redet miteinander, interveniert, lädt Kritiker ein.

Wie interpretiert die öffentliche Meinung in der Schweiz nun diesen Zwiespalt zwischen Verwerfungen, Krisen in der sie umgebenden Staatenwelt und unseren eigenen Institutionen?

Kritik des Uhrwerks

Die von den Amerikanern erhobenen Vorwürfe hallten lange nach, die hier deponierten Vermögen der vom Nationalsozialismus Bedrohten, der Juden im Besonderen, nicht rückerstattet und mit der Nationalbank von Goldtransfers profitiert zu haben. Obwohl der Bundesrat schon 1946 im Washingtoner Abkommen die damalige sehr grosse Summe von 250 Millionen Franken in die Tasche der USA abgegolten hatte (eine rechtliche Schuld der Schweiz ablehnend, aber gegen den vollen Forderungsverzicht der Alliierten) und obwohl die Schweiz schon 1961 öffentlich aufgerufen hatte, die Verluste anzuzeigen, war alles vergessen. Die Behörden reagierten im Schock, die Meldungen in den Medien überschlugen sich in Anklagen, eine Kommission von Historikern unter Prof. Jean-François Bergier wurde eingesetzt. Kritiker beklagten deren eher linkslastige Zusammensetzung und erst recht ihre Resultate. Schliesslich wurden 1996–2000 ca. 340 Millionen Dollar auf unbekannten Konten festgestellt, obwohl die Schweizer Banken 1,25 Milliarden Dollar pauschal vorbezahlt hatten.

Vor allem bewerteten diese Historiker die damaligen Um­­stän­­de ausserordentlich eng, letztlich unhistorisch. Die verschiedenen Politiken – Gold, Flüchtlinge, deponierte Vermögen, Lieferungen – wurden nicht mit jenen der anderen am Kriege unbe­teiligten Länder verglichen (Schweden, Portugal, Spanien, Argentinien), sondern in eine allein gestellte, nur von der Schweiz eingegangene Schuld eingeteilt und daraus eine bloss gesinnungsethische, nicht verantwortungsethische Moralfrage gemacht. Die Antwort, was verantwortungsethisches Verhalten – also auf die Folgen gerichtetes Handeln – gewesen wäre, blieb aus.

Selbstbild Schweiz der Kritiker

Diese zurückliegende, erneute Aufarbeitung formt die eine Variante des Selbstbildes nunmehr im Inland, die aber von Kri­tikern auf viele andere Fragen ausgedehnt wurde: Die Schweiz ist gegenüber dem Ausland grundsätzlich schuldig wegen des von ihr vermiedenen Weltkriegs, wegen des Finanzplatzes, wegen des Reichtums, wegen geringer Auslandshilfe, weil sie der europäischen Einigung fernsteht, weil Rohstofffirmen hier ihr Domizil haben. In neuerer Zeit versuchen Amateurhistoriker zusätzlich, der Schweiz, ihren tüchtigen Pionieren im Welthandel und in der Industrialisierung eine miese Beteiligung am Sklavenhandel nachzutragen, den Reichtum aus dem Kolonialismus abzuleiten. Die Belege sind dünn, nicht schlüssig, schreibt die Forscherin Béatrice Veyrassat.

Manche als Professoren bestallte, professionelle Historiker folgen dieser abwertenden Sicht, insbesondere was die Souveränität betrifft. In Abwehr der patriotischen Welle um die Volkspartei betonen sie, wie abhängig, wie fremdbestimmt die Schweiz immer gewesen und heute noch sei. Georg Kreis weicht in Kollektivpsychologie aus, stuft es als «Angst» ein, wenn man sich auf Souveränität besinnt. In vielen abwertenden Darstellungen spielt unausgesprochen die Meinung mit, dann könne die Schweiz besser gleich der EU mit den voll entwerteten Souveränitäten ihrer Mitglieder beitreten: das seltsame Rezept des Selbstmords aus Angst vor dem Tod …

Doch besonnene Betrachter haben nie eine absolute Souveränität, eine technische Unabhängigkeit, eine höhere Moralität der Schweiz unterstellt. Lösen wir uns daher von der professoralen, parteilichen Brille auf die Schweizer Identitäten.

Import des Selbstbildes

Dieses gequälte Selbstbild, dieses Aufarbeiten der Vergangenheit als Schuld aus nachträglicher Perspektive schwappt aus Deutschland herüber auf die deutschsprachige Schweiz. Es ist eine Mode geworden, die auch Jahrzehnte nach dem Weltkrieg nicht ausstirbt und die in der Westschweiz keine Entsprechung findet.

Auch in diesem Punkt sind sich die beiden grossen Landesteile etwas fremd. Denker und Philosophen der Westschweiz haben in Frankreich – und anderswo – immer ein grosses Echo gefunden, mehr als die meisten Deutschschweizer in Deutschland. Diese Denker waren grosse Liberale wie Benjamin Constant, Germaine de Staël, Charles Monnard, Jean-Jacques Rousseau, Frédéric-César de la Harpe, Denis de Rougemont. Viele solche Denker und politischen Praktiker haben mehr von der Aufklärung verinnerlicht als Dichter und Denker in Deutschland, die eher provinziell, nicht angelsächsisch geformt sind. Das schreckliche 20. Jahrhundert hat Deutschland vielen Deutschschweizern als kulturelle Referenz zwei Mal entfremdet, delegitimiert. Carl Spitteler hat dazu schon 1914 Fraktur geredet und die Deutschschweizer gewarnt, dem damals im Norden hervorgestrichenen Deutschtum zu verfallen. Was heute in Deutschland von sogenannten, sich selbst bezichtigenden Intellektuellen im Büsserhemd gesagt, angeklagt und gefordert wird, hat für die historisch und gesellschaftlich völlig anders gelagerte Schweiz keinen Bezug, keine Relevanz. Es ist hier so wenig ein rituelles Pflichtthema wie es keines ist in den angelsächsischen Ländern, in Frankreich für den Algerienkrieg etwa und in der Westschweiz.

Verteidigung des Uhrwerks

Diese eher aus Aussensicht aufgebrachte kritische Sicht der Schweizer Identität provozierte sozusagen als Blitzableiter eine «patriotische Sicht» in die Innenpolitik hinein. Aber das Ganze verlief von nahe besehen in drei Wellen: Die älteren Einwohner erinnern sich noch an die Identität der Aktivdienstgeneration – die Schweiz war nicht dem Nazismus verfallen, hatte sich wehrbereit gezeigt und die Freiheit gerettet, sie war eine ideale Nation.

Dann kam zweitens die Kritik an der Aktivdienstgeneration durch die Achtundsechziger, die Pazifisten, viele Sozialisten, wie erwähnt. Dann warf sich drittens die Volkspartei und ihr Präsident, später Bundesrat, in die aufgebrochene Bresche und verfocht eine patriotische, auf hergekommenem Recht und Brauch beharrende Sicht schweizerischen Verhaltens, schweizerischer Eigenheiten. Gerade weil in den Schulen und Geschichtsbüchern die Schlachtendaten, Wilhelm Tell, ja sogar der Bundesbrief als wenig erheblich für die Geschichte zu gelten begannen, weil manche Historiker in die Aussensicht einschwenkten und die Schweizer Geschichte nur als Echo internationaler Zwänge sahen, wurden nun Schlachtfeiern begangen, Trachten hervorgeholt, Bauerntümelei vorgezeigt.

Selbstverwaltung und urbane Wurzeln