Wenn ich jetzt nicht weine - Oisín Curran - E-Book

Wenn ich jetzt nicht weine E-Book

Oisín Curran

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Beschreibung

Wo waren wir, bevor wir geboren wurden? In einem anderen Leben? Einem früheren Tod? Currans Roman spielt in der kleinen Siedlung New Pond, in den Wäldern von Maine. Dort leben Iris und Myles mit ihrem elfjährigen Sohn innerhalb einer buddhistischen Gemeinde, die von dem autoritären Willard geleitet wird. Eines Tages stürzt der Junge während eines Streits seiner Eltern zu Boden und verkündet, sich an seine Geburt zu erinnern. Immer öfter verfällt er danach in einen tranceartigen Zustand, in welchem ihn Bilder bestürmen, um die er die fantastische Geschichte seines früheren Lebens spinnt. Darin ist er als Mädchen die Heldin einer abenteuerlichen Reise, auf der das Erreichen des Ziels immer wieder durch die wunderlichsten Begegnungen hintertrieben wird. Immer auf den Fersen ist ihr dabei ein unbekannter, mysteriöser Verfolger. Iris und Myles halten seine Erzählungen jedes Mal fest. Ist das Eintauchen in fantastische Welten zunächst wie eine Flucht aus der Realität, wird im Verlauf immer deutlicher, dass es diesem Jungen in seiner traumatischen Lage als Hilfe zum Verständnis der Welt dient, einer Welt des Jahres 1980, in welcher sich der kalte Krieg auf einem Höhepunkt befindet, einer Welt auch, in der vor allem sein Vater einem autoritären Führer folgt und seine Mutter schließlich schwer erkrankt. "Wenn ich jetzt nicht weine" ist eine berührende Coming-of-age-Geschichte, in der nicht nur der junge Protagonist eine Entwicklung durchlebt, die einer Neugeburt gleichkommt.

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Wo waren wir, bevor wir geboren wurden? In einem anderen Leben? Einem früheren Tod? Currans Roman spielt in der kleinen Siedlung New Pond, in den Wäldern von Maine. Dort leben Iris und Myles mit ihrem elfjährigen Sohn innerhalb einer buddhistischen Gemeinde, die von dem autoritären Willard geleitet wird. Eines Tages stürzt der Junge während eines Streits seiner Eltern zu Boden und verkündet, sich an seine Geburt zu erinnern. Immer öfter verfällt er danach in einen tranceartigen Zustand, in dem ihn Bilder bestürmen, um die er die fantastische Geschichte seines früheren Lebens spinnt. Darin ist er als Mädchen die Heldin einer abenteuerlichen Reise, auf der das Erreichen des Ziels immer wieder durch die wunderlichsten Begegnungen hintertrieben wird. Immer auf den Fersen ist ihr dabei ein unbekannter, mysteriöser Verfolger. Iris und Myles halten seine Erzählungen jedes Mal fest.

Ist das Eintauchen in fantastische Welten zunächst wie eine Flucht aus der Realität, wird im Verlauf immer deutlicher, dass es diesem Jungen in seiner traumatischen Lage als Hilfe zum Verständnis der Welt dient, einer Welt des Jahres 1980, in welcher sich der kalte Krieg auf einem Höhepunkt befindet, einer Welt auch, in der vor allem sein Vater einem autoritären Führer folgt und seine Mutter schließlich schwer erkrankt. Wenn ich jetzt nicht weine ist eine berührende Coming-of-age-Geschichte, in der nicht nur der junge Protagonist eine Entwicklung durchlebt, die einer Neugeburt gleichkommt.

OISÍN CURRAN ist im ländlichen Maine aufgewachsen. 2008 erschien sein Debütroman Mopus (Luftschacht, 2009). Curran schreibt als Freelancer für Film und Fernsehen und wurde von CBC: Canada Writes zum „Writer to Watch“ ernannt. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Cape Breton, Nova Scotia. Wenn ich jetzt nicht weine ist sein zweiter Roman.

RAIMUND VARGA, geboren in Wien, wo er auch als Unterrichtender, Lektor und Übersetzer lebt.

Bei Luftschacht erschienen:

Wenn ich jetzt nicht weine (Roman, 2021)

Mopus (Roman, 2009)

Oisín Curran

WENN ICH JETZT NICHT WEINE

Roman

Aus dem kanadischen Englisch von Raimund Varga

Für meine Eltern, die mir ihre Träume zu Füßenlegten; für Fianan und Neva, mein Feuer und meinWasser, und für Sarah, die sie erschaffen hat undmich neu schuf.

Titel der kanadischen Originalausgabe: Blood Fable

Copyright: © 2017 Oisín Curran

ISBN: 978-1-77166-294-9

Published by BookThug Department of Narrative Studies

Toronto, 2017

© Luftschacht Verlag – Wien

luftschacht.com

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten.

1. Auflage 2021

Umschlaggestaltung: Julian Tapprich – juliantapprich.com

Übersetzung: Raimund Varga

Lektorat: Teresa Profanter

Satz: Luftschacht – Paul Frenzel

Gesetzt aus der Metric und der Noe

Druck und Herstellung: Finidr s.r.o.

Papier: Munken Print Cream 90 g/m2, Surbalin glatt 115 g/m2

ISBN: 978-3-903081-44-4

ISBN E-Book: 978-3-903081-77-2

We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts for this translation.

„Es ist eigenartig, dass ich nicht sagen kann, wer ich bin. Das heißt, ich weiß es nur allzu gut, aber ich kann es nicht sagen. Am meisten fürchte ich mich davor, es zu sagen, weil ich im selben Augenblick, da ich versuche zu sprechen, nicht nur daran scheitere, auszudrücken, was ich empfinde, sondern, was ich empfinde, wird langsam das, was ich sage.“

Clarice Lispector, Nahe dem wilden Herzen

TOD FÄLLT!, schrie mein Vater und schwang seine Axt. Tod fällt dir ins Genick! Axt blitzte durch den Himmel und fiel – Birkenscheit brach entzwei; Myles rastete, Brille schief, um den Kopf einen weißen Lumpen gebunden, schwarze Haare zu Berge – verrückter Samurai. Ich fing die Scheithälften auf, stapelte sie und stellte ein noch ganzes auf für den nächsten Hieb.

Er beantwortete halb eine nur halb gehörte Frage.

Die Nacht zuvor hatte ein betrunkener Jäger meinen Kater Schatten für einen Waschbären gehalten und ihn erschossen. Beziehungsweise nahmen wir das an – wir waren dem Mann nie begegnet, aber man wusste, dass bewaffnete Trinker durch die Wälder torkeln, und Schatten sah ein wenig aus wie ein Waschbär, vor allem nachts, wenn sie in diesen Gegenden gejagt werden. Jedenfalls war er tot. Wir fanden ihn am Morgen unter seinem Lieblingsbaum.

Obwohl er meine erste Liebe war und obwohl ich das Blut aus seiner Schusswunde überall an mir hatte, weinte ich nicht. Meine Mutter wickelte ihn in ein altes Bettlaken, während mein Vater sein Grab schaufelte. Als er unter ein paar Handvoll Erde verschwand, kam mir in den Sinn, dass er vier Jahre früher genauso unsichtbar gewesen war, bevor ich ihn aus dem Körper seiner Mutter schlüpfen sah. Für diese Unsichtbarkeit hatte ich keinen Namen; vielleicht war dies auch ein Tod. Den restlichen Morgen dachte ich über die Angelegenheit nach, verzweifelt darauf achtend, das in meiner Brust aufkeimende Schluchzen zu unterdrücken, weil ich dachte, es würde mich töten, wenn ich es zuließe. Zwecks zusätzlicher Ablenkung sprach ich mit Myles.

Gehen wir in den Tod zurück, weil wir aus dem Tod geboren werden?

(Halb gehört, halb verstanden.)

Der Tod ist simpel, deklamierte er, anders als die Geburt, die ein Kraftakt von unvergleichlicher Schwierigkeit ist. Ein Kraftakt der Raserei – explosiv. Wir alle streben unsere Inkarnation an.

Axt fiel wieder und verkeilte sich im Holzscheit. Gesicht, verschlossen zu einem teuflischen Grinsen, hob Myles Axt und Holzscheit und hämmerte beide gegen den Baumstumpf. Schweiß flog von ihm und vom Lumpen auf seinem Kopf und vom Lumpen an seinem Genick und seinem triefenden Shirt, bis das Holzscheit sich teilte und er sich gegen einen Baum lehnte, atemlos und hochrot.

Du hast uns auserwählt, keuchte er, richtete seine Brille. Du hast uns herausgepickt, und jetzt sind wir dran.

Von ihrem nahe gelegenen Platz, wo sie über Schattens Grab einen spindeldürren Birnbaumsetzling pflanzte, rief Iris, dass man mir, obwohl ich ohne Frage der Grund ihrer Vereinigung war, keine Schuld geben könne. Myles antwortete, dass man es selbstverständlich könnte – es sei nur logisch.

Ich gebe ihm die Schuld, sagte er stolz, aber ich bewundere ihn – die Anstrengung, die es gebraucht haben muss, um uns beide zusammenzuzwingen. Zu zeugen ist einfach, gezeugt zu werden ist eine Unterbeweisstellung von Gerissenheit und Hartnäckigkeit.

Dabei hob Iris ihr schmutziges, von Tränen beflecktes Gesicht und erwiderte, Für einen Mann bedeutet Zeugen ein vergnügliches Bestäuben. Für eine Frau – neun Monate Besitz, der in schmerzvoller Enteignung endet.

Ein Ereignis, das du verbockt hast, grummelte Myles, als er das nächste Holzscheit zerschmetterte. Ich zerklatschte Mücken und glotzte auf einen verschmierten Regenbogen aus verschüttetem Kettensägenbenzin. Ich tagträumte oder versuchte es, aber es hatte keinen Sinn … ihre Stimmen wurden langsam lauter.

Wie Caesars Mutter, fuhr Myles fort, brauchtest du eine Klinge.

Iris wurde bleich.

Kläre deinen Sohn darüber auf, wo du damals warst!, rief sie. Hast deinen anderen Liebhaberinnen Adieu gesagt, während dein Kind aus meinem Körper geschnitten wurde.

Myles seufzte.

Das war ein Scherz!, sagte er. Ich gebe dir nicht die Schuld, dass unser Sohn sich weigerte, auf demselben Weg herauszukommen, auf dem er hineinkam.

Auf dem er hineinkam?, sagte Iris. Ich sehe, die katholische Schule hat bei dir mittelalterliche Fantasien über die menschliche Reproduktion hinterlassen !

Myles ignorierte das und sagte, was das Durchtrennen von Bändern zu Liebhaberinnen betrifft, habe er das lange zuvor getan, Monate zuvor, und dass er, wie sie genau wisse, am Tage meiner Geburt mit Bangen im Krankenhausgarten wie in einem Anti-Gethsemane umherspaziert sei und die Ankunft seines Sohnes, seines Erben, seines Schicksals erwartet habe.

Ja, natürlich, jetzt erinnerte sich Iris (wie konnte sie es vergessen haben?), dass er zwischen den Fliedern umhergeschlendert war, während sie geblutet hatte.

Das, sagte Myles, ist eine krasse Übertreibung, wie immer, aber wie könnte man denn von ihr auch erwarten, sich an irgendetwas jenes glorreichen Tages zu erinnern, wo sie doch wegen des Messers zugedröhnt bis unters Dach war, während er, er, in einem Zustand ekstatischen Taumels war, als er mich sah und zum ersten Mal in seinen Armen hielt.

Während sie stritten, fühlte ich ein merkwürdiges inneres Ziehen, als ob mich eine fremde Gravitationsquelle in einem schrägen Aufwärtswinkel nach oben ziehen würde. Die vereinte Kraft verschwisteter Gravitationen, eine innerlich, eine irdisch, erzeugte ein seitwärts gerichtetes Schwebegefühl.

Ich erinnere mich, sagte ich still, aber abrupt und fiel zu Boden.

HIER, IN den Wäldern an der Küste von Maine, 1980, waren hundert Jahre vergangen, seit eine Schaufel dieses Erdreich umgegraben hatte, oder eine Axt das örtliche Holz gespalten; die Steine eines alten Bauernhausfundaments waren zur Umrandung eines Froschteichs geworden und Bäume schwärmten über den sumpfigen Grund, verhüllten alle Zeichen menschlicher Anstrengung. Damals traten Myles und Iris einer nahe gelegenen Buddhisten-Kommune bei, kauften diese paar Hektar und begannen sie mit Kettensäge und Feuer zurückzuerobern. Meinerseits rückte ich mit einer winzigen Säge durch die nahen Birkengewächse vor, Entschuldigungen flüsternd zu den Setzlingen, die ich behutsam von ihren Wurzeln trennte, und Salamander beobachtend, die sich langsam unter den umgedrehten Steinen hervor in Bewegung setzten. Und später, nach dem Abriss und den Feuern, prallte der Knall der Hammerschläge zurück vom zurückgewichenen Wald, als mein Vater und seine Mitjünger Balken auf Pfosten hoben und wieder ein Haus auf dem Land stand.

In der Mitte dieses Landes lag ich nun auf einem Grasklumpen, Füße Richtung Bäume, Kopf zum Haus. Lose Ecken schwarzer Teerpappe flatterten und das Plastik über den Fensteröffnungen bauschte sich und schnalzte in einem Wind, der über den Wald vom Ozean her blies. Und wie kann ich mich an diese Details erinnern? Gar nicht. Auch an meine Eltern, wie sie über meinem feuchtkalten Körper knieten, die Mücken verscheuchten, in panischer Angst, während ich sprach, erinnere ich mich nicht. Sie erzählen, meine Augäpfel verdrehten sich in ihren Höhlen und meine Glieder wurden steif. Ich murmelte etwas von einem alten Gebäude voll neuer Musik, einem Unfall.

Myles hob mich vom Gras auf und trug mich zum Auto. Iris stürmte voraus, um eine ganze Batterie an Blumenheilmitteln und Kräutertinkturen vorzubereiten. Abgelegt am Rücksitz unseres Kombis, blind hinaufstarrend, fuhr ich fort, irgendetwas über traurige Korridore, Krankheit, den drohenden, wartenden Tod zu erzählen.

Mein armes kleines Putz-Mäuschen, heulte Iris, neben mir einsteigend, Flüssigkeiten in meinen Mund spritzend, Salben in meine Schläfen massierend. Beeil dich!, sagte sie zu Myles, der den Rückwärtsgang einlegte, auf die Schotterpiste ausscherte und mit Höchstgeschwindigkeit über die Schlaglöcher davonhopste.

Fahr langsamer!, sagte Iris.

Entscheide dich!, schrie Myles und schloss zwischen ihren beiden Befehlen einen Kompromiss, indem er ein paar Sekunden lang den Druck auf das Gaspedal zurücknahm, bevor er es wieder durchtrat, während er sagte, Schreib das alles auf.

Ich fuhr fort, von einem Entflohenen auf der Flucht zu sprechen, aber die Bilder waren verstreut, keine Geschichte nahm Gestalt an.

Mein kleiner Käfer, sagte Iris, die mittlerweile auf ihrer manuellen Olivetti, die nur selten nicht in ihrer Nähe war, mit Warp-Geschwindigkeit das Diktat tippte. In den Monaten, die darauf folgten, wurden diese Bilder zur Geschichte. Sowie ich sie erzählte, machte auch Myles Notizen, in seiner beinahe unlesbaren (aber ästhetisch faszinierenden) Handschrift. Als ich dreißig Jahre später diese Notizen wiederfand, erzählte er mir, er habe immer noch vor, aus ihnen eine umfangreiche mythopoetische Hermeneutik zu entwickeln, genau wie es William Butler Yeats mit den paranormalen Schriften seiner Frau getan hatte.

Iris hatte ihrerseits strukturelle Anpassungen und Revisionen meiner konfusen endlosen Sätze vorgenommen. Die Florpostbündel ihres Getippses fingen mit der Zeit schließlich an, große Mengen von Ausgestrichenem und Notizen an den Rändern zu enthalten, neben den Skizzen, die sie in Illustrationen zu verwandeln vorhatte. Es sind die kombinierten Aufzeichnungen meiner Eltern, aus denen ich diese Erzählung rekonstruiert habe, also kommt sie gefiltert durch Syntax und Vokabular dreier Erwachsener daher.

Auf dem Rücksitz des Wagens brabbelte ich anscheinend von einer Brücke, die das Innere einer leuchtenden Welt überspannte.

Schwach hörte ich meinen Vater vom Fahrersitz aus ausrufen, dass ich eine Art visionären Zustand durchlebte.

Oder einen Anfall!, sagte Iris unglücklich.

Oder eine mystische Trance! Wie Edgar Cayce, sagte Myles. Er hat vielleicht Zugang zu einer weiteren Bewusstseinsebene.

Beeil dich einfach, sagte Iris, aber fahr nicht zu schnell.

Ein Anfall? Nein. Ich wusste von Edgar Cayce, dem schlafenden Propheten, dem mystischen Hellseher. Damals war es schwer, ihm aus dem Weg zu gehen. Meine Eltern und deren Freunde sprachen oft von seinen diversen Vorhersagen – vor allem, und mit insgeheimer Hoffnung, von dem bevorstehenden Verschwinden Kaliforniens unter den Wellen. Aber was mich betraf, nein. Kein Anfall, keine Vision. Ich hatte die Hitze satt, und den Streit meiner Eltern, und fühlte mich benommen genug, um mich hinzulegen. Na ja, vielleicht wurde ich ein wenig ohnmächtig, ich werde diese Möglichkeit nicht leugnen. Und wenn es so war, würde das die kleinen Traumstücke erklären, die ich von mir gab, als ich zu mir kam. Die Kombination aus Kollaps und surrealer Äußerung elektrisierte Myles und Iris. Sie hörten auf, sich zu zanken, und richteten ihre Aufmerksamkeit auf mich. Ich konnte sie nicht enttäuschen. Und ich wollte ohnehin herausfinden, was als Nächstes passiert. Also machte ich weiter, so gut ich konnte. Es ist nicht so einfach, wie es klingt, sich Dinge auszudenken und vorzugeben, dass man es nicht tut, vor allem, wenn es so wenig Material gibt, bloß ein kleines, merkwürdiges Wirrwarr an Bildern. Darunter: ein Reisender in Not, in Gefahr, geschützt, in Sicherheit geschmuggelt; einen kopflosen Vogel, Federn und Blut überall, glänzende Gedärme; ein funkelnder Schatzfund; ein sinkendes Boot – es gab mehr, aber in meinem Ohnmachtsanfall prasselten sie zu schnell auf mich ein, um sie zu halten. Dann wurden sie langsamer, bis sie sich zuletzt über einer Szenerie ruhiger Wellen, die durch das Sieb eines Kiesstrandes rannen, niederließen.

EINGEHÜLLT IN einen alten Mantel, schlafe ich am Strand. Steine knirschen. Einsames Geräusch – hohle Schuhe auf einem hohlen Planeten. Stadtschuhe, teure, seltsam für einen Seemann, der er ist – derjenige, der sie trägt. Zumindest denke ich, dass er es tut. Er könnte vieles sein. Schwer auch zu sagen, wie alt er ist. Dreißig? Noch nicht, aber an der Kippe. Er kommt auf mich zu, dort, wo ich in dem wolkigen Licht liege, und sagt, alles sei bereit, das Schiff vorbereitet, die Mannschaft versammelt, und ich solle um Mitternacht kommen, weil er dann Wache habe und mich an Bord schmuggeln könne.

Rook (das ist sein Name) macht ein komisches Gesicht, das seine gebrochene Nase verbiegt (aber das ist die Form seines Lächelns), und geht dann weg. Seine Haare sehen wie schwarze Sprungfedern aus, die wippen, wenn er geht.

Ich folge ihm nicht, erzwinge nicht mein Glück – indem ich folgte, bin ich überhaupt an ihn geraten. Letzte Woche sah ich ihn am Strand rauchen und begriff, dass er von der Lizzy Madge war. Ich ergriff die Chance und bat ihn, mich an Bord zu bringen. Das war das erste Mal, dass ich sein zähnefletschendes Lächeln sah, sein aufgetürmtes schwarzes Haar, kurze dicke Zöpfe hinten, weite schwarze Augen, braune Haut, lange dünne schiefe Nase. Er wollte wissen, ob ich Geld habe. Ich hatte ein wenig. Er nickte, kratzte sich am Kinn, sagte, er werde darüber nachdenken.

Also gehe ich am selben Tag, drei Stunden später, voller Hoffnung und Angst zu meiner Meereshöhle, der trockensten Aushöhlung in der Landzunge an der Grenze zum Strand. Dort, wo ich die letzten Wochen gelebt hatte und mich von rohen Muscheln und Resten aus den Abfalleimern der Seitengasse von Nacht-Hafen ernährte.

Woher ich komme, weiß ich nicht mehr. Eines Nachmittags erwachte ich am Strand, nicht weit entfernt vom Eingang einer Meereshöhle. Keine Vergangenheit, kein altes Leben abrufbar, keine Ahnung, wer ich war oder wo ich herkam. Nur ein paar Bilder oder Stücke davon, die ich festhalte, weil sie alles sind, was ich von dem noch habe, wer ich einmal war. Jede Stunde jedes Tages hüte ich meine Sammlung, trage sie vor meinem inneren Auge zusammen – mein kleiner Fund an Visionen. Ich lege sie nacheinander in der Dunkelheit meiner Gedanken aus, um sie zu betrachten und um daran zu feilen:

ein altes Haus in der Nacht, heraussickernde Musik,

ein Autounfall auf einer langen Straße,

ein grünes Wartezimmer, Tod im Schatten,

das Innere eines glitzernden Planeten,

ein Mann aus einem fernen Land, der Zuflucht sucht,

eine Axt auf einem blutigen Baumstumpf, Kopf eines Vogels auf einem Bett aus Federn und glänzenden Gedärmen,

ein Schatz von Silbermünzen,

zwei Leute, bis zu den Knöcheln im Wasser auf einem sinkenden Boot,

ein Geist auf einer verlassenen Straße in der Nacht,

ein Gespenst mit einem Gewehr, ein Schuss, eine Wunde,

ein Regenbogen aus Licht, der aufleuchtet an einer Wand in einem Raum voller Kinder,

Brennholz, auf einem Schlitten gezogen aus einem morschen Wald durch blauen Schnee, kalte blaue Luft,

ein runder Laib Brot, heiß aus dem Ofen, das Ende abgeschnitten und gebuttert, Dampf, der von ihm aufsteigt,

eine Frau (meine Mutter?) im Bett, blass, in Schmerzen,

eine Lichtexplosion mitten in einer dunklen Nacht,

ein betrogenes braunhaariges Mädchen, Gesicht einst lebhaft, nun aschfahl,

ein altes Buch, in dem mein eigenes Leben abgedruckt ist, zwei Männer, die in dichtem Schnee kämpfen, Mond hinter himmelumspannenden Wolken, dunkle Bäume, die zu ihm emporzeigen.

Ich bringe diese Bilder auf eine innere Bühne und lasse sie wieder und wieder abspielen, während ich überlebe. Und da formen sie ihre eigene Art von Gravitation, die mich in Richtung einer letzten Ansicht zieht, einer Stadt. Es ist ein Ort, den ich niemals gekannt habe, aber ich sehe ihn deutlich: hohe Gebäude, zwischen denen in einem Wasserfall nach dem anderen ein großer Fluss fließt, und irgendwo in der Nähe gibt es einen Park voller Flieder. So viel Flieder, dass der Duft stark, süß, beinahe ekelerregend ist. Die Stadt ist nicht bloß eine Stadt, es ist Stadt. Ich fühle es in meinen Muskeln, meinem Schweiß, meiner Nase und Zunge. Sie zieht meine Knochen an, wie die Erde einen Stein anzieht, aber die Richtung, in die sie mich zieht, ist hinaus auf die See.

Ich hörte von Gerüchten aus der Stadt, dass die Lizzy Madge gechartert wurde, damit sie einen seltsamen Haufen von Menschen auf einer Expedition in die Südlichen Meere bringt, um eine Insel zu finden. Die Insel soll ein Geheimnis bewahren, oder einen Schatz, vielleicht einen Jungbrunnen. Die Gerüchte liegen in der Luft. Die Insel ist mir gleichgültig – ich weiß nur, dass ich an Bord gelangen muss, um Stadt zu finden.

Nach Einbruch der Dunkelheit sage ich meiner Höhle Lebewohl, schnüre die wenigen Kleidungsstücke, die ich von Wäscheleinen in Nacht-Hafen gestohlen habe, zu einem Bündel und mache mich auf zum Hafen.

Der Mond ist aufgegangen, ein Halbmond, in seinem Licht schaue ich zurück zum Strand. Lebewohl, Strand.

Etwas in der Nähe meiner Höhle, etwas darin. Ein Mensch? Tier? Scharfer Tiergeruch im Wind, aber es bewegt sich zu schnell, um zu sagen, was es ist. Der Mond ist nicht hell genug. Was es auch ist, mein Hinterkopf wird unverzüglich heiß. Um ihn zu kühlen, wende ich mich ab und gehe rasch.

Nacht-Hafen ist ein Kaff, gerade mal kurios, nach Diesel und Salzwasser stinkend. Aber am Ende seines verrottenden Docks treibt die Lizzy Madge in ihrem eigenen Flair verwahrlosten Glanzes, andere Gewässer, andere Küsten verheißend.

Ich gehe den Landungssteg entlang, spüre den frischen Überzug von billigem Anstrich auf der holprigen Reling und den Motor, der in ihr pocht.

Eine Hand schnappt mich und zieht mich durch eine Tür. Ich höre Rooks Stimme sagen, Still!, und die Tür schließt und verriegelt sich und ich bin im Dunkeln.

MEINE STIMME wurde schließlich stumm und in der Stille, die darauf folgte, hörte ich, wie mich jemand sanft dazu drängte, mich zurückzulegen und zu entspannen. Ich war im Krankenhaus. Drähte waren mit runden Aufklebern an meiner Brust angebracht und eine Krankenschwester unterhielt sich geduldig mit meinen nervösen Eltern, während sie den Bildschirm beobachtete. Sie machte einen Ausdruck und der Arzt kam herein, sah ihn sich an und sagte, Nein, es gibt kein Problem mit seinem Herzen. Machen wir ein EEG.

Dann schob mich jemand in einen fensterlosen Raum und klebte mit irgendeinem klebrigen Zeug Drähte an meinen Kopf, ließ lange Zeit wieder und wieder Lichter in verschiedenen Mustern in meine Augen blitzen. Schließlich druckten sie etwas aus und ein Arzt sah es sich an. Er schüttelte den Kopf. Nein, es gab kein Problem mit meinem Kopf.

Also setzte sich dann ein anderer Arzt zu uns und sagte, es sei wahrscheinlich nur ein Ohnmachtsanfall aufgrund der Hitze gewesen. Iris merkte an, dass gerade mein Kater getötet worden war, und der Arzt sagte, Ja, ein plötzlicher Schock plus heiße Sonne können einen bewusstlos werden lassen, also würde ich mir deswegen keine Sorgen machen. Versuch, ab jetzt einen Hut zu tragen. Und weil wir gerade von Sonne reden, was ist damit?

Er zeigte auf Iris’ Bein, dorthin, wo ihre Shorts hochgerutscht waren und ein schwarzes Mal genau über ihrem Knie zum Vorschein brachten. Es war gefleckt und groß und Iris sagte, ja, sie wisse, sie sollte es untersuchen lassen.

Am besten gleich, sagte der Arzt, und dann schabte er mit ihrer Erlaubnis ein kleines Stück davon auf ein Glasplättchen und nahm es mit.

ROSTGERUCH nimmt Gestalt an. Nieten klopfen, Stahl ächzt. Die Sonne scheint durch Schlitze rund um eine Falltür in der Decke. Sie formt die Konturen eines Quadrats, das über die Wände und den Boden gleitet. Meine einzige Uhr. Ich glaube, dass ich in der Dunkelheit vielleicht den Verstand verliere, also packte ich die Scherben meiner Erinnerungen aus und polierte sie auf, damit sie am Leben bleiben. Es ist eine unvorhersehbare Übung – manchmal wachsen die Bilder und weiten sich aus, werden dichter und detailreicher; ein anderes Mal schrumpfen sie in Zeit, Farbe, Textur, bis sie nichts weiter sind als vergängliche flüchtige Blicke oder die Aufzeichnungen zu einer Erinnerung, stenografische Variationen über einen Gedanken. Dieses Mal wachsen sie …

ein altes Gebäude bei Nacht, das eigenartige Musik umhüllt, die herausrieselt durch die dunklen Bäume draußen und die hellen Laternen, die zwischen ihnen hängen,

ein Auto, das außer Kontrolle gerät auf einem breiten Highway, umsäumt von einem blattlosen Wald,

ein graugrünes Wartezimmer voller Leute, die ruhig darauf warten herauszufinden, wann sie sterben werden,

ein Raum von der Form eines riesigen Wasserballs von draußen beleuchtet – das Innere eines hohlen Glasplaneten,

ein Mann mit angsterfüllten Augen, der einer Zuflucht bedarf,

ein Baumstumpf, eine Axt, ein toter Vogel, Federn, Eingeweide, Blut,

Haufen von Silbermünzen, die in einer kleinen Holzschachtel glitzern,

ein Boot, das unter zwei Menschen versinkt, die durch das kalte Wasser an Land rudern …

Einmal am Tag spuckt die Falltür Licht und Rooks Hand kommt herab mit einem Teller mit Brot und Butter oder gekochten Kartoffeln oder Roter Bete. Einmal Würste. Ich bitte ihn, mich hinauszulassen – es ist zu dunkel und der kleine Metallraum grillt mich. Er sagt, ich soll Geduld haben, und erzählt mir, dass er in seinen Landstreichertagen eine Woche lang in einem Güterwagenwerkzeugschrank von der Größe eines Sarges eingeschlossen war. Kein Essen und nur hereintropfendes Regenwasser zum Trinken. Er wäre also beinahe gestorben, bevor ihn ein anderer Vagabund hörte und befreite. Als er herauskam, streckte er sich in der rauen Luft und sah durch die offene Tür des Güterwagens, dass der Zug über die Kuppe eines schneebedeckten Berges fuhr. Er sah hinab auf wilde Ziegen und fliegende Adler und aß die harte grüne Kruste eines Brotes, das ihm gegeben wurde.

Deine Umstände sind unendlich luxuriöser, sagt er.

Die Tür schließt sich wieder und später kühlt mein Raum ab und ich schlafe.

Ich erwache zitternd und ziehe mich wieder an. Die Stahlwände und -böden lassen mich schnell frieren. Wir bewegen uns in die falsche Richtung.

Die Falltür öffnet sich und aus dem Lichtgetöse höre ich Rooks Stimme, die mich vor Erfrierungen warnt – er sagt, er habe drei Zehen an eine Schneebank verloren, als ihn ein Pflug versehentlich begrub, während er einen Rausch ausschlief. Er war dort monatelang eingefroren, bevor ihn ein Tauwetter befreite. Gewöhn dich daran, sagt er. So ist das Leben eines Herumtreibers – erbärmlich und frei.

Decken fallen auf mich und Hüte, alle von Motten zerfressen. Wir stechen durch die Nördlichen Meere, sagt er.

Lass mich raus!, schreie ich. Wir nehmen den falschen Weg.

Es tut ihm leid, aber es ist unmöglich – die Leute auf diesem Boot sind Verrückte. Sie gehören zu einer Gesellschaft, sagt er. Dem Silbernen Apfel, oder vielleicht ist es der Vergoldete Zweig … der Orden der Knorrigen Fichte? Wie auch immer, sie sind verrückt nach dieser Insel. Aber wir müssen nordwärts fahren, bevor wir südwärts fahren können. Eine Frage der Geografie.

Er reicht mir eine Zigarette hinab, steckt sie mir in den Mund und zündet sie an, aber ich bekomme keine Luft. Ich habe noch nie geraucht. Er legt sich über mir auf den Boden, stützt seinen Kopf auf die Hand und zündet sich selbst eine Zigarette an.

Als ich so alt war wie du, sagt er, habe ich zwanzig Kippen pro Tag geschafft.

ZIGARETTEN?! Meine Mutter seufzte in einer Verwirrung aus Verlangen und Missbilligung, was mich aus meiner Geschichte warf. Sie meinte, dass dieser Rook einen schrecklichen Einfluss habe, wenn er einem Kind Tabak aufdrängt – sie mochte ihn nicht. Sie tadelnd, weil sie mich unterbrach, sagte mein Vater, dass Rook schließlich nur ein junger Mann sei, rau erzogen, der den Ehrenkodex eines Vagabunden befolge, um einem Herumtreiberkameraden in Not zu helfen und das wenige, das er hatte, zu teilen. Myles mochte ihn, Zigaretten hin oder her. Hatte Iris denn nicht kettenweise Menthol-Zigaretten geraucht, seit sie sechzehn war, bis sie ihn traf?

Es war Nacht. Ich lag auf meinem Bett, Iris setzte sich mit ihrer Olivetti auf den Knien auf einen Sessel, und Myles saß auf einer braunen Matte auf dem Boden, die Beine gekreuzt im halben Lotus-Sitz, eine Decke über seinen Kopf und die Schultern drapiert zwecks Wärme. Seine rote Plastik-Füllfeder schwebte einsatzbereit über einem gelben Notizblock. Mein Kopf pochte aufgrund eines offensichtlichen Katers, denn ich erinnerte mich, dass ich in jener Nacht zuvor heimlich eine Flasche Selbstgebrautes hinuntergeschüttet hatte.

Wir waren zum Abendessen bei den Krimgold-Gragnolatis, nach einem langen Sonntag, an dem wir Holz aus einem verlassenen Nonnenkloster ausgebaut hatten. Wir mussten dieses Altmaterial verwerten, um unser Haus zu vollenden. Die K-Gs brauchten es, um eines zu bauen. Mit Tagesbeginn ließen die Erwachsenen mich und die jüngeren Krimgold-Gragnolati-Geschwister darangehen, Nägel aus alten Brettern zu ziehen, während Myles und Bill Krimgold Fenster aus ihren Rahmen lockerten und Bodenplanken von ihren Tragbalken. Iris und Bernadette Gragnolati plagten sich über den Rohrleitungen mit Bernadettes ältester Tochter Athena und befreiten zwei Badewannen und drei Waschbecken aus den verkrusteten Fesseln jahrhundertealter Armaturen. Später – das Dach des Kombis bog sich vor Holz und Porzellan – fuhren wir zu ihrer winzigen Hütte, um wieder zu Kräften zu kommen.

Bill und Myles prüften die Vorzüge von Hopfen und Malz, indem sie gegenseitig ihre selbst gebrauten Biere verkosteten, während Iris und Bernadette das Wetter und Unkraut und ihre Gärten analysierten und die lächerliche Präsidentschaftskampagne für Ronald Reagan. Artemis und Apollo und ich spielten Mensch ärgere dich nicht. Artemis war ein Jahr älter als ich – vorstehendes Kinn, langes schwarzes Haar in Zöpfen, Schlaghosen-Overall. Apollo war ein Jahr jünger, auch ein Jahr zarter, mit einem gutartigen Mondgesicht unter einem Pagenkopf glatter roter Haare. Ihre Schwester Athena saß in einer Ecke und las Anna Karenina. Sie war in der zwölften Klasse. Ein abgeklärtes Mädchen mit funkelnden Augen und von schrecklicher Schönheit. Wenn sie ging, war es, als ob sie schwebe, eine Halbgöttin aus einer anderen Welt. Sie war sieben Jahre älter als ich, und wenn sie mir mit meiner offenen Kinnlade zulächelte, brachte mich das Strahlen ihrer Zähne zwischen pflaumenfarbenen Lippen zum Zittern.

Myles erging sich über das Thema der Etymologie und den verwunderlichen, jedoch unausweichlichen Pfad, der zur Wurzel der gesamten Sprache und Kultur führe, welcher, wie sich herausstellte, Alt-Gälisch war, oder vielmehr Gaeilge, wie er sich selbst ausbesserte, das Wort Gälisch sei nichts anderes als eine weitere Anglisierung, die der Muttersprache der Poeten durch das perfide Albion angetan wurde, und er pausierte zeitweise, um die Ansammlung von Schleim hinten in seiner Kehle zu schlucken, denn niemand kann so lange reden, ohne ausspucken zu müssen, wenn es ihm nicht anders beigebracht wurde, und in dieser Pause lächelte er für einen Augenblick unbehaglich, als ob ihm seine eigene Redseligkeit bewusst wäre, und leicht verlegen, jedoch unfähig, sich selbst zu stoppen, oder wenigstens nicht willens, legte er ungeschickt, aber rasch, aus der Pause heraus wieder los, indem er schnell schluckte und dort weitermachte, wo er aufgehört hatte, während sich die Schlucktätigkeit noch immer nach unten fortsetzte, weil, wenn er noch einen Augenblick länger pausiert hätte …

Aber es war zu spät, Bill hatte bereits den Beginn aufgegriffen, um nur halb im Scherz zu sagen, Weißt du, was du bist, Myles? Du bist ein keltischer Rassist! Aber hey, fuhr er fort, bevor Myles protestieren konnte, das ist okay, ich mag diese Kelten. Verrückte Bastarde. Hast du jemals CaesarsGallischen Krieggelesen? Vercingetorix und sein Haufen? Jeder, der schreiend in den Kampf stürmt und nichts weiter an sich hat außer etwas Farbe, verdient Respekt. Weil wir gerade von französischen Kelten reden, von Galliern, rat mal, in welchem Wagen de Gaulle saß, als ihn die OAS zu ermorden versuchte? In einem 55er Citroën DS! Genau wie der, den ich hinten stehen habe. Man sagt, es war die Radaufhängung, die ihn gerettet hat. Obwohl die Reifen weggeschossen wurden, war der Fahrer in der Lage, aus dem Schleudern heraus zu beschleunigen und davonzukommen. Witzig, weil meine Aufhängung Schwierigkeiten macht – gerissene Strebe, aber ich habe einen Tipp für einen guten Schweißer bekommen. Kaum zu glauben, dass ich die Göttin damals während des Aufbaustudiums für dreieinhalb bekommen habe. Allerdings war damals ihr Motor hinüber …

Die ganze Zeit über machte ich mich an einer Flasche Starkbier zu schaffen, die ich vom Tisch entwendet hatte, und bald verlor ich auf dem Rindsleder, das die Klavierbank bedeckte, das Bewusstsein. Etwas später hörte ich schwach die Aufschreie wegen der leeren Flasche, die man von mir umklammert fand. Und noch später kam ich zu Hause in meinem Schlafzimmer zu mir.

Über mir und um mich waren rohe Fichten-Planken mit sporadischen Trägern an den Wänden angebracht und sie neigten sich unter dem Gewicht von Büchern. In meinem Blickfeld war der rote Rücken von Aufstieg und Fall des Dritten Reiches zwischen Im Atlantik verschollen und Die Jātaka-Erzählungen. Ich drehte meinen Kopf im Polster und sah wie gewöhnlich Reise zum Mittelpunkt der Erde, Die Halbgötter, Wie man das energieeffiziente Heim baut, Die drei Pfeiler des Zen, C. G. Jung für unterwegs, Die Reise des Maelduin, Das Tibetische Buch der Toten und Finnegans Wake. Die lange, durchhängende Reihe von Bänden hatte die stramme Unordnung von Zähnen. Sie trösteten mich; sie bedrängten mich. Ihnen gab pinke Glaswolle Rückhalt, die in einem Jupitersturm aus angetackerten Schichten matter Plastikfolie gefangen war. Mein Blick fiel auf die Bank neben meinem Bett, und indem ich das fluoreszierende Paar neuer Strümpfe und die neu geflickte Cordjeans und den sorgfältig gefalteten Velours-Sweater auf mich wirken ließ, erinnerte ich mich an die Quelle meines Elends, die mich veranlasst hatte zu trinken: Schule.

Die Claude-O.-Cote-Grundschule kauerte auf einer Betonplatte in einer Senke genau nördlich der zwei rivalisierenden Gemischtwarenläden der Stadt und genau südlich der Schottergrube. Sie war eine mit grauen Asphaltschindeln verkleidete Schachtel, deren untere Reihen von Generationen gelangweilter, schlecht ernährter Kinder abgenagt worden war. In ihrem dunklen Flur im Inneren beaufsichtigte ein Portrait von Mr. Cote seine Unterstützungsempfänger, wenn sie am Ende des Tages aus den Klassenzimmern schossen und um acht Uhr morgens wieder hineinschlichen. Jeden Morgen ertrugen wir stundenlange Gefangenschaft in stinkenden gelben Bussen, in denen sich die Jungen und Kleinen und Schwachen um die vorderen Sitze innerhalb der Reichweite des Fahrers bemühten, während die Gewalttätigen und Pubertierenden in die hinteren Reihen ausschwärmten, und ein Crescendo an Beleidigungen, Drohungen und Verführungen wurde durch das Brüllen des Fahrers abgewürgt, nur um in einem ständigen Kreislauf wieder aufzuwallen.

Das Chaos des Busses, das auf dem Parkplatz ausgeworfen wurde, konstituierte sich in subtileren, nach Alter getrennten Hierarchien innerhalb der mit Teppich ausgelegten hohen Klassenräume wieder neu. Dort bemühten sich die Lehrer vergeblich oder unnachgiebig oder liebenswürdig, die Flammen, die in uns brannten, zu ersticken, denn wir brannten und wussten es und betrachteten diese knirschenden Humanoiden als Boten einer leeren Zukunft. Ihre Stunden waren nichts weiter als Vorbereitung auf das Fegefeuer des Erwachsenseins. Oder etwas in der Art. In der Tat, woran ich mich erinnere, das sind die Eimer, die unter den lecken Decken platziert wurden, und die schlimmen Kids, die im Zickzack die Tröpfchen mit ihren Zungen auffingen. In der Zwischenzeit mussten wir das Läuten der Glocken, pädagogisches Gedöns und ritualisierte Schwüre erdulden, während die Stunden in ihre Tausendstel zermalmt wurden, in denen wir uns mit Gletschergeschwindigkeit, unmerkbar auf dieses klare, unerreichbare Ende-Juni-Licht zubewegten.

Ich wartete mit vorhersehbarem Schrecken auf September. Reifende Tomaten, tiefer stehende Sonne, länger werdende Schatten, erstes Blutkleeblatt versteckt im Grünen – alles Vorzeichen, die auf den Bus hindeuteten, in dem ich auf leiser Lautstärke das Radio-Geplätscher der Top Vierzig durchlitt, den Brechreiz, ausgelöst durch das endlose Halten und Anfahren und die Dieselabgase, die durch die Fenster hereinfurzten, mit jedem ratternden Hammerschlag, wenn die schwarzen Reifen gegen eine weitere gewaltige Frosthebung prallten. Die Flächen an Blaubeeren-Brachen, die vorbeiflogen, waren nichts weiter als äußere Manifestationen der Seelenlandschaft des Busses. Im Inneren herrschte das schmutzige Geplänkel von Kindern, die vor Kurzem von einem Begriff über Kopulation überwältigt worden waren. Noch weiter drinnen, in meinem Inneren, herrschte das jetzt vertraute Zur-Seite-Ziehen außerirdischer Schwerkraft, das mich schwebend in eine dunkle Metallbox verfrachtete, in der ich saß und dem Klang von Tauen, heiseren Schreien von Matrosen, dem verschlingenden Meer nachlauschte.

IN MEINER Metallbox warte ich. Rook kommt und geht mit Essen und meiner Toilette, einem verbeulten Blechtopf mit einem alten Teller zum Zudecken. Kein Licht, außer dem plötzlichen Sonnenschwall zusammen mit Rooks Visiten. Im Dunkeln, ohne etwas zu sehen, nichts zu tun, außer scheißen und essen und lesen, mit der Taschenlampe, die mir Rook herunterlässt, ein Exemplar von Du kommst nicht durch. Er sagt, es ist das einzige Buch, das er besitzt.

Ich sitze in mehrere Schichten von Decken eingehüllt da, nur mein Gesicht und meine Hände haben Kontakt zur bitterkalten Luft. Die Hände müssen frei sein – eine, um die Taschenlampe zu halten, und die andere für das Buch. Mein Atem dampft im dünnen Tunnel des elektrischen Lichts, das von den Seiten abprallt und meine kleine Box beleuchtet.

Der Raum ist zehn Bücher lang, sechs hoch und fünf breit. Dunkelheit und Angst verleihen mir Fledermausohren. Oder ich bin verrückt, weil ich anfange, dumpfes, fernes Gerede vom ganzen Schiff zu hören. Stimmen, die sich über Navigation Gedanken machen, einen Chor, der Oper übt, Klavierstimmen, etwas Geschrei, glücklich oder traurig? Und auch den hämmernden Motor. Radiosignale kommen und gehen, Senkbleie klopfen unter uns. Wenn das Schiff untergeht, gehe ich mit ihm unter.

Kartoffeln!, schreit jemand. Hast du sie gesehen? Die Stimme ist nah.

Dann schreit Rook, Nicht dort, NICHT DORT!

Aber es ist zu spät, die Falltür wird hochgezogen und eine intakte Sonne prallt auf mich herab.

Dunkle Augen starren zu mir hinab. Die Frau mit den Augen zieht mich in die blitzende Sonne. Sie ist jung, glatte Haare und Haut, nicht viel älter als Rook, aber die steile Flügelform ihrer Augen lassen sie erwachsener wirken. Sie denkt, ich sei eine Gefangene, sie macht sich um meine Gesundheit Sorgen. Ihr Name, sagt sie, sei Quill. Sie ist die Köchin und sie war auf der Suche nach Kartoffeln. Ich sage ihr, ich sei keine Gefangene, ich sei ein blinder Passagier und keiner wusste es.

Ich wusste es, sagt Rook.

Rook kann, wie sich herausstellt, nicht lügen, sogar wenn er in Schwierigkeiten gerät. Das ist entweder eine Tugend oder eine Schwäche, je nachdem. Jetzt gerade das erstere, meiner Meinung nach.

Quill ruft Severn, den Kapitän, herbei. Kapitän Severn ist groß, drahtig, die gelben Haare eine Fahne im Wind. Ich schätze, er ist Mitte vierzig, obwohl sein Gesicht gezeichnet ist, weil er Stürmen die Stirn bot, oder vielleicht vom Rauchen, dem er ohne Unterlass nachgeht. Quill legt ihre Hand auf seinen Arm, während sie erklärt, was passiert ist, und er bewegt sich nicht weg. Er wendet ihr seine schroffe Habichtsnase zu und seine harten blauen Augen fokussieren und werden sanft, als sie ihrem dunklen Blick begegnen. Ich erkenne einen zornigen Mann, der seinen eigenen Zorn hasst und ihn abschütteln will. Vielleicht hat Quill etwas damit zu tun. Jedenfalls ist er gütig, aber es ist schwierig für ihn. Und trotzdem bestraft er Rook mit Extraarbeit.

Jemand schreit, Sturmböe!

Im Westen eine dunkle Wand mit Blitzen. Severn beordert mich unter Deck, dann wendet er sich ab und brüllt Kommandos.

Ich kringle mich in eine leere Koje, um der Mannschaft aus dem Weg zu gehen. Über mir Schritte, Luken hämmern zu, das Schiff erbebt. Durch ein Bullauge beobachte ich, wie der Himmel schwarz wird.

Der Sturm kommt mich zu holen, scharfer, intensiver, wilder Tiergeruch, genau wie damals, als ich sah, wie die Kreatur meine alte Höhle betrat – sie folgt mir. Die Hinterseite meiner Kopfhaut brennt wieder.

Ich wende mich von dem Anblick ab, schließe meine Augen und nehme meine Bilder aus dem Regal.

Autounfall

grüner Warteraum

Planeten-Raum

Flüchtling

Axt, Vogel, Federn, Gedärme

Silbermünzen

sinkendes Boot

Kein gutes Bild, um jetzt daran zu denken. Und noch schlimmer, als ich die Bilder durchgehe, fehlt eines. Welches? Verzweifelt scharre ich danach in meinem Hirn. Was war es? Was war es?

Das Meer tut sich auf.

Wir tauchen samt den Blitzen und dem ganzen kreischenden Himmel zum Grund. Das Kreischen könnte jedoch auch von mir kommen. Schwierig, etwas zu hören über dem Donner, der überall rundherum hämmert.

DAS SCHLINGERN des Busses, der eine scharfe Kurve fuhr, brachte mich wieder ans Ende meiner Reise zurück.

Dann ging ich die steile Schotterstraße hinab, kickte gegen Steine und versuchte, fallende gelbe Pappelblätter aufzufangen, als Glücksbringer, aber kein Glück – und dann die kleine Brücke über die Mündung der Bucht, wo ich anhielt und einige Zeit über das Wasser starrte und mir an den glitzernden Wellenkämmen die Augen verbrannte, dann wendete ich mich in die andere Richtung zum Marschland, dessen Bäche durch den gigantischen Abzugskanal unter mir zur Bucht und weiter in den offenen Ozean flossen. Im Marschland formierten sich pralle Hagebutten und ein großer blauer Reiher breitete seine Flügel aus und schwebte in den Himmel.

Nun hetzte ich am leeren Farmhaus vorbei, wo blinde Fenster die Sonne spiegelten und im Wind zitterten und so zu einer Atmosphäre von verhaltenem Grauen beitrugen, das mich entlang des langen, schmalen Korridors der von knurrenden Wäldern gesäumten Straße verfolgte. Tief in den Bäumen versuchte jemand einen Motor zu starten, der, obwohl er tapfer dröhnte, es nicht schaffte, sich hustend Leben einzuhauchen, daher wurde das Geräusch leiser und versiegte. Bis ins Erwachsenenalter war ich überzeugt vom mechanischen Ursprung des Geräuschs und bewunderte, bemitleidete, hasste die Beharrlichkeit des mysteriös unfähigen Besitzers des Motors, der nie anspringen konnte. Dann, eines Tages, während ich in den Wäldern pinkelte, sah ich einen Vogel, ein Moorhuhn, das den Boden mit den Flügeln schlug, und das Geräusch, das es machte, war das Geräusch des unwilligen Motors.

Ich war abgelenkt von einem dunklen Umriss im Gebüsch und einen Augenblick lang dachte ich, es wäre mein Kater Schatten. Aber ebenso rasch erinnerte ich mich, dass er tot war, und unterdrückte den Schmerz, der folgte.

Ich bog in die Einfahrt ein und hörte ein Schreien aus dem Haus. Die Stimme meiner Mutter, tobend. Indem ich so leise wie möglich zum offenen Küchenfenster ging, blieb ich aus der Sicht und lauschte.

Ich werde nicht sterben !, schrie sie.

Ich habe nicht gesagt, dass du sterben wirst, sagte Myles ruhig.

Ich habe einen Sohn! Einen elfjährigen Sohn – ich kann nicht sterben!

Der Arzt hat nicht gesagt, dass du stirbst. Er hat gesagt, es sei ernst – sehr ernst –, und wir müssen über alle Möglichkeiten nachdenken.

Ich muss ein Kind großziehen, sagte Iris, und ihre Stimme klang mörderisch. Ich sterbe nicht.

Sie stapfte aus dem Haus, schlug die Tür hinter sich zu und ging Richtung Garten.

Ich schleiche mich zum Plumpsklo davon, obwohl ich es nicht benützen muss. Eine winzige Ansammlung alter Planken und Pfosten mit Blechdach, stand es etwa fünfzig Fuß von unserem Haus entfernt, mit einer türlosen Öffnung, die auf die Wälder schaute. Ich saß auf dem geschlossenen Deckel und betrachtete das Gebüsch und die Bäume. Wo Forste frisch geschlägert sind, sehen die Grenzen zerklüftet und ungeschlacht aus, zu Unrecht entblößt wie eine Schicht zerrissener Haut. Trotzdem schienen es die Meisen und Finken und Rothörnchen zu genießen – von Wurzel zu Zweig hüpfend in ihrem Krieg um Kiefernzapfen. Artemis erzählte mir, sie habe einmal gesehen, wie ein Hörnchen den Kopf einer lebenden Babymeise aß, während dessen Mutter vergeblich von oben angriff. Jetzt gab es hier kein solches Blutbad zu sehen, nur Gezwitscher und Gehopse, Balgereien. Ein paar Moskitos machten halbherzige, weinerliche Annäherungsversuche in der fröstelnden Luft, auf der Suche nach einem letzten Blutmahl, bevor sie zur Vergessenheit erfroren.

Ein tiefes Grunzen und plötzliches Krachen zu meiner Rechten schreckten mich auf, in eine aufrechte Position, sodass ich Geweih und Hinterteil eines weißschwänzigen Bocks im Gebüsch verschwinden sah. Was dachte ich? Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich versuchte, es nicht zu tun. Würde Iris verschwinden wie Schatten? Und wenn ja, was würde ich dann tun? Jetzt gab es in meinem Magen ein leeres graues Loch und all meine Gedanken schlitterten, zusammen mit dem Rest meines Lebens, hinein. Ich fühlte Druck auf meiner Brust – der alte Seufzer um Schatten kam hoch. Ich würde entweder explodieren oder in das graue Loch kollabieren. Vielleicht zuerst explodieren, dann implodieren. Um beiden Katastrophen auszuweichen, sprang ich auf, hievte meinen Rucksack auf eine Schulter und machte mich auf in den Garten.

Iris kniete zwischen ihren Tomatenpflanzen, wütend jätend, leise weinend, daher setzte ich mich neben sie hin.

Ich weiß, dass du krank bist, sagte ich sachlich, ich habe dich zuvor gehört.

Sie sah mich konzentriert an, lehnte sich dann nach vorne und zog mich zu sich.

Ich verlasse dich nicht, sagte sie in mein Ohr und ihre Stimme klang so grausam, dass ich ihr glaubte.

Sie wollte, dass ich ihr von der Schule erzähle, aber stattdessen erzählte ich ihr von meiner letzten Vision. Sie wischte ihre schmutzverkrusteten Hände im Gras ab, packte die Olivetti aus, die sie nun genau aus diesem Grund die ganze Zeit mit sich herumtrug, und begann zu tippen.

Während ich sprach, sah ich ihren Fingern zu, wie sie die Tasten mit rascher Kraft anschlugen. Dieses rhythmische, sichere Getrommel zählt zu meinen lebhaftesten Kindheitserinnerungen. Das Geklapper des stählernen Alphabets, welches Wörter in einer zuverlässigen Unkenntlichkeit der Bewegung auf knisterndes Papier übertrug, begeisterte mich mehr als jede Musik, glaube ich, mit Ausnahme der Frühlingspfeifer, die im Sumpf neben uns weinten. Vermutlich auch der Ruf der Einsiedlerdrossel, und nicht zu vergessen, wenn ich schon dabei bin, Grillen. Aber diese Geräusche waren saisonal, wohingegen Iris das ganze Jahr über tippte. Sie tippte Geschichten, die sie zuerst mit der Hand schrieb. Sie tippte kurze Sachen für die Zeitung. Sie tippte Gedichte und Essays und Papiere für Myles.

Im Garten waren für diese zwanzig Minuten alle anderen Klänge durch meine eigene Vor-Stimmbruch-Stimme in meinem Ohr und das Hämmern der Olivetti zum Verstummen gebracht. Die gebräunten Backenknochen meiner Mutter, ihre gebrochene Nase, ihr bogenförmiger Mund, geschürzt in Konzentration, ihre Augen, blau-grau, und ihre blonden Strähnen, die aus den Haarnadeln rutschten, alles war fokussiert auf meine Geschichte, die aus der Dunkelheit in das trockene Herbstlicht hinausstolperte. Vielmehr würde ich das gerne sagen können, aber erst viele Jahre später konnte ich meine Mutter als jemanden anderen als mich selbst sehen. Und es würde auch viele Jahre dauern, bis ich die Gestalt jener Geschichte, die ich ihr erzählte, oder vielmehr die Gestalt, in der ich sie ihr und Myles erzählte, sehen konnte – dass sie als Jux anfing, beginnend mit diesem Tag aber immer belastender wurde, je tiefer wir drei mit meiner Lüge verbunden waren. Um ehrlich zu sein, war es trotzdem ein Vergnügen, mich an der Aufmerksamkeit meiner Mutter zu weiden, sogar als die Tränen auf ihrem Gesicht trockneten, denn in diesen frühen Tagen entschloss ich mich, ihrer Ankündigung, dass sie nicht sterben werde, zu glauben. Nein, es war unmöglich, dass sie sterben könnte.

Als ich fertig war, erhoben wir uns, Schreibmaschine und Blätter in Händen, und gingen langsam zurück zum Haus, hielten in unserem Vorwärtskommen an, um die späten neuen Blüten der Ringelblume zu bemerken und die Gurken, belagert von Schnecken. Iris bückte sich, um sämtliche gelben Körper von einem zerfransten Blatt zu picken und sie grimmig in die Wälder zu schleudern, und wischte sich an einem Haufen ausgerissenen Unkrauts den Schleim von ihren Händen. Aber sie zügelte rasch ihr Temperament und stimmte mir zu, dass die blauen unter den chinesischen Vergissmeinnicht stark an die Lapislazuli-Ohrringe erinnerten, die ihr Myles einige Jahre vor meiner Geburt geschenkt hatte, die sie aber niemals trug, aufgrund der fehlenden Löcher in ihren Ohren.