Wenn ich dich umarme, hab keine Angst - Fulvio Ervas - E-Book

Wenn ich dich umarme, hab keine Angst E-Book

Fulvio Ervas

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Beschreibung

Diese Reise beginnt lange vor dem Aufbruch, sie beginnt mit der Diagnose: 'Ihr Kind ist autistisch.' Jahre später fahren Franco und sein Sohn Andrea mit dem Motorrad quer durch den amerikanischen Kontinent. Ein Abenteuer, das durch kontrastreiche äußere und innere Landschaften führt. Und Vater und Sohn einander näherbringt.

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Seitenzahl: 322

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Wenn ichdich umarme,hab keine Angst

Eine wahre Geschichteerzählt von Fulvio Ervas

Aus dem Italienischen vonMaja Pflug

Die Originalausgabe erschien 2012

bei Marcos y Marcos, Mailand, unter dem Titel

›Se ti abbraccio non aver paura‹

Copyright © 2012 bei Fulvio Ervas und Marcos y Marcos

Die deutsche Erstausgabe erschien 2013

im Diogenes Verlag

Das Motto von Emily Dickinson ist übersetzt

von Lola Gruenthal, aus: ›Guten Morgen, Mitternacht‹,

Diogenes Verlag, Zürich, 1997

Die Dialoge am Computer zwischen Franco

und Andrea wurden unverändert von

den Originalen übernommen, die Andreas Eltern

zur Verfügung gestellt haben

Kartenausschnitte: Copyright © Marcos y Marcos

Die Fotos im Bildteil sowie das Umschlagfoto

stammen von Franco Antonello

Copyright © Franco Antonello

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 06851 1 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60299 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Prolog  [13]

Unterwegs  [30]

Miami  [36]

Noch einmal gutgegangen  [41]

Key West  [46]

Sexy Italians  [50]

Spanien – Holland  [55]

Vier Staaten auf einen Streich  [62]

New Orleans  [66]

Lost in Louisiana  [71]

Im Leeren  [77]

Texas pur  [82]

Welcher Tag ist heute?  [88]

New Mexico  [92]

Coyotenjagd  [96]

Harley Point  [101]

Staunen  [105]

Im Blaubeerwald  [108]

Las Vegas  [114]

Ein Kuss für die Braut  [120]

Los Angeles  [125]

Schwarze Löcher  [130]

[6] Pelé ist an allem schuld  [133]

Guadalajara  [137]

O teures Benzin  [142]

Acapulco  [148]

Gastronomie  [152]

On the road again  [155]

Kopf oder Zahl  [158]

Von Mexiko nach Guatemala  [162]

Siga me  [168]

Schamanen  [175]

Landung in Livingston  [181]

Positive Vibrations  [184]

Die Stufen von Venedig  [190]

Belize  [194]

Ichgehweg  [198]

Tulum  [202]

Flechten  [206]

Costa Rica  [209]

Hotel Iguana  [212]

Was für eine schöne Baracke  [217]

Panama  [225]

Roxana  [231]

Methode  [237]

Into the wild  [239]

Manaus  [247]

Kühe & Kühler  [251]

Cuidalo!  [255]

Danke  [257]

Kakao  [260]

Arraial d’Ajuda  [265]

[7] Postboten  [272]

Lehm  [276]

Schwermetalle  [281]

Brasilianische Nacht  [283]

Angelica  [286]

Skilehrer  [290]

Versuchungen  [294]

Cumuruxatiba  [297]

Romantische Momente  [304]

Erdenbewohner  [308]

Der Brief  [315]

Morgen  [318]

[9] »Hoffnung« ist das Federding –

Das in der Seele schwingt –

Und Lieder ohne Worte –

Ohne Ende singt –

[11] Dieser Roman erzählt die wahre Geschichte der langen Reise durch die Vereinigten Staaten und Lateinamerika, die Franco Antonello im Sommer 2010 mit seinem Sohn Andrea unternommen hat.

Andrea war zum Zeitpunkt der Reise siebzehn Jahre alt, im Alter von drei Jahren wurde bei ihm Autismus diagnostiziert.

Im Lauf eines Gesprächs, das sich über ein Jahr hinzog, hat Franco Antonello sein Abenteuer Fulvio Ervas erzählt.

Ervas hat daraus einen Roman gemacht, in dem sich authentische Begebenheiten und Gefühle mit Phantasie und Erzählkunst mischen.

[13] Manche Reisen beginnen nicht erst mit der Abfahrt.

Sie beginnen früher.

Zuweilen viel früher.

Vor fünfzehn Jahren stand ich zusammen mit meinen Lieben ruhig und zufrieden im Leben, umgeben von Dingen, die mir vertraut waren. Plötzlich schüttelt Andrea mich, stülpt meine Taschen um, wechselt die Schlösser an den Türen aus. Alles gerät durcheinander.

Wenige Worte genügten: »Ihr Sohn ist wahrscheinlich autistisch.«

Die erste Reaktion war Ungläubigkeit: Das kann nicht sein, es muss sich um eine falsche Diagnose handeln. Dann fing ich an, eins und eins zusammenzuzählen, kleine Dinge, die ich vorher fälschlicherweise für nebensächlich gehalten hatte.

Da bricht ein Orkan los, der alles mit sich reißt.

Von da an herrscht Sturm.

Nach der Diagnose ging ich hinaus, betrat eine Bar und bestellte ein Glas stilles Wasser.

»Möchten Sie sonst noch etwas?« Die Bedienung musste meine Starre bemerkt haben.

»Wissen Sie etwas über Autismus?«

»Nein.«

[14] »Ich auch nicht.«

Forschend betrachtete ich den Inhalt des Glases, trank langsam, als könnte das Wasser meine Gedanken wegspülen, das Problem den Nieren zuführen und durch die Nieren ausscheiden – weg damit, weit weg von mir. Aber so läuft das nicht.

»Wie läuft es dann?«, habe ich unseren Hausarzt gefragt. Wie alle im Dorf nannte ich ihn ›Barnard‹, wie den großen Herzchirurgen, denn seine fixe Idee waren Herzkrankheiten, Koronargefäße und solche Sachen, die mich jedoch nie interessiert hatten. Wenn es dir gutgeht, geht es jedem einzelnen Körperteil gut, Herz eingeschlossen.

»Stell dir eine große Glockenkurve vor: In der Mitte gibt es gewöhnliche Störungen, und an den Rändern findet man die sonderbarsten Abweichungen. In der Mitte ist das Leben verdünnt und außen herum zu dicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Das Leben ist unvollkommen, aber es hat seine eigene Kraft.«

Er hatte recht. Die Biologie hat ihre eigene Kraft und lässt auch Kinder mit Autismus heranwachsen.

Manche Leute sagen, dass das Leben mit einem autistischen Kind fremdbestimmt sei, ja dass man einer Art Tyrannei zum Opfer falle. Wenn ich mir vorstelle, was passieren würde, wenn Andrea die Welt regierte, muss ich lachen.

Als Erstes hätten die Wochen eine Farbe. In der roten Woche Bahn frei für den Handel mit Karotten, Orangen, Tomaten. Subventionen nur für diese Produkte und totales Fahrverbot für Lastwagen mit Broccoli, Wirsing oder [15] Erbsen. Wenn aber die grüne Woche anbricht, füllen sich die Geschäfte mit dem vorher nicht erlaubten Gemüse, die Kisten mit Orangen werden unverzüglich nach Sizilien zurückgeschickt und die Karotten eine um die andere wieder in die Erde gesteckt. Natürlich genau da, wo man sie herausgezogen hat, schließlich haben aus Frankreich stammende Karotten in der Gegend von Ferrara nichts zu suchen.

Nie gäbe es eine violette Woche, zum Leidwesen aller Fans von Pflaumen und Auberginen.

Halb voll oder halb leer, dieses Dilemma wäre unbekannt. Flaschen und andere Behältnisse müssen immer entweder leer oder voll sein und die Kugelschreiberminen alle drin oder alle draußen, nie halb so, halb so, sonst geht immer ein Stift kaputt und einer nicht. Dieses Risiko muss vermieden werden.

Von T-Shirts oder Pullovern mit Reißverschluss würde abgeraten, denn es ist schnell passiert, dass dieser ein wenig offen steht. Bitte, Reißverschlüsse entweder auf oder zu. Schluss auch mit den ewigen Haarspaltereien, ob es warm oder kalt ist. Ein bisschen Entschlossenheit kann nie schaden.

Niemand soll glauben, er könne eine Pizza so essen, dass er sie einfach in Stücke schneidet, irgendwo anfängt und einen beliebigen Bissen zum Mund führt. Zuerst isst man nämlich die weiße Mozzarella, dann das grüne Basilikum und zum Schluss, aber erst ganz zum Schluss, den Boden mit der Tomatensoße.

Dreihundertfünfundsechzig Mal im Jahr wäre Tag der Schokolade. Diese Regel wäre immerhin leicht einzuhalten.

Thermostaten würden nicht geduldet. Entweder ist die Heizung abgestellt oder voll aufgedreht. Übergangszeiten sind eine Katastrophe.

[16] Kirchtürme würden mit automatischen Seifenblasenspendern ausgerüstet, jeden Freitag Seifenblasen in Hülle und Fülle, um das Wochenende anzukündigen, und auch jeden Montag, um den Wochenbeginn zu feiern, Feuerwerk an Silvester, bei Sonnwende, bei Tagundnachtgleiche und zu jedem Anlass, wenn es finanziell drinliegt.

Eine Tyrannei mit absolut klaren Regeln.

Vorgegeben von einem hochsensiblen Tyrannen, der seine Freiheit braucht.

Deshalb schicken wir ihn allein zur Schule. Es sind seine zwanzig Minuten freier Ausgang, zehn hin und zehn zurück. »Habt ihr denn keine Angst?«, fragt man uns. Doch, sicher. Jeden Tag. Aber Andrea hat ein so strahlendes Lächeln, wenn er morgens den Rucksack schultert und nach der Schule wieder ablädt, dass es alle Sorgen wettmacht. Denn frei zu sein ist mehr, als nur zu atmen und ein Herz zu haben, das schlägt – das allein genügt nicht.

Sicher, umsonst ist Freiheit nicht zu haben: Wir mussten unterschreiben, dass wir die Verantwortung übernehmen; ein autistischer Junge, der allein zur Schule geht, ist ein großes Problem, ganz klar: für die Lehrer, für die Verkehrspolizisten, für die Bürger, für all die europäischen Autofahrer und litauischen Touristen, die hier vorbeikommen.

Es war an einem Abend Ende Mai, ich konnte nicht einschlafen. Ich dachte an einen Aufschrei von Andrea ein paar Tage zuvor, nach einem der vielen Zwischenfälle: Er strolchte durchs Haus, war schrecklich unruhig; ich fragte ihn mehrmals, was los sei, und seltsamerweise hat er mich an den Schultern gepackt. Er hat mir direkt in die Augen geschaut [17] wie noch nie, hat den Mund aufgerissen und einen Schrei losgelassen, der klang, als hätte er sich seit Tagen angebahnt. Mir war, als hätte er gesagt und als hätte ich es wirklich gehört: Ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht…

Das weckte in mir Bilder aus der Vergangenheit: ein Unfall, das Motorrad, das einen Satz macht, und dann Andreas Schrei, irgendwo am Boden, vor mir, Leute, die herbeirennen und mir die Sicht verdecken, das rechte Bein ganz verdreht, das Morphium, »der Junge ist autistisch«, zwei Ambulanzen, »lasst uns zusammen«, dann zwei Krankenhausbetten nebeneinander. Wir sind durchgekommen, aber dieser gellende Schrei von Andrea taucht ab und zu in meinen Träumen wieder auf, vielleicht war es nicht einmal Schmerz, vielleicht war es diese seltsame Welt, in der er lebt und die sich so eine Stimme verschafft. Irgendetwas schrie nach Freiheit, kam im Hals und in der Lunge kratzend heraus.

Ich stand auf, schaltete den Fernseher an und wieder aus, drehte ein bisschen am Radio herum. Dann öffnete ich das Schränkchen, in dem ich die Straßenkarten und Reiseführer aufbewahre. Auf dem Teppich breitete ich eine längst überholte Weltkarte aus, löschte im Kopf die alten Grenzen und zog sie neu: Kroatien, Slowakei, Mazedonien, Moldawien…

Am nächsten Morgen war Andrea schon sehr früh auf. Im Schlafanzug lief er um den Tisch herum, strich am Sofa entlang, kontrollierte das Wohnzimmerfenster. Ich suchte vergeblich nach meinen Pantoffeln. Dann fand ich sie wie schon öfter unter dem Stuhl im Arbeitszimmer, sorgsam parallel zueinander gestellt. Barfuß trat ich auf ein Papierfetzchen, [18] dann noch eins, bis ich auf dem Tisch ein Häufchen winziger Schnitzel sah – das war alles, was von meiner alten Landkarte noch übrig war. Unendlich kleine Stückchen von Welt, die im Recyclingpapier enden würden.

»Andre, Andre«, murmelte ich. Ich konnte ihm nicht böse sein.

Er hatte diesen leicht schwermütigen Blick. Macht nichts, die Welt ändert sich ja ständig, und außerdem hätte ich es mir denken können: Zeitungen und Illustrierte wurden schließlich auch zerkleinert. Andrea arbeitet mit beneidenswerter Präzision, als streute er Wortkrümel für unsichtbare Rotkehlchen, die in unserer Wohnung herumfliegen.

In einem Monat endet das Schuljahr, die Ferien beginnen. Meine Freunde werden ihre Kinder ins Sommerlager schicken, bestimmt gibt es ein Angebot für eine schöne Wanderwoche in der Toskana, oder sie werden sie zu den Großeltern bringen, sie mit zum Zelten nehmen oder sie den ganzen Tag draußen Fußball spielen lassen. Recht so, Kinder müssen auch mal abschalten und sich austoben können.

Ich dagegen werde die üblichen Probleme haben: Wer bleibt wann und wo bei Andrea? Was soll er in der Zeit tun? Ist dies oder jenes das Richtige für ihn? Komplizierte Schichten, damit keine Lücken entstehen, akrobatische Absprachen, um bis September durchzukommen.

Man wird es leid, ob man will oder nicht.

Jedes Mal, wenn Schwierigkeiten auftauchen, jedes Mal, wenn du die Ärmel hochkrempelst, um sie zu lösen, ist es, als würdest du für teures Geld eine Fahrkarte erstehen, die nur bis zur nächsten Haltestelle gilt.

[19] Nein, dieses Mal wird alles anders. Wenn ich mich schon derart anstrengen muss, dann für ein echtes Abenteuer.

Wir sind sowieso immer auf dem Sprung, auch wenn wir nur darauf warten, dass Andrea aus der Schule kommt, oder wenn er uns in der Menge mal wieder zu entwischen droht.

Die Zeit ist reif, um den Sprung zu wagen und etwas Neues zu riskieren.

Die Idee einer großen Reise begann in mir zu arbeiten. Wie ein Virus. Ohne erkennbare Anzeichen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, einen detaillierten Plan zu machen. Für Andrea ist sowieso alles unvorhersehbar, jeder einzelne Tag, jede Stunde: So sollte es auch für mich sein, und es würde kommen, wie es kommen musste.

Eines Tages bin ich Andrea entgegengegangen. Ich sah ihn von weitem, wie er mit seinem raschen Schritt aus der Schule kam, und fragte ihn, ob es ihm Spaß machen würde, mal etwas ganz anderes in den Ferien zu unternehmen. Doch er wurde von der Wäsche abgelenkt, die in einem Hof an der Leine flatterte. Eilig lief er hin und begann die Laken zu falten, die Wäscheklammern zu versetzen, die Socken glattzuziehen.

»Wollen wir weit weg fahren?«, fragte ich.

Er sah mich flüchtig an und lächelte.

»Andrea, fahren wir nach Amerika?«

»Amerika schön.«

Da, bei dieser Wäsche, die nun so sorgfältig geordnet war, dass unverkennbar Andrea am Werk gewesen sein musste, sagte ich mir: Andrea und ich, wir fahren quer durch Amerika und schauen, wohin es uns verschlägt. Wir werden den [20] ganzen Sommer umherstreifen und den Kontinent in all seinen Facetten erkunden.

Tankstellen, Asphaltbänder, rasche Mahlzeiten, nette Leute, Leute, die davonlaufen, Leute, die uns am Straßenrand zuwinken. Weiter, immer weiter, ein bis zwei Monate, wir werden nicht anhalten, bis wir müde werden, uns doch etwas zu viel wird. Vielleicht ist es ein großartiger Kontinent für zwei wie Andrea und mich. Hauptsache, niemand sagt zu uns: »Stopp, was wollt ihr hier? Aufruhr stiften?« Was für einen Aufruhr denn? Sie meinen die Papierschnitzel, die Andrea überall zurücklässt, und die Bäuche, die er gern anfasst, und die Küsse, die er freigiebig austeilt? Na gut, wir werden aufpassen, uns mäßigen, nicht stören, Amerika, versuche, tolerant zu sein!

Ich wollte wissen, was er von der Idee mit der Reise hielt, weshalb wir uns mit seiner Mama an den Computer setzten. Wenn er mit mir allein ist, schreibt er nicht, er ist an die Anwesenheit seiner Mutter gewöhnt.

Seine Antwort hat mich verwirrt. »erträgst du andrea mit autismus«, hat er geschrieben.

Klar werde ich Andrea ertragen, was denn sonst? Keine Sorge, habe ich erwidert, du wirst mich genauso ertragen müssen.

Ich habe ihn auch gefragt, was ihm denn lieber wäre: eine ruhige Reise oder viele Feste? »ruhig und feste«, hat er mir geschrieben. Beides. Super, Andrea, das ist super. Das wird unsere Reise. Verrückt, aufregend, ein bisschen leichtsinnig. Und ein bisschen heilsam.

Wie immer sah ich staunend zu, wie Andrea die Tasten [21] drückte, wie er die Faust aufs Herz legte, bevor er einen Buchstaben tippte. Faust aufs Herz, Buchstabe, Buchstabe, Buchstabe, Faust aufs Herz, Wort.

Die ganze Welt dringt ungehindert in Andrea ein, wie ein bergab rollender Stein, wie eine Lawine. Andrea hat keine Abwehr, keine Barrieren, er saugt alles auf wie ein Schwamm, und man braucht ihn nur anzuschauen, um zu verstehen, dass er ein anderes, ganz eigenes, inniges Verhältnis zur Realität hat. Wenn er spricht, drückt er sich zusammenhanglos mit abgehackten Worten aus: »daheim«, »unterwegs«, »das grüne«. Seine Antworten klingen mechanisch, sie nehmen einen Teil der Frage wieder auf.

Was er durchsickern lässt, ist ein Konzentrat: Er ist ein Alchemist, der Worte destilliert. Man muss nur lernen, sie zu hören.

Am Computer kann er ganze Sätze schreiben. Das hat er in jahrelanger Übung gelernt, mit Hilfe einer Person, die ihn anleitete.

Unweigerlich gab es Leute, die mir ihre Zweifel an dieser Methode kundtaten, und lange habe ich selbst nicht an das geglaubt, was ich sah. Ich dachte, die Sätze, die auf dem Bildschirm erschienen, kämen durch das Eingreifen des Betreuers zustande, der neben ihm saß. Doch mit der Zeit lernte Andrea zu meinem großen Erstaunen, sich selbständig mitzuteilen. Inzwischen schreibt er am Computer, ohne dass irgendwer seinen Arm lenkt, und äußert seine Meinung zu unterschiedlichsten Themen: Autismus, Leben, Liebe. Ich hebe alle seine Texte auf, von den wirrsten und zusammenhanglosesten bis zu den rührendsten. Es sind Botschaften aus seiner Welt.

[22] Dann habe ich das Abreisedatum festgelegt: Mit dem 6.Juli sollte eine neue Zeitrechnung beginnen. Noch lieber wäre ich am 4.Juli gestartet, am Tag der Unabhängigkeit, aber das war nicht möglich. Deshalb ging es erst nach Erlangung der Unabhängigkeit los, was vielleicht auch sicherer ist.

»Eine Reise? Auf keinen Fall!«, haben die Lehrer und die Eltern von Andreas Schulkameraden sofort gesagt, Autisten fühlen sich nur in geregelten Verhältnissen wohl, sie leben gern in ihren gewohnten Bahnen, ertragen keine Veränderungen et cetera et cetera. Was hätte ich anderes erwarten können? Ich konnte diese Reaktionen durchaus nachvollziehen, vielleicht war ich ja wirklich zu unvernünftig. Um noch eine zweite Meinung einzuholen, ging ich zu den Ärzten, die Andrea behandelten, aber ich bekam dieselben Bedenken zu hören.

»Also wäre es besser, ich würde mit ihm zu Hause bleiben?«

»Na ja, zu Hause… Machen Sie doch einfach einen Erholungsurlaub hier in Italien. Es gibt doch genug schöne Ferienorte bei uns.«

»Zum Beispiel?«, fragte ich, doch so eine Frage überfordert offenbar die Ärzte.

»Jesolo.«

»Der Strand ist immer überfüllt…«

»Dann fahren Sie eben ins Gebirge.«

»Und wohin, meinen Sie?«

»In die Dolomiten…«

Ich sah sie an, die Doktoren. Selbstverständlich mit Respekt. Doch ohne zu vergessen, dass Andreas Körper von Kuren aller Art gezeichnet ist. Dass wir zu diesem Zweck schon [23] in alle Richtungen mit ihm gereist sind. Viele Kilometer weit weg von zu Haus: Mailand, Genua, Schweiz, Modena, Bologna, Siena, hektische Fahrten nach Apulien… Andrea hat schon die halbe Welt kennengelernt durch seine Behandlungen: deutsche, amerikanische, französische Ansätze. Schulmedizin, alternative Heilmethoden, spirituelle Praktiken. Immer hatten wir Vertrauen und nahmen Anregungen, Ratschläge und Hilfe an. Vorurteilslos. Wir schauten nach vorn. Jetzt fassen wir mal eine andere Art von Kur ins Auge. Ich bin überzeugt, dass sie funktioniert. Drei Monate lang werden wir frei sein.

Die engsten Freunde haben sofort begriffen, dass es mir nicht um Ferien, sondern um Freiheit ging.

»Aber was machst du dort?«

»Die blaue Raupe suchen.«

Sie wussten, dass Andrea genau zu der Zeit, als uns die Diagnose mitgeteilt wurde, sein Lieblingskuscheltier verloren hatte: eine blaue Raupe. Auch ich mag diese kleinen biegsamen Tiere, ihre Farben, ihre Hartnäckigkeit, ihre Gefräßigkeit, wie sie an Blatträndern und auf dünnen Stielen balancieren, wie sie im Leeren hängen oder auf der Erde herumkriechen.

»Ja meinst du, ihr findet sie wieder, die blaue Raupe?«

»Wir probieren es.«

Ganz verblüfft wollten sie dann jeweils wissen, wo, wie und wann.

Ich stellte mir die ersten Etappen unserer Route vor. Quer durch Amerika, von einer Küste zur anderen, auf dem Motorrad, dann weit hinunter in den Süden oder vielleicht auch nordwärts, wer weiß?

[24] Die Rückreise allerdings konnte ich mir noch gar nicht vorstellen, als könnte Andrea mich zwingen, für immer unterwegs zu sein.

Ein paar Ängste kamen hoch. Und was für welche.

An einem Regentag, an dem Andrea sehr unruhig gewesen war, lag ich auf dem Bett. Ich fand, es sei an der Zeit, dass wir ein Gefühl für die Reise entwickelten, nur mit Geschwätz kommt man nirgendwohin. Ich nahm Andrea beiseite und sagte: »Wir müssen ein bisschen für unsere Reise trainieren.«

»Die Reise, Papa.«

»Bist du bereit?«

»Ja.«

»Wirst du mich nicht zur Verzweiflung treiben?«

»Bleib immer ganz ruhig.«

Wir begannen, lange Touren auf unserem Motorrad zu unternehmen, ich sagte: »Halt dich fest, als ob du in Amerika wärst, in Amerika muss man sich nämlich ordentlich festhalten, da gibt es Orkane und Wirbelstürme!«, und Andrea erdrückte mich fast mit seiner Kraft. Wir fuhren schöne Strecken, Andrea brav an mir festgeklammert, ich fühlte, wie aufmerksam er war, keine Bewegung entging ihm, und wie immer übersah er keinen einzigen Wegweiser. Wo geht es lang, Andre? Hier, bis ganz ans Ende, Papa. Sicher und präzise wie ein Navigationssystem. Aufsteigen, absteigen, an der Tankstelle anhalten, tanken, etwas essen, denn die hiesigen Tankstellen wollen ja so amerikanisch wie möglich sein und du kannst den ganzen Vormittag dort frühstücken oder auch zum Aperitif kommen. Wir fuhren ein Stück in die Berge [25] hinauf. »Setz bitte immer den Helm auf!« Ich werde es trotzdem kontrollieren müssen, weil er ihn nie zumacht. Manchmal raste Andrea sofort nach dem Absteigen davon, ich hatte noch nicht den Helm abgenommen, und schon war er verschwunden. »Achtung, Andre«, sagte ich, »behalt Papa immer im Auge.«

»Wen im Auge?«

»Papa.«

Ich zeigte auf die Polizeiautos, die Blinklichter, wir ahmten die Sirenen nach, schossen auf einem Pass mit den Fingern auf imaginäre Kojoten. Manche Pässe in den Alpen sind voll mit Kojoten.

Das war unsere Feuerwehrübung, unsere Art, ein kleines, aber eingespieltes Team zu werden. Sich auf Anhieb verstehen, eine akzeptable Koordination hinkriegen. Abends dann jede Menge Filme und Sendungen über Amerika, weil ich wollte, dass er sich an Landschaften und Details erinnert, damit er nicht auf dem Mond landet, ohne zu wissen, was für Steine er dort findet.

»Wer ist John Wayne?«

»John Wayne schön.«

»Ach was, schön! Ein Cowboy ist er.«

Er lachte.

Alles okay, sagte ich mir.

Und jetzt, Andre, versuche ich mal, dir zu erklären, welchen Weg wir fahren: Miami, dann links Richtung Key West, quer durch Florida und dann Alabama, Mississippi, Louisiana und zum Schluss Los… Los…

»Loslassen.«

»Quatsch, loslassen, du Blödmann, Los Angeles! Und [26] dann? Was machen wir, wenn wir in Los Angeles müde sind?«

»Müde Papa.«

»Werden wir müde sein?«

»Ja.«

Coast to coast, ein Klassiker. Klassiker haben etwas Beruhigendes, was wären es sonst für Klassiker? Ich beschloss, nur ein Motorrad und ein Hotel in Miami zu buchen.

Zum Abschied haben wir uns alle zusammengesetzt: die Mutter, unser jüngerer Sohn, Andrea und ich. Um uns auf diese Trennung vorzubereiten.

Auch unser Hund Filippo war dabei. Er durfte nicht fehlen: An seinem ersten Tag bei uns hatte Andrea ihn zur Begrüßung schwungvoll aus dem Fenster geworfen. Filippo war zwei Monate alt und hatte keine Absicht, das Fliegen zu lernen.

Ich sah Andrea an und schrieb am Computer einen Satz: »Ciao, gleich geht es los.«

Erstaunlich prompt antwortete er: »Wir haben Spaß danke Papa.«

Weisst du, was meine einzige Angst ist? Dass wir uns nicht wiederfinden, wenn wir uns aus den Augen verlieren. Was meinst du dazu?

ich bleibe bei papa

Und was machst du, wenn du dich verläufst und mich nicht mehr siehst?

ich sterbe

Aber doch nicht sofort. Was würdest du vor dem Sterben machen?

ich schaue mich um

[27] Und wenn du mich ganz lang nicht siehst… dann…

rufe ich papa

Aber wenn wir uns verloren haben und ich nicht komme und es dunkel wird… was machst du dann?

ich setze mich ins café und schlafe und warte

Gut. Weisst du, was du noch machen musst? Sobald du einen Polizisten siehst, hängst du dich an ihn und lässt ihn nicht mehr los, kapiert?

ja gut

Und was sagst du zu ihm?

papa weggelaufen

Du musst sagen »lost«, das heisst auf Englisch, dass du dich verirrt hast. Und wenn sie spanisch reden, musst du sagen »perdido«… Okay?

perdido

Bist du zu jedem Abenteuer bereit? Dauernd woanders schlafen, essen, was wir finden, und sich allem anpassen?

andrea bereit

Willst du noch etwas fragen oder wissen, bevor wir losfahren?

ob papa sich freut

Riesig, ich kann’s kaum erwarten. Ich habe ja auch noch nie so eine Reise gemacht…

wir sind abenteurer

Klar. Fürchtest du dich vor irgendwas?

nein

Ich bat ihn, sich von seinem Bruder zu verabschieden.

ruhig allein ohne brüderlein

[28] Und auch von Mama.

ciao liebe mama die küsse geb ich dir

Wir waren alle gerührt. Es kam uns vor wie beim Abschied der Besatzung einer Mondrakete. Andrea und ich waren die Astronauten. Wer weiß, ob wir genug trainiert hatten. Ich fragte mich, ob die Schwerkraft in Amerika stärker oder schwächer war als hier, ob wir uns leichter oder schwerer fühlen würden.

Kurz vor der Abreise wurde mir plötzlich bang: Ich lief zum Schreibtisch und suchte in den Schubladen nach den Ausdrucken von Andreas Texten. Mit der Schere schnitt ich die schönsten Sätze heraus und die, die mich besonders beeindruckt hatten. Ich beschloss, sie mitzunehmen, zusammen mit einigen Post-its, auf denen ich mir notiert hatte, welche Stationen wir uns nach Ansicht unserer Freunde keinesfalls entgehen lassen durften.

Eine Reise aus Papier, aus Papieren.

Den letzten Abend verbrachte ich allein und versuchte, alles noch einmal durchzugehen. Zwei Rucksäcke und die Tasche mit den Motorradanzügen sollten reichen: Ich hatte die nötige Anzahl Unterhosen berechnet und dabei die Dichte der Waschsalons pro Quadratkilometer berücksichtigt; falls es knapp werden sollte, würde es der Stoff unserer groben Jeans auch tun, noch nie ist jemand an einem aufgescheuerten Hintern gestorben.

Da es keine Formel zur Berechnung der angemessenen Menge Socken gibt, hatte ich vom vorgesehenen Haufen nur [29] die Hälfte eingepackt, obwohl schmutzige Socken Menschen einsam machen können – womöglich sind wir an einem schwierigen Punkt unserer Reise, fragen Passanten, ob wir hier oder da lang fahren müssen, jemand nähert sich, fällt wegen der Ausdünstungen in Ohnmacht, und wir wissen im entscheidenden Moment nicht weiter.

Ich konnte auch nur die Hälfte der Jeans einpacken, die meine Frau bereitgelegt hatte, denn Frauen haben zwar einen wunderbaren Sinn fürs Praktische und sorgen dafür, dass du nichts vergisst, konzipieren das Gepäck aber wie für die Tasche von Mary Poppins und ziehen sechs Paar Jeans einem GPS-Gerät vor. T-Shirts kann man nie zu viel haben, auch Andreas Zauberstab war mit von der Partie, »Wozu brauchst du denn den Zauberstab?«, fragte ich ihn. »Zauberstab, Zauberstab«, überzeugte er mich, ein bisschen Aufsehen und Magie konnten ja nicht schaden, Windjacken, okay, Pantoffeln, ich sprang vom einen zum anderen, von oben nach unten, Hauptsache, alles Notwendige war dabei, Duschgel, Zahnbürsten, Fotoapparat, Handy und Computer, Pass, Kreditkarten und etwas Geld. Stopp, jetzt ging nichts mehr rein. Was fehlte, würden wir unterwegs kaufen.

Beim Einschlafen dachte ich über Sinn und Zweck dieser Reise nach. Aus dem Urteil der anderen hörte ich heraus, dass manche sie wohl für Angeberei hielten, für zu waghalsig. Vielleicht hatten sie recht.

Vielleicht war es aber auch Andrea, der mich

[30] Unterwegs

Auch zu solchen Reisen bricht man schließlich irgendwann auf. Ohne Trara, ohne Fanfaren. Andrea umarmt seine Mama, drückt sie, lässt sie los, dann küsst er sie. Sie schärft ihm ein, niemanden zu umarmen, niemandem an den Bauch zu fassen.

»Das mögen die Amerikaner nicht… Da werden sie böse und schießen.«

Wir sehen uns an und denken beide daran, wie wir damals mehrere T-Shirts gekauft und draufgeschrieben hatten: »Wenn ich dich umarme, hab keine Angst«. In der Schule empfand Andrea nämlich ständig das Bedürfnis, seine Mitschüler fest zu umarmen, und wir hofften, damit allen Beteiligten das Leben zu erleichtern. Die Schrift war weder zu groß noch zu klein: Es sollte ja keine drohende Warnung sein und noch viel weniger eine flehentliche Bitte. Einfach eine Empfehlung, und außerdem waren die bunten T-Shirts wirklich sehr schön. Das Anziehen war ein wenig mühsam. Wenn Andrea die Arme hob, blieb er stocksteif stehen, man musste ihm das T-Shirt Zentimeter für Zentimeter überstreifen. Wir hatten vier verschiedene Farben gekauft: weiß, blau, rot und orange. So könnten wir abwechseln, dachten wir, doch es kam vor, dass Andrea tagelang nur das orangefarbene tragen wollte oder nur das blaue. Deshalb mussten wir noch welche [31] nachkaufen, so dass sich in seinem Schrank die bunten T-Shirts immer höher stapelten.

»Und wascht euch ordentlich, jeden Quadratzentimeter. Ist das klar?«

»Und esst keine Schweinereien.«

»Hey, verlier ihn nicht. Und geh selbst nicht verloren«, sagt meine Frau zu mir, und ihre Augen glänzen, halb vor Tränen und halb vor Stolz.

Der Bruder weicht dem Biss aus, er kennt Andreas Überschwenglichkeit von früheren Gelegenheiten. Sie fotografierten uns nebeneinander am Check-in. Andrea legt den Kopf auf meine Schulter. Ich weiß, dass er sich seine Gedanken macht. Es arbeitet in ihm, ich fühle es.

Wir passieren die Sicherheitskontrolle: Ich lege den Computer in die Plastikwanne. Andrea sieht es und rückt ihn ordentlich gerade. Er stürmt durch den Metalldetektor, der Polizist hält ihn auf, Andrea versucht, ihn zu umarmen – ein Ballett. Ich erkläre die Lage. Alles in Ordnung. Dann schießt Andrea los und stellt sich an eine der großen Glasscheiben, um ein draußen rangierendes Flugzeug zu beobachten. »Bald dürfen wir auch einsteigen«, sage ich.

Während wir startbereit auf unseren Plätzen sitzen, fühle ich mich auf einmal verwirrt und betrachte die Bordkabine und die anderen Passagiere wie von weit weg. Sollte ich uns doch überschätzt haben? Andrea spielt mit dem Sicherheitsgurt, dann schließt er ihn ruckartig. Los geht’s!

»Andrea, versprichst du mir, dass du immer in meiner Nähe bleibst, dass du auf mich hörst? Ja?«

»Versprochen, Papa.«

[32] »Versprichst du mir, dass du mir nicht mehr den Arm hinhältst, damit ich dich beiße?«

»Ein bisschen schon.«

»Was hast du mir versprochen?«

»Ganz ruhig bleiben.«

»Nein –«, aber dann heben wir ab, und alles wird auf einmal winzig klein: Die Straßen sind Fäden, die Felder Handtücher, die Dörfer Dächerklümpchen, unser Haus ist schon weit weg, die Geschwindigkeit lässt die Dinge schrumpfen, und klein wirken nun auch die vergangenen Sorgen, die Ferien der letzten Jahre, die Schule, die guten und weniger guten Lehrer, die Ärzte, die Ratschläge. Die Ängste. Alles löst sich auf. Wir fliegen.

Während des Flugs bewegen wir uns kaum, wir stehen nur auf, um zur Toilette zu gehen. Andrea schaut aus dem Fenster und ich mit ihm. Eine Weile folgt er mit dem Blick den Wolkenrändern, dann packt er meine Hand. Es ist nicht sein erster Flug, ich glaube nicht, dass er sich fürchtet. Er zeigt nicht die düstere Unruhe, die ihn überkommt, wenn etwas nicht stimmt. Er hat einfach eine Verbindung zu mir hergestellt: Richtig, Andre, da ist dieses Stück Himmel, aber dann kommt Amerika, es wartet auf uns. Wenn es uns nicht gefällt, können wir wieder heimfahren. Wann immer wir wollen. Hey, ihr Amerikaner, bei euch hat es uns nicht gefallen!

»Wenn es Probleme gibt, kehren wir sofort um.«

Ich fühle, dass er ganz da ist, ganz ruhig. Nur noch zwei Stunden, dann sind wir tatsächlich in Amerika!

[33] Am Flughafen von Miami strecken Menschen fast aller Hautfarben die Nase in die Höhe, um die Abflugtafel zu studieren, oder sie stehen Schlange am Check-in. Andrea sieht sich um, er ist durcheinander, geht ganz vorsichtig, auf Zehenspitzen, streichelt die Luft mit den Händen.

Wir geraten an einen langsamen Taxifahrer. Bevor er uns einsteigen lässt, mustert er uns, dann hantiert er am Taxameter, stellt den Rückspiegel ein, brummt etwas vor sich hin.

»Was hat der?«, fragt er mit Blick auf Andrea.

»Nichts«, erwidere ich.

»Mir scheint, der hat was.«

»Der Junge ist autistisch«, sage ich knapp.

»Das hätten Sie mir doch gleich sagen können!«

Ich ärgere mich. Da haben wir’s, denke ich, jetzt muss ich herumstreiten, wir werden doch nicht einen Kontinent durchqueren, wo mich jeder mit ausgestrecktem Zeigefinger fragt: Was hat Ihr Sohn eigentlich? O nein, das passt mir nicht, Amerika, das passt mir überhaupt nicht, da sind wir in dem Land, in dem sich unterschiedlichste Kulturen mischen, und du sträubst dich gegen ein bisschen Autismus? Nicht mit mir, ich bin empört.

»Los Andre, wir steigen aus –«

»Nein! In meinem Taxi zahlen solche Leute den halben Tarif.«

Ach, so ist das! Der rote Teppich Amerikas ist eine vergünstigte Taxifahrt und ein enttäuschendes Hotel. An der ziemlich vergammelten Rezeption greift sich Andrea sofort einige Prospekte und fängt an, sie zu zerreißen. Der Herr am Empfang bemüht sich, sie ihm wegzunehmen, freundlich zu [34] bleiben – es entsteht ein stilles Handgemenge, bis Andrea ihn aus der Fassung bringt, indem er ihn plötzlich küsst. Der Mann lässt das Papier los.

Auch das Zimmer ist schäbig und nicht besonders sauber, im Internet sah das ganz anders aus. Wir sind müde, ich habe keine Lust zu reklamieren, und außerdem hat Andrea soeben die schreckliche Schlacht um die Prospekte gewonnen. Eins zu eins. Steigen wir lieber zur Taufe in den Ozean und schwimmen uns von allen Spannungen frei.

Mit fünf Jahren war Andrea vor unseren verblüfften Augen ins Schwimmbecken gesprungen und unter Wasser querdurch geschwommen, hin und zurück. Er ist ein Delphin!, haben wir gedacht. Wenn er groß ist, durchquert er so mal noch den Ärmelkanal. Ein Champion…

Ein rasches Abendessen und ab ins Bett. Der erste amerikanische Schlaf. Kaum dass Andrea seinen Kopf aufs Kissen legt, ist er weg, schläft friedlich wie ein Murmeltier.

Ich hole einen seiner Texte heraus, als würde ich zur Feier des Tages eine Flasche Champagner entkorken. Ich lese laut, aber nur in meinem Kopf.

Ich brauche ein bisschen Hilfe, damit wir uns besser verständigen können… gib mir doch einen Rat…

du glaubst ich bin normal nervensäge und ungezogen, ich bin sensibel anders und sehr einsam

Ach bitte, nur einen kleinen Hinweis, wie ich dich behandeln sollte. Benehme ich mich richtig oder…?

papa ist einzigartig für mich andrea wäre gern einzigartig für papa

Meinst du, das bist du nicht?

[35] ich habe auch schöne seiten du kennst sie

»Du kennst sie«, Frage oder Aussage?

nur frage

Ich glaube, ich kenne sie nicht alle, Andrea. Hilf mir, sag mir, welche für dich die schönsten sind…

nein papa, nicht meine aufgabe

Was für ein weiter Weg…

[36] Miami

Um sieben Uhr bin ich schon auf den Beinen. Draußen erwartet mich nicht der gewohnte Zeitungshändler, der Espresso an der Bar – hallo, wie geht’s, gut, danke, Zucker? –, die üblichen Floskeln, ein Gähnen und rein in den Tag. Alles ist still, kein Geräusch, keine Sirenen. Ich habe die ganze Nacht geträumt. Von Andrea, er schrieb. Aber nicht am Computer. Auf den Asphalt. Er hatte einen speziellen Stift gefunden und hinterließ überall, wo wir vorbeikamen, seine Botschaften. In Weiß und Rot. Er malte riesige Buchstaben, so dass jeder, der den Himmel über Amerika durchquerte und einen Blick hinunterwarf, die Wörter hätte sehen können, die Andrea zwischen die weißen Streifen schrieb, und auf allfällige Fragen von da oben hätte Andrea bereitwillig geantwortet.

Welche Filme gefallen dir?

»Familiengeschichten, Liebesgeschichten.«

Wenn du den Menschen ins Gesicht schaust, was möchtest du dann tun?

»Lachen.«

So war das, die Welt sprach, und er antwortete. Im Traum.

Lärm auf dem Flur, schlurfende Schritte. Vielleicht Leute, die jetzt gerade von ihrem Nachtbummel heimkommen. Ich denke an gestern, an Andreas erste Schritte auf Zehenspitzen, [37] das Zögern eines Tänzers, der einer geheimen Melodie folgt. Oder die Anspannung eines Turmspringers, der bereit ist, sich jeden Moment ins Wasser zu stürzen, als wäre er dazu verdammt. Doch es geht ihm auch darum, seine Kräfte zu messen. Er kennt die Last der Schwerkraft und nimmt gleichzeitig Anlauf, um sie zu überwinden. Ein komplexes, labiles Gleichgewicht.

Heute mieten wir das Motorrad, unser amerikanisches, benzinsaufendes Pferd.

Ich warte, dass Andrea aufwacht, bin schon gespannt auf seinen Gesichtsausdruck, jetzt, da unsere Reise erst richtig losgeht.

Er hebt den Kopf und betrachtet die Zimmerdecke, wirft mir einen Blick zu, lächelt. Ich verfolge seine Bewegungen, er streckt sich, schüttelt sich, geht ins Bad. Als er nach einer Weile nicht wiederkommt, rufe ich ihn. Er antwortet nicht, ich öffne die Tür, wahrscheinlich steht er da und starrt auf das Wasser im Klo. Doch nein, er hat die weiße Flüssigseife, die rosa Zahnpasta und das blaue Mundwasser genommen und damit dichte farbige Linien auf die Fensterscheibe gemalt. Als er mich sieht, verschmiert er alles mit dem Finger, so dass kleine bunte Lachen entstehen.

In einem Lokal nicht weit vom Hotel nehmen wir unser erstes amerikanisches Frühstück ein. Ich bestelle Schoko-Donuts, dazu Kaffee und das übliche Mineralwasser. Andrea freut sich, beobachtet alles genau, steht kurz auf, um die Platte mit dem Gebäck geradezurücken. In einer Hand hat er seinen Zauberstab, ich habe gesehen, dass er ihn auch mit ins Bett genommen hat.

[38] Eine pummelige Kellnerin kommt vorbei, Andrea umarmt sie, ohne auf das Tablett voller Tassen zu achten, das sie in Händen hält. Ich halte den Atem an: Jetzt haben wir den Salat, und schon sehe ich die junge Frau am Boden strampeln, kochend heißer Kaffee überall, und wir mit einem einzigen, energischen Tritt zurückbefördert nach Italien. Doch die Kellnerin schwankt, hält professionell das Gleichgewicht, ist verwundert, erfasst aber sofort die Lage. Amüsiert hebt sie die Augenbrauen, das bremst Andrea.

Offensichtlich sind viele hier nicht leicht aus der Ruhe zu bringen. Also kann ich vielleicht ein kleines Experiment wagen. Leise stehe ich auf, entferne mich und lasse Andrea am Tisch allein. Ich finde eine Stelle, von der aus ich ihn beobachten kann, ohne selbst gesehen zu werden. Andrea bleibt, wo er ist, allerdings ist er leicht verunsichert. Er sieht sich suchend nach mir um. Sollte er irgendwie auffällig reagieren, wäre ich sofort bei ihm. Er macht ein finsteres Gesicht, aber er beherrscht sich. Immer mehr Leute kommen herein, die Musik läuft jetzt auf voller Lautstärke, und ich sehe, dass ihn das stört. Ich kehre an den Tisch zurück, und wir gehen hinaus, gefolgt von der pummeligen Kellnerin, die neugierig geworden ist auf Andrea. Schon lässt er die ersten Herzen höher schlagen. Ich habe den Eindruck, dass sich halb Amerika in ihn verlieben wird.

Wir lassen uns durch die Straßen treiben, nehmen die Einzelheiten der Stadt auf: Schaufenster, Farben, einige gigantische Werbeplakate, hastige Fußgänger, mal rote, mal grüne Ampeln. Die Sinne werden von allen Seiten überflutet. Andrea schlendert locker vor mir her, dreht sich oft um. Wir sehen uns an. Was er wohl wahrnimmt? Ich umarme ihn und erkläre ihm, was wir als Nächstes tun.

[39] »Hör mal, wir holen jetzt das Motorrad und fahren sehr, sehr weit. Unser Gepäck müssen wir gut verstauen, damit wir nichts verlieren und alles dabeihaben, was wir brauchen.«

Der Angestellte des Motorradverleihs zeigt uns mehrere Maschinen, bemüht sich, Modelle zu finden, die ihm für unsere Bedürfnisse geeignet scheinen. Andrea fasst alles an, besonders die Rückspiegel. In einer Ecke steht eine rote Harley. Sieht aus wie ein Fuchs und blinzelt uns zu. Die da, sage ich. Der Angestellte verzieht keine Miene – der Kunde ist König.

Anlassen, Gas geben, kleinen Kreis fahren. Kaum sind wir draußen auf der Straße, hält uns ein Polizeiwagen auf. Ziemlich ungehalten schreit der Beamte: »Wrong way! Wrong way!« Eine Einbahnstraße? Andrea streckt ihm den Zauberstab entgegen, der Polizist sieht uns böse an. Gebt uns doch etwas Zeit zur Eingewöhnung! Aber vielleicht hatte der Polizist ja ganz recht: Wir bewegen uns schon immer ein bisschen gegen den Strom.

Ohne Eile brausen wir los. Kilometer um Kilometer schlucken wir den Raum, der Asphalt ist wie Schokolade, die Straßenschilder sind extra für uns geschrieben. Andrea klammert sich an mich, in Voraussicht der Orkane. Mit der Kraft eines Jugendlichen hält er sich fest, aufgeregt und cool zugleich.

Auf dem Motorrad stürmen wir Miami Beach.

»In Miami müsst ihr unbedingt ins Sugarcane gehen, das Sugarcane in Miami wird euch umhauen, da geben sich die VIPs die Klinke in die Hand.«

Sehr, sehr viele Freunde und Bekannte waren gekommen, um uns von ihren Reiseerlebnissen zu berichten und Tipps zu geben. Einige sind viel herumgekommen und glauben, sie [40] kennten die Welt wie ihre Hosentasche. Die Großen Seen zum Beispiel: »Nein, wir fahren nicht zu den Großen Seen.« – »Warum nicht? Sie sind phantastisch.« – »Kann sein, aber wir werden nicht hinfahren.« – »Na gut, aber esst trotzdem keine Elchsteaks und auch kein Bisonfleisch, das Zeug ist absolut unverdaulich.«