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Viele Bürgerinnen und Burger haben genug: vom ausufernden Staat, seinen Steuern, seinen Regeln, von der Bürokratie. Wutbürger treten auf. Die Schraubstellen dieser Macht sind aber klar benennbar: Die Parteizentralen bestimmen heute in Westeuropa die Regierungen, sie beherrschen die Parlamente, deren Minister setzen die EU-Regeln und fuhren sie, zurück im Land, als unausweichlich durch. Die Gewaltenteilung kam abhanden. Die Notenbanken stutzen die Schuldenwirtschaft der Staaten durch Geldschöpfung, sie dispensieren die Politiker vom Sparen. Schritt für Schritt bauten sich Regulierungen im Alltag auf, die bereits an die Endzeit gescheiterter Imperien erinnern. Die Freiheit ging in der Geschichte oft verloren. Diesmal aber gibt es Losungen zum Rückbau, die in einigen Staaten schon erprobt wurden. Beat Kappeler zeigt in diesem Buch konkreter als übliche Klagende oder Populisten links und rechts, wie wir die Freiheit zurückgewinnen können.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2020
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DER SUPERSTAAT
Von Bürokratie und Parteizentralen – und wie man den schlanken Staat zurückgewinnt
BEAT KAPPELER
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel. Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2020 (ISBN 978-3-907291-10-8)
Lektorat: Christoph Meyer, Basel
Umschlag: Icona, Basel
Gestaltung, Satz: Marianne Otte, Konstanz
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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ISBN E-Book 978-3-907291-11-5
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
Das Ärgernis – und das Vorgehen dieses Buchs
Werft die Staatskundebücher weg, es ist alles anders
Drei Thesen zur Sache
ERSTER TEIL:DIE ANALYSE – SO GING DIE FREIHEIT VERLOREN
KAPITEL 1FESSELN DER FREIHEIT IM NATIONALSTAAT
Die Gewaltenteilung ist abgeschafft
Wenn die Gewaltenteilung lebt – USA, Schweiz
Berufsparlamentarier – abhängig von Parteizentrale
Wenn die Parteizentralen die Kandidaten der Legislative auswählen
Die Parteizentrale ernennt Minister
Innerparteiliche Demokratie?
Staatsmacht ohne den Segen der Völker – auch in der Geschichte
KAPITEL 2DIE FESSELN IN DER EUROPÄISCHEN UNION: MACHT VON OBEN
Minister regieren im Rat die EU – Parlamente zu Hause müssen nicken
Die EU-Kommission
Einstimmigkeit im Rat der EU in der Theorie
… und in der Praxis
Das «Spiel über die Bande»
Braucht es noch Beweise?
Das Duopol der Macht: Frankreich und Deutschland
Binnenmarkt als Rasenmäher oder als Wettbewerb der Lösungen?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH): ein Gleichrichter von oben – ohne Volk, Parlamente, Regierungen
Der Euro als unwiderrufliche Fessel durch Macht
Die Westafrikaner – gefesselt am Euro und zur Auswanderung gezwungen
Die Währungsunion – geboren aus Tricks und Kniffen
Das Top: Angestellte Funktionäre schaffen den EU-Vertrag ab
Die Europäische Zentralbank (EZB) sprengt ihre eigenen Fesseln
«Unwiderruflich», «alternativlos» – der Euro und seine Krisen
KAPITEL 3STAATSBUDGET UND NOTENBANKEN ZENTRALISIEREN DEN SUPERSTAAT ÜBERALL
J.M. Keynes baute den Superstaat auf – Defizite als Machtzuwachs
«Kapital» ist nicht Kapital, Österreichische Schule gegen Keynes
Die Notenbanken erfanden die «monetisierte Fiskalpolitik»
Die Notenbanken ermächtigten sich selbst zum Superstaat
Das kann uns passieren – monetäre Implosion
Die USA, dank Clearing ein Imperium
Superstaat ist Steuerstaat
Die Medien – Komplizen, Claqueure, Profiteure des Superstaats
KAPITEL 4DIE FESSELN DES INTERNATIONALEN SUPERSTAATS UND SEIN «MISSION CREEP»
Die korrosive Frage an den internationalen Superstaat
KAPITEL 5DER VOLLZUG SCHNÜRT DIE FESSELN – DIE BÜROKRATIE
Das «zweiseitige Monopol»: Parlament und Verwaltung
Heere der Bürokratie
Die barocken Wucherungen der Bürokratie
Das Büro
Die Sitzung
Die Bürokratie multipliziert sich bei den Adressaten
Puder und Perücken damals, Papier heute
KAPITEL 6RÜCKBLICK UND AUSBLICK AUF EIN «AUGUSTEISCHES ZEITALTER» ALS HORRORSHOW
Die Abstrakte Lehre von der Macht und ihrem Scheitern
Die Freiheit scheiterte oft in der Geschichte
Schachmatt: Die Verluderung öffentlicher Finanzen bringt den Untergang
Es geht lange und ohne Aufsehen, bis die Freiheit entgleitet
Diktaturen und ihr unheimlicher Kitt
Chinas meritokratische Diktatur
Die neuen Netze – Techno-Superstaat oder neue Freiheiten?
ZWEITERTEIL: WEGE ZUR FREIHEIT
KAPITEL 7DIE MACHT DEM BÜRGER – ALS WÄHLER
Ein erstes Mittel – die Wähler bestimmen die Listen
Zweites Mittel: Vertrauen ist gut, aber die Regierung soll gehorchen
Drittes Mittel: Volksabstimmungen
Viertes Mittel: hybride Entscheidmechanismen
Das Los werfen
Einstimmigkeit
Das Proporzsystem
Zynismus – einfach so laufen lassen?
Freiheit beginnt im Kopf
KAPITEL 8DIE MACHT DEM BÜRGER – GEGEN DIE BÜROKRATIE ZIVILER UNGEHORSAM
Gewaltenteilung gilt auch für die Gerichte
KAPITEL 9DEN SUPERSTAAT RÜCKBAUEN
Selbstbindung der Parlamente mit Verfahrensregeln
Das «roll-back» überbordender Leistungen und Kreuzkompromisse
Das Ende monetärer Frivolität
Die Wende beginnt in den Köpfen – und kommt nach der Krise: die intellektuelle Lufthoheit gewinnen
ANHANG
ANMERKUNGEN
EINLEITUNG
Das Ärgernis – und das Vorgehen dieses Buchs
Die parlamentarischen Demokratien Europas sind vermachtet, sie kennen die Gewaltenteilung nicht mehr und scheffeln die Macht den Parteizentralen, den Regierungen und EU-Gremien, den Funktionären internationaler Organe, der Bürokratie und den Notenbanken zu. Die Macht wird von oben nach unten durchgedrückt, anstatt von unten nach oben übertragen. Die Wähler sind empört, die Politik verliert ihr Ansehen, Protestparteien steigen auf, die Nationen werden unregierbar.
Der Staat vor 50, vor 70Jahren war schmaler, regelte wenig, nahm und gab wenig. Zwar sind die Ansprüche an Technik, Infrastrukturen heute gestiegen, doch können Bürger, Private, Firmen diese dank der Netze, dank der Informationstechnik auch viel eher selbst steuern. Und heute sind alle (alle!) Bürger doppelt so reich wie damals. Es könnte also anders sein als heute. Denn:
WERFT DIE STAATSKUNDEBÜCHER WEG, ES IST ALLES ANDERS. NÄMLICH SO:
–Kanzlerin Merkel lässt 2015 in alleiniger Regie die Zuwanderung von Hunderttausenden zu.
–Präsident Macron verkündet im Alleingang am Fernsehen im Dezember 2018 mit niemandem abgesprochene Milliardengeschenke ans rebellierende Volk – und das Parlament muss sie dringend, ohne Diskussion vor Ende 2018 billigen.
–Die italienische Regierung der zwei populistischen Parteien einigt sich nach langem Gezerre kurz vor Jahresende 2018 mit der EU über das Budget, und das Parlament muss es vor Jahresende ohne Diskussion genehmigen.
–Das britische Parlament bekommt Ende 2018 unbefriedigende Vorschläge zum Austritt aus der EU (Brexit) und muss entweder die Regierung stürzen, sich damit selbst auflösen, oder die Regierung macht damit weiter. Die Regierungschefin rief eine Vertrauensabstimmung aus, und die Rebellen ihrer eigenen Partei mussten kuschen.
–Der folgende Premierminister Boris Johnson verlor eine Abstimmung und schloss umgehend 21Rebellen aus seiner Partei aus, nahm ihnen damit die Möglichkeit einer Kandidatur in der Partei bei der von ihm angesetzten Neuwahl. Alle, die sich nicht mit der Partei arrangierten, verloren ihren Sitz in dieser Wahl.
–Der Deutsche Bundestag hat seinerzeit die Milliardenhilfen an Irland, Griechenland, Zypern, an Spaniens Banken über den Hilfsfonds ESM widerwillig, aber ohne Alternative billigen müssen.
–In allen diesen Ländern – und den anderen – werden Parlamentarier der Regierungsseite wie der Opposition gezwungen, gemäss der Parteilinie zu stimmen. Sonst riskieren sie die Neuwahl, und zu dieser müssen sie auf einem von den Parteispitzen zugeteilten schlechten Listenplatz oder in einem Wahlkreis antreten, in dem sie chancenlos sind. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben.
–Die Beschlüsse der EU-Gipfel von Europäischem Rat (Rat der Staats- und Regierungschefs) und Rat der EU (Ministerrat) können daher in den nationalen Parlamenten nicht bestritten werden, sondern werden auf nationaler Ebene mit Druck durchgewinkt. Die Macht verläuft von oben nach unten.
–Die Entscheide der EU-Kommission, die Entscheide des Europäischen Gerichtshofs, der EZB empören oft Mitgliedländer und das breite Publikum, aber nur einstimmige und daher unwahrscheinliche EU-Gipfelbeschlüsse könnten die Verträge in solchen Punkten ändern. Die EU ist erstarrt, nicht rückbaufähig, wenn sich die Umstände ändern.
–Schliesslich zeigte die Corona-Krise 2020, dass die Regierungen enorme Notstandskompetenzen haben oder sich nehmen. Das mag vor dem Unbekannten, Neuen nachvollziehbar gewesen sein. Gut daran war, dass allein in Europa ein Dutzend verschiedene Methoden angewandt wurden, nicht eine europäische, einheitliche, die ja verheerend falsch gewesen sein könnte. Die Nationen lernten so voneinander, ihre Bürger konnten vergleichen.
–Die ausführende Verwaltung aller Ebenen mutierte seit 1945 zu einer allumfassenden Bürokratie – gegen die Bürger. Tausend Regeln herrschen und werden befolgt: Der Superstaat oben setzt auf den Ameisenstaat unten.
–Internationale Organisationen praktizieren die «dynamische Fortentwicklung des Völkerrechts», also über die ursprünglichen Abmachungen ihrer Mitgliedstaaten hinaus. Damit herrschen die Funktionäre, die Expertengremien. Die souveränen Nationen stehen unter Gefolgszwang.
–Die Notenbanken der westlichen Welt stützen die überschuldeten Staaten nach der Finanzkrise, drücken die Zinsen, schöpfen beliebig Geld, alles ohne gesetzliche Ermächtigung und ohne Einhaltung von ursprünglichen Abmachungen.
Auf allen Ebenen steckt hinter der politischen Routine ein jeweils ausgeklügeltes Machtprogramm, wurden Schraubstellen und Fesseln ausgelegt, welche die Regierungen stärken, und diese werden von den Parteien gestellt. Die Parteiführungen regieren.
Die Ohnmacht des Volks, der Legislativen bricht sich neuerdings in lauten Protesten Bahn, im Verdrängen traditioneller Parteien durch neue Parteien, in Protestwahlen. Schon sind die meisten sozialdemokratischen Parteien zu Splittergruppen geworden, schon hängen manche Regierungen von der ausdrücklichen oder stillschweigenden Duldung der Protestparteien ab. Die politischen Landschaften des Kontinents zerbröckeln, ein erstes Land tritt aus der EU aus, mehrere EU-Politiken funktionieren kaum noch – Schengen-Abkommen, Dublin-Abkommen, die früher gewohnten Geldmengen und Zinsen; die Schulden nehmen öffentlich und privat überhand.
Diese Klagen sind nur skizzenhaft formuliert. Hier gehen wir den Fesseln und der Vermachtung nach, national, europäisch, international. Wir entdecken, dass Demokratie überhaupt nicht läuft, wie Montesquieu oder die Verfassungsgeber nach dem Zweiten Weltkrieg das vorsahen. Auch nicht, wie sich die Politik selbst in Medien und bei Wahlen darstellt. Tief in der politischen Mechanik sind die Räder ausgewechselt, blockiert, oder sie laufen gegen die Völker.
DREI THESEN ZUR SACHE1
Die Gewaltenteilung ist ausgehebelt zugunsten der Zentralen in Regierung und Parteien. Doch das Parlament soll die Regierung und die Gerichte bestimmen, sie wählen, die Gesetze machen. Das Parlament soll nicht nur allerletzter Nothebel sein, mit dem die Bürger hin und wieder in Protestwahlen die Equipen auswechseln.
2
Die westlichen Nationen sind einem zentralisierenden Superstaat verfallen – durch die Regierungsübermacht, durch die umfassende Bürokratie, durch die enormen Steuern, Eingriffe, Kontrollen. Doch ein Rückbau zur Freiheit ist möglich, mit Kniffen gegen Kniffe und Knuten.
3
Der nationale und übernationale Superstaat fügte im Wahn «Sicherheit vor Freiheit» die Fesseln schleichend zusammen, über Jahrzehnte, von Fall zu Fall. Aber deren Summe erdrückt uns, und nur durch Widerstand im System selbst können wir sie loswerden – frech, liberal, libertär, leicht anarchistisch. Dabei müssen Analyse und Gegenmassnahmen auf die Interessen im Spiel eingehen, nicht auf unverbindliche Selbstdarstellungen der Politik von «Allgemeininteresse» und Visionen, Zielen der Gesellschaft (dabei stützen wir uns auf die Public Choice Theory, die ökonomische Theorie der Politik).
Freiheit nimmt keinen geschichtlich geraden Weg von wenig zu immer mehr, wie wir uns das heute einreden. Vielmehr fielen ganze Völker, Reiche zurück: die Römische Republik, die Freien der Völkerwanderung, die Bauern des Spätmittelalters in fast ganz Europa, die Zwischenkriegszeit des 20.Jahrhunderts durch Kommunismus, Korporatismus und Faschismus – und unsere Zeit durch grossflächige Zentralstaaten und ihre Bürokratisierung.
Können wir die Freiheit zurückgewinnen? Manche finden, das westliche, freiheitliche System untergrabe mit der Zeit selbst seine Voraussetzungen. Es neige seinem Ende zu, zwangsläufig, oder es könne zumindest die gesellschaftlichen Voraussetzungen seines Gedeihens nicht selbst schaffen (Wilhelm Röpke, Mancur Olson, Ernst-Wolfgang Böckenförde). Andere sind optimistischer, gerade der Markt zwinge uns immer wieder, auf andere einzugehen, deren Freiheit zu respektieren (Friedrich A. Hayek). Das sind eher konservative Stimmen. Linke Theoretiker sagen seit je, die üblichen Mächtigen schnallen sich den Staat an, um zu herrschen. Beide Lager müssen folgern: also weniger Staat.
Bild 1: Panzersoldat. Foto: KEYSTONE / MAGNUM PHOTOS / Gueorgui Pinkhassov.
Ein Bild gibt Hoffnung: 1991 putschten ewiggestrige Funktionäre in Moskau gegen die neuen Freiheiten des Präsidenten Gorbatschow. Dieser Panzersoldat kannte nur das unfreie Sowjetsystem und militärische Disziplin. Er liest auf seinem Panzer an jenem Schicksalstag ein Flugblatt gegen die Putschisten – die Truppe solle ihnen nicht gehorchen.
Wir wissen, was folgte: Weil diese jungen Leute und ihre Kommandeure instinktiv wussten, was Freiheit ist, und ihnen diese wichtig war, griffen sie nicht ein. Der Putsch misslang. Sogar ein diktatorisches System konnte auch nach 70Jahren das Gefühl der Freiheit nicht aus den Herzen reissen. Mensch sein heisst, frei sein zu wollen, zu allen Zeiten. Deshalb greift dieses Buch mit Zuversicht nach der Freiheit, die wir an falsche Einrichtungen verloren haben.
ALLMACHTSSTAAT WIE IM KRIMINALFILM
Die Kriminalfilme zeigen gerne, wie bei dramatischen Wendungen des Geschehens Kolonnen von Polizeiwagen vorpreschen, sich vor dem Platz des Dramas stauen, wie schwer bewaffnete Polizisten ausschwärmen, wie der Kommissar im schwarzen Ledermantel, umgeben von jungen Männern mit Pistolenhalftern, Sonnenbrillen und Bärten, einschreitet. Einer brüllt durchs Megafon, Sirenen heulen. Die Staatsmacht schlägt zu. Die Filmemacher finden es normal, dass die Zuschauer dies normal finden.
Leider können solche Szenen auch als Abbild des bereits allmächtigen Staats gelesen werden. Schwappen die Kriminalfilme dereinst auf die Alltagswelt über? Vielleicht nicht gerade so, doch der Superstaat ist da, subtiler, aber zupackender, nicht nur im Kino.
ERSTER TEIL
Die Analyse – so ging die Freiheit verloren
KAPITEL 1
Fesseln der Freiheit im Nationalstaat
Die Drohung, die «Vertrauensfrage» zu stellen und bei einem Nein das Parlament aufzulösen, fesselt die Stimmen der Parlamentarier an die Regierung. Zwar soll eine Regierung durch das Parlament eingesetzt und bestätigt werden, das gehört zur Gewaltenteilung. Es ist auch richtig, wenn eine Regierung sich bei Streitigkeiten im Parlament ihrer Mehrheit versichert. Doch braucht es die Auflösung? Eine Regierung kann Niederlagen im Parlament erleiden und soll dann neue Vorschläge bringen, neue Unterstützung suchen. Sie müsste auf Minderheiten, die öffentliche Meinung, innerparteiliche Widerstände eingehen. Sie müsste kreative Lösungen suchen. Dies würde die Rolle einer Regierung unter der Gewaltenteilung unterstreichen – sie führt aus, was das Parlament will. Sie sucht nach dem Widerspruch des Parlaments eine neue Lösung, bringt ein anders formuliertes Gesetz ein. Oder das Parlament formuliert gleich selbst eine solche Änderung – was es nicht in allen Regimen darf! Welch eine gestörte Gewaltenteilung!
DIE GEWALTENTEILUNG IST ABGESCHAFFT
Doch wenn die Regierung oder der Staatspräsident nach einer Niederlage in der Vertrauensabstimmung das Parlament auflösen kann oder muss, dann setzt man den Parlamentariern Daumenschrauben an, damit sie zustimmen. Dies gilt auch in den Oppositionsparteien, damit sie sich der Regierung widersetzen – der mögliche Sieg in einer dadurch ausgelösten Neuwahl verführt auch deren Parteileitungen zum Druck von oben auf ihre Parlamentarier.
Je nach Verfassung oder Usus gehen die Nationen nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung unterschiedlich vor. Die Regierung kann selbst eine Neuwahl ausrufen, aber meistens wird das Staatsoberhaupt dies veranlassen. Was der alle paar Monate wiederholte Sturz einer Regierung nach Vertrauensabstimmungen an Schaden anrichtet, sah man in der Weimarer Republik, in der Dritten Republik Frankreichs und im Italien der Nachkriegszeit. Entweder führten diese Entscheide zu wiederholten und oft konturlosen Neubestellungen der Parlamente oder zu einem unwürdigen Postenschacher bei der Neubestellung der Ministerposten. Beides stärkte die Demokratie und das Ansehen der Politik keineswegs.
In Deutschland 1949, in Spanien 1978 wurde das «konstruktive Misstrauensvotum» eingeführt. Die Regierung kann nur gestürzt werden, wenn sich das Parlament auf einen neuen Regierungschef einigt. Doch die Zwänge gegenüber den Parlamentariern bleiben die gleichen, sie werden zur Gefolgschaft in Regierungs- wie in Oppositionsparteien gepeitscht.
So wurden beim Misstrauensvotum 1972 im Deutschen Bundestag Abmachungen getroffen, welche Mitglieder überhaupt und, wenn ja, wie zu stimmen hatten. Der SPD-Abgeordnete Günther Müller hielt sich nicht daran und wurde prompt aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen.
Anlässlich der Debatten im Vereinigten Königreich zum Austritt aus der EU (Brexit, Frühjahr 2019) nahm die breite Öffentlichkeit ein Parlament wahr, das gar nicht dem Bild einer souveränen Legislative entsprach. Tatsächlich liegt der Anstoss für die Gesetzgebung fast ausschliesslich bei der Regierung, sie bringt die Vorlagen ein. Nur zu Beginn jeder Session werden unter den etwa 650Parlamentariern des Unterhauses 20Mitglieder ausgelost, die einen Vorschlag einbringen dürfen, oder sie bekommen zehn Minuten Redezeit, um einen solchen vorzulegen. Doch wird für alle diese Vorstösse zusammen ein begrenztes Zeitfenster am Schluss anderer Debatten zugestanden, viele kommen so gar nicht zum Zug, und meist genügt der Zuruf «object» eines anderen Mitglieds für eine Verschiebung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.
In den Debatten um die Vorschläge der Regierung für den Brexit selbst billigte die Regierung May dann ausnahmsweise die freie Stimmabgabe zu, sonst hätte deren wiederholte Ablehnung zum Regierungsrücktritt und allenfalls zur Parlamentsauflösung geführt. Auch der Parlamentspräsident hat einen grossen Ermessensspielraum, ob er Anträge oder Wortmeldungen zulässt. Im Sommer 2019 lagen acht Varianten aus dem Unterhaus für den Brexit vor, doch der Speaker liess nur über deren vier abstimmen. Daher beschränken sich die meisten Wortmeldungen auf Fragen an Vorsitz oder Regierung. Die ganze glorreiche Parlamentsgeschichte seit der Magna Charta 1215, die schönen Rituale, die fein gedrechselten Anreden der Mitglieder täuschen nicht darüber hinweg, dass hier «top-down» herrscht.
Ausserdem verläuft die Entscheidfindung im britischen System ausgesprochen binär – mit Entweder-oder, ohne Zwischentöne. So verhandeln die Regierungs- und die Oppositionspartei kaum je, die stärkere Partei regiert allein. Das Unterhaus stimmt der Regierung entweder zu, oder es kommt zur Neuwahl, und so kommen fast alle Vorlagen nur von der Regierung.
Bild 2: Parlament in London: Abgeordnete bringen keine Gesetze ein, Regierung diktiert. Foto: UK Parliament / Jessica Taylor.
Bild 3: Deutscher Bundestag in Berlin: Parteizentralen diktieren. Foto: Deutscher Bundestag / Simone M. Neumann
Kurz, die Vertrauensfrage mit anschliessender Parlamentsauflösung verkehrt überall die Gewaltenteilung von einem «bottom-up» in ein «top-down». Der einzelne Parlamentarier kann nicht gemäss seinem Gewissen oder dem Wählerwillen abstimmen.
WENN DIE GEWALTENTEILUNG LEBT – USA, SCHWEIZ
Das Gegenbeispiel stellen die USA und ihre «Schwesterrepublik» Schweiz dar. Die amerikanische Regierung tritt nach – durchaus vorkommenden – Abstimmungsniederlagen nicht zurück. Der Präsident könnte nur durch ein kompliziertes Absetzungsverfahren (Impeachment) aus dem Amt befördert werden. Doch auch nicht einmal dann fällt seine Regierung, und der Kongress wird auch nicht aufgelöst und neu gewählt. In den letzten Jahren verweigerte der Kongress verschiedentlich das Budget oder die Anhebung der Schuldengrenze. Präsidenten wie Clinton, Obama, Trump liessen die Staatsämter vorübergehend schliessen, da kein Budget beschlossen war. Doch mit der Zeit einigten sich Regierung und Kongress auf eine Lösung, unter Gesichtswahrung beider Seiten. Der Kongress wurde nicht aufgelöst, die Regierung blieb im Amt, Kompromisse waren produktiver.
Diese hochgemute Einschätzung ist leider auch für die USA einzuschränken – der Kongress hat 1977 in wichtigen Fragen abgedankt und Vollmachten an den Präsidenten übertragen. Das Gewicht der Exekutive hat massiv zugenommen: durch den International Emergency Economic Power Act (IEEPA). Der Präsident kann bei bedrohter nationaler Sicherheit Sanktionen gegen andere Länder verfügen, Vermögenswerte beschlagnahmen usw. – und der Kongress kann solche Entscheide nur mit Zweidrittelsmehrheit umstossen. Präsident Trump begann 2019 solche einseitigen, umstrittenen Massnahmen zu treffen.
Ebenso verlagerte sich die Initiative für kriegerische Eingriffe im Ausland vom Kongress, zuständig für Kriegserklärungen, zum Präsidenten, der oberster Kommandant ist. Ein Transfer solcher Macht findet sich in der War Powers Resolution von 1973, anlässlich des Vietnamkriegs, und in der Authorization for Use of Military Force (AUMF) von 2001 gegen Al Kaida. Aber schon von jeher und unter fast allen Präsidenten, auch Barack Obama, fanden Auslandinterventionen auf präsidiales Geheiss statt (total 182), aber es gab nur elf formale Kriegserklärungen durch den Kongress.
Aber auch in der Innenpolitik stören sich immer mehr Bürger, Staatsrechtler und neuerdings eine im Entstehen begriffene Mehrheit des Obersten Gerichtshofs daran, dass die Souveränität des Volks und der handelnden Individuen als Verfassungsgrundlage ersetzt worden sei durch die Souveränität der Regierung. Die zahlreichen Ausgliederungen von Kompetenzen des Kongresses an Agenturen (Umwelt, Gesundheit, Arbeitsamt, Notenbank) verfolgten luftige gesellschaftliche Ziele, keine Individualrechte.1
Auf solche und andere an die Exekutive abgetretene Bereiche, wie periodisch die Aussenhandelskompetenz, gründen sich auch die Executive Orders der Präsidenten.
Kurz, die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Kongress und Gerichten ist ausgewogener als in parlamentarischen Demokratien. Sie hat zwar unter der Bequemlichkeit obrigkeitlichen Regierens dank Regeln, Sicherheit und «Wohltaten für alle» und unter der Dringlichkeit mancher Entscheide gelitten. Doch sind die Gewichte der Gewalten ohne Verfassungsänderungen nur durch Rücknahme der erwähnten Gesetze an sich auch wieder leicht auszutarieren.
In der Schweiz trat die Regierung seit 1848 nie kollektiv zurück, sondern wurde immer nur nach Neuwahlen des Parlaments bestätigt, nach Rücktritten oder der Abwahl einzelner Bundesräte ergänzt. Doch häufig erleidet die Regierung Schiffbruch mit Vorlagen im Parlament oder bei Volksabstimmungen. Unverdrossen ändert sie darauf die Vorlagen, bis die Gewalten von unten – Parlament oder Volk – zustimmen. So bleiben die Funktionsfähigkeit (und die Lernfähigkeit) der Regierung wie auch ihre Legitimität vollauf gewahrt. Und «die unten» haben das berechtigte Gefühl, ernst genommen zu werden. Die zwei Gewalten der Regierung und der Legislative müssen zusammen regieren, sie können einander nicht absetzen. Man könnte es auch «Gewaltenverbindung» anstatt Gewaltenteilung nennen.
Bild 4: US-Kongress und Schweizer Parlament legen Vorlagen vor oder lehnen sie ab – die Regierung bleibt im Amt und führt aus. Foto: The White House / Lawrence Jackson.
Bild 5: Schweizerische Bundesversammlung. Foto: Béatrice Devènes.
In den USA wie in der Schweiz werden oft einzelne Parlamentarier oder die bestellten Ausschüsse des Parlaments selbst aktiv und legen Gesetzesentwürfe vor. In aller Regel werden diese nicht von der Regierung oder von Verfahrenstricks ausgebremst, sondern kommen zur Abstimmung. Der US-Kongress und das Schweizer Parlament sind echt gesetzgebende Räte, eine der drei Gewalten demokratischer Systeme.
BERUFSPARLAMENTARIER – ABHÄNGIG VON PARTEIZENTRALE
Die Fesseln durch die Regierung aber verbinden sich mit dem fast überall in Europa vorherrschenden Typus des Berufsparlamentariers. Er muss die Verankerung in der Wirtschaft, in seiner beruflichen Stellung aufgeben, vor allem aber sein Einkommen. Die Parlamentarier hängen damit für ihr ganzes Einkommen – und ihren Status – von der Wiederwahl ab. Das macht fügsam. Werden sie nicht mehr gewählt, stehen sie vor dem Nichts. Die Parteileitungen haben es leicht. Ihr Whip, der Einpeitscher, herrscht.
Wir diskutieren hier diesen Status des Berufsparlamentariers, der anderen wirtschaftlichen Interessen entsagen muss, nicht speziell. Doch kann man sich fragen, wer unabhängiger ist: diese Runde armer Schlucker und Karrierepolitiker oder Männer und Frauen mit Unternehmenserfahrung, mit Verbänden der Zivilgesellschaft im Rücken? Sie haben ausserhalb des Parlaments noch einen Anker im Realen. Natürlich müssen sie diese Interessenbindungen auflisten.
WENN DIE PARTEIZENTRALEN DIE KANDIDATEN DER LEGISLATIVE AUSWÄHLEN
Die Parteileitungen haben ein gewichtiges Wort mitzureden bei der Kandidatenkür zur Neuwahl. Wo Listen gewählt werden, kommt es für die Kandidaten auf den Platz auf diesen Listen an. Wenn diese Liste 20Plätze hat und vier Sitze erringt, sind nur die ersten vier gewählt. In den meisten Ländern können die Parteileitungen diese Listenplätze stark bestimmen, und wenn das Parteidelegierte tun, werden auch diese missliebige Abweichler kaum vorne hinsetzen.
Wenn Wahlkreise massgeblich sind, sind solche Beeinflussungen üblich. In Frankreich spricht man von «parachutage», vom Absetzen gefälliger Kandidaten aus den Parteizentralen mittels Fallschirm in die sicheren Wahlkreise. Das ist nur der erste Akt. Weil die Wahlen aus zwei Runden bestehen, findet vor der zweiten Wahlrunde ein nationales Schachern zwischen den verschiedenen Parteizentralen statt, die den zweit- oder drittplatzierten Kandidaten vieler Wahlkreise wechselseitig zurückziehen, damit die Wahlchancen der Erst- oder Zweitplatzierten steigen. Hier erfahren unbeliebte Kandidaten aus der Zentrale, dass sie sich zurückzuziehen haben, manchmal erfahren sie es sogar bloss aus den Medien.
Bei den Wahlen 2015 in Grossbritannien suggerierte die Parteileitung der (schliesslich siegreichen) Tories den lokalen Wahlversammlungen, dass sie nicht allzu lange evaluieren, sondern rasch handeln sollten.
Das alles kanalisiert die Macht «top-down».
Italiens Parteiführungen bestimmten die Kandidaten im Vorfeld der «Schicksalswahlen» 2018 weitgehend selbst. Die Kandidaten der Forza Italia, der Partei Silvio Berlusconis, wurden von ihm und einem kleinen Kreis der Parteihäupter auf seinem Landsitz ausgewählt.2 Sodann trafen sich die vier Parteiführer der Mitte-rechts-Parteien im Hinblick auf ihre gemeinsame Wahlstrategie. Diese bestand darin, nach Umfragewerten in jedem der Einzelwahlkreise jenem Kandidaten einer der vier Parteien den Vortritt zu lassen, der den Kreis am ehesten gewinnen würde. Die anderen Kandidaten wurden weggewiesen; bei einigen wurde der Verzicht auf den Sitz in der Abgeordnetenkammer mit einem Sessel im Senat kompensiert.3 Die Kandidaten des Movimento Cinque Stelle wurden zwar an gewissen Versammlungen aussortiert, doch das letzte Wort hatten der «Garant», also der Parteigründer Beppe Grillo, und der politische Chef, Luigi Di Maio.4 Auch beim Partito Democratico hatte der Parteichef Matteo Renzi das letzte Wort zu den Kandidaturen.5 Es ist klar – auch unter dem neuen italienischen Wahlgesetz legen die Parteistrategen die Kandidaten fest, diese haben sich zu fügen. Schicksal aus höherer Hand.
Die Machtschrauben der Parteien im übrigen Europa aber können sogar in den Partei- und Fraktionsstatuten nachgelesen werden:
PARAGRAF 17 DER ARBEITSORDNUNG DER CDU/CSU-BUNDESTAGSFRAKTION:
Punkt 1: «Die Mitglieder sind verpflichtet, in wichtigen Fragen ihre von der Fraktionsmehrheit abweichende Abstimmungsabsicht dem Vorsitzenden, dem 1. Parlamentarischen Geschäftsführer oder der Fraktionsversammlung bis zum Vortag der Abstimmung, 17.00Uhr, mitzuteilen.»