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In diesem Buch von Hauke Burgarth berichten Männer schonungslos und ehrlich von den Tiefpunkten ihres Lebens. Offen erzählen sie von Lebenskrisen, von geplatzten Träumen, von Ehekrisen, vom Scheitern im Beruf und von gesundheitlichen Katastrophen, die ihr Leben aus der Bahn geworfen haben. Sie schreiben darüber, wie sie ihre Lebenskrisen durchlebt und überlebt haben. Was hat ihnen in den schwersten Zeiten wirklich geholfen und welche Rolle hat der christliche Glaube dabei gespielt, dass sie heute eine neue Hoffnung und neue Perspektiven für ihr Leben haben. Diese authentischen und inspirierenden Geschichten machen Mut und geben Hoffnung. Sie erzählen von echten Erfahrungen und einem Glauben, der auch in schwierigen Zeiten neue Perspektiven ermöglicht.
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Seitenzahl: 224
Veröffentlichungsjahr: 2025
Hauke Burgarth
Wahre Geschichten von Krisen, Umwegen und neuen Perspektiven
Hauke Burgarth (*1964) ist freiberuflicher Lektor, Autor und Pastor. Ehrenamtlich engagiert er sich für ein christliches Hilfswerk. Der gebürtige Hamburger lebt heute in der Nähe von Gießen. Er ist verheiratet mit Eva-Maria. Die beiden haben vier erwachsene Kinder und drei Enkel. Er schwärmt für Kunst, Bücher und gute Gespräche. In seiner Freizeit fährt er außerdem gern Motorrad, am liebsten auf bergigen und kurvenreichen Nebenstrecken.
© 2025 Brunnen Verlag GmbH
Gottlieb-Daimler-Str. 22, 35398 Gießen
www.brunnen-verlag.de
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Lektorat: Stefan Loß
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
Umschlagillustration: WITTAYA/Adobe Stock
Druck: CPI books GmbH, Leck
Gedruckt in Deutschland
ISBN Buch: 978-3-7655-3345-7
ISBN E-Book: 978-3-7655-7741-3
Lange
habe ich Gott
die Scherben meines Lebens
entgegengestreckt.
Bitte!
Heile mich!
Mach mich neu!
Immer
war Gottes Antwort
Schweigen.
Jetzt
sehe ich,
dass die Scherben
unverändert da sind.
Aber
jede Einzelne von ihnen
spiegelt Gottes Liebe,
sein gesamtes Wesen.
Hauke Burgarth
Muss das sein?
Martin: Blindes Vertrauen
Richard: Andere schaffen’s doch auch
Ingmar: Ausgerechnet Pfarrer!
Ruben: Von der Kanzel in den Führerstand
Hauke: Alkoholprobleme haben andere
Uli: Da war gar nichts vorgezeichnet
Thomas: Von geplatzten Träumen
Joe: Familienbande – fast eine biblische Geschichte
Udo: Manchmal war ich nicht ich
Ewald: Von der Bank auf die Bühne
David: Skispringen war mein Leben
Martin: Was bleibt, wenn wenig bleibt?
Manuel: Tausche Krisen gegen Krieg
So viel Zeit muss sein …
„Warum muss es in deinem Buch denn unbedingt ums Scheitern gehen? Das klingt so negativ. Könntest du es nicht ‚Neuorientierung‘ nennen?“
Das könnte ich.
Aber ich will es nicht.
Denn dieses Denken ist Teil eines gesellschaftlichen Problems, das bis zu dir und mir reicht. Rate mal: Welches Land hat die miserabelste Fehlertoleranz weltweit? Nein, es ist nicht Deutschland, sondern Singapur. Aber wir kommen direkt danach auf Platz zwei. Offensichtlich haben wir ein Problem damit, uns selbst und anderen einzugestehen, dass wir einen Fehler gemacht haben oder gescheitert sind. Beides hängt eng zusammen. Das betrifft Männer, Frauen, alle – obwohl Männer sich damit scheinbar besonders schwertun.
Scheitern heißt, ein Ziel nicht zu erreichen und sich von Wünschen, Plänen und Träumen zu verabschieden. Und zwar endgültig. Das hört sich nie gut an. Aber unabhängig von irgendwelchen Schuldfragen ist es etwas, das jedem immer wieder passiert. Vieles kann scheitern: Träume und Ziele, Freundschaften und Ehen, Koalitionen und Karrieren.
Und wie ist das, wenn man scheitert – wenn ich gescheitert bin?
Erst einmal bist du dann in guter Gesellschaft: Ein erfolgloser Kapitän wie Christoph Kolumbus setzte ein Vermögen in den Sand und verfehlte sein Zielland Indien völlig. Der Garagenbastler Steve Jobs scheiterte gründlich, als er versuchte, seinen Computer „Lisa“ zu vermarkten. Allerdings war für die beiden das Leben damit nicht zu Ende, denn sie waren ja einfach nur gescheitert. Und die Wenigsten verbinden diese beiden heute noch mit ihren Misserfolgen …
Nun sind du und ich weder Weltentdecker noch Milliardäre – ich jedenfalls nicht –, deshalb habe ich für dieses Buch mit ein paar Männern über ihr Leben geredet, inklusive ihrer eigenen Erfahrungen des Scheiterns. Persönliches Versagen kommt hier genauso zur Sprache wie unvorhergesehene Umstände, die niemand einplanen konnte. Ich habe sie auch gefragt, welche Rolle Gott dabei für sie spielt. Manches hat eine Lösung gefunden, einiges (noch) nicht. Alle Berichte machen deutlich, dass das Leben nie aus unserem Scheitern besteht, sondern aus dem, was wir daraus machen. Auch meine eigene Geschichte findet ihr in diesem Buch, denn auch ich habe Scheitern erlebt. Aber dazu später mehr.
Vielleicht fällt es dir leicht, von deinem eigenen Scheitern zu erzählen. Vielleicht tust du dich auch schwer damit. Wer erzählt anderen schon gerne von seinen Misserfolgen, Krisen und Niederlagen? Hier kannst du einfach einmal zuhören. Und du wirst merken, dass es guttut, wenn andere nicht nur ihre Erfolgsgeschichten präsentieren, sondern auch diejenigen auspacken, bei denen sie nicht gut aussehen. Dabei steht am Ende jeder dieser Geschichten keine peinliche, hilflose Stille, sondern Hoffnung. Kein Versagen, sondern Leben. Denn Gott ist schon immer derjenige gewesen, der mitten in Fehlschlägen neue Perspektiven schenkt. Beleg dafür ist eine Geschichte, die in biblischen Zeiten spielt und die ich für dieses Buch nacherzählt habe.
Alles beginnt damit, dass ich vor mir selbst, vor anderen Menschen und vor Gott ehrlich werde. Nicht nur in dem Sinne, nichts Unwahres zu sagen, sondern auch keine falsche Stärke vorzuspielen. Ausgerechnet der scheinbar so erfolgreiche Paulus gibt in seinem ersten Brief an die Korinther (1. Korinther 2,3) zu: „Als ich zu euch kam …, war ich schwach und elend und zitterte vor Angst.“ Helden sehen anders aus, aber wer authentisch ist, schlägt Brücken zu anderen Menschen.
Wenn es andere betrifft, sagen wir: Scheitern gehört zum Leben dazu. Aber das gilt für dich und mich genauso! Ich wünsche mir, dass du erkennst, dass die Welt nicht untergeht, wenn du etwas in den Sand setzt. Und das wirst du! Dass du aber genauso siehst, dass Jesus an deiner Seite ist und nicht peinlich berührt wegschaut, wenn du am Boden bist. Und dass du am Ende anderen von deinem ganzen Erleben inklusive deines Scheiterns erzählen kannst und sie sagen: „Danke! Das hat mir Mut gemacht.“
Pohlheim, im Januar 2025
Hauke Burgarth
Einen der bekanntesten alten Griechen hat es wohl in Wirklichkeit nie gegeben: Damokles. Genau: Das war der mit dem Schwert. Sein Beispiel zeigt bis heute, dass das gute Leben, das man führt, schnell vorbei sein kann.
Damokles soll ein Bediensteter von König Dionysios aus Syrakus gewesen sein. Ständig äußerte er sich begeistert und überschwänglich über seinen König und ließ gleichzeitig durchblicken, dass er selbst auch gern so glücklich wäre, auf dem Thron zu sitzen. Irgendwann konnte der Monarch es nicht mehr hören und räumte seinen Platz. Vorher ließ er jedoch ein Schwert über dem Thron anbringen, das nur mit einem Pferdehaar befestigt war. Ganz klar: Irgendwann würde das reißen. So hatte Damokles sein Ziel erreicht und fühlte sich doch nicht wohl mit dem Schwert über seinem Kopf. Die Lektion des Königs, dass jedes Glück enden kann und auch wird, kam bei ihm an. Er gab dem Herrscher seinen Platz zurück und beklagte sich nicht mehr. Das Damoklesschwert wurde als Synonym für drohendes Unheil sprichwörtlich.
Martin kennt diese Geschichte. Immer wieder sprachen andere davon, dass auch über ihm ein Damoklesschwert hängen würde, doch eigentlich stimmte das nicht. Da hing zwar eine Bedrohung über seinem Leben, doch er konnte ihr nicht ausweichen. Er konnte nicht sagen: Alles klar, ich habe meine Lektion gelernt. Setzt das Leben wieder auf „Start“ und lasst mich noch einmal von vorne anfangen.
Als er 1972 in Helmstedt geboren wurde, gab es die deutsch-deutsche Grenze noch. Wenige hundert Meter hinter dem Haus seiner Eltern endete die Welt für ihn. Er hörte schon früh: „Vorsicht! Geh nicht zu nah an die Grenzanlagen.“ Dort standen Zäune, der sogenannte Todesstreifen und Wachtürme mit Soldaten, die alles durch ihre Ferngläser beobachteten. Gleichzeitig war die Autobahn A2 Richtung Marienborn eine wichtige Verbindungsstrecke in die DDR hinein. Das alles war damals für ihn allgegenwärtig und normal.
Martin war das Jüngste von fünf Kindern. Stärker als Grenzzaun und Todesstreifen beschäftigte sie als Familie eine erbliche Augenerkrankung, die vier der Kinder betraf. Sie hatten schon früh Sehprobleme, und es war klar, dass sie irgendwann erblinden könnten. Während andere Jungs in seinem Alter sich nie irgendwelche Gedanken um körperliche Einschränkungen machen mussten und sich nur fragten, ob sie lieber so gut wie Karl-Heinz Rummenigge oder wie Rudi Völler Fußball spielen wollten, kannte Martin seinen „Gegner“ bereits mit lateinischem Namen: Retinitis Pigmentosa. Und er wusste, dass diese Netzhautdegeneration dafür sorgen würde, dass er immer schlechter und irgendwann wahrscheinlich gar nicht mehr sehen könnte.
Daheim war das immer mal wieder Gesprächsthema, aber es bestimmte nie das Klima. „Du wirst deinen Weg gehen, die Schule abschließen und einen Beruf ergreifen. Dabei wird vieles geschehen, was dir nicht gefallen wird, aber so ist das im Leben. Es wird auch viel Schönes geschehen, worüber du dich freuen kannst.“ Sätze wie diese hörte Martin von seinen Eltern immer wieder. Sie packten ihre Kinder nicht in Watte, erlaubten ihnen so viel wie möglich und förderten sie, so gut es ging.
Das begann in der katholischen Kirchengemeinde, wo Martin selbstverständlich an allen Kinderaktionen teilnahm. Wenn es mit den Pfadfindern ins Gelände ging, stellte sich nie die Frage: „Kann der Junge mitkommen?“ Stattdessen ging es darum, wie Draußensein, Zelten und Geländespiele trotz seiner Einschränkung auch für ihn gute Erfahrungen werden konnten. Ähnliches galt für Martins Lieblingsort: Kurz vor der Grenze lag der Bauernhof einer befreundeten Familie. Er liebte es, dort zu sein. Wann immer es ihm möglich war, half er bei der Ernte mit, arbeitete in der Scheune oder ritt mit dem Pony aus. Die Frage „Darf ein Kind, das nicht gut sieht, so etwas machen?“ stellte sich nicht. Sogar Prinz, das Pony, schien zu verstehen, dass seine Augen eben für dieses Kind mitsehen mussten.
Deutlich schwieriger war das Leben in der Schule. Mit dem Unterrichtsstoff kam Martin gut zurecht, aber seine Mitschüler und auch etliche Lehrer konnten nicht gut damit umgehen, dass er für manches länger brauchte, weil er zum Beispiel immer wieder an die Tafel gehen musste, um zu erkennen, was dort stand. Er brauchte schon in der Grundschule Sehhilfen: große Lupen, um Bilder und Texte zu erkennen, und eine starke Lampe am Platz, damit er genug Licht zum Sehen hatte. Regelmäßig zogen seine Mitschüler hier den Stecker heraus. Wenn Martin etwas vorlesen sollte, ging die Lampe nicht an und er musste erst einmal aufstehen und den Stecker wieder einstecken. Das gab jedes Mal Gelächter in der Klasse. Wenn er am Ende des Schultags seine Sachen zum Klassenschrank trug, damit sie eingeschlossen werden konnten, stellten ihm manche ein Bein oder schoben ihren Ranzen so in den Gang, dass er darüber stolpern musste. Er litt unter diesen dauernden Bosheiten.
Die Lehrkräfte reagierten kaum auf solche Schikanen. Sie taten sich auch schwer damit, ihn in den Unterricht zu integrieren, wenn es um mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen ging. Oft saß Martin einfach nur daneben und konnte nicht mitmachen, etwa wenn im Sport Ballspiele auf dem Programm standen oder im Kunstunterricht eine Zeichentechnik verlangt wurde, die Martin mit seinem eingeschränkten Sehvermögen nicht umsetzen konnte. Eine echte Förderung war nicht möglich. Mehr und mehr realisierte Martin: Hier bin ich nicht richtig.
Das Mobbing blieb nicht auf den Klassenraum begrenzt. Ein Mitschüler lauerte ihm regelmäßig auf dem Schulweg auf, beschimpfte ihn als „Scheißblinden“ schlug, trat und bespuckte ihn und schubste ihn auch auf die Straße. Woher kam dieser Hass? Martin wusste es nicht. Er fühlte sich hilflos und ausgeliefert. Wie sollte er als Kind damit umgehen? Zum Glück für ihn bekam ein anderer Junge diese Szenen mit. Er holte ihn daraufhin morgens ab und begleitete ihn zur Schule, und auch mittags liefen sie meist zusammen und er beschützte ihn. So litt er einerseits unter den Anfeindungen oder der Ignoranz von Menschen, erfuhr aber gleichzeitig, dass sich andere immer wieder an seine Seite stellten und für ihn da waren. Wenn er frustriert oder mit Kopfschmerzen von der Anstrengung nach Hause kam, fühlte er sich daheim immer angenommen und willkommen. Dabei spielte auch Gott eine selbstverständliche Rolle, denn seine Eltern segneten ihn morgens und zeichneten ihm dazu ein Kreuz auf die Stirn, abends sprachen sie ein Nachtgebet mit ihm. Selbst wenn er immer wieder Schwierigkeiten erlebte, wusste Martin: Ich bin nicht allein.
Nach der Grundschule und der Orientierungsstufe war jedoch klar, dass er in diesem Umfeld nicht bleiben konnte. Mit vierzehn Jahren kam er ins Landesbildungszentrum für Blinde, ein Internat in Hannover. Den Umzug dorthin erlebte er nicht als schmerzhafte Trennung, sondern als großen Schritt in die Freiheit. Hier war er kein Außenseiter, sondern einer von vielen. Die Lehrerinnen und Lehrer waren geschult und erfahren im Umgang mit Augenerkrankungen wie seiner und kamen damit zurecht. Hier wurde er nicht mehr ständig mit dem konfrontiert, was er nicht konnte. „Was bringst du mit? Was kannst du – und vor allem: Was willst du?“ Das wurden leitende Fragen im Unterricht. Zusätzlich lernte Martin Schlagzeug und Klavierspielen. Er kämpfte im Judo, ruderte und konnte auf einer besonders präparierten Laufbahn Langstrecken laufen. Plötzlich merkte er, dass er viel mehr konnte, als er bisher gedacht hatte. Aber er lernte auch, aktiv mit seiner Behinderung umzugehen. Noch hatte er einen Rest Sehstärke, doch selbstverständlich musste er Blindenschrift lesen und schreiben lernen.
Nach seinem Realschulabschluss zog Martin weiter an die „blista“, die Blindenstudienanstalt in Marburg. Hier startete er richtig durch. Er besuchte die Oberstufe und lernte parallel, seinen Alltag als Blinder in einer Welt der Sehenden zu bewältigen. Das begann bei der Wohnungseinrichtung und dem Kochen und hörte beim Unterwegssein im Straßenverkehr noch längst nicht auf. Niemand musste hier einem anderen die eigene Situation erklären. „Wir waren Freunde, Schule und Selbsthilfegruppe in einem“, beschreibt Martin diese Zeit. Nach dem Abitur flossen Tränen, denn die dreißig Schülerinnen und Schüler seines Jahrgangs verteilten sich auf ganz Deutschland, um weiterzulernen oder zu studieren. Martin zog nach Braunschweig und schrieb sich als erster Blinder an der Technischen Universität für Biologie ein. Er wollte schon immer wissen, wie das Leben funktioniert, also hatte er sich für dieses Fach entschieden.
Hier begegnete er wiederum Menschen, die ihm vieles möglich machten, und anderen, die gar nicht mit seiner Behinderung klarkamen. Zu Beginn besuchte er in Braunschweig eine Studienberatung für Menschen mit Behinderung. Die hatten keine Vorstellung, was sie mit ihm anfangen sollten. „Wissen Sie“, hörte er dort, „Sie sind der erste Blinde, der sich hier an der Uni für Biologie eingeschrieben hat. Aber wir haben hier ein Din-A4-Blatt, auf dem ein paar allgemeine Hinweise stehen – die wichtigsten haben wir für Sie angekreuzt …“ Martin kannte solche Hilflosigkeit gut; sie begegnete ihm nicht zum ersten Mal. Aber das hier war immerhin eine spezielle Beratungsstelle!
Trotz dieser mangelhaften Unterstützung bewältigte Martin sein Studium. Über Eingliederungsbeihilfen für Schwerbehinderte konnte er Assistenzleistungen beantragen. Diese betrafen zum einen die notwendigen Geräte. Als Biologe muss man regelmäßig mikroskopieren, doch das war für Martin schlichtweg nicht möglich. So erhielt er ein speziell für ihn ausgestattetes Mikroskop mit integrierter Kamera, bei dem er sich an einem Bildschirm alles entsprechend vergrößert und kontrastreich ansehen konnte. Zum anderen betraf das auch die personelle Begleitung: Er bezahlte mit Fördergeldern Kommilitonen, die ihn begleiteten und in seinem Studienalltag unterstützten. Diese Helfer assistierten ihm während des gesamten Studiums. Nach dem Vordiplom verschlechterte ein neuer Schub jedoch seine Sehkraft, sodass er das Mikroskop nicht mehr nutzen konnte.
Der neuerliche Krankheitsschub war ein schwerer Schlag für Martin. Wieder einmal musste er sich auf eine veränderte Situation einstellen. Bis dahin konnte er sich zum Beispiel draußen im Dunkeln an den Straßenlaternen orientieren. Wenn er deren helle Lichtpunkte in einer diffusen Linie über sich sah, dann wusste er, dass in gleicher Richtung daneben der Bürgersteig verlief. Jetzt musste er sich ausschließlich mit seinem Blindenstock orientieren. Er studierte weiter, aber immer mehr der bisherigen Hilfsmittel verschwanden von seinem Schreibtisch. Er konnte sie nicht mehr gebrauchen und musste lernen, andere Hilfen zu nutzen wie Blindenschrift oder Vorleseprogramme.
Richtig bitter wurde es, als ein Professor ihn aus dem Studium herausklagen wollte. Er sah den Qualitätsstandard seines Studienfachs durch den blinden Studenten gefährdet und sprach davon, dass eine Arbeit im Labor für Martin nicht möglich beziehungsweise sogar gefährlich sei. Er solle die Universität verlassen. Letztlich solidarisierten sich viele andere Studierende und auch Professoren mit ihm und protestierten gegen seinen Ausschluss von der Uni: Er konnte bleiben.
„In solchen Situationen war ich voll im Kampfmodus“, erklärt Martin im Rückblick die Energie, die er gegen alle Widerstände in sein Studium steckte. „Das muss man als Blinder auch sein, um sich Sachen zu erstreiten, die für andere selbstverständlich sind.“
An Gott ließen ihn weder der neuerliche Krankheitsschub noch der Professor zweifeln, der gegen ihn arbeitete. Das Wissen „Gott ist da“ war etwas, das ihn die ganze Zeit hindurchtrug. Doch eines tat Martin nie: Er betete nicht um Heilung. Andere sprachen ihn auch damals schon an: „Glaubst du nicht, dass Gott dich gesund machen kann?“ „Was meinst du damit?“, fragte er dann zurück. „Ich habe eine Erbkrankheit, die nicht heilbar ist. Ich kenne ihren Verlauf, kann nur nicht sagen, wie schnell die Krankheit voranschreitet. Aber Heilung hat ja noch eine andere Dimension: Für mich heißt es, dabei zu sein, arbeiten zu können, mein Leben anzunehmen und viel Schönes zu genießen.“
Sein Interesse an den Naturwissenschaften wurde kein Ersatz für sein Vertrauen auf Gott, „Gut möglich, dass meine Augenkrankheit eines Tages medizinisch geheilt werden kann“, meint Martin, der weiß, dass in Göttingen daran geforscht wird, „aber diese Krankheit gehört zu mir.“ Trotz seines immer schlechter werdenden Sehvermögens hatte er damals entschieden: Ich will mich nicht mit Fragen quälen wie „Was habe ich falsch gemacht, Gott?“ So sah sein Glaube nie aus. Stattdessen dachte er an das biblische Bild vom guten Hirten, dem er sich gern anvertraute – und war schon immer glücklich damit.
„Du bist doch sehr reflektiert“, hörte er oft, wenn das Gespräch in diese Richtung ging. „Warum ist dein Glaube dann so naiv?“ Die Antwort liegt in Martins Prägung als Kind und Jugendlicher. In seiner Pubertät kannte er Phasen, in denen er mit dem Gott seiner Eltern nicht viel anfangen konnte, wo er keinen Bock auf Kirche hatte, doch diese Zeiten dauerten nie lange an. Kirche und Gemeinde halfen ihm immer, mit Gott, ja, mit dem Leben selbst in Verbindung zu bleiben. Deshalb lächelt Martin bis heute, wenn er antwortet: „Naiv? Nein, ich würde es ein unverbrüchliches Urvertrauen nennen.“
Das begleitete ihn durchs gesamte Biologiestudium, wo er sich oft als jemanden erlebte, der dem Lebensspender und Schöpfer selbst auf der Spur war. Bei allem, was er entdeckte, lernte er neu zu staunen. Die Wissenschaft führte ihn letztlich immer wieder hin zu Gott.
Mit seinem Diplom in der Tasche zog Martin zurück in die alte Heimat, nach Helmstedt. Dreizehn Jahre lang war er für Schule und Studium weggewesen. Die Zonengrenze war inzwischen Geschichte. Er fand eine kleine Wohnung und eine Stelle bei einem regionalen Naturschutzverband und wurde dort Geschäftsführer. Hier engagierte er sich dafür, Streuobstwiesen wiederherzustellen und neu anzulegen und so Kulturlandschaften und Artenvielfalt zusammenzubringen.
Dort erwischte ihn der nächste Schub seiner Krankheit. Abends hatte er noch per Fax ein paar Bäume bei der Baumschule bestellt, aber als er am nächsten Tag noch einen Blick auf den Auftrag werfen wollte, konnte er ihn nicht mehr entziffern. Über Nacht hatte sein Sehvermögen noch einmal dramatisch abgenommen. „Gott“, meinte er daraufhin, „wenn ich nun blind bin, dann musst du mir jetzt auch zeigen, wie es weitergeht.“ Nach der ersten Trauer über diesen Verlust des letzten Restes an Sehstärke merkte er, dass er genug Vertrauen in Gott und auch in seine eigenen Fähigkeiten hatte. Trotzdem stellte sich Martin die Frage, ob er im Naturschutz auf Dauer den richtigen Arbeitsplatz haben würde.
Längst engagierte er sich wieder in seiner alten Kirchengemeinde. Hier arbeitete er ehrenamtlich als Pfadfinderleiter mit und tat auch sonst einiges. Dabei realisierte er, dass er Gaben hatte, die in der Gemeindearbeit gut zum Tragen kamen. Ob die Kirche sein Arbeitgeber werden könnte? Kurz überlegte er, ob das Priesteramt für ihn das Richtige wäre. Mitten in diese Gedanken hinein lernte er eine Frau kennen und lieben. Damit rückte seine Idee, Priester zu werden, erst einmal in weite Ferne. Aber der Gedanke an das Theologiestudium ließ Martin nicht los. Schließlich gab es einen Impuls von unerwarteter Seite: Das Naturschutzprojekt konnte nicht länger aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, deshalb wurde seine Stelle gestrichen.
Er tat das, was man so macht, wenn man arbeitslos zu werden droht: Er stellte sich beim Arbeitsamt vor. Wieder einmal hatte er mit Menschen zu tun, die ihm hilflos gegenüberstanden. Was sollten sie mit ihm anfangen? Sie schickten ihn weiter zu einer Berufsberatung für Menschen mit Behinderung, doch auch dort konnte man ihm nicht weiterhelfen. Der Sachbearbeiter tröstete ihn allerdings mit den Worten: „Aber eins können wir Ihnen versprechen: Wenn Sie arbeitslos werden, dann müssen sie nicht jeden Monat einen Termin machen und ins Amt kommen.“
Martin wurde nicht arbeitslos. Er nutzte die Gelegenheit, sich in Sankt Augustin im Rheinland für katholische Theologie einzuschreiben und studierte noch einmal fünf Jahre lang. Er musste ja kein Priester werden; es gab auch andere Möglichkeiten, innerhalb der Kirche zu arbeiten. Martin genoss die internationale Atmosphäre an der Hochschule und erhielt prägende Impulse von Christen aus der ganzen Welt. Inzwischen hatte er geheiratet und zog mit seiner Frau nach Troisdorf bei Bonn. Nach dem Vordiplom begann er parallel zum Theologiestudium die Ausbildung zum Diakon. So konnte er verheiratet sein und trotzdem in der katholischen Kirche theologisch beziehungsweise seelsorgerlich arbeiten, denn dieser Schwerpunkt zeichnete sich schon bald ab. Martin und seine Frau bekamen drei Kinder. Nach seinem Studium zogen sie in den Norden nach Stade bei Hamburg. Im Alter von fünfunddreißig Jahren wurde er zum Diakon geweiht. Er arbeitete in der Seelsorge, begleitete Menschen in Lebenskrisen, war Altenheimseelsorger sowie in Behinderteneinrichtungen und in der Krankenhausseelsorge unterwegs. Die Arbeit erfüllte ihn. Sein Leben war schön, auch wenn er inzwischen nichts mehr sehen konnte.
Nach acht Jahren wurde er nach Göttingen versetzt, wo er bis heute wohnt und arbeitet. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden Einzelseelsorge und Gemeindeentwicklung. Dabei spielt seine Behinderung oder einfach das Verständnis für Menschen, die „anders“ sind, immer wieder eine große Rolle. Wer seine Hilfe sucht, weiß, dass er zu jemandem kommt, der keinen geraden und einfachen Lebensweg hatte. Dadurch fassen viele Mut und stellen ihm die Fragen, die sie sonst vielleicht für sich behalten hätten.
Im Jahr 2014 stellte ihn das Leben vor eine neue Herausforderung, denn seine Ehe scheiterte. Gerade als Seelsorger wollte er lange nicht anerkennen, dass seine Ehe nicht mehr zu retten war, doch auch mit professioneller Unterstützung durch Paartherapeuten konnten die beiden keine tragfähigen Lösungen zu Rettung ihrer Ehe finden. Sie trennten sich ohne gerichtliches Drama voneinander. Trotzdem erlebten sie das, was viele Paare mit Kindern durchmachen: dass es einen Riss durch die Familie gibt. Der älteste Sohn zog bei Martin ein, und die beiden bildeten eine Männer-WG, bis der Sohn nach dem Abitur auszog. Die beiden jüngeren Kinder zogen zur Mutter. Zu seiner Tochter hatte er über die Jahre weiterhin guten Kontakt, die Beziehung zu seinem jüngsten Sohn hingegen brach irgendwann ab. Gern wäre Martin gerade in der Pubertät für ihn da gewesen, aber er musste akzeptieren, dass sein Sohn das nicht wollte. Er seufzt. „Das ist ein trauriges Kapitel in meiner Geschichte.“ Gleichzeitig macht er daraus kein Geheimnis. Niemand scheitert freiwillig oder gern, doch Scheitern gehört zum Leben dazu.
Sich selbst und anderen sagt Martin das, wovon er zutiefst überzeugt ist: „Wir verkünden doch einen Gott und ein Evangelium, die das Scheitern nicht ausschließen, im Gegenteil, es ist ja letztlich ein Evangelium des Neuanfangs, und zwar immer wieder.“
Manche Erfahrungen begleiten Martin schon sein ganzes Leben hindurch. Zum Beispiel diese: Er muss für das, was er tut, immer mehr Kraft aufwenden als jeder Sehende. Und er muss besser darin sein, sonst wird er nicht wahrgenommen. Es ist anstrengend, so leben zu müssen, aber blinde Menschen – oder solche mit anderen Einschränkungen – haben keine andere Wahl. Martin hat inzwischen seinen Platz gefunden, aber der Weg dorthin war auch für ihn hart. Deswegen ist der Diakon auch kämpferisch unterwegs, wenn es um Gerechtigkeit für Behinderte geht oder mal wieder eine Inklusionsdebatte ohne Beteiligte geführt wird. Dafür redet und streitet er, dazu schreibt er Artikel und Bücher.
Auch in den Beratungsgesprächen in seinem beruflichen Alltag kommen seine Erfahrungen zum Tragen. Gerade sitzen Eltern bei ihm, die wegen ihres blinden Kindes Hilfe suchen. „Wir sind doch nicht dafür Eltern geworden, dass wir es weggeben in ein Internat …“, erklären sie ihm. Und Martin kann ihnen vermitteln, dass es auch Ausdruck ihrer elterlichen Liebe sein kann, einen Ort für ihr Kind auszusuchen, an dem es bestmöglich gefördert wird. Er erzählt ihnen auch, wie positiv er selbst seine Internatszeit erlebt hat. Im Gespräch mit ihm wird deutlich, was es heißen kann, als blinder Mensch Teil der Gesellschaft zu sein und das eigene Leben selbstwirksam und selbstbestimmt zu gestalten. Direkt im Anschluss daran ist jemand bei ihm, der einfach ein Gegenüber zum Aussprechen braucht. So zögernd, wie er anfängt, denkt Martin: Wenn ich ihn in diesem Moment anschauen würde, würde er wohl verstummen. Aber ich sehe ihn nicht, und das weiß er. Also redet er weiter. In Momenten wie diesem weiß Martin, dass Gott die Brüche in seinem Leben nicht nur hinnimmt, sondern gebrauchen kann. Der Gedanke gefällt ihm.
Martin Wirth (52) ist blind. Als Diakon engagiert er sich seelsorgerlich und hat aufgrund seiner eigenen Geschichte viel Verständnis für Brüche im Leben anderer Menschen. Weniger Verständnis hat er für Diskriminierung und politisch motivierte Ideen zur Inklusion Behinderter, die diesen mehr schaden als helfen.
Und dann stehste vor Jott dem Vater und der fragt dir ins Jesichte: Schuster Wilhelm Voigt, was haste jemacht mit dei’m Leben? Und da muss ick sagen: Fußmatte. Fußmatte, muss ick sagen. Die hab ick jeflochten im Jefängnis und denn sind se alle druff rumjetrampelt. Und Jott der Vater sagt zu mir: Jeh wech!, sagt er. Ausweisung, sagt er. Detwejen hab ick dir det Leben nit jeschenkt. Det biste mir schuldig. Wo isset? Wat haste damit jemacht?
So wie hundert andere Szenen aus den verschiedensten Filmen und Theaterstücken hat Richard auch diese aus dem „Hauptmann von Köpenick“ im Kopf und kann sie aus dem Stegreif zum Besten geben. Andere erinnern sich vielleicht dunkel an den Film mit Heinz Rühmann und an dessen Handlung. Richard kennt Teile davon auswendig.
Er liebt das Theater, hat selbst schon auf der Bühne gestanden, und einige lustige oder auch nachdenkliche Szenen zitiert er gern – für andere, aber auch für sich selbst. Vielleicht trifft ihn der kurze Monolog aus dem Drama von Zuckmayr so, weil er manchmal sein eigenes Leben und Erleben widerspiegelt: Seine Beziehung zu Gott ist ihm wichtig. Er will etwas für ihn tun und bewegen. Und manchmal hat er den Eindruck, dass er Gott etwas schuldig bleibt, dass er es vermasselt hat.
Zusammen mit zwei älteren Brüdern wuchs Richard im Schwalm-Eder-Kreis in Nordhessen auf: Der Bär steppte hier nicht gerade, aber hinter dem Mond war das auch nicht – so Richard. Sie wohnten in einem Lehrerhaus direkt an der Schule, in der sein Vater unterrichtete. Die Mutter war Engländerin und eigentlich als Aushilfslehrerin ins Land gekommen. Nach der Hochzeit kümmerte sie sich als Hausfrau darum, dass daheim der Laden lief.