Wenn die Sterne Schleier tragen - Anna Nigra - E-Book

Wenn die Sterne Schleier tragen E-Book

Anna Nigra

0,0

Beschreibung

Manchmal ist es leichter, ein Land zu regieren, als das eigene Herz zu verstehen. Einen Fremden heiraten? Cecilia kann nicht glauben, was ihr Vater da von ihr verlangt! Sie ist erst 18, und ihr zukünftiger Ehemann der Kronprinz von Europa! Doch der König will unbedingt Cecilia als Frau seines Sohnes. Ein Nein würde er nicht dulden. Nur widerwillig reist Cecilia mit ihrer Familie in den Königspalast, um ihren Zukünftigen kennenzulernen. Zu ihrer großen Erleichterung ist der 21-jährige Prinz Noran aber nicht nur gutaussehend, sondern auch charmant und liebevoll. Doch auch sein temperamentvoller Bruder Elias reizt Cecilia mit seiner provokanten Art. Und als wären zwei attraktive Männer, eine eifersüchtige Schwester und ein ungeduldiger König nicht schon genug, scheint im Palast eine unglaubliche Intrige gesponnen zu werden …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 442

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anna Nigra

Wenn die Sterne Schleier tragen

Cecilia Band 1

 

 

1. Auflage 2018

© 2018 by Verlag A TREE & A VALLEY

Inh. Stefan Funcke

Hannah-Arendt-Str. 3–7

35037 Marburg

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten.

 

Umschlaggestaltung: formlabor

Lektorat: Julia Hanauer

 

ISBN: 978-3-947357-07-9

ISBN Print: 978-3-947357-06-2

 

www.verlag-atav.de

Für Anika Und deinen Wink ohne Schicksal

Prolog

Sie hatte sich in mein Herz gespielt. Mit jedem Tag, ja mit jeder Minute, die verging, verfiel ich ihr ein klein wenig mehr – es abzustreiten wäre sinnlos gewesen.

In ihrer Gegenwart konnte ich kaum atmen. Sie berührte meine Seele auf eine Weise, die ich mir nicht erklären konnte.

Dieses Mädchen hatte die Macht, mit einem einzigen Wort meine ganze Welt zum Einsturz zu bringen. Gleichzeitig war sie in der Lage, mit einer kleinen Geste wilde Leidenschaft in mir zu entfachen.

Wenn sie mich ansah, wurde mir heiß. Wenn sie mit mir sprach, donnerte es in meiner Brust. Und als sie mich küsste, wurde mir klar, dass ich ohne zu zögern mein Leben für sie geben würde.

Kapitel 1

27. August

Heute war es also soweit. An diesem wunderschönen Spätsommertag sollte mir mein Leben aus den Händen gerissen werden.

Auf dem Weg zum Flugzeug fühlten sich meine Füße an wie in Zement gegossen. Noch nie hatte ich mich so schrecklich hilflos gefühlt.

Der lange gelbe Teppich, über den ich schritt, war gesäumt von Fotografen und Reportern.

„Lady Cecilia, wie fühlt es sich an, die zukünftige Herrscherin von Europa zu sein?“

„Was haben Sie vor, als Königin zu verändern?“

Im Stimmengewirr der Reporter konnte ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Sie begafften mich so gierig! Inständig versuchte ich, mir einzureden, dass es nur an dem engen gelben Seidenkleid lag, das ich trug.

Ich rang mir ein halbherziges Lächeln ab und lief weiter zu der Maschine, die mich in unsere Hauptstadt Vienna bringen würde. Zu meinem zukünftigen Ehemann Prinz Noran von Europa. Ehemann! Bei dem Wort bekam ich eine Gänsehaut.

Meine Mutter, die nur einen Schritt hinter mir lief, sprühte dagegen vor Lebensfreude. Sie winkte den Reportern zu, mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht. Mein Vater ging in seiner frisch gebügelten Offiziers-Uniform an Mutters Seite und salutierte. Hinter meinen Eltern folgte meine jüngere Schwester Marissa in einer wunderschönen blauen Robe. Das Kleid unterstrich den Glanz ihrer langen blonden Haare und ließ sie geradezu elfenhaft erscheinen.

Ich hätte auch gerne Blau getragen. Gelb steht den meisten blonden Frauen einfach nicht, finde ich, und ich kam mir darin eher vor wie eine Banane mit Flechtfrisur als wie eine zukünftige Königin.

„Kindchen, Gelb ist nun einmal die Farbe des Königshauses! Daran wirst du dich gewöhnen müssen“, hatte meine Mutter gesagt, als ich das extra angefertigte Kleid zu Hause anprobiert hatte.

Die Farbe des Königshauses, was für ein Unsinn! Nur weil das Wappen des Königshauses einen Adler auf gelbem Grund zeigte, musste ich jetzt für den Rest meines Lebens Gelb tragen, oder was?

Beim Gedanken an diese Diskussion kaute ich schon wieder wütend auf meiner Lippe. Gut, dass ich beim Flugzeug angekommen war, bevor der rebellische Hitzkopf in mir erneut wach wurde. Das hätte womöglich böse geendet.

Im Flieger saß ich neben meinem Vater. Er legte den Arm um mich und ich ließ erschöpft meinen Kopf an seine Schulter sinken. Auch wenn ich ihm den ganzen Schlamassel zu verdanken hatte, machte ich ihm keine Vorwürfe mehr. Zumindest für den Moment.

Die Heirat war König Julius‘ Wunsch. Seit mein Vater ihm damals im Großen Krieg das Leben gerettet und dabei seine linke Hand verloren hatte, unterstützte Julius ihn, vor allem finanziell. Der Wohlstand unserer Familie beruhte auf Julius‘ Gunst – und nun bestand der König auf die Hochzeit zwischen seinem Sohn und der Tochter seines alten Freundes. Mit mir.

Prinz Noran war drei Jahre älter als ich. Er war gerade einundzwanzig geworden und konnte somit offiziell seinem Vater auf den Thron folgen. Doch das Gesetz von Europa verlangte, dass der König bei seiner Krönung verheiratet sein musste.

Tja, und da holt man halt einfach mich aus meinen geliebten Alpen, setzt mir ein Krönchen auf, zieht mir irgendwas Gelbes an und verheiratet mich mit diesem Kerl, den ich nicht kenne. Eine wirklich tolle Lösung!

Welchen Grund gab es, dass Julius es so verdammt eilig damit hatte, seinem Sohn den Thron zu überlassen? Keine Ahnung. Und warum zur Hölle war gerade ich die Auserwählte? König Julius kannte mich kaum, und ich war erst 18 Jahre alt!

Niemand hatte mir diese Fragen bisher beantwortet.

Ich merkte, dass ich die Fäuste geballt hatte, richtete mich auf und schaute aus dem Fenster – ohne wirklich etwas zu sehen.

Zum ersten Mal in meinem Leben hatte mein Vater mich zu etwas gedrängt, das ich nicht wollte. Wochenlang hatte ich gebettelt und gefleht, er möge die geplante Verlobung absagen und mich die Wahl meines Ehemannes selbst treffen lassen, doch er hatte sich nicht erweichen lassen.

Vier Wochen lang hatte ich nicht mit ihm gesprochen. Das war ihm sehr nahe gegangen. Eines Abends kam er in mein Zimmer und flehte mich an, wieder mit ihm zu reden. Er erklärte mir noch einmal die Abhängigkeit unserer Familie vom Königshaus. Und was für eine unglaublich große Beleidigung es wäre, die Verlobung abzusagen. Mein Vater hatte richtig Angst, das sah ich ihm an. Und das machte mir Angst. Und so beugte ich mich schließlich seinem Willen. Irgendwie war ich es ja ohnehin gewohnt, dass Dad alles tat, was der König von ihm verlangte. Man hätte meinen können, dass mein Vater Julius etwas schuldig war und nicht andersherum.

Ich drehte den Kopf zu ihm und erwiderte tapfer sein Lächeln. Auch wenn mir eine Million Orte auf der Welt einfielen, an denen ich in diesem Moment lieber gewesen wäre, war ich doch froh, dass zumindest meine Familie bei mir war. Nur mein Onkel Dan, Dads jüngerer Bruder, kam nicht mit nach Vienna. Er blieb bei uns zu Hause und nutzte unsere Abwesenheit bestimmt, um endlich in Ruhe seinen wilden Hobbies nachzugehen. Er fuhr Motorrad, sprang mit seinem Gleitschirm von den höchsten Gipfeln und schaute sich Unmengen amerikanischer Filme an, die in Europa eigentlich streng verboten waren und deshalb schwarze Filme genannt wurden. Vermutlich genoss er es auch, dass niemand sich über seine Unordnung oder seine Tischmanieren aufregte. So wie meine Mutter es regelmäßig tat. Mein Onkel war eben ein wenig verrückt. Und ab und an auch ziemlich rätselhaft. Ständig betete er mir den selben Satz vor: „Entdecke, wer du bist, Lia.“ Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was das bedeuten sollte, und er verriet es mir auch nicht. Trotzdem – er fehlte mir schon jetzt.

Zum Glück hatte er mir versprochen, uns im Palast besuchen zu kommen. Im Palast von Vienna, meinem neuen Zuhause. Gute vierhundert Kilometer von Vaduz entfernt! Bei einem Mann, den ich nur zwei Mal in meinem Leben gesehen hatte. Beim letzten Besuch im Palast war ich elf Jahre alt gewesen und ich erinnerte mich an Noran nur als einen arroganten, mit Flugzeugmodellen spielenden Blödmann, der mir Juckpulver in den Pyjama geschüttet hatte.

Natürlich wollte ich meinen Vater stolz machen und sicherstellen, dass es meiner Familie gut ging, aber wie sollte ich denn einen Mann heiraten, den ich damals schon nicht ausstehen konnte? Wie sollte ich bloß jemals glücklich werden?

Kapitel 2

Der Flug verging viel zu schnell. Nicht einmal eine Stunde hatte es gedauert, bis wir am Flughafen von Vienna landeten. Schon aus dem Flieger heraus erkannte ich weitere Massen von Fotografen und Reportern.

Doch nicht nur Journalisten hatten sich hier versammelt. Männer, Frauen und Kinder jubelten mir von unten zu und hielten sogar große Spruchbänder hoch, auf denen zu lesen war:

„Unsere Königin lebe hoch“ oder

„Ceciliavon Europa – wir lieben dich schon jetzt“

Ihre Worte ließen mich erschaudern. Ich? Die Königin von Europa? Diese Leute empfingen mich so begeistert – dabei kannten sie mich doch genauso wenig wie ich sie!

Als sich die Flugzeugtür öffnete und mir die warme Nachmittagssonne ins Gesicht schien, schloss ich kurz die Augen. Mir wurde schlecht und ich wünschte mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als in unserem Garten in meiner Hängematte zu liegen und einen Spezial-Smoothie unserer Köchin Tanja zu schlürfen.

Als die Hitze der Sonnenstrahlen langsam begann, auf meiner blassen Haut zu brennen, nahm plötzlich jemand meine Hand. Mein Vater lächelte mich an und nickte mir zu. Seine Berührung gab mir meine Fähigkeit zur Bewegung wieder und ich ließ mich die Treppe hinunterführen, der jubelnden Menge entgegen.

„Wann soll die Hochzeit stattfinden?“

„Cecilia, was haben Sie als Erstes vor in Ihrem Amt als Königin?“

„Wie stehen Sie zu den Konflikten mit Amerika?“

„Wann soll die Hochzeit stattfinden?“

Die Reporter fragten ohne Punkt und Komma und ich konnte nichts weiter tun, als ein gekünsteltes Lächeln aufzusetzen. Ich fühlte mich, als wäre ich bei einer Prüfung, auf die ich nicht vorbereitet war.

„Meine Tochter wird in den nächsten Tagen eine Presseerklärung abgeben und all Ihre Fragen beantworten“, sagte mein Vater laut. „Bitte lassen Sie sie erst einmal ankommen und sich mit ihrer neuen Heimat vertraut machen. Wir danken Ihnen, dass Sie gekommen sind und wünschen Ihnen allen noch einen angenehmen Tag.“

Die Worte meines Vaters schienen die Reporter nicht zu beeindrucken, denn die Fragen prasselten weiter auf mich ein und Dutzende Mikrofone wurden mir entgegengehalten.

Kurz vor dem Eingang ins Flughafengebäude fiel mir ein kleines Mädchen auf, das wild mit den Armen ruderte und meinen Namen rief. Sie sah aus wie Marissa und ich, als wir noch so klein gewesen waren. Dieselben großen, wissbegierigen Augen und eine kleine Stupsnase inmitten eines zarten Gesichts. Irgendetwas in ihrem Blick veranlasste mich, zu ihr zu gehen.

„Hallo, wie heißt du denn?“, fragte ich und kniete mich vor sie.

„Maria!“, antwortete die Kleine. „Gibst du mir ein Autogramm?“

Trotz meiner Anspannung musste ich schmunzeln.

Das war das erste Mal, dass jemand ein Autogramm von mir wollte. Von mir: CeciliaFeyer. Dabei war ich doch ein ganz normales Mädchen! Unfassbar, was die Welt auf einmal für ein Interesse an mir zeigte. Okay, ich würde bald die Frau von Prinz Noran werden, aber ich war doch trotzdem immer noch ich! Bestimmt würde ich mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit blamieren. Und ganz schnell würde man die kleine Cecilia als das entlarven, was sie war: Ein Mädchen, für das Geduld ein Fremdwort war. Das ein echtes Problem mit hohen Absätzen hatte und eine Schwäche für bunte Küchlein. Und das immer viel zu schnell rot wurde.

Ich schüttelte den Gedanken ab, nahm das Notizbuch und den Stift von Maria und schrieb meinen Namen hinein. Ich malte noch einen Smiley daneben und gab Maria das Buch zurück. Die Kleine betrachtete meinen Eintrag und strahlte mich dann an. Sie bedankte sich und umarmte mich. In diesem Moment wurde das Klicken der Kameras so laut, dass ich dachte, es finge an zu hageln.

Die Leute jubelten noch mehr und warfen mir sogar Blumen zu. Ein paar weiße Rosen hob ich auf und nahm sie an mich. Ein kleines, aber echtes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Als ich es bemerkte, zog ich die Mundwinkel sofort wieder runter. Hatte ich mich eben etwa tatsächlich ein paar Sekunden lang darüber gefreut, hier zu sein? Unglaublich!

Im Gebäude umgaben uns Dutzende von Soldaten mit gelben Schärpen und markanten Helmen. Mein Vater hatte auch so einen gehabt. Sie waren mit festem schwarzem Leder bespannt und an der Vorderseite prangte eine große gelbe Feder. Marissa und ich hatten früher oft mit dem Helm unseres Vaters gespielt. Natürlich unerlaubterweise. Wenn Dad uns dabei erwischt hatte, bekamen wir immer den gleichen Satz zu hören: „Sofort wandert der Helm wieder in seine Kiste, sonst geht‘s heute Abend barfuß ins Bett!“ Marissa und ich waren dann kichernd vor ihm geflohen.

Die Erkenntnis, dass diese unbeschwerte Zeit endgültig vorbei war, ließ meinen Magen so verkrampfen, dass es fast nicht zu ertragen war.

Offensichtlich hatte mein Vater den gleichen Gedanken gehabt. „Na da kannst du mal sehen, diese Herren hier werden heute allesamt barfuß ins Bett gehen müssen“, sagte er und lächelte mir aufmunternd zu. Dad hatte gut lachen. Er brauchte stets nur einen ausgiebigen Spaziergang, um sich zu entspannen. Zum Beispiel den, den er täglich zum Nachrichtenamt gemacht hatte, um unsere Post persönlich zu holen. Was natürlich nicht nötig gewesen wäre, aber in dieser Sache war mein Vater eigen. Wie auch immer – mein angespanntes Gemüt ließ sich so leicht nicht beruhigen.

Meine Mutter war währenddessen ganz in ihrem Element. Sie genoss sichtlich den Gang über den gelben Teppich, vorbei an der Leibgarde des Palastes.

Was meine Schwester dachte, konnte ich nur schwer erraten. Das Lächeln in ihrem Gesicht war nicht echt, das sah ich sofort. Ich kannte sie wie keinen anderen Menschen auf der Welt. Normalerweise hatte sie ein wunderschönes Lächeln, das zu Hause jeden Verkäufer, jeden Gärtner, jeden jungen Mann auf der Straße verzauberte. Aber dieses hier wirkte gezwungen. Kein Wunder – Marissa war ebenso wenig begeistert von unserer Reise nach Vienna wie ich. Sie musste für eine ganze Weile ihre Freunde und ihr heiß geliebtes Pferd zurücklassen. Außerdem war ihr klar, dass uns diese Heirat räumlich voneinander trennen würde. Für immer. Die Entfernung würde uns beiden schwer auf der Seele liegen.

Am Ende des gelben Teppichs öffnete sich eine große Glastür, hinter der eine schwarze Limousine stand. Ich musterte das Auto und überlegte, einfach vorne einzusteigen, nur um meine Mutter zu schockieren. Marissa hätte so ein kleiner Scherz sicher auch gut getan.

Doch ich entschied mich, meiner Mutter einen Herzinfarkt zu ersparen, denn der Fahrer hatte bereits die hintere Tür für mich geöffnet. Erleichtert, außer Sichtweite der Journalisten zu sein, ließ ich mich auf eine der sich gegenüberliegenden Sitzbänke sinken. Die kühle Luft im Wagen tat mir gut.

„Meine Güte, machen die Leute einen Aufstand wegen dir! Wissen die nicht, wer du wirklich bist?“, fragte meine Schwester, als wir alle im Wagen saßen, und wandelte ihr falsches Lächeln endlich in ihr typisches Grinsen.

Ich lachte auf. „Anscheinend nicht. Ich hab gedacht, ich spinne, als –“

Meine Mutter unterbrach mich. „Na hört mal, das hier ist kein Urlaubsausflug. Cecilia wird die neue Königin von Europa! Es wäre ein schlechtes Zeichen, wenn niemand erschienen wäre, um sie zu begrüßen!“ Sie strich mir voller Stolz über den Arm. „Du wirst bald die beneidenswerteste Frau im ganzen Königreich sein. Dein Bräutigam ist jung, mächtig, reich! Wer würde nicht gern an deiner Stelle stehen?“

Ich zum Beispiel!, dachte ich.

„Ach Sonya, nun lass doch die Kinder das Ereignis bereden. So etwas erleben sie ja schließlich nicht jeden Tag“, meinte mein Vater und zwinkerte mir zu.

„Natürlich, ich finde ja nur, dass sie es nicht so auf die leichte Schulter nehmen sollen“, erwiderte meine Mutter. Mein Vater verdrehte die Augen, sodass Marissa und ich kichern mussten. Dann wanderte sein Blick aus dem Fenster. Ich beobachtete ihn kurz und hatte das Gefühl, dass sich plötzlich ein wenig Anspannung in seinen Zügen widerspiegelte. Vermutlich war auch er aufgeregt, nach so langer Zeit wieder im Palast zu sein.

Ich sah ebenfalls aus dem Fenster, hinaus in die herrliche Landschaft. Weinberge, Wiesen und Felder leuchteten grün und golden in der prallen Augustsonne. Europa war ein tolles Land. Auch wenn wir, aus welchen Gründen auch immer, nie wirklich im Urlaub gewesen waren – ich hatte wunderbare Bilder gesehen von Stränden und Wäldern und Hügellandschaften. Und natürlich hatten wir die Alpen! Mitten im Herzen der Berge, in der Kleinstadt Vaduz, war ich aufgewachsen.

Bei der Erinnerung an die Stadt und die Berge bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Ich wollte nicht weg von dort! Ich wollte mich nicht von meinem Zuhause und meinen Freundinnen trennen. Und am allerschlimmsten: In Vienna gab es keine Berge! Ich würde nie mehr aufwachen und sehen, wie sich das Sonnenlicht auf den schneebedeckten Gipfeln spiegelte. Würde nicht mehr mit meinen Freundinnen auf die Suche nach dem schönsten Edelweiß gehen. Und zum Schlittenfahren würde ich im flachen Land rund um Vienna wohl auch keine Möglichkeit mehr haben. Schrecklich!

Ich kaute auf meiner Lippe und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hasste mein neues Leben, noch bevor es überhaupt angefangen hatte!

Wie würde wohl die erste Begegnung mit Noran verlaufen? Peinlich bestimmt! Ich wusste nicht, wie er es fand, dass wir heiraten sollten. Man hatte uns bis jetzt keinen Kontakt erlaubt.

Vielleicht wollte er es ja auch nicht? Dann gab es eventuell doch noch eine Chance, unsere Väter umzustimmen und die ganze Sache abzublasen. Schließlich war noch kein Datum für die Hochzeit festgelegt. Vielleicht hatte Noran eine Freundin oder war zumindest verliebt? Hoffnung kam in mir auf. Wenn die geplante Verbindung von Norans Seite abgesagt werden würde, konnte der König meinen Vater schließlich nicht zur Verantwortung ziehen!

Andererseits, wenn Noran eine Freundin hatte, was sollte dann der ganze Aufriss hier? Nein, ich war diejenige, die seine Frau werden sollte – warum auch immer. Verdammt. Aus dieser Geschichte kam ich so einfach nicht mehr heraus.

Aber vielleicht hatte der Prinz sich ja auch verändert. Vielleicht war er beim Erwachsenwerden ein netter Kerl geworden. Vielleicht konnte ich mich ja wirklich in ihn verlieben?

Auf jeden Fall würde ich vor der Hochzeit herausfinden, wer Prinz Noran eigentlich war. Ich würde nicht nur ihn selbst, sondern auch jeden Dienstboten, jede Zofe, jeden Menschen im Palast ausfragen, um mir eine Meinung über ihn bilden zu können.

Dienstboten und Zofen – daran würde ich mich auch gewöhnen müssen.

Mein Vater war dank der Zuwendungen des Königs ein reicher Mann, aber die einzigen Dienstboten, die wir zu Hause gehabt hatten, waren die dicke Köchin Tanja und eine Reinigungskraft namens Yvette. Dad wollte nie viel Geld für Überflüssiges – wie er es nannte – ausgeben. Nicht einmal einen Computer hatte es in unserem Haus gegeben. Mom hatte die Bescheidenheit unseres Vaters stets als Geiz ausgelegt. Sie selbst war meist damit beschäftigt gewesen, einzukaufen oder Geld im Schönheitssalon auszugeben. Dennoch war es auf jeden Fall unbestreitbar, dass sie unseren Vater abgöttisch liebte. Sie zeigte es zwar in der Öffentlichkeit nicht, aber als Dad vor einigen Jahren einmal an einer sehr schlimmen Lungenentzündung erkrankt war, hatte sie zwei Wochen an seinem Bett verbracht und sogar selbst Suppe für ihn zubereitet. Und auch wenn sie meist so tat, als sei sie genervt von Marissa und mir und uns tadelte, wo es ging, wussten wir, dass sie immer nur das Beste für uns wollte, und dafür liebten wir sie.

Die Autofahrt zum Palast dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Das Erste, was ich bei unserer Ankunft sah, war die imposante Palastmauer. Aus hellgelbem Sandstein gefertigt und mit gefährlich aussehenden Spitzen versehen, schien sie das gesamte Areal einzurahmen.

Wir passierten ein großes Metalltor, das von weiteren Fotografen belagert wurde. Einige Wachen mit gelben Schärpen hielten die Menge zurück, als wir auf den Kiesweg einfuhren, direkt auf den Palast zu. Ebenso wie die gigantische Palastmauer war das Gebäude aus gelbem Sandstein erbaut und ziemlich eindrucksvoll. Ich hatte es gar nicht so gewaltig in Erinnerung gehabt.

Drei Türme ragten rechts, links sowie in der Mitte des Palasts empor, sodass er fast etwas Ähnlichkeit mit einem Dreizack hatte.

Der Kiesweg führte durch einen wundervollen Garten. Perfekt gestutzter Rasen umrahmte Beete mit Blumen in allen Farben und Formen. Auch einen großen Fischteich gab es. Ich erkannte drei Personen auf der obersten Stufe der Treppe, die zur großen Eingangstür des Palastes führte. Auf den unteren Stufen hatten sich weitere Leute versammelt, einige in Uniform, andere in gelben, knielangen Kleidern. Mir wurde wieder ganz flau im Magen, und ich wischte meine schweißnassen Hände an meinem Kleid ab.

„Da sind sie!“, rief meine Mutter und knetete vor Aufregung die Hände. „Schau dir das an, Cecilia, ich sehe schon von hier, was für ein Glückskind du bist.“

Glückskind? War das ihr Ernst? Ich hatte eine andere Vorstellung von Glück! Ich kaute auf meiner Lippe und beschloss, meinen Ärger zurückzuhalten. Dad räusperte sich nervös und tippte mit dem Zeigefinger auf seinem Knie herum.

Und dann sah ich ihn.

Noran stand neben seinem Vater und seiner Mutter auf der obersten Stufe, und ich musste zugeben, dass er wirklich gut aussah. Kurze dunkelbraune Haare, die mit Gel zu einem tadellosen Seitenscheitel gekämmt waren. Er war schlank und muskulös und stand fest und erhobenen Hauptes da. Noran lächelte nicht, schaute aber auch nicht böse. Eher ernst. Ein Hauch Überheblichkeit lag in seinem Blick, oder täuschte ich mich? Mein Magen drehte sich abermals um und ich atmete heftig ein und aus.

„Komm, Kleines, du schaffst das“, versuchte mein Vater, mich zu beruhigen und tätschelte mir die Hand. Doch er selbst schien ebenfalls extrem nervös zu sein. Armer Dad!

Der König trug eine Uniform und einen gelben Umhang. Das gleiche Outfit wie sein Sohn, nur mit dem Unterschied, dass Noran wesentlich weniger Orden an der Brust trug als sein Vater. Königin Jocelyne trug ein prachtvolles, weit ausgestelltes Kleid, das nicht gelb war, sondern dunkelgrün. Die Farbe harmonierte perfekt mit ihrem roten Haar und machte sie geradezu einschüchternd schön. Sie war bestimmt zehn Jahre älter als meine Mutter, aber das sah man ihr nicht an. Alle drei zusammen boten einen ziemlich einschüchternden Anblick. Das Herz rutschte mir noch tiefer in den Magen.

Mein Vater stieg als Erster aus dem Wagen.

„Gordon! Mein alter Freund, ich freue mich, dich endlich einmal wiederzusehen!“ König Julius kam mit großen Schritten auf meinen Vater zu. Er riss ihn in seine Arme und klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken.

„Julius! Ich freue mich auch“, sagte Dad etwas verhalten. „Der … der Palast sieht umwerfend aus. Viel größer als beim letzten Mal, nicht wahr?“ Dads Augen wanderten beeindruckt an dem gigantischen Gebäude entlang.

Wusste ich es doch: Das letzte Mal war der Palast nicht so groß gewesen. Anscheinend hatte man hier mächtig angebaut.

„Gordon, seit wann hast du denn drei Töchter? Oder soll das hier etwa die bezaubernde Sonya sein?“, fragte der König und küsste meiner Mutter die Hand.

„Majestät, ich bitte Euch!“ Meine Mutter kicherte wie ein kleines Mädchen und machte eine tadelnde Geste mit ihrem Zeigefinger. Peinlich!

„Bitte, nenn mich Julius“, erwiderte der König. „Wir sind doch nun bald eine Familie.“

Meine Mutter nickte und kicherte wieder, während es mich bei diesen Worten schüttelte.

„Und welche dieser Schönheiten ist denn nun unsere Cecilia?“, fragte der König und machte einen Schritt auf Marissa und mich zu.

„D-D-Das bin dann wohl ich, Eure Majestät“, stotterte ich und machte einen Knicks.

Er nahm meine Hand und küsste sie. „Es freut mich, dich wiederzusehen, Cecilia! Du bist noch viel schöner als dein Vater es beschrieben hat.“

„Danke, Eure Majestät, es ist eine Ehre für mich, Euer Gast sein zu dürfen“, sagte ich, doch am liebsten wäre ich zurück ins Auto geflohen.

„Dann muss das wohl die kleine Marissa sein! Du bist ja genauso schön wie deine Schwester“, meinte der König und wandte sich an Marissa.

„Vielen Dank, Eure Majestät, ich bin überglücklich, hier sein zu dürfen.“

Meine Schwester machte ebenfalls einen Knicks und ließ sich vom König die Hand küssen.

„Ich bin sehr zufrieden, Gordon. Da hast du ja wirklich mal wieder gute Arbeit geleistet. Deine Mädchen sind bezaubernd“, sagte er und blickte dabei weiterhin mich an.

„Danke. Aber nun mach uns doch die Freude und lass uns auch deine Familie begrüßen“, mein Vater hob die Augenbrauen und schaute Julius erwartungsvoll an.

„Aber natürlich! Wo sind bloß meine Manieren? Darf ich bitten, die Damen?“

Der König bat uns die Treppe hinauf, zu seiner Frau und seinem Sohn. Mein Vater begrüßte zuerst die Königin mit einem Handkuss. Dann trat er hinüber zum Prinzen und schüttelte ihm die Hand.

„Es freut mich sehr, dich wiederzusehen, Elias.“

Moment. Elias? Das war gar nicht mein zukünftiger Ehemann? Das war Elias, Norans kleiner Bruder, der mittlerweile keineswegs mehr so klein war!

Er grinste mich an. Gerade so konnte ich verhindern, dass mir der Mund offen stehen blieb.

Wieso ist Noran nicht hier?, fragte ich mich. Hat er keine Lust, mich kennenzulernen oder … ist er etwa so hässlich, dass sie ihn mir lieber erst später präsentieren? Meine Schwester kniff mich in die Seite, um mich aus meiner Starre zu holen. Elias musterte mich interessiert. Er begrüßte meine Mutter und meine Schwester mit einem Handkuss und wandte sich dann an mich. „Lady Cecilia, es freut mich, dich aufs Neue kennenzulernen.“ Er verneigte sich.

„Ja. Es … es freut mich auch, Prinz Elias. Schön, Euch wiederzusehen.“ Ich machte verlegen einen Knicks und spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Elias grinste wieder.

Blödmann!

Die Königin begrüßte meine Mutter mit Wangenküsschen – die allerdings nicht sehr herzlich wirkten – und ließ sich von meiner Schwester die Hand küssen. Dann begrüßte sie auch mich. „Es ist schön zu sehen, was für eine reizende junge Frau du geworden bist, Cecilia, mein liebes Kind. Ich hoffe, du wirst dich bei uns wohlfühlen.“ Sie lächelte, aber irgendetwas in ihrem Blick ließ mich eine Gänsehaut bekommen.

„Vielen Dank, Eure Majestät, ich bin sicher, es wird mir und meiner Familie an nichts fehlen“, erwiderte ich den eingeübten Satz und machte erneut einen Knicks.

Meine Mutter nickte zufrieden.

Die Königin sah mich noch einen Moment lang an, dann wandte sie sich an ihren Mann. „Julius, nun lass doch unsere Gäste auf ihre Zimmer bringen und gib ihnen etwas Zeit, sich einzurichten.“

„Natürlich, Jocelyne, meine Liebste“, sagte der König und bedeutete einem Diener, unser Gepäck aus dem Wagen zu holen.

„Das hier ist Simon, er steht euch immer zur Verfügung.“ Der König präsentierte uns einen weiteren Diener, einen hünenhaften Mann. Er hatte kurzes schwarzes Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war. Seine Größe war einschüchternd, aber er hatte ein nettes Lächeln im Gesicht.

„Er wird alles tun, was ihr von ihm verlangt. Die Mädchen bekommen zusätzlich jeweils eine Zofe. Sie warten bereits in euren Zimmern auf euch.“

Simon verneigte sich vor uns und bedeutete uns, ihm zu folgen.

„Wir sehen uns dann zum Abendessen wieder, meine Lieben. Dort wird auch Noran euch begrüßen“, sagte der König, nahm Königin Jocelynes Hand und führte sie einen der Gänge hinunter.

Elias folgte seinen Eltern und drehte sich im Gehen noch einmal zu mir um. Er warf mir einen schelmischen Blick zu und zog einen Mundwinkel verschmitzt in die Höhe.

Worüber amüsierte er sich so? Ich starrte ihm hinterher, bis meine Schwester mich aus meinen Gedanken riss.

„Wow, der ist süß, oder?“, gluckste sie und stieß mich mit ihrem Ellenbogen an.

„Kann schon sein“, erwiderte ich betont desinteressiert.

„Hey, vielleicht heiraten Elias und ich ja auch, dann können wir eine Doppelhochzeit feiern“, scherzte Marissa. Ich rang mir ein Grinsen ab und folgte dann Simon und meinen Eltern.

Die Nachmittagssonne fiel golden durch die Fenster und ließ den ganzen Gang glitzern. Es war wirklich ein wunderschöner Palast – aber hier leben? Das wollte ich trotzdem nicht. Und schon gar nicht mit Noran! Allerdings war ich nach der Begegnung mit Elias wirklich neugierig auf ihn. Gleichzeitig zog sich in mir alles zusammen, wenn ich an das bevorstehende Abendessen dachte.

Noran, wer bist du?

Kapitel 3

Ein Fahrstuhl hatte uns in den siebten Stock des Palastes gebracht. Zuerst begleitete Simon meine Eltern auf ihr Zimmer. Der Raum war wunderschön eingerichtet.

Ein großes dunkelblaues Himmelbett, Fußboden aus warmem, dunklem Holz und Wände in sanften Blau- und Beigetönen. Meine Mutter schien sich gleich zu Hause zu fühlen und begann sofort mit dem Auspacken. Simon brachte Marissa und mich auf unsere Zimmer, die einen Stock höher lagen.

Die Räume waren nebeneinander und identisch eingerichtet. In unseren Zimmern waren die Himmelbetten nicht blau, sondern mit Vorhängen und Bettwäsche in Rosé ausgestattet. Der Fußboden war ebenfalls aus dunklem Holz und die Wände in Altrosa gestrichen. Marissa jauchzte, als wir ihr luxuriöses Badezimmer betraten.

Zu Hause hatten wir uns immer ein Bad geteilt, hier hatten wir beide ein eigenes. Eine riesige Badewanne stand darin und auf den Regalen waren allerlei Fläschchen mit Badeperlen und Ölen in allen Farben aufgereiht.

Marissa wollte gerade den Wasserhahn aufdrehen, als jemand aus einer Ecke des Schlafzimmers ins Badezimmer trat. „Nicht doch, Miss! Lassen Sie mich das machen“, sagte ein kleines, etwas rundliches Mädchen und knickste vor Marissa. Sie hatte hellbraunes Haar, das zu einem engen Pferdeschwanz gebunden war.

„Oh danke! Hallo, ich bin Marissa“, erwiderte meine Schwester und hielt dem Mädchen zur Begrüßung ihre Hand hin.

„Ich weiß, Miss! Ich bin Ihre Zofe Anna. Wenn Sie irgendetwas brauchen, zögern Sie bitte nicht, mir Bescheid zu geben.“ Das Mädchen drehte den Hahn auf und legte einige Handtücher bereit.

„Ist ja der Wahnsinn“, flüsterte meine Schwester mir zu und grinste mich an. Ich seufzte und lächelte. Schön, dass wenigstens meine Mutter und meine Schwester zufrieden waren …

Zurück in meinem eigenen Zimmer, warf ich mich auf das große, weiche Bett, sobald Simon hinausgegangen war. Ich schüttelte die engen Schuhe von den Füßen und träumte kurz mit offenen Augen. Prinz Elias kam mir in den Sinn. Natürlich hatte ich gewusst, dass Noran einen Bruder hatte, aber irgendwie war da kein Platz mehr für ihn in meinen Gedanken gewesen. Warum war er bei unserer Ankunft dagewesen und Noran nicht?

Der König hatte nichts dazu gesagt und mein Vater hatte nicht nachgefragt. Vielleicht war er noch unterwegs, um Juckpulver zu besorgen? Ich hasste diesen Kerl schon jetzt. Hatte nicht einmal den Anstand, seine zukünftige Frau zu begrüßen!

Und was war die Königin eigentlich für eine seltsame Person? Dieser distanzierte Ausdruck in ihren Augen – hatte sie vielleicht etwas gegen diese Verbindung? Wenn ja, dann war mir ihr Ausdruck egal und sie war ab heute vielleicht doch meine beste Freundin.

Plötzlich flog die Tür auf und ich schreckte hoch. Ein Mädchen mit dunkelblondem Haar und einem Muttermal auf der rechten Wange blickte mir erschrocken ins Gesicht.

„Oh, verzeiht bitte, Miss, ich bin zu spät. Ich wurde aufgehalten. Es tut mir so leid! Bitte vergeben Sie mir! Es wird nie wieder vorkommen“, platzte es aus ihr heraus und sie verbeugte sich. Sieben oder acht Mal!

„Ähm, schon gut“, sagte ich. „Wer bist du denn überhaupt?“

„Oh, verzeiht noch einmal, Miss. Ich bin Virginia, Ihre persönliche Zofe. Sie können mich auch Gini nennen, ganz wie Sie es bevorzugen, Miss.“ Sie knickste noch einmal.

Unwillkürlich musste ich kichern. Ich ging zu ihr, lächelte sie an und gab ihr die Hand. „Es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Gini. Aber bitte nenn mich doch Cecilia.“

Der Schreck wich aus Ginis Gesicht und wandelte sich in ein hübsches Lächeln. „Ja, Miss, oh, Verzeihung, ich meinte Ce-Cecilia.“ Ihre Mundwinkel zuckten. „Daran werde ich mich erst gewöhnen müssen, Miss. Bitte … bitte erwähnen Sie meine Verspätung nicht gegenüber der Königin. Ich konnte wirklich nichts dafür.“

„Ist schon gut“, sagte ich. „Es ist ja nichts passiert! Und jetzt bist du da. Eine Frage, ähm: Was sind denn deine Aufgaben als meine Zofe?“ Etwas verlegen strich ich mir die Haare aus der Stirn.

„Alles, was Sie wünschen. Ich räume auf, putze, ich bringe Ihnen Speisen und Getränke, ich helfe Ihnen beim Herrichten der Garderobe, der Frisuren und des Make-ups. Und was Sie sich auch wünschen: Ich werde es für Sie tun“, antwortete Gini und strahlte mich an.

„Na, dann bin ich ja in den allerbesten Händen“, gab ich zurück und Gini nickte heftig. „Was kann ich denn als Erstes für Sie tun?“, fragte sie. „Möchten Sie ein Bad nehmen oder etwas essen? Möchten Sie sich ausruhen und etwas schlafen? Oder soll ich Ihnen bei der Auswahl der Garderobe für das Abendessen helfen? Es gibt viele Kleider für Sie.“

Ich überlegte kurz. „Auswahl der Garderobe für heute Abend? Ich habe doch meine Kleider dabei. Da brauchst du mir nicht helfen.“

„Na ja, Miss, die Etikette des Hofes verlangt es, dass die Gäste die Kleidung tragen, die das Königspaar für sie ausgewählt hat. Wenn Sie Ihre eigenen Kleider tragen würden, wäre das eine schreckliche Beleidigung gegenüber den Majestäten.“

Na toll! Und wieso hatte ich dann einen riesigen Koffer voll mit neuen Kleidern mitgeschleppt? Das hätte man uns ja auch mal früher sagen können.

„Ach, das wusste ich gar nicht“, sagte ich möglichst freundlich und schaute auf meinen Koffer, der in einer Ecke stand.

„Diesen Teil des Hofprotokolls gibt es auch noch nicht so sehr lange. Die Königin hat es vor vier oder fünf Jahren eingeführt, nachdem die Frau eines Offiziers mit einem sehr offenherzigen Kleid zu einem Empfang erschienen war.“

Meine Güte! Deswegen extra eine neue Vorschrift? Ziemlich prüde, dachte ich und runzelte die Stirn.

Gini schritt durch das Zimmer auf den begehbaren Kleiderschrank zu, den ich bisher noch gar nicht wahrgenommen hatte. Ich folgte ihr und riss die Augen auf, als ich den Raum betrat. Er war fast so groß wie mein Zimmer und rundum hingen Kleiderstangen!

In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so viele wunderschöne Kleider gesehen. Und sie waren zum Glück nicht alle gelb! In sämtlichen Farben strahlten sie mich an. Unter jeder Robe standen passende Schuhe und auf einer Kommode mit Spiegel lagen Unmengen an Schmuck, ebenfalls farblich sortiert. Erhellt wurde der Raum durch Spots, die in der Decke und im Boden angebracht waren. Es roch wunderbar nach Leder und auch ein wenig nach Bügelstärke. Eine weitere Kommode war voll mit Haarutensilien. Spangen, Bänder, Blumen und Kämme – alles, was man sich vorstellen konnte.

Ich brachte nur ein leises „Wow“ heraus. Überwältigt und gleichzeitig hingerissen stand ich da und hätte den Mund beinahe nicht wieder zu bekommen. Dabei interessierte ich mich eigentlich gar nicht besonders für Mode.

„Toll, nicht wahr? Hier finden Sie alles! Egal für welchen Anlass“, sagte Gini und machte eine schwungvolle Geste mit der Hand.

„Ähm, okay, dann werde ich wohl doch deine Hilfe bei der Auswahl eines Kleides für heute Abend in Anspruch nehmen“, sagte ich. „Aber zuerst würde ich gerne ein Bad nehmen.“

„Natürlich, Miss, ich werde alles vorbereiten und ich lege Ihnen ein Kleid mit passenden Schuhen und Accessoires heraus. Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen auch beim Anziehen“, erwiderte Gini und trat zu den roten Roben. Ich nahm währenddessen ein hellblaues Seidenkleid von der Kleiderstange. Als ich die komplizierten Verschlüsse auf der Rückseite sah, hängte ich es schnell wieder an seinen Platz. Gini schmunzelte.

Das Bad tat meinem Körper gut. Endlich war ich nicht mehr in dem engen Bananenkleid gefangen. Doch auch nach einer halben Stunde im nach Honig duftenden Badewasser entspannte ich mich nicht wirklich. Dieser verflixte Noran saugte sich unentwegt in meinen Gedanken fest. Was, wenn ich ihn nicht leiden konnte? Würde Dad mich zwingen, ihn zu heiraten? Das konnte er doch nicht tun! Nein. Das würde er nicht tun, dazu liebte er mich zu sehr. Oder?

Immer wieder huschte auch Elias mit seinem spitzbübischen Grinsen durch meinen Kopf. Marissa fand ihn süß. Natürlich. An der Reaktion meiner Schwester konnte man sehen, wie unterschiedlich wir beide eigentlich waren. Während sie beim Anblick eines hübschen Gesichts mein Dilemma völlig verdrängte, wurde mir von Sekunde zu Sekunde mulmiger zumute. Elias und sein freches Grinsen konnten mir gestohlen bleiben! Noran war derjenige, über den ich mir Gedanken machen musste. Ob die beiden wohl genauso verschieden waren wie Marissa und ich? Beim Essen würde ich es sicher herausfinden.

Ich holte tief Luft und tauchte unter. Plötzlich klopfte es. „Eure Hoh…, ähm, Miss Cecilia, es wird langsam Zeit! Sind Sie fertig?“, fragte Gini durch die Tür. Schnell stieg ich aus der Wanne und trocknete mein Haar mit einem der flauschigen Handtücher. Dann schlüpfte ich in den gelben Morgenmantel, der an einem Haken neben der Tür hing.

„Ich komme sofort“, antwortete ich und bürstete mir etwas notdürftig durch die nassen Strähnen.

Gini stand neben dem Bett. Sie hatte während meiner Abwesenheit die Koffer ausgepackt. Mein Lieblingskissen war auf dem Bett platziert und mein Buch lag auf dem Nachttisch.

„Ich hoffe, es war nicht unhöflich von mir, Ihre Sachen auszupacken, Miss?“, fragte Gini unsicher, als sie meinem Blick folgte.

„Nein, ganz und gar nicht. Ich danke dir“, erwiderte ich lächelnd. Schließlich war nichts Peinliches im Koffer gewesen. Außer vielleicht meine abgetragene Jogginghose, die ich über alles liebte.

„Ist das das Kleid, das ich tragen soll?“

Gini nickte begeistert. Sie hatte das Kleid auf dem Bett ausgebreitet und die passenden Schuhe vor das Fußende gestellt.

Es war wunderbar! Ein schulterfreies rotes Kleid aus einem fließenden Stoff, der sich herrlich zwischen meinen Fingern anfühlte. Es war bodenlang und sehr eng geschnitten. Die Schuhe waren aus rotem Lack und schimmerten im Licht des Kronleuchters. Ich schluckte, als ich die hohen Absätze sah. Zuhause vermied ich es, hohe Schuhe zu tragen, denn ich hatte wirklich ein Talent dafür, damit umzuknicken.

Doch kaum fiel mein Blick wieder auf das Kleid, waren die Absätze vergessen. „Es ist einfach wunderschön“, sagte ich und lächelte Gini an.

„Nicht wahr? Ich habe mir gedacht, da Sie ja heute das erste Mal nach langer Zeit auf Prinz Noran treffen, soll es ihn direkt umhauen.“ Sie kicherte und ich musste lachen. Die kleine Zofe war mir sympathisch. Zumindest in dieser Angelegenheit hatte ich also Glück gehabt.

„Na ja, ich bin mir nicht ganz sicher, ob es mir passt und ob ich auf solchen Schuhen laufen kann.“

Ich deutete auf die Pumps und zog eine Augenbraue hoch.

„Na, also daran werden Sie sich gewöhnen müssen. Königin Jocelyne kann es nicht leiden, wenn man unangemessen gekleidet ist. Und hohe Schuhe gehören für sie zu einem perfekten Aussehen eben dazu“, erklärte Gini. „Und wegen des Kleides machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin sicher, es passt wie angegossen. Sie haben so eine schmale Taille.“

Ich lächelte sie unsicher an. Ich war zwar schlank, aber dürr nun auch wieder nicht. Meine Mutter hatte Marissa und mir eingebläut, immer auf unsere Figur zu achten. Der Körper sei das wirksamste Werkzeug einer Frau und wenn der zu rund würde, würde er von einem Mann schnell weggerollt. Typisch Mom!

Gini half mir in das Kleid und die Schuhe. Anschließend brauchte sie noch über eine halbe Stunde, um mir eine aufwendige Flechtfrisur zu zaubern und mir Make-up aufzulegen.

„Fertig!“, rief sie, als sie den letzten Pinselstrich in meinem Gesicht gesetzt hatte.

Ich stand vorsichtig auf und ging zu dem großen Spiegel im Ankleidezimmer. Mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus. Vor mir stand eine blonde Schönheit in einem hinreißenden roten Kleid, das ihre Figur so dermaßen zur Geltung brachte, dass ich dachte, Gini hätte mir Einlagen in den BH gestopft. Aber das hatte sie nicht.

Das Kleid war so geschnitten, dass es meine Taille betonte und gleichzeitig meine nicht sehr große Oberweite mehr in Szene setzte, als bei jedem anderen Kleid, das ich je getragen hatte. Der Stoff floss an meinem Körper hinunter und endete in einem Saum aus roter Spitze.

Und mein Gesicht! Es sah aus wie aus einem der teuren Hochglanzmagazine meiner Mutter.

„Das … das bin doch wohl nicht ich?“, fragte ich und bekam den Mund nicht mehr zu.

„Oh doch, das sind Sie. Ich sagte doch, das mit dem Kleid wird kein Problem“, antwortete Gini und verschränkte stolz die Arme vor der Brust.

„Oh mein Gott, wie hast du das gemacht? Ich … ich bin wunderschön.“

„Das waren Sie schon vorher, Miss, ich habe Ihre Schönheit nur noch etwas unterstrichen“, sagte Gini und lächelte zufrieden.

Unglaublich! So wie ich jetzt aussah, konnte ich jedem Supermodel die Show stehlen. Na ja, zumindest, wenn ich zehn Zentimeter größer gewesen wäre.

Ich strahlte Gini an und wollte sie umarmen, aber sie hielt mich auf. „Nein! In den nächsten zehn Minuten wird hier nichts und niemand angefasst! Sonst ruinieren Sie mein Kunstwerk.“ Sie sah mich ernst an. Grinsend gehorchte ich. „Darf ich denn wenigstens kurz auf den Balkon gehen, bis alles getrocknet ist?“ Gini willigte ein und ich schritt vorsichtig zum Balkon und öffnete die Schiebetür. Die Luft war jetzt angenehm mild.

Ich trat heraus und ließ meinen Blick in die Ferne schweifen. Der Balkon befand sich auf der Rückseite des Palastes, wo ebenfalls ein prächtiger Garten angelegt war. Ein riesiger Pool lag ein Stück rechts von einem großen Grillplatz mit edlen Möbeln. Ich stellte mir König Julius mit einer Grillzange in der Hand und einer Kochmütze auf dem Kopf vor, wie er dort stand und Steaks wendete. Grinsend ließ ich meinen Blick weiterwandern. Ich sah eine Hollywoodschaukel sowie das Dach eines weißen Pavillons. Ich erschrak, als ich neben dem Pavillon plötzlich Elias erblickte, der zu mir hinaufsah. Sein Blick war unglaublich eindringlich, sogar auf diese Entfernung.

Als sich unsere Blicke trafen, grinste er und winkte zu mir hoch. Automatisch winkte ich zurück, bevor mir klar wurde, wie dämlich mein verdatterter Gesichtsausdruck wirken musste. Ich spürte, dass ich rot wurde, drehte mich schnell um und trat wieder ins Zimmer. Wieso brachte dieser Kerl mich so aus der Fassung? Ich huschte schnell zu einem der Fenster, doch Elias war nicht mehr zu sehen.

Blödmann!, dachte ich wieder und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Alles in Ordnung, Miss?“, fragte Gini, als sie mich so am Fenster stehen sah.

„Ähm, ja, natürlich!“, flunkerte ich. „Wie gesagt, Gini, nenn mich doch Cecilia. Sag mal, bekomme ich noch Schmuck zu meinem Outfit?“ Ich wollte schnell an etwas anderes denken als diesen Elias!

Gini lächelte. „Normalerweise alles, was Sie wollen, Cecilia, aber Königin Jocelyne möchte, dass die Kronjuwelen ausschließlich zu bestimmten Feierlichkeiten getragen werden“, antwortete Gini und rümpfte die Nase.

„Kronjuwelen? Gehört der ganze Schmuck im Ankleideraum etwa zu den Kronjuwelen von Europa?“, fragte ich mit aufgerissenen Augen. „Und den darf ich tragen?“

„Ja, Miss, ähm … Cecilia! Aber eben nur zu bestimmten Feierlichkeiten“, erwiderte Gini und legte dabei das Handtuch zusammen, das ich beim Baden benutzt hatte.

Plötzlich erinnerte ich mich wieder an meinen Plan, alles über Noran herauszufinden und sprach Gini direkt auf ihn an. „Sag mal, Gini, was hältst du von Prinz Noran? Ist er nett?“

„Das ist er“, sagte sie nach einem kurzen Zögern.

„Ich meine, ich habe nie länger mit ihm gesprochen, aber er ist immer freundlich und höflich. Humor hat er auch und noch dazu sieht er sehr gut aus“, erzählte Gini – doch irgendwie erreichte ihr Lächeln diesmal nicht ihre Augen.

Warum? Ich versuchte, ihren Ausdruck zu deuten, doch in diesem Moment bückte sie sich, um mein Bananenkleid vom Boden aufzuheben.

„Sieht er so gut aus wie sein Bruder?“, hakte ich nach.

Gini hielt kurz inne und sah mich an. Ihre Augen blitzten.

„Nur so zum Vergleich“, fügte ich schnell hinzu.

„Also die Meinungen darüber, wer besser aussieht, gehen auseinander, aber ich finde, dass Noran der attraktivere Prinz ist.“ Gini sah mich kurz an und räumte dann weiter auf, wo eigentlich nichts aufzuräumen war.

In diesem Moment klopfte es an der Tür.

„Herein!“, sagte ich mit zitternder Stimme.

Der große Diener trat ein. Simon. „Lady Cecilia, Ihr werdet zum Essen im Großen Saal erwartet“, sagte er freundlich. Marissa stand hinter ihm. Als ich sie ganz sah, stieß ich einen bewundernden Laut aus. „Schwesterchen, du bist wunderschön!“

Marissa trug ein karamellfarbenes Kleid, das in einem Träger über ihre Schulter und an ihrem schlanken Körper hinabfiel. Der Rock war etwas ausgestellter als meiner und um ihre Taille war ein cremefarbenes Seidenband gebunden. Ihre Haare waren ebenso kunstvoll hochgesteckt wie meine und ihre braunen Augen schauten mich unter hell schimmerndem Lidschatten an.

Die Augenfarbe war der einzige deutliche Unterschied zwischen meiner Schwester und mir. Sie hatte die haselnussbraunen Augen unserer Mutter geerbt und ich die himmelblauen unseres Vaters. Ich hatte schon immer gefunden, dass ihre braunen Augen einen reizvolleren Kontrast zu unserem blonden Haar bildeten als meine blauen. Und dies bestätigte sich heute wieder einmal. Die Farbe ihres Kleides passte perfekt zu ihren Augen, ihrem Haar und ihrem Teint. Sie sah bezaubernd aus.

„Danke, Schwesterherz, du siehst aber auch umwerfend aus. Prinz Noran wird sich sofort in dich verlieben! Und ich, ich setze mich am besten gleich neben Elias!“ Meine Schwester strahlte und drehte sich vergnügt um ihre eigene Achse. Ich sah zu Gini und lächelte sie an.

„Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Miss Cecilia“, sagte sie und knickste.

Als wir Simon folgten, kam meine Nervosität zurück. Mein Magen rebellierte. Gleich würde ich ihn sehen. Den Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen sollte.

Bitte lass ihn nett sein! Bitte lass ihn nicht eingebildet sein!

Marissa bemerkte meine Anspannung und nahm meine Hand. „Es wird schon alles gut werden. Wenn er dich nicht gut behandelt, bekommt er es mit mir zu tun!“

Ich lächelte sie kläglich an und konzentrierte mich darauf, nicht zu stolpern oder umzuknicken. Marissa hatte keine Probleme damit, auf hohen Schuhen zu laufen. Sie schwebte geradezu über den langen Gang.

Um ihre Leichtfüßigkeit hatte ich sie schon immer beneidet. Sie war eine hervorragende Tänzerin und hatte zudem jahrelang geturnt. Dad hatte extra einen privaten Trainer für sie engagiert, der sie zu Hause unterrichtet hatte.

Allein der Gedanke daran, ich müsste über einen Balken balancieren, ließ mich schon in Schweiß ausbrechen. Meine Talente lagen eher im kreativen Bereich. Ich malte gerne und konnte gut Klavier spielen. Die einzige Sportart, die ich wirklich beherrschte, war Tennis. Ich spielte quasi seit ich laufen konnte. Mein Vater hatte es mir beigebracht. Und auch wenn er mich mit einer Hand mittlerweile nicht mehr besiegen konnte, war er mir doch stets ein Vorbild gewesen.

Eine Etage tiefer holten wir zusammen mit Simon unsere Eltern ab.

„Wow, Dad, du siehst echt schick aus“, sagte Marissa und hatte recht damit. Dad trug einen dunkelgrauen Frack und eine violette Krawatte, die farblich perfekt auf Moms Kleid abgestimmt war. Es hatte einen weit ausladenden Rock und eine Korsage, die ihrer Figur sehr schmeichelte.

„Du auch, Mom! Wundervoll!“, sagte ich und meinte es absolut ehrlich.

„Und ihr seht einfach hinreißend aus, meine Mädchen“, sagte Dad. Seine Stimme zitterte etwas. Anscheinend ging ihm der Anblick seiner erwachsenen Töchter ziemlich nahe.

„Oh ja, ihr Lieben, das stimmt. Da sieht man mal wieder, dass ihr meine Kinder seid“, fügte meine Mutter hinzu. Marissa und ich sahen uns an und grinsten.

Der Fahrstuhl brachte uns wieder ins Erdgeschoss und als die Tür sich öffnete, wanderten wir auf großen gelben Teppichen an allen möglichen Pflanzen vorbei, die den gesamten Gang schmückten. Die massive, zweiflügelige Tür zum Großen Saal stand offen. Simon bat uns, vor der Tür zu warten. Er ging zu einem Mann mit einem langen Stock in der Hand, der kurz hinter dem Durchgang zum Großen Saal stand und nickte ihm zu.

„Offizier außer Dienst Gordon Feyer und seine Gattin Lady SonyaFeyer“, hallte es nun durch den Saal, und der Mann klopfte mit seinem Stock zweimal auf den Marmorboden. Mom und Dad gingen erhobenen Hauptes durch die Tür und verschwanden dann nach links.

Ich drückte Marissas Hand noch einmal so fest, dass sie wohl aufgeschrien hätte, wenn sie nicht in diesem Moment ebenfalls von dem Mann mit dem Stock angekündigt worden wäre: „Lady MarissaFeyer!“ Sie ließ meine Hand los, schritt selbstbewusst an dem Stockmann vorbei und begab sich ebenfalls nach links.

Nun stand ich ohne meine Familie da und musste gleich völlig allein den Saal betreten, in dem mein zukünftiger Ehemann auf mich wartete. Mein Herz schlug so schnell, dass ich das Gefühl hatte, es würde mir jeden Moment aus der Brust springen. Mein Mund war völlig ausgetrocknet.

Ich wäre gern noch einmal auf mein Zimmer gerannt und hätte einen Liter Wasser aus dem Hahn getrunken. Meine Hände hingegen waren schweißnass und meine Knie drohten jeden Moment unter mir nachzugeben.

„Lady CeciliaFeyer!“, hallte es und mein Herz setzte für ein paar Schläge aus. Ich kniff einmal kurz die Augen zusammen, atmete tief ein und setzte dann einen Fuß vor den anderen.

Kapitel 4

Der Saal war beeindruckend. Große goldene Kronleuchter hingen von der Decke und tauchten den gigantischen Raum in ein angenehmes Licht. An den Wänden hingen riesige Stoffbahnen in verschiedenen Gelbtönen, die von goldenen Adlerfiguren zusammengehalten wurden. Das Wappentier von Europa. Meine Schritte hallten auf dem edlen Parkett wider. Die lange Tafel, an der meine und die Königsfamilie saßen, war aus honigfarbenem Holz gefertigt. Als Erstes traf mein Blick den des Königs. Er hatte ein breites Lächeln aufgesetzt und musterte mich von oben bis unten. Links neben ihm saß seine Frau in einem rosafarbenen Kleid. Ihr Blick war kühl und wieder spürte ich, wie sich eine Gänsehaut auf meiner Haut ausbreitete. Beinahe wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert. Ich war mir nicht sicher, ob es bemerkt worden war, doch sofort spürte ich, wie meine Wangen rot wurden.

Dann sah ich ihn.

Noran saß rechts neben seinem Vater und schaute mich an. Was dachte er? Sein Blick war weder besonders freundlich noch unfreundlich. Er schaute mich einfach nur an. Seine Haare waren heller als die seines Bruders. Dunkelblond. Sie schimmerten durch die hereinfallenden Sonnenstrahlen leicht bronzefarben. Das, was ich von seiner Statur sah, ähnelte Elias. Seine Schultern schienen etwas breiter, und je näher ich trat, desto mehr glaubte ich, auch auf seinen Wangen einen roten Schimmer zu erkennen.

Gini hatte nicht übertrieben. Er war wirklich sehr gutaussehend. Auf eine andere Art als sein Bruder, aber unbestreitbar attraktiv.

Als ich endlich am Tisch ankam, erhob Noran sich. „Cecilia, ich freue mich, dich wiederzusehen. Du … du siehst bezaubernd aus“, sagte er, wartete, bis ich mich ihm gegenübergesetzt hatte, und ließ sich dann wieder nieder.

„Ich danke Euch, Eure Hoheit“, sagte ich verlegen und musste meinen Blick abwenden. Das Ganze war so surreal. Wer traf schon seinen Zukünftigen unter solchen Umständen? Ich schaute hilfesuchend zu meiner Familie. Dad nickte mir aufmunternd zu.

„Bitte, nenn mich Noran, schließlich sind wir …, ähm, also, wir kennen uns ja schon lange“, stammelte Noran und seine Wangen wurden noch ein bisschen röter.

„Lady Marissa und Lady Sonya sehen übrigens ebenfalls bezaubernd aus“, schaltete sich der König ein. Meine Mutter kicherte.

„Ja! Alle Ladys am Tisch sehen bezaubernd aus und ich sowieso. Wollen wir jetzt essen?“, fragte Elias grinsend, während seine Augen nicht eine Sekunde von mir abließen.

„Elias! Wir haben Gäste!“, rügte die Königin ihren Sohn. Elias schaute auf seinen Teller, doch das amüsierte Grinsen blieb. Auch ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Das schien ihm zu gefallen, denn als unsere Blicke sich trafen, blitzte es in seinen Augen.

Der König klatschte in die Hände und eine Tür am anderen Ende des Raumes öffnete sich. Acht Kellner traten ein. Jeder mit einem Teller in der Hand. Es wurde ein Salat serviert, der aus Rucola, getrockneten Tomaten, Oliven und kalter Pasta bestand. Er schmeckte herrlich. Als ich den ersten Bissen genommen hatte, fiel mir auf, dass ich seit dem Frühstück zu Hause nichts mehr gegessen hatte.

Während des Essens versuchte der König immer wieder, meinen Vater in ein Gespräch zu verwickeln, doch irgendwie schien Dad nicht in der Stimmung zu sein. Er war vermutlich müde von der Reise. Marissa sprach mit Elias. Worüber, bekam ich nicht richtig mit. Ging es um Pferde? Marissa lachte auffallend oft und warf Elias verführerische Blicke zu. Ich beneidete sie um ihre unbefangene Art. Aber sie war schließlich nicht diejenige, die gegen ihren Willen verheiratet werden sollte. Und musste sie gleich so rangehen? Grummelnd löffelte ich weiter die Suppe, die als zweiter Gang serviert worden war, und versuchte, mich ausschließlich auf die kleinen Spargelspitzen zu konzentrieren, die mir immer wieder vom Löffel rutschten.

„Schmeckt es dir?“, unterbrach Noran meine Gedanken und lächelte mich an.

„Ja, wunderbar. Es schmeckt wirklich toll“, erwiderte ich und wurde erneut rot. So ein Mist! Warum konnte ich das nicht kontrollieren?

„Vater hat extra einen Sternekoch aus Rom anreisen lassen.“

„Mmmh, das schmeckt man.“ Ich schluckte einen Löffel Suppe herunter. Sie war wirklich gut.

„Zu Hause haben wir eine Köchin, die früher mal in einem Laden für orthopädische Einlegesohlen gearbeitet hat“, erzählte ich weiter und bereute meine dumme Bemerkung augenblicklich. Auf Norans Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Ach wirklich? Das klingt interessant. Du musst mir mal erzählen, wie sie bei euch gelandet ist“, meinte er freundlich.

Erleichtert lächelte ich zurück. „Gern!“

Als Hauptgang wurde ein Lammfilet serviert. Mit einer Soße, in die ich mich hätte reinsetzen können. Allerdings war mein Magen schon reichlich gefüllt und hatte sich außerdem immer noch nicht ganz beruhigt. Mein Kleid spannte und ich hoffte, dass dieses Festmahl bald seinen Abschluss finden würde.

„Satt?“, fragte Noran, als ich mich in meinem Sessel zurücklehnte.

„Ja, es ist wirklich köstlich, aber langsam reicht es“, antwortete ich. „Zu Hause essen wir meist nur ein Hauptgericht und ein Dessert. Wie viele Gänge kommen denn noch?“

„Nur noch zwei! Du hast es gleich geschafft“, gab Noran zurück.

Ich überlegte, was für ein Gang außer dem Nachtisch noch kommen würde. Käse?