Wenn die Seele träumt - Gioia Großmann - E-Book

Wenn die Seele träumt E-Book

Gioia Großmann

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Beschreibung

Menschen in verschiedenen Zeiten scheinen auf rätselhafte Weise miteinander verknüpft zu sein. Ereignisse nehmen aufeinander Bezug und setzen sich in immer neuem Kontext auf spannende Weise fort. Eine Seele wandert durch Leben und Geschichten, verfolgt von einer geheimnisvollen Macht. Sie besinnt sich auf sich selbst, auf das, was sie antreibt und das, was ihr Leben ausmacht. Dabei geht sie intensive Beziehungen zu anderen handelnden Personen ein und bleibt von den Schattenseiten des Lebens nicht verschont. Die fesselnd realistische Darstellung einzelner Szenen und Orte lässt den Leser nicht los. Er wird aus der Realität in eine Welt zwischen Alltäglichem und wirklichen Grenzerfahrungen entführt. Eine Folge scheinbar völlig verschiedener Einzelgeschichten mündet in einem überraschenden Ende.

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Seitenzahl: 205

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Wenn die Seele träumt

Wenn die Seele träumt

 Gioia Großmann

Wenn die Seele träumt

Wenn die Seele träumt

Ein Roman von Gioia Großmann

Impressum:

Text: © Copyright by Gioia Großmann

Bild: © Copyright by Gioia Großmann

2017 im Selbstverlag von: 

Gioia Großmann, Ledenweg 29, 01445 Radebeul

Veröffentlichung: epubli - ein Service der 

neopubli GmbH, Berlin

- Erstes Leben -

Kapitel 1

Sind wir nicht einfach nur selbstlose Hüllen? Ist es nicht die Wahrheit, dass wir nicht einfach irgendwer sind und nur dieses sogenannte »ich« steuern und sein Leben in der Hand haben? Wenn nichts echt wäre, alles bloß Fantasie und Überzeugung.

Was bin ich? Wer bin ich? Was bedeutet denn noch ein Name – ein Wort, welches das Leben bestimmt. Was ist der Sinn des Lebens? Ist es der Tod? - Das Ereignis, wo alles hinführt, dem wir jede Stunde und jede Sekunde näher kommen? Und – was ist Zeit? 

Es gibt keine Zeit.

Es existiert tatsächlich bloß Fantasie und Überzeugung. Das Gefühl, es besser zu wissen, es genau hinzubekommen. Ich spüre, dass das Universum eine kugelähnliche Gestalt hat. Ich rieche Farben, sehe Stimmungen, schmecke das Leben. Aber früher glaubte ich, dies alles wäre nichts weiter als eine kleine Schneekugel in einem großen Laden oder eine schlichte, verloren gegangene Murmel im Sandkasten. Aber nun weiß ich, es ist anders.

Es war langsam Herbst geworden. Ich radelte mit meinem kleinen runtergekommenen Fahrrad den Berg hinauf. Der eisige Wind verscheuchte alle überflüssigen Gedanken aus meinen Kopf und ich hatte die Zeit, über die Dinge, die mir nicht aus dem Kopf gehen wollen, nachzudenken. Ich spürte meine Finger kaum noch, obwohl gerade erst der Herbst anbrach. Ich liebte den Herbst. Schon immer. Er war so farbenfroh und vielfältig ohne dabei zu vernachlässigen, die grauen Seiten des Himmels zu zeigen. Der Herbst ist eine ehrliche Jahreszeit.  Zu diesem Zeitpunkt war ich fünfzehn Jahre alt und hatte noch keinen blassen Schimmer von der wirklichen Welt, auch wenn ich das vielleicht glaubte. Ich wartete wie jeden Morgen eine halbe Ewigkeit vor der Haustür meiner besten Freundin Hazel. 

Als sie dann endlich fertig war, traten wir heftig in die Pedale, um es noch vor dem letzten Klingeln zu schaffen. Dasselbe Prozedere wie jeden Morgen. Aber dieser Schultag wurde nicht so wie alle anderen. Gut, er war langweilig und ätzend, wie das eben so ist, aber in der Englischstunde passierte es dann. Hazel rutschte urplötzlich von ihrem Stuhl, ohne dass es sonst jemand bemerkte. Sie fummelte genervt an ihrem Schuh, soweit ich das mitbekam. Dann stöhnte sie kurz auf und kam ruckartig hoch, wobei sie allerdings nicht bedacht hatte, dass sich über ihr ein Tisch befand. Es machte also einen lauten Knall und die ganze Klasse drehte sich grinsend um. Hazel war aber nicht von der Sorte Mädchen, die jetzt beschämt erröten, sondern sie lachte selbst am lautesten und längsten über ihre Dummheit. Als wieder Ruhe eingekehrt war, sah sie mich mit einem leicht verstörten Blick an. Sie hatte etwas in der Hand aber ich konnte es wirklich nicht erkennen, also zuckte ich mit den Schultern. Ohne darauf zu achten, was andere Leute denken könnten, legte sie sich auf den Tisch. Und da wir in Reihen sitzen, schob sie sich über zwei Bänke hinweg zu mir und legte ein kleines Zettelchen in meine Federmappe. Mit ihrem engelsgleichen Lächeln schob sie sich nun wieder rückwärts auf ihren Platz. Ich weiß nicht, wie viele Blätter sie knickte und wie viele entsetzte Blicke sie bekam. Man hätte das Briefchen ja auch einfach werfen können. Nein,  Hazel kann nicht werfen, meinte sie immer. 

Immer noch etwas amüsiert holte ich mir das Papierchen aus meiner Federmappe, ohne mir dabei große Gedanken zu machen. Die Zeiten mit den Zetteln waren schon längst vorbei, aber Hazel hatte vielleicht ein tolles Bildchen gekritzelt. Das Papier fasste sich seltsam an und auch die Tinte und die Schrift hatte ich noch nie gesehen. „Für Lu“. Das stand da. Es war mit einer schon alten Feder reingeritzt worden und als ich dann auf die Tinte achtete, schossen mir die Worte „wie getrocknetes Blut“ in den Kopf. Anscheinend schossen sie mir nicht nur in den Kopf, sondern ich hatte es auch noch laut gesagt. Mein Lehrer drehte sich verwundert um. „Schön, auch mal was von dir zu hören, Lunadea. Was war noch gleich deine Antwort? Oder hast du sie dir da auf das reizende Zettelchen geschrieben? … Gib mal her. Mich würde ja jetzt wirklich interessieren, was wichtiger ist als unser Thema.“ Und dann nahm er mir den Zettel aus der Hand, faltete ihn auseinander, drehte ihn um und hielt dann kurz inne. „Ihr werdet immer einfallsloser, Kinder. Wer auch immer den geschrieben hat, ist echt lustig. Genauso viel wie da drauf steht, ist glaube ich, auch in euren Hirnen. Also weiter geht's.“ Er legte den Zettel zurück auf meinen Platz. Ich nahm ihn in die Hand. Er war leer. Na danke.

Ich hatte diesen Typen noch nie gemocht. Ich fragte mich oft, wie so jemand Lehrer werden konnte, aber viel wichtiger war in diesem Moment … wer hatte diesen Zettel verfasst, auf dem nichts weiter als mein Name stand? Mir wurde etwas flau im Magen und schummrig, als ich die Tinte näher betrachtet hatte. Ich kannte sie nicht und das ist sehr selten, da ich mich mit Tinten wirklich auskenne. Aber die Tinte roch sehr streng, ja sie stank geradezu bestialisch. Ihre Spur deutete auf eine messergleiche Klinge hin, mit welcher der mysteriöse Zettel beschrieben worden sein musste. Nach der letzten Stunde hatte ich es eilig, mich von Hazel zu verabschieden und machte mich sofort auf den Weg zu Magdalena, meiner Kalligraphielehrerin. Wir nannten sie Magda.

„Hey, was gibt’s. Dir ist schon klar, dass dein Kurs erst in einer Stunde anfängt, oder?“ „Jaja, ist mir klar. Hast du trotzdem kurz Zeit?“ „Warte, ich schreib noch die letzte Zeile hier fertig, dann bin ich ganz für dich da. Nimm dir doch noch ein paar Nudeln. Ich hab noch welche in der blauen Schüssel in der Küche.“ Die Küche ist ein Zwei-Quadratmeter-Raum und bis zur Decke hin vollgerümpelt mit allem möglichen Zeugs. Die Teller stapeln sich etwa einen halben Meter hoch und auf dem Boden liegen vereinzelt ein paar Löffel und Teeverpackungen herum. Kein Wunder, dass an der Tür ein Schild hängt: Privat. Betreten nicht erwünscht. Aber Magdalena kommt mit der Unordnung klar, oder wie sie sagen würde: „Ich pflege das geordnete Chaos und füttere es aus Nächstenliebe. Da ist nichts dran auszusetzen.“ Wo sie recht hat, hat sie recht. Ich setzte mich in den weinroten Ohrensessel und ließ meinen Blick durch das Geschäft schweifen. Täglich wird es hier immer voller. „So. Jetzt bin ich da. Was ist los?“ Ich kramte den merkwürdigen Zettel aus meiner Jackentasche und hielt ihn ihr unter die Nase. „Igitt. Was ist das denn bitte? Riecht ja so, als wäre es verwestes Papier.“ „Was ist das für eine Tinte?“ „Von wem hast du das?“ „Weiß ich nicht. Das ist es ja.“ „Nichts, was ich schon gesehen habe. Ich habe eine Vermutung, aber das würde bedeuten, dass das keine Tinte ist. Ich leg es mal unter das Mikroskop, in Ordnung?“ Vorsichtig drehte und wendete sie den Zettel und kam schließlich zu dem Ergebnis, es wäre wirklich keine Tinte. „Ich bin grad ein wenig überrumpelt, Lu. Du weißt wirklich nicht, von wem das ist?“ Ich bestätigte es ein weiteres Mal. „Lunadea, das ist Blut. Menschenblut vermutlich. Das hat man damals auf der Insel Haligu genommen. Die Insel war berühmt für die Schriften. Sie lag mitten im Pazifik und war - egal wie - ihrer Zeit weit voraus. Manche nehmen an, die Einwohner wären Außerirdische gewesen, die einen Angriff planten oder zeitreisende Kriminelle. Und als man dann versuchte, mit dem Schiff dorthin zu gelangen, war die Insel plötzlich auf unerfindliche Art und Weise verschollen und seitdem wurde sie nie wieder gesehen. Manche Seemänner sagen, dass die Anzeigen auf ihrem Schiff bei diesen Koordinaten jedes einzelne Mal herumspinnen würden, andere halten das alles für totalen Schwachsinn. Das fällt mir jetzt spontan dazu ein. Ich werde dir vorerst nicht mehr erzählen; ich muss kurz die Kundin da vorne betreuen. Vielleicht ein anderes Mal, wenn genügend Zeit ist. Pack das Teil erstmal gut weg und pass drauf auf.“ Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Ich beschloss letztendlich, mich nicht verrückt zu machen und davon auszugehen, irgendein Spinner hätte sich einen Spaß erlaubt. 

Dann klirrte das Windspiel über der Tür ein weiteres Mal und Hazel kam, wie immer gut gelaunt, hereinspaziert. „Na hat der Verehrer dir noch mehr Zettelchen versteckt?“ fragte sie lachend. Ich hatte keine Lust, weiter auf dieses Thema einzugehen und antwortete nur, dass - falls ja - ich sie noch nicht direkt gefunden hätte, woraufhin Hazel direkt wieder auf Ostern letzten Jahres anspielte und das Thema sich erledigt hatte. Allmählich hatte sich die ganze Gruppe versammelt und am kleinen Tischchen niedergelassen. Gebannt hörten wir Magda zu und probierten alles Mögliche aus. Nach der Stunde blieb ich noch ein Weilchen bei ihr, um mich mit ihr zu unterhalten. Ich hatte mir immer eine große Schwester gewünscht, die sie, seit ich sie kenne, für mich verkörpert. Ihr erzählte ich schon immer mehr als meinen Eltern, sogar mehr als Hazel. Najuk, mein großer Bruder, war zweifellos toll, aber wir verbrachten schlichtweg viel zu wenig Zeit miteinander. „Lu, was hältst du davon, wenn ich den Zettel noch zu meinem Freund ins Labor bringe? Dort können sie das alles gescheiter überprüfen. Ich will dir hier nichts Falsches sagen, Mäuschen. Aber zugegebenermaßen interessiert mich das jetzt wirklich auch“, meinte sie. Ich gab ihr den Zettel, dann verabschiedeten wir uns herzlich und ich machte mich auf den Weg zu meinem Rad, das ich mit dem verrosteten Schloss an den Fahrradständer gekettet hatte. Die Glastür hinter mir ging mit einem sanften Sog zu. Ich sah noch einmal Magda, die den Tisch aufräumte und gleichzeitig die gesamte Straße, die sich in der Scheibe spiegelte. Ich ließ den Wind wieder einmal an mir vorbeirauschen wie auch die gesamte restliche Welt. Ich blickte nach oben. Die Äste der Bäume bildeten vor dem leicht rötlichen Abendhimmel schwarze Silhouetten. Plötzlich hörte ich ein heftiges Bremsen. Ich war wohl von meiner Straßenseite abgekommen. Verschreckt starrte ich wieder nach vorne, wo ein wütender Fahrer wild gestikulierend in seinem silbernen Transporter saß. Ich fuhr schnell weiter. Dieses Mal richtete ich den Blick artig nach vorne. Meine Beine waren zittrig und versprachen nicht mehr sonderlich viel an sicherem Halt. Die Häuser und Villen zogen an mir vorbei, dann fuhr ich durch die grauen Blöcke mit den trostlosen Rentnern, die aus den Fenstern sahen und den leicht bekleideten Typen, die mit Bier und Kippe auf den Bürgersteigen hockten und wirres Zeug vor sich hin grölten oder mir hinterher pfiffen. Es ist immer ein Geschenk, wenn man dann an den schönen Feldern vorbei fahren kann, auf denen mal Sonnenblumen, mal Mohn, mal Getreide, mal Raps dann mal wieder Kornblumen oder anderes wächst. Das ist die Stelle, an der die Bäume am Straßenrand nicht mehr von Stadtgärtnern geschnitten werden, sondern ganz so wachsen können, wie sie wollen. Und schließlich kommt auf der linken Seite ein kleiner Wald und ein Waldweg, der zu unserem Haus führt. Ein schwarzer Rabe flog in die Weiten des Himmels. Er war mir schon in den letzten Wochen aufgefallen. Ich kam an, ließ mein Fahrrad scheppernd auf den Boden fallen und wurde im selben Moment von einem fröhlich gackernden Hühnchen begrüßt. Ursel. Ich nahm das kleine Federvieh auf den Arm und ging gemeinsam mit ihr rein.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Bus bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Es fühlte sich an, als wäre es Nacht, so dunkel war es. Ich war vielleicht körperlich da aber geistig komplett abwesend vor lauter Müdigkeit. Die Müdigkeit fühlte sich nicht an, wie ein kleines Hügelchen an Müdigkeit. Nein. Sie war der Mount Everest. Ich ließ die Gedanken in meinem Kopf umher sausen. Und dann sitzt man so in der Bahn und merkt, dass es kaum eine bessere Metapher für das Leben gibt als eine Straßenbahn. Man sitzt in ihr und alles zieht an einem vorbei, die ganze Welt im Schnelldurchlauf. Man kann von der Strecke aus nicht alles sehen, das hängt ganz davon ab, wann man wohin guckt. Jeder hat von seinem Platz eine andere Perspektive. Die, die nebeneinander sitzen, meinen das Gleiche zu sehen, aber der Winkel macht trotz allem einen kleinen Unterschied. Man steigt an einem bestimmten Punkt ein und auf der Fahrt kommen mal alte, mal junge Seelen hinzu. Aber die Besetzung wechselt. Denn jeder muss mal aussteigen, manch einer ist eben schon älter, der Andere noch jung. Manchmal hat die Bahn kleine Pannen, die viele Leute betreffen, manchmal nur bestimmte. Manchmal kommt ein Kontrolleur, der einen aus den Gedanken reißt und prüft. Man sitzt da hinter der Scheibe und weiß, es gibt nur einen Ausweg. Was man mit der Zeit macht, ist jedem selbst überlassen und ob man sitzen kann oder stehen muss, bestimmt der Zufall und in manchen Fällen auch der Mut. Und irgendwann, irgendwann weiß man, es ist Zeit auszusteigen. Man drückt auf Haltewunsch und die Türen werden einem geöffnet, wenn es soweit ist. Endlich hat man richtige Luft, richtiges Licht, richtige Sonnenstrahlen, richtige Erde unter den Füßen und spürt alles so viel intensiver als in der stickigen Bahn. Teilweise wird man geblendet von dem hellen Licht. Aber es ist nicht vorbei. Man geht in eine andere Richtung, wo aber auch schon Leute sind, die zwar ab und zu die Straßenseiten wechseln, die  aber trotzdem wissen, wohin sie wollen. Und es gibt wieder so viel mehr da draußen, als man letztendlich doch sehen kann. Man spürt den Boden unter den Füßen, hat die warme Sonne im Nacken und sieht den zarten Schatten vor sich. Manche laufen in dieselbe Richtung wie man selbst. Andere kommen einem entgegen … Auf dem Weg zu einer neuen Reise mit anderer Besetzung und anderen Bedingungen.

„ ... Lunadea Martensen? Bist du taub?“ Verwirrt sah ich an Hazel hoch. Ich hatte sie überhaupt nicht bemerkt. Wann war sie gekommen? Mir war ein wenig schwindelig, da sich die Farben in meinem Kopf  überschlugen. Wie bereits erwähnt, war ich anders als andere mit meinen Dingen, die ich als Farben sah, Geräuschen und Momenten, die zu Musik wurden und den Gedanken, die weder einen Anfang noch ein Ende zu haben schienen. Ich hatte meine eigene kleine Welt im Kopf, die ich vor der Realität beschützen musste - Tag für Tag. „Ja, alles gut.“ „Gut, dann sollten wir jetzt lieber aussteigen.“ Wir drückten auf den Haltewunschknopf und gingen raus in die eisige Morgenluft, die sich wie kleine Piranhazähne in meine Haut bohrte. Den kompletten Schultag lang wechselten wir kein Wort mehr über den seltsamen Zettel. Ich war mir nicht ganz sicher, ob dieser Zettel mich so bewegen konnte, dass ich die ganze Zeit an ihn dachte oder ob es irgendeinen anderen Grund hätte geben können, der mir nur nicht bewusst war. Ich ließ die Zeit verstreichen, saß da mit einem leblosen Blick in meine Traumwelt, in der sich interessantere Sachen abspielten als im Klassenzimmer. Ich wusste, dieser Tag wäre bald vorbei wie jeder andere auch, der so wie immer abläuft. Immer das selbe Muster. Immer die gleichen Gewohnheiten. Immer nur das Gleiche. Aber vielleicht war das Gleiche ja auch besser als etwas anderes.

Nachdem die Schule geendet hatte, machte ich mich auf den Weg nach Hause. Ich war gerade dabei, links an der alten Ruine abzubiegen, als es plötzlich anfing zu stürmen und zu gewittern. Auch der Regen ließ nicht lange auf sich warten. Ich war pitschnass und die durchnässte Hose klebte an meinen kalten Beinen. Ich kniff die Augen zusammen. Ich hasste es, Wasser in die Augen zu bekommen. Auf einmal stand eine düstere Gestalt vor mir. Sie war verschwommen und noch einige Meter entfernt. Ich dachte, ich hätte es mir eingebildet aber sie kam immer näher. Ich bekam Angst und wollte ausweichen. Es war genau an der selben Stelle, wo mich am vorherigen Tag beinahe das Auto angefahren hätte. Ich blieb ruckartig stehen. Von weitem sah es so aus wie eine unheimliche Kreatur mit Kapuze aber keinem Gesicht. Aus der Nähe war es ein Mann, komplett schwarz gekleidet, der weder tot noch lebendig aussah. Mit gläsernen Augen schien er durch mich durchzublicken, ohne jegliche Gesichtszüge. Kalt. Erbarmungslos. Streng. Unheimlich. Er machte nicht den Mund auf. Er sagte kein Wort. Aus dem einzigen Grund, dass er es nicht musste. Seine Worte drangen auch ohne Schallwellen in meinen Kopf. Er hatte Macht. Er hatte mich im Griff, in einem eisernen, todbringenden Griff. Es war nicht möglich, sich zu widersetzen oder sich zu wehren. Ich war vollkommen kraftlos und irgendwie war ich auch nirgendwo. Weder hier noch da. Schließlich löste er seinen Griff und die ganze Spannung wich aus meinem Körper. Er war weg. Ein schwarzer Vogel flog davon. Es donnerte und blitzte. Ich zitterte am ganzen Leib. Die Kälte war gerade dabei, mich zu verzehren, während die Angst an mir nagte. Was um alles in der Welt war das? Wer war das? Was er mir da gesagt hatte, würde ich niemals jemandem erzählen, das wusste ich. So schnell wie möglich fuhr ich nach Hause. Ich hörte Krankenwagensirenen und quietschende Autoreifen, die im Donnergrollen untergingen. Ich trat wie eine Wilde in die Pedale. Meine Stirn glühte, während meine Hände bereits zu kribbeln begonnen hatten. Ich brauchte Ewigkeiten, um den kleinen Schlüssel in das verrostete Schlüsselloch im Schuppen zu kriegen, um mein Fahrrad abzustellen. Die letzten Meter rannte ich auf meinen wackeligen Beinen. Schnellstmöglich knallte ich die Tür hinter mir zu. Nun war ich also da. In dem sicheren warmen Haus. Aus meinen Haaren tropfte es auf das Parkett. Ursel kam freudig angestolpert. Der dunkle, zugezogene Himmel machte mir Angst. Ich selbst machte mir Angst. Ich wusste nicht mehr, ob ich mir und meinen Einbildungen noch trauen konnte oder was gerade mit mir passiert war. Ich war vollkommen fertig. Ursel tappte in die Küche, während ich die schmale weiße Holztreppe hoch zu meinem Zimmer ging. Ich hatte mich gerade auf mein Bett geworfen, schon klopfte es. Najuk stand vor meiner Tür. „Muss das jetzt sein?“, fragte ich. Mit überraschend ernster Miene antwortete er mit „Ja“. Also ging ich mit ihm runter. Dort traf ich auf meine Mutter, die verstrubbelt und vollkommen aufgelöst am Küchentisch saß. „Was ist los?“ Ich stürzte zu ihr. Kurze Zeit später saß ich genauso da wie sie. Geschockt und in Tränen ausgebrochen. Es hatte einen Unfall gegeben. Ich erinnerte mich an die Sirenen. Die Tote war auf dem Weg zu ihrem Freund ins Labor gewesen. Sie wurde als eine Mörderin verdächtigt, da sie einen Zettel mit Menschenblut bei sich hatte. Auf ihrem Handy war eine angefangene Nachricht an eine gewisse „Lu“ aufgefunden worden. Der Name der Toten war Magdalena Zech.

Mein Leben war sich in diesem Moment, glaube ich, nicht ganz sicher, ob es zu Boden fallen würde oder es einfach nicht glauben sollte. Jedenfalls konnte es nie mehr so werden wie die fünfzehn Jahre davor. Ich wollte das einfach nicht wahr haben. Nach außen spielte ich die Starke und ließ nur wenige Tränen zu. Aber dann abends im Bett brach ich einfach zusammen. Die Decke über mir, zusammengekauert, verzweifelt schluchzend mit einem bebenden Körper und brennenden Augen lag ich da. Wie ein kleiner zerbrochener Vogel, der aus dem warmen Nest gestürzt ist. Ohne jeglichen Halt. Magdalena war mit Abstand die wichtigste Person in meinem Leben. Sie war wie eine große Schwester und hatte mich von der ersten Sekunde an auf diesem Planeten begleitet. Sie war diejenige, die mich in den Arm genommen hatte oder nach der Kalligraphiestunde mit hinter in ihren kleinen Raum nahm, Früchtetee kochte und mich mit Keksen vollstopfte. Sie war die einzige, die zuverlässig war, wenn es darum ging, zu merken, wenn es einem schlecht geht. Aber sie war auch wunderbar zum Lachen und Philosophieren. Ich konnte mir nicht vorstellen, auch nur einen Tag ohne sie leben zu müssen. Es war wie ein Puzzle. Und nun fehlte das wichtigste Teil in der Mitte, das mit dem Gesicht. Ich hätte niemals zugegeben, wie stark mich das alles mitgenommen hatte. Das war einfach nicht meine Art. Die Gesellschaft hat Erwartungen. Die Gesellschaft will starke, leistungsfähige Leute. Die Gesellschaft akzeptiert keine Schwäche. Die Gesellschaft steigt in den Zug und fährt zur Not auch ohne dich ab. Und dann stehst du da, in einem verlassenen Bahnhofsgelände. Alleine mit der Stille. Der Stille nach dem Trubel. Gedankenverloren starrte ich an die Decke. Und irgendwann hätte ich mich vielleicht auf die Gleise gesetzt. In der Hoffnung, dass doch noch eine Person kommt, die mich holt. Und wenn nicht, dann eben der nächste Zug, der sowieso niemanden mehr hätte einsteigen lassen können, da er bereits überfüllt war. Das Funkeln aus den Augen verschwindet und die Blicke werden leerer und starrer. Deine Augen heften sich an irgend etwas ganz bestimmtem fest und kurze Zeit später verschwimmt auch dieses Bild. Und eigentlich möchtest du nur noch weinen. Aber mit der Zeit gelangst du an einen Punkt, an dem auch das nicht mehr geht. Niemand ist mehr da. Und das ist der Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Man kann auch unter Millionen von Menschen einsam sein, auch wenn man gerade nicht alleine ist. Und so fühlte ich mich. Hazel war zwar eine gute Freundin zum Rumalbern aber letztendlich war ich ja doch ein kleines Papierschiffchen auf dem großen Ozean. In dieser Zeit überlegte ich, ob das Licht am Ende des Tunnels wirklich das Leben nach dem Tod ist und nicht einfach nur ein mörderischer Zug ohne Bremse. 

Es ist schon krass, wie schnell man von einem lebensfrohen Menschen zu seinem eigenen Schatten werden kann. Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Aber das Leben ist eben anders. Es ist anders als man denkt. Und gerade dann, wenn du denkst, es endlich verstanden zu haben, zeigt es dir den Mittelfinger und wendet dir den Rücken zu. Aber es hat auch nie jemand gesagt, es wäre einfach.

Tagelang erkannte ich mich selbst nicht wieder. Ich stand vor dem Spiegel und redete mit der traurigen Person vor mir. Sie war mir fremd. Ein Mädchen ungefähr so alt wie ich, aber mit mehr Geschichten.

Vielleicht ist der Sinn des Lebens ja auch gar nicht, ständig darüber nachzudenken, sondern aufzuhören, wirre Wörter in seinem Kopf wild umher zu wälzen und zu beginnen, das Leben auszufüllen und nicht zu denken, wie schwer es ist. Wahrscheinlich müssen wir unsere gebrochenen Herzen einfach nur zusammenkleben und so tun, als wäre nie etwas gewesen. Das Leben als Chance sehen und als unbezahlbares Geschenk leben, nicht auf die Leute achten, die uns fallen lassen haben und zusahen, wie wir zerbrachen und schon gar nicht Trübsal blasen.

Und so setzte ich ein Lächeln auf. Es war zwar nicht echt, aber es machte meine Umwelt glücklich. 

Ich spielte der Welt Lügen vor und wurde immer mehr zu einem Meister in meinem Fach.

Aber in Wirklichkeit war vor mir ein sagenhafter Abgrund. Eine Schlucht, die drohte, mich vollständig verschlingen zu wollen. Ich versuchte krampfhaft, mich nicht mitnehmen zu lassen. Von dem  reißenden Strom. Ich wollte mich festkrallen an dieser Welt, suchte sicheren Halt. Aber da war nichts außer Schlamm. Meine Hände glitten weiter in Richtung Abgrund. Ich schnappte verzweifelt nach Luft. Keine Hand streckte sich nach mir aus. Der Abgrund kam näher. Ich schluckte Wasser. Versuchte mit letzter Kraft, gegen den Strom zu schwimmen. Ich wusste, ich hatte keine Chance. Ich würde sterben. Weit hinten fliegt eine Krähe über den Fluss. Ach, wenn ich doch fliegen könnte, wie sie. Mein Kopf wurde unter Wasser gedrückt, mein Arm an einem spitzen Stein aufgeschlitzt. Es brannte, doch ich wollte doch noch hier bleiben. Ich versuchte ans Ufer zu gelangen. Hangelte mich von Stein zu Stein. Das Loch kam immer näher. Es war tief und wurde jede Sekunde tiefer. Ich würde stürzen. Meine Arme wurden immer schwächer. Die Stärke war entflohen. Die zittrigen Hände rutschten immer mehr.  Und ich wusste, jetzt konnte ich weinen. Vor lauter Schlamm und Wasser würde niemals jemand meine Tränen sehen.

Doch genau in diesem Moment ließen meine Hände los.

Wo sind wir Menschen eigentlich? Ja gut, in einem Ort eines Landes auf einem Kontinent der Erde, eines Planeten in diesem Universum. Aber weiter? Eigentlich haben wir uns doch all diese Unterteilungen nur ausgedacht, damit wir nicht vollkommen ahnungslos dastehen. Wie auch immer man meinen Zustand nennen möchte, ich war sehr in mich gekehrt und verschlossen.  Ich ging oft zu dem kleinen Holzkreuz an der Feldstraße. Ich überlegte häufig, einfach über das Feld abzuhauen aber ließ es dann doch immer sein. So viel Vernunft besaß ich noch.

Am nächsten Tag sollte die Beerdigung stattfinden. Alles im kleinen Rahmen - aber trotzdem waren da unzählige Leute, von denen ich noch nie etwas gehört hatte oder jemals um ihr Dasein gewusst hätte. Es war zweifellos einer der schlimmsten Tage meines Lebens. Ich fühlte mich unwohl. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es so gekommen war, wie es gekommen war. Alle Leute hatten unglaublich traurige und kummervolle Gesichter. Alle standen da und wussten nicht recht, was sie sagen sollten und die, die etwas sagten, kamen mit üblichen Standardsprüchen. Das Verwunderliche war, dass jeder mich hier kannte, der im geringsten etwas mit Magda zu tun hatte. Ich wollte einfach nur hier weg. Hazel schien die Beerdigung zu brauchen, um all ihre Tränen heraus zu lassen. Ich konnte hier nicht weinen. Nein, nicht vor diesen Leuten. Ich steckte den zerknitterten Zettel in meine Jackentasche, den mir ein Ermittler mit falschem Lächeln zurückgegeben hatte, nahm die stachelige weiße Rose in die Hand und trat ein paar Schritte nach vorne. Als ich vor dem Grab stehen blieb, bröselte etwas Erde hinein. Ich sah hinab, dann wanderte mein Blick zu dem Foto. Sie konnte nicht tot sein. Sie durfte nicht kreidebleich und leblos in diesem Sarg liegen. Ich bekam Schuldgefühle, als ich den Blick ihres Freundes im Nacken spürte. Ich machte mir Vorwürfe. Es war in irgendeiner Weise meine Schuld, dass sie sich auf den Weg gemacht hatte. Die Stacheln drückten sich in meine Hand. Ich ließ die weiße Rose in das Grab fallen. Es gab ein dumpfes Geräusch, dann herrschte vollkommene Stille, abgesehen von dem Schluchzen ein paar älterer Damen. Ich drehte mich um und verschwand in der Masse.

Die Zeit verstrich und allmählich begann ich mich mehr damit abzufinden, aber ich glaubte nicht daran, jemals wieder ein vollkommen glückliches Lächeln zustande bringen zu können.