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März 2028: Russische Truppen erobern die estnische Kleinstadt Narwa und die Insel Hiiumaa in der Ostsee. Der Angriff auf das Baltikum hat begonnen. Jetzt rächt sich, dass Europa nach dem Ende des Krieges in der Ukraine nicht aufgerüstet hat und wichtige Fähigkeiten fehlen. Gilt Artikel 5 der NATO? Wie wird sich die Allianz entscheiden? Riskiert sie den Atomkrieg? Wir haben uns daran gewöhnt, dass am Ende alles gut ausgeht. Aber was, wenn nicht? Was, wenn Russland gewinnt? Es ist nur ein hypothetisches Zukunftsszenario, das der renommierte Politikwissenschaftler und Militärexperte Carlo Masala in seinem neuen Buch entwirft – aber es zeigt auf besonders drastische Weise, was heute auf dem Spiel steht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Carlo Masala
WENN RUSSLAND GEWINNT
Ein Szenario
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Titel
Inhalt
Vorwort
Im Baltikum, einige Jahre in der Zukunft
Genf, Palais des Nations, drei Jahre zuvor
Ein neuer Wind
Tauwetter in Moskau?
Die Ukraine nach Genf: Ein Land im Chaos
Bedingt abwehrbereit
Der Plan
Kidal, Mali, 2. Februar 2028: Das Spiel beginnt
Brüssel, 5. Februar 2028: Der Köder wird geschluckt
Südchinesisches Meer, 28. Februar 2028: Hilfe vom Verbündeten
Seattle, 26. März 2028: Die Nachricht
Berlin, 27. März 2028, 4:20 Uhr
MEZ
In einer abhörsicheren Telefonschalte, 27. März 2028, 8:30
MEZ
Moskau, 27. März 2028, 9:00 Uhr
MEZ
Brüssel,
NATO
-Hauptquartier, 27. März 2028, 14:00 Uhr
MEZ
Washington, Weißes Haus, 27. März 2028, 14:15 Uhr
MEZ
80°49
′
35
″
N 66°27
′
30
″
W
/
80.82.639°N 66.45.833°W, 28. März 2028, 12:27 Uhr
MEZ
Brüssel,
NATO
-Hauptquartier, 28. März 2028, 16:00 Uhr
MEZ
Rschew, Oblast Twer (Russische Föderation), 29. März 2028, 9:00 Uhr
MEZ
Moskau
/
Peking, 30. März 2028: Ein neues Zentrum
Nachwort
Nukleare Drohungen
Fehlende Strategie
Ermattung
Was tun?
Fußnoten
Zum Buch
Vita
Impressum
Die Heldin steht massiv unter Druck. Der Bösewicht hält sie im Würgegriff, ihre Pistole liegt außer Reichweite, das Flugzeug voller Sprengstoff rast auf das Weiße Haus zu. Die Zuschauer halten den Atem an. Es scheint aussichtslos. Doch dann: der unerwartete Trick! Sie entwindet sich dem Griff, angelt sich die Waffe, reißt das Flugzeug hoch – es ist gerade noch mal gut gegangen.
Am Ende geht es gut aus, daran haben wir uns gewöhnt. Das ist in jedem Hollywood-Film so. Das war 1945 und 1989 so. Nicht sofort, das wäre ja langweilig. Aber am Ende eben doch. Sicher, unsere Demokratie, die Ukraine, der Westen stehen unter Druck. Populisten fahren Wahlerfolge ein, Russlands Truppen rücken vor, Donald Trump ist Präsident. Aber am Ende wird es schon nicht so schlimm kommen. Russland wird uns doch nicht angreifen, unsere Demokratie wird das doch wohl aushalten, der Westen stark bleiben.
Aber was, wenn nicht? Was, wenn Russland gewinnt?
Um zu verstehen, was auf dem Spiel steht und welche Folgen welche Entscheidungen haben, muss man wissen, was passieren könnte. Das ist die Stärke des Denkens in Szenarien. In der Wissenschaft, aber auch bei der politischen und militärischen Planung ist das Erstellen von Szenarien eine Methode, bei der auf der Grundlage von aktuellen Tendenzen und Geschehnissen zukünftige Entwicklungen durchgespielt werden. Es geht darum, sich Rahmenbedingungen, Indikatoren und Faktoren, die diese Entwicklungen bestimmen können, bewusstzumachen und die aktuellen Ereignisse kreativ weiterzudenken.
Szenarien erweitern den Möglichkeitsraum unseres Denkens. Sie wirken intellektueller Bequemlichkeit ebenso entgegen wie zu kurzen politischen Zeithorizonten. Was in der Ukraine, was in unserer Zeit auf dem Spiel steht, das rückt erst dann so richtig ins Bewusstsein, wenn man darüber nachdenkt, was passieren kann, wenn es eben nicht gut ausgeht.
Dass Russland in der Ukraine gewinnt, liegt im Bereich des Möglichen. Vielleicht hat es sogar schon gewonnen, wenn dieses Buch erscheint, wer könnte das mit Sicherheit voraussagen? Wobei ein russischer Sieg für mich schon dann gegeben ist, wenn Russland das Territorium behalten kann, das es aktuell besetzt hält. Nun mag manchem die Ukraine egal sein. Und nicht wenige mögen denken: Ist doch gut, wenn der Krieg endlich vorbei ist. Dann kehrt bei uns wieder Normalität ein. Gebt Russland doch, was es will, dann ist Ruhe. Aber ist dem so? Geht es wirklich nur um die Ukraine? Was, wenn das nur der Anfang war? Wenn in Wahrheit die europäische Sicherheit und unsere gesamte liberale Weltordnung auf dem Spiel stehen und wir erneut die Augen davor verschließen? Wie das ausgehen könnte, darum geht es in dem Szenario, das ich in diesem Buch durchspiele.
Die Zukunft ist immer offen. Niemand kennt sie, und niemand überblickt alle Faktoren und Zusammenhänge, die sie bestimmen. Ein Szenario ist somit immer nur eine, aber nicht die einzige Möglichkeit, wie sich die Dinge entwickeln können. Das gilt es bei der Lektüre im Kopf zu behalten. Mein Ziel ist es nicht, mich als Prophet zu betätigen. Mein Ziel ist es, zum Nachdenken anzuregen, zum Mit- und Weiterdenken. Und noch etwas ist wichtig: In der Regel spielt man Szenarien durch, damit das nicht eintritt, was in ihnen beschrieben wird.
Mein Szenario orientiert sich an realen Gegebenheiten, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Diskussionen, die ich in den letzten beiden Jahren mit vielen Kollegen und Kolleginnen geführt habe, aber auch mit Menschen, die sich in Ministerien und den Stäben von Streitkräften mit der Frage beschäftigen, welche Auswirkungen ein russischer Sieg in der Ukraine für die zukünftige sicherheitspolitische Entwicklung haben könnte. Es fließen Erkenntnisse aus War Games ein, an denen ich aktiv oder als Beobachter teilnehmen durfte. Aber es ist ein Szenario, welches in dieser Form von mir allein entwickelt wurde. In sicherheits- und verteidigungspolitischen Zirkeln werden auch andere Szenarien durchgespielt und diskutiert, bis hin zu einem umfassenden militärischen Vorgehen gegen einen NATO-Mitgliedsstaat. Zugleich ist es kein streng wissenschaftlich geschriebenes Szenario, obwohl es nach wissenschaftlichen Maßstäben entwickelt wurde. Neben der reinen Beschreibung von Entwicklungen sind immer wieder Szenen und Dialoge eingestreut, die dem Leser die Möglichkeit bieten, sich als teilnehmender Beobachter der Ereignisse zu fühlen. Zudem ist das Szenario stark komprimiert. In der Realität wären die Abläufe vielschichtiger. Unzählige Gespräche und Treffen auf Arbeitsebene würden stattfinden und sicherlich auch Hunderte von Telefonaten und Videokonferenzen zwischen den handelnden Akteuren. Aus Gründen der Lesbarkeit habe ich auf deren Darstellung verzichtet und mich auf die großen Ereignisse konzentriert.
Bei der Erstellung dieses Buches standen mir viele Menschen als Gesprächspartner zur Verfügung, denen ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen will. Besonders bedanken möchte ich mich aber bei Sebastian Ullrich, dem Cheflektor des Verlages C.H.Beck, der die Erstellung des Buches in gewohnt ruhiger und professioneller Art von Beginn an unterstützt und den Prozess bis zum Ende als intellektueller Sparringspartner und brillanter Lektor begleitet hat. Und mein Dank gilt ebenfalls meinem Kollegen Martin Schulze Wessel, dem ich die Analogie zur Remilitarisierung des Rheinlandes verdanke.
Narwa, Estland, am 27. März 2028: In den frühen Morgenstunden werden die Menschen durch Explosionen geweckt. Zwei russische Brigaden dringen von Norden und Osten in die Stadt ein. Die maskierten Angreifer haben die estnischen Grenztruppen schnell überwältigt. Auch in der Stadt selbst stoßen die russischen Soldaten auf nur geringen Widerstand, den sie rasch brechen. Unterstützt werden sie von Teilen der lokalen Zivilbevölkerung, an die bereits in den Wochen und Monaten zuvor Handfeuerwaffen und Maschinengewehre ausgegeben worden sind. Binnen weniger Stunden ist die 57.000 Einwohner zählende Stadt im Grenzgebiet zu Russland erobert. Als die Sonne aufgeht, weht bereits die Flagge Russlands vom Turm des historischen Rathauses. Nahezu in Echtzeit verbreiten sich kleine Videoschnipsel von der Flaggenhissung auf diversen Social-Media-Plattformen, allesamt versehen mit dem Hashtag #TagDerRückkehr.
Der russische Einmarsch geschieht unerwartet. Zwar hat die russischsprachige Bevölkerung in Narwa bereits seit Wochen demonstriert, weil ihnen angeblich die Möglichkeit verwehrt wird, ihre Sprache in der öffentlichen Verwaltung zu benutzen sowie ihre Kultur zu leben. Angeheizt von Desinformation in den sozialen Medien, befürchten sie darüber hinaus, dass die Regierung in Tallinn sie zu Bürgern zweiter Klasse machen und ihnen das Wahlrecht entziehen könnte. Angeblich, so wird auf Telegram und Facebook verbreitet, weil sie aufgrund ihrer Nähe und Verbundenheit zu Russland als Sicherheitsrisiko gelten. Immer wieder ist es auch zu kleineren Scharmützeln zwischen «Russen» und der estnischen Polizei gekommen. Aber das hat es auch früher schon gegeben, und die estnische Regierung ist davon ausgegangen, dass sie die Lage in den Griff bekommen wird. Auch die Zusammenziehung kleinerer russischer Einheiten an der Grenze ist zwar registriert worden, aber dass davon eine ernsthafte Gefahr ausgehen könnte, hat man nicht geglaubt. Denn immerhin sind NATO-Truppen im Land präsent, 1700 Soldaten im Rahmen der Enhanced Forward Presence (eFP) sowie 600 US-amerikanische Infanteristen in Võru. Sie werden schon für genügend Abschreckung sorgen, hat man sich beruhigt.
In den Tagen vor dem Angriff gilt die Aufmerksamkeit Estlands sowie der NATO zudem dem südlichen Teil der estnisch-russischen Grenze, wo die russischen Streitkräfte im Rahmen ihrer Übung «Mutterland» eine Heeresdivision diverse Szenarien durchspielen lassen. Und so gelingt die Überraschung. An eine Reaktion des 145 km von Narwa entfernt stationierten NATO-Verbands unter britischer Führung ist in der Kürze der Zeit nicht zu denken.
Der Angriff auf Narwa bleibt nicht die einzige Aktion der russischen Streitkräfte in dieser Nacht. Bereits seit einigen Tagen haben als Touristen getarnte russische Soldaten mit Fähren auf die Estland vorgelagerte Insel Hiiumaa übergesetzt. Nun schlagen sie los. Unterstützt werden sie von zwei russischen amphibischen Kriegsschiffen der Ostseeflotte, die auf ihrem Weg von St. Petersburg in die internationalen Gewässer der Ostsee eine unerwartete Kursänderung vornehmen und vom Norden her auf die zweitgrößte, aber nicht dicht besiedelte Insel Estlands zufahren. Es ist noch dunkel, als sie ihre Landungsboote zu Wasser lassen und ca. 400 russische Marineinfanteristen an der Küste von Hiiumaa anlanden, um die bereits auf der Insel befindlichen Kräfte zu unterstützen. Auch hier bricht der Widerstand schnell zusammen. Am Vormittag weht in der 4000 Einwohner zählenden Stadt Kardla auf Hiiumaa die russische Fahne.
In nur einer Nacht bringt Russland zwei estnische Städte unter seine Kontrolle und überrumpelt die gesamte NATO. Beide Aktionen sind aus russischer Perspektive strategisch sinnvoll. Mit Narwa wird eine Stadt erobert, die zu 88 Prozent aus russischsprachiger Bevölkerung besteht, und Hiiumaa bietet der russischen Marine die Möglichkeit, zukünftig eine Seeblockade des Baltikums zwischen den von ihnen kontrollierten Häfen St. Petersburg im Norden und Kaliningrad im Süden anzudrohen und gegebenenfalls auch umzusetzen.
Und noch etwas ist in dieser Nacht bemerkenswert: Der belarussische Diktator Lukaschenko kündigt an, in den kommenden Tagen mehrere Brigaden seiner Streitkräfte zu Übungszwecken nach Astraviec zu schicken, einem kleinen Grenzort, nur 50 km von Vilnius entfernt.
Der Angriff auf das Baltikum hat begonnen.
