Wenn Trauma und Trauer aufeinandertreffen - Jo Eckardt - E-Book

Wenn Trauma und Trauer aufeinandertreffen E-Book

Jo Eckardt

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Beschreibung

Nur allzu oft treffen Trauer und Trauma zusammen, so zum Beispiel nach Unfällen oder Katastrophen mit Todesfolge. Viele Menschen merken erst in der Trauerphase, dass frühere, unverarbeitete Traumata oder Trauerfälle ihre Fähigkeit, mit Schicksalsschlägen umzugehen, eingeschränkt haben. Dieses Buch hilft Trauerbegleitern und Psychotherapeuten, Anzeichen von Traumatisierungen zu erkennen und die Betroffenen bestmöglich zu unterstützen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Trauer und Trauma werden herausgearbeitet, immer mit dem Blick darauf, was dies für die praktische Arbeit mit Trauernden bedeutet. Während im ersten Teil des Buches Erscheinungsformen von Trauer und Trauma beschrieben werden und sich die Frage stellt, was genau im Gehirn und Körper von Traumaopfern geschieht, widmet sich der zweite Teil des Buches der praktischen Arbeit mit Betroffenen. Einzelne Techniken werden vorstellt, die bei der Bearbeitung von Traumasymptomen helfen können, und Fragen, die im Lauf der Trauer- und Traumaarbeit auftauchen, werden beleuchtet. Im abschließenden dritten Teil werden konkrete Anregungen für die Arbeit mit Menschen gegeben, die mit Trauer und Trauma zu tun haben. Das Ziel ist es in jedem Fall, Menschen zu helfen, Traumata und Trauer so zu verarbeiten, dass das eigene Leben mit allen Höhen und Schicksalsschlägen integriert und angenommen werden kann, so dass Freude und Unbeschwertheit wieder möglich sind.

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Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

Jo Eckardt

Wenn Trauma und Traueraufeinandertreffen

Betroffenen helfen, neuen Lebensmutzu finden

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99831-2

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: capicua/photocase.de

© 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenenFällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Einführung

Teil 1: Diagnostische Unterscheidung zwischen Trauer und Trauma

Trauer

Trauma

Teil 2: Die therapeutische Arbeit mit Trauer-Trauma-Kombinationen

Was Betroffene unmittelbar nach einem traumatischen Erlebnis brauchen

Der Beginn einer Therapie oder Beratung

Das Geschehene begreifen

Symptome erkennen und bearbeiten

Flooding

Kognitive Verhaltenstherapie

Gruppentherapie

Neuroplastizität

Körperorientierte Ansätze

Somatic Experiencing nach Peter Levine

Video- oder auch Bildschirmmethode

Stopp-Methode

Der leere Stuhl

Ego-State-Therapie und die komplex-systemische Traumatherapie

EMDR

Symbolische Hilfsmittel

Systemischer Ansatz

Hypnose

Medikamente

Trauerarbeit mit Menschen, die eine traumatische Kindheit hatten

Sich der Trauer stellen

Die Stellung in der Gesellschaft finden

Aktivitäten und Resilienz aufbauen

Auflösen von Schuldgefühlen, Wiederentdecken von Lebensfreude

Integration und Sinnfindung

Teil 3: Materialien für die therapeutische Arbeit

Skala zur Selbsteinschätzung

Erdung

Der Sichere Ort

Grautöne finden

Achtsamkeitsübung/Körperwahrnehmung

Ein besonderes Kartenspiel

Resilienztraining/Sich selbst schützen

Liste mit Ressourcen

Literatur

Einführung

Trauer und Trauma, diese zwei Begriffe werden oft im gleichen Atemzug genannt. Sie haben ja auch in der Tat einige Gemeinsamkeiten. Viele Todesfälle sind auf traumatische Unfälle oder Katastrophen zurückzuführen, sodass sich hier für die Überlebenden und Hinterbliebenen Trauer und traumatisches Erleben ganz automatisch vermischen. Oder aber ein Lebensereignis wühlt die Betroffenen so auf, dass frühere Trauer oder traumatische Erfahrungen reaktiviert werden. Beide Phänomene stellen an die Betroffenen ganz ähnliche Aufgaben, selbst wenn sie unabhängig voneinander auftreten. Ob ein Mensch unter einem Trauma leidet oder ob er trauert: Immer geht es darum, mit einer plötzlichen Wende im Leben zurechtzukommen und das Trauma bzw. den Todesfall als Teil des eigenen Lebens zu begreifen und in die Gesamtbiografie zu integrieren. Meist durchlaufen die Betroffenen bestimmte Phasen, die sich ähneln und auch zu vergleichbaren Gefühlen führen. In beiden Fällen sind Fragen nach dem Warum und nach dem Sinn des Erlebten von Bedeutung.

Doch es gibt auch Unterschiede! Ein traumatisches Ereignis löst in den betroffenen Menschen physiologische und neurobiologische Reaktionen aus, die so in einer unkomplizierten Trauer nicht auftreten. Einige Symptome sind traumaspezifisch und spielen für Trauernde keine große Rolle: so zum Beispiel die Hypervigilanz, das Vermeiden von Triggern, Veränderungen der Persönlichkeit und besonders auch die Dissoziation (mehr zu diesen Begriffen und Themen im ersten Teil dieses Buches).

Für die Praxis bedeutet dies, dass professionelle oder auch ehrenamtliche Berater1 und Begleiter über beide Phänomene Bescheid wissen sollten, auch wenn sie sich auf eines der Themen spezialisiert haben. Trauerbegleiter sollten also genug Wissen haben, um traumatische Reaktionen einordnen und verstehen zu können, Traumaexperten wiederum sollten sich mit den Erscheinungsformen und Folgen von Trauer auskennen. Dies heißt aber nicht, dass alle Berater alle Fälle von traumatischer Trauer abdecken können. Patienten, die dramatische Traumafolgen erleben oder aber aufgrund von einem frühkindlichen Beziehungstrauma unter einer massiven Persönlichkeitsstörung leiden, sowie Patienten, die entweder akut suizidgefährdet sind oder sich bzw. andere Personen verletzen, sollten auch eine spezifische Therapie bekommen mit Experten, die in einem ganzheitlichen Ansatz situationsangepasst arbeiten können. Hier bieten sich spezielle Fachpersonen an, die gezielte Traumatherapien durchführen. Sowohl die stationäre als auch die ambulante Therapie können relativ schnell zu einer Linderung der akuten Traumafolgestörungen führen.

In diesem Buch geht es vorrangig um die Arbeit mit Patienten, die sich einerseits in einem durch traumatische Erfahrungen erschwerten Trauerprozess befinden, die aber andererseits noch so weit in der Realität verankert sind, dass sie sich auf eine ambulante Beratungssituation oder auch Gesprächstherapie einlassen können. Dieses Buch richtet sich vornehmlich an ehrenamtliche und professionelle Therapeuten, Berater und Begleiter, die in ihrer Praxis mit trauernden Personen zu tun haben, denn ganz sicherlich wird früher oder später auch das Thema Trauma eine Rolle spielen.

Im ersten Teil des Buches betrachten wir, wie sich Trauer bzw. Trauma äußert und welche Erscheinungsformen es gibt. Welche Diagnosen muss man im Zusammenhang mit Trauma und Trauer kennen? Welche Veränderungen im Gehirn werden von einem traumatischen Ereignis hervorgerufen? Wann ist eine Trauer »erschwert« und welche Faktoren bergen das Risiko für eine erhöhte Traumatisierung?

Der zweite Teil des Buches widmet sich der Frage, wie die praktische therapeutische oder beratende Arbeit mit Betroffenen aussehen kann. Die verschiedenen Phasen einer Beratung bzw. Therapie werden beschrieben und verschiedene Techniken, die den Patienten helfen können, vorgestellt.

Im abschließenden dritten Teil werden einige praktische Anregungen und Vorlagen für die Arbeit mit Betroffenen gegeben. Einige der Übungen lassen sich auch von den Helfern selbst ausprobieren. Zum einen lassen sich Dinge besser vermitteln, wenn man sie aus eigener Erfahrung kennt, zum anderen kann man so der Gefahr einer sekundären Traumatisierung, die immer besteht, wenn man mit traumatisierten Menschen zusammenkommt, entgegenwirken.

1 Zwecks besserer Lesbarkeit werden die männlichen grammatischen Formen verwendet. Es sind selbstverständlich generell die weiblichen mitgemeint.

Teil 1: Diagnostische Unterscheidung zwischen Trauer und Trauma

Während manche Berater, Heilpraktiker und Seelsorger in der glücklichen Lage sind, keine Diagnosen und Anträge auf Kostenübernahme stellen zu müssen, stehen zugelassenen Ärzte und Therapeuten natürlich in der Pflicht, jedes einzelne Schicksal und jeden einzelnen Patienten zu diagnostizieren, um mit der Krankenkasse abrechnen zu können. Dies kann ein Fluch sein, weil dieser Vorgang kostbare Zeit dauert und trotz großer Sorgfalt oft ein ungutes Gefühl hinterlässt: Habe ich die Störung richtig eingeschätzt? Wird diese Diagnose für den Patienten eine Belastung darstellen? Andererseits zwingt diese Notwendigkeit die behandelnden Personen, sich umfassende Gedanken über die Natur der jeweiligen Störung zu machen und genau abzuwägen, welche Erklärungen infrage kommen. Für die Patienten selbst kann die Diagnose eine Bereicherung sein: Wenn nämlich dabei klar wird, dass sie nicht verrückt oder krank sind, sondern eine verifizierbare Störung entwickelt haben aufgrund von erkennbaren widrigen Umständen und Erfahrungen. Zudem gibt es auch für jede bekannte Diagnose vielversprechende Behandlungsmöglichkeiten, sodass die Festlegung der Diagnose oft der erste Schritt auf dem Weg der Heilung ist.

Lassen Sie uns nun betrachten, welche Diagnosen nach einem Trauma bzw. Trauerfall möglich sind. Ich werde mich hier hauptsächlich auf das ICD-10 beschränken, also das internationale Diagnose-Klassifikationshandbuch für medizinische und psychiatrische Störungen, das auch in Deutschland verwendet wird.

Trauer

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, trauern die Hinterbliebenen, das ist selbstverständlich. Auch wenn es den Betroffenen so erscheint, als breche die Welt zusammen, als sei ein Teil von ihnen selbst gestorben, auch wenn sie sich im Moment nicht vorstellen können, jemals wieder Lebensfreude empfinden zu können, so reagieren sie doch völlig normal.

Genauso normal wie die Trauer ist auch die Tatsache, dass Betroffene Unterstützung brauchen in dieser schweren Zeit. In früheren Zeiten wurden Trauernde in einer familiären oder dörflichen Gemeinschaft aufgefangen und unterstützt, ohne dass sie ihr Leid verstecken mussten. Heute sind Hinterbliebene nur zu oft auf sich allein gestellt und müssen sich in einer Gesellschaft zurechtfinden, die für den Tod keine Zeit und keinen Platz hat. In dieser Situation können Trauerbegleiter, Ärzte oder Therapeuten helfen. Dabei, und das möchte ich noch einmal betonen, liegt keine »Störung« im Sinne eines pathologischen Befundes vor.

Natürlich hört erst einmal die Welt auf sich zu drehen, wenn der Ehepartner, ein Kind oder eine andere geliebte Person plötzlich stirbt. Man ist im Schock, man möchte am liebsten die Wahrheit nicht wahrhaben, man bricht zusammen, wütet oder erstarrt. Man kann nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, nicht mehr arbeiten – oder man isst zu viel, schläft den ganzen Tag oder funktioniert perfekt. Alles ist möglich. Manche weinen nur, andere vergießen keine einzige Träne. Das Immunsystem wackelt, Krankheitserreger finden einen idealen Nährboden und rauben auch noch die letzten Kräfte. Mangelerscheinungen, Depressionen und zuweilen auch Angstzustände oder auch psychotisch anmutende Wahnvorstellungen kommen vor.

Daher ist es durchaus verständlich, sinnvoll und auch wünschenswert, wenn Betroffene sich medizinische oder therapeutische Hilfe suchen. Was die Notwendigkeit hervorruft, für eine normale Trauerreaktion eine pathologisierende Diagnose finden zu müssen! Üblicherweise wird in diesem Fall die Diagnose »Anpassungsstörung« (F43.2) verwendet. Es gibt auch die akute Belastungsstörung (F43.0), doch da hiermit Symptome erfasst werden sollen, die nach einem belastenden Ereignis auftreten und nach einigen Tagen wieder abklingen, passt diese Diagnose im Fall einer Trauerreaktion nicht. Die allgemeine Anpassungsstörung setzt ein Ereignis voraus, dass die betroffene Person subjektiv und emotional beeinträchtigt im Sinne von einer Lebensveränderung, eines belastenden Ereignisses oder einer Krise. Anzeichen können eine depressive Verstimmung, Angst, Sorge und/oder ein verändertes Sozialverhalten sein. Auch das Gefühl, mit dem Alltag nicht mehr zurechtzukommen, und die Unfähigkeit, Zukunft planen zu können, gehören zum Erscheinungsbild. Ein Ausschlusskriterium ist allerdings, dass die Störung länger als sechs Monate anhält. Doch Trauer ist selten nach sechs Monaten abgeklungen.

Mit anderen Worten: Sechs Monate nach dem Todesfall muss eine andere Diagnose gefunden werden. Dies kann die länger andauernde Anpassungsstörung (F43.21) sein. Sehr häufig wird in diesem Fall aber auch eine Depression festgestellt. In der Tat liegt der Eindruck nahe, dass trauernde Menschen depressiv sind. Sie sind oft freudlos, machen keine Pläne, sind lethargisch und ohne Hoffnung. Doch gibt es in diesem Fall ja einen realen Grund für die Traurigkeit. Überhaupt ist die Diagnose einer Depression immer etwas schwierig. Gibt es nicht doch einen organischen Grund? Sind Hormone oder neurobiologische Vorgänge verantwortlich? Oder reagiert der Patient auf reale Vorkommnisse in seinem Leben? Antworten auf diese Fragen sind wichtig, um die richtige Behandlung für eine Depression zu wählen.

Manchmal sind es aber andere Symptome, die Trauernde quälen. Dann lautet die Diagnose vielleicht: nicht-organische Schlafstörung (F51.0 oder F51.2), Essstörung (F50.–), somatoforme Störung (F45.–, darunter zählen auch Schmerzstörungen) oder Angststörung (F40.– und F41.–). Die Frage stellt sich: Gäbe es innerhalb des ICD-10 eine Diagnose, die »normale Trauerreaktion« hieße und all solche Symptome wie Hoffnungslosigkeit, Grübeln, Trauer, somatische Schmerzen, Freudlosigkeit, emotionale Erstarrung oder auch Unbeständigkeit beinhaltete, und dies ohne eine zeitliche Vorgabe, wie lange solche Symptome anhalten, würden dann weniger Menschen mit den oben genannten Diagnosen bedacht?

In einer Gesellschaft, die sich nur punktuell mit Tod und Trauer beschäftigen mag und in der Trauernde keine Unterstützung finden, wird es natürlich weniger »Trauernde« geben und mehr Menschen mit Depressionen oder anderen psychischen Störungen. Dazu kommen die vielen Menschen, die psychosomatische Erkrankungen und Schmerzen entwickeln. Wer würde nicht lieber über Rückenschmerzen klagen als darüber, den Tod einer Familienangehörigen nicht verwinden zu können? Abschließend muss daher festgestellt werden, dass das ICD-10 keine zufriedenstellende Diagnose bietet, die trauernden Patienten gerecht wird.

Glücklicherweise gibt es aber Fachleute, die das Kind beim Namen nennen. Insbesondere der Bundesverband Trauerbegleitung e.V. (BVT) hat sich mit der Frage beschäftigt, wie man Trauer und Trauerprozesse benennen kann. Das Ergebnis, das 2010 von einer Arbeitsgruppe vorgelegt wurde, umfasst vier Erscheinungsformen von Trauer:

1. nicht-erschwerte Trauer

2. erschwerte Trauer

3. traumatische Trauer

4. komplizierte Trauer

Mit nicht-erschwerter Trauer ist die normale Trauer gemeint, die zu oben beschriebenen Symptomen führt und bis zu zwei Jahre dauern kann. Warum sagt man also nicht »normale Trauer«? Die Mitglieder der genannten Arbeitsgruppe wollten den Eindruck vermeiden, dass andere Formen von Trauer als »nicht normal« dargestellt werden. Die nicht-erschwerte Trauer ist aber normal insofern, als dass ein großer Teil der Trauernden (ca. 80 Prozent) diese Art der Trauer erleben. Sie trauern natürlich auch noch nach zwei Jahren um die geliebte Person, nehmen aber wieder am alltäglichen Leben teil, können wieder Freude empfinden und haben den Verlust als ein Puzzleteil der eigenen Biografie integriert.

Erschwerte Trauer will ausdrücken, dass Betroffene mit erschwerenden Umständen zu tun haben, die das Risiko in sich bergen, den Trauerprozess zu komplizieren. Vielleicht haben die Betroffenen einen besonders schlimmen Todesfall zu verarbeiten (Tod durch Gewaltanwendung, Tod eines jungen Kindes oder Ähnliches), müssen ohne soziale Unterstützung auskommen, sind durch andere Lebensumstände ohnehin in einer kritischen Situation, oder aber sie haben durch frühere Erfahrungen ein geringes Vertrauen in sich und die Welt. Es steht dann zu erwarten, dass sich der Trauerprozess schwierig gestalten wird und es nur spät oder eventuell gar nicht gelingen wird, die Balance wiederzufinden. Auch wenn eine konfliktreiche Partnerschaft durch den Tod unterbrochen wird, führt dies meist im überlebenden Partner zu einer erschwerten Trauer.

Traumatische Trauer ist eine Trauer, in der sich beide Phänomene vermischen, sei es, dass der Todesfall traumatisch war, oder dass die Trauernden frühere traumatische Erfahrungen gemacht haben, die nun reaktiviert werden: Die Betroffenen zeigen deutliche Symptome einer traumatischen Belastungsstörung. Das können Flashbacks sein, Überflutung, Vermeidungsverhalten oder auch Dissoziation (mehr dazu Seite 20 ff.). Da eine Posttraumatische Belastungsstörung erst sechs Monate nach dem traumatischen Erlebnis diagnostiziert wird, sollte auch eine traumatische Trauer erst nach sechs Monaten festgestellt werden.

Die komplizierte Trauer wird auch verlängerte Trauerstörung genannt. Es handelt sich hierbei um eine Trauer, bei der die anfängliche »normale« Verzweiflung und Freudlosigkeit, die unstillbare Sehnsucht nach der verlorenen Person und die Unfähigkeit, sich auf ein Leben ohne diese Person einzulassen, auch nach langer Zeit (mindestens 13 Monate) noch anhält. Gründe dafür können darin liegen, dass es frühere, nicht verarbeitete Trauer oder Traumata gab, dass die Betroffenen andere, möglicherweise nicht erkannte psychische Störungen haben oder dass sie mit anderen Belastungen im Leben nicht zurechtkommen.

Es geht in diesem Buch also vornehmlich um die erschwerte, die traumatische und auch die komplizierte Trauer, also die Art von Trauer, in der Symptome von Trauer sich mit Symptomen einer Traumatisierung vermischen. Lassen Sie uns daher als Nächstes einen Blick auf die Symptomatik und Diagnosemöglichkeiten nach einem Trauma werfen.

Trauma

Ein Trauma ist ein schreckliches Erlebnis, das von den Betroffenen als Einschnitt gesehen wird, der das Leben nachhaltig negativ verändert. Ganz wesentliche Bedingung, damit ein solches Ereignis als Trauma aufgefasst wird, ist die subjektive Überforderung. Mit anderen Worten, die Bewältigungsmechanismen, die jedem Menschen zur Verfügung stehen, reichen in diesem Fall nicht aus, um mit dem Geschehen »fertig« zu werden. Und da jeder Mensch unterschiedliche Fähigkeiten, Veranlagungen und Bewältigungsmechanismen hat, passiert es immer wieder, dass ähnliche Erlebnisse ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die einzelnen Personen haben.

Allerdings gibt es auch noch andere Faktoren, die darüber entscheiden, wie gut jemand mit einem traumatischen Erlebnis zurechtkommt. Alter und frühere Erfahrungen der Betroffenen spielen dabei eine Rolle, die soziale Eingebundenheit und solidarische Unterstützung von außen, aber auch Art, Ausmaß und Dauer des Erlebnisses und der Grad der Hilflosigkeit bzw. die Möglichkeit, sich selbst zu helfen, zählen zu den wesentlichen Faktoren. So ist es für Menschen, die gefangen, eingesperrt und physisch einfach nicht in der Lage waren, an ihrer Situation etwas zu ändern, sehr viel schwerer nach einem solchen Erlebnis wieder Fuß zu fassen, als für Menschen, die aus eigener Kraft einen Ausweg aus ihrer Lage finden konnten. Auch Opfer, die von anderen Menschen willentlich und gezielt misshandelt wurden, oder Kinder und Jugendliche, die noch keine ausgereifte Persönlichkeit haben, sind einem größeren Risiko ausgesetzt, hinterher an einer Belastungsstörung zu erkranken. Das heißt natürlich nicht, dass die Opfer einer Naturkatastrophe oder rundum gefestigte Menschen nicht auch unter den Folgen ihres Erlebnisses zu leiden haben.

Aus diesem Grund ist in der Arbeit mit Betroffenen Vorsicht geboten: Niemand sollte das Gefühl bekommen, das persönlich erlebte Trauma sei irgendwie »weniger wert« oder »nicht so schlimm« auf einer imaginären Skala der schlimmsten Traumata. Doch kann es Betroffene entlasten, wenn man ihnen erklärt, dass bestimmte Faktoren in ihrem speziellen Fall die Traumaverarbeitung erschweren. Es liegen also kein persönliches Versagen vor, keine charakterliche Schwäche oder Krankheit, sondern es ist ganz natürlich, dass eine Anhäufung von erschwerenden Umständen auch dazu führt, dass die Symptome gravierender sind.

Weiterhin unterscheidet man verschiedene Formen von Traumata. Es gibt plötzliche Traumata in Form von Unfällen, Naturkatastrophen und Gewalterfahrungen. Und es gibt lange andauernde Traumata, etwa Kriegserfahrungen, Gefangenschaft, Folter, Mobbing oder sexueller oder gewalttätiger Missbrauch, der über einen längeren Zeitraum hinaus andauert. In der Fachliteratur wird in diesem Zusammenhang oft von Traumata Typ I (Kurzzeittrauma) und Typ II (chronisches Trauma) geredet. Allerdings gibt es auch eine dritte Art von Trauma, nämlich das Entwicklungstrauma (auch Beziehungs- oder Verlassenheitstrauma genannt). Dies betrifft Menschen, die als Kinder vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht wurden. Oder die mit Menschen aufwuchsen, die nicht bindungsfähig waren und daher dem Kind nicht das geben konnten, was es gebraucht hätte, um soziale und psychische Fertigkeiten zu lernen und das eigene Selbst reifen zu lassen.

Was haben all diese verschiedenen Formen von Trauma gemein? Die Tatsache, dass etwas Schreckliches passiert, was die eigene Existenz infrage stellt und zudem die eigenen Bewältigungsmechanismen überfordert, führt zu einer Art Kurzschluss im Gehirn. Das Gehirn, das ja sonst gut koordiniert Geschehnisse wahrnimmt, analysiert und bewertet, um daraufhin eine passende Reaktion zu wählen und im Anschluss daran alles gewissenhaft als Erinnerung abzuspeichern, um eventuell in Zukunft darüber lachen oder auch davon lernen zu können, ist bei einem Trauma völlig überfordert. Die Amygdala, quasi die Alarmanlage des Gehirns, springt an, Adrenalin wird ausgeschüttet, was zu verminderter Durchblutung des Gehirns führt, die Atmung wird flach, das Sprachzentrum wird vorübergehend ausgeschaltet und das Stammhirn übernimmt die Kontrolle. Das Stammhirn, auch Reptilienhirn genannt, stammt aus der Urzeit der Wirbeltiere, aus einer Zeit, als wir noch Reptilien waren, und kennt im Grunde nur zwei Möglichkeiten: wegrennen oder kämpfen. Wenn weder das eine noch das andere möglich ist, bleibt noch die Schockstarre. Der Mensch erstarrt, das Gehirn friert ein. Bilder brennen sich ein, die später immer wiederkehren werden. Die Gefühle werden entweder so riesig, dass sie alles überlagern, oder aber sie werden vollständig abgespalten, sodass sie auch einfrieren. Alle Eindrücke werden zusammen abgespeichert, sodass später ein einzelner Auslöser (sogenannte Trigger: ein Geräusch, eine Farbe, ein Geruch, ein Wort) genügt, um die ganze Erinnerung wieder abzuspulen. Oder aber: Alle Eindrücke werden isoliert, sodass sich Betroffene vielleicht an ein Bild erinnern, aber nicht zuordnen können, was vorher passierte, was nachher geschah oder welche Gefühle eine Rolle spielten. Vor allem: Das Geschehen kann nicht als Einzelbaustein der eigenen Biografie in die Lebensgeschichte eingebettet werden. Es sticht hervor, ragt heraus, was vorher war, gilt nicht mehr, was nachher kommt, kann sich nicht aus dem Schatten, den das Trauma wirft, herauslösen. Es entsteht ein Bruch, den die Betroffenen oft nicht aus eigener Kraft kitten können.