Wenn Venedig stirbt - Salvatore Settis - E-Book

Wenn Venedig stirbt E-Book

Salvatore Settis

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Beschreibung

Kein europäisches Land hat ein so immenses kulturelles Erbe wie Italien, kein Land solche Schwierigkeiten im Umgang mit diesem Erbe. Salvatore Settis ist in den letzten Jahren zum guten Gewissen dieses Landes geworden. Immer wieder stellt er bohrende Fragen: Wie gehen die Italiener mit ihren Schätzen um, und was machen wir Europäer mit unseren kulturellen Gütern? Venedig mit seiner einzigartigen Architektur, Geschichte und geographischen Lage, aber auch Venedig als Ausbund der Kommerzialisierung dieser Einzigartigkeit nimmt Settis als Ausgangspunkt für grundsätzliche Überlegungen: Gibt es so etwas wie die Seele einer Stadt? Und was ist das? Die Eigentümlichkeit, die Geschichte, die Einwohner? Warum gehören Wolkenkratzer zu New York, aber nicht nach Venedig? Muss man "Städteschönheit" als "Weltkulturerbe " konservieren, oder brauchen Städte eine "kreative Zerstörung"? Wie steht es mit dem "Recht auf Stadt"? Wie mit den Rechten der zukünftigen Generationen? Ein fulminantes Plädoyer für die lebendige Stadt der Zukunft - geschrieben mit großer Autorität und umfassenden Kenntnissen, mit ganzem Herzen und voller Elan!

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Die italienische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Se Venezia muore bei Giulio Einaudi editore in Turin, die deutsche Übersetzung erstmals 2015 im Sachbuch bei Wagenbach.

Wir danken dem SEGRETARIATO EUROPEO PER LE PUBBLICAZIONI SCIENTIFICHE für die freundliche Unterstützung bei der Übersetzung dieses Buches.

Via Val d’Aposa 7 – 40123 Bologna – [email protected] – www.seps.it

E-Book-Ausgabe 2019 © 2014 Giulio Einaudi editore s. p. a, Torino © 2015, 2019 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin Umschlaggestaltung: Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Andrea Merola © picture alliance/dpa.Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803141859 Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2811 9www.wagenbach.de

Athen ohne Gedächtnis

Auf drei Arten sterben Städte: Wenn ein erbarmungsloser Feind sie zerstört (wie Karthago, das 146 v. Chr. von Rom dem Erdboden gleichgemacht wurde); wenn ein fremdes Volk sich dort mit Gewalt ansiedelt und die autochthone Bevölkerung und ihre Götter vertreibt (wie die Hauptstadt der Azteken Tenochtitlán, welche die spanischen Conquistadores zerstörten, um auf ihren Ruinen Mexiko-Stadt zu errichten); und schließlich, wenn ihre Bewohner die Erinnerung an sich selbst verlieren und unbemerkt sich selber fremd, selber feind werden. Dies war der Fall von Athen, das nach dem Glanz der klassischen Polis, nach den Marmorwerken des Parthenon, den Skulpturen des Phidias und historischen und kulturgeschichtlichen Ereignissen, die untrennbar verbunden sind mit Namen wie Aischylos, Sophokles, Euripides, Perikles, Demosthenes und Praxiteles, zunächst die politische Unabhängigkeit einbüßte (unter Makedonien und später unter Rom) und in der Folge die kulturelle Stoßkraft, am Ende aber auch jegliche Erinnerung an sich selbst verlor.

Oft stellen wir uns, gefangen in einem simplen Schulklassizismus, ein über die Jahrhunderte im Weiß seiner marmornen Bildwerke unbeweglich verharrendes Athen vor, das mit der politischen Unabhängigkeit Griechenlands 1827 zu neuem Glanz erblühte, fast so, als wäre es aus dem Schlaf erwacht. Aber dies trifft nicht zu: Als der hochgebildete Konstantinopler Michael Choniates Ende des 12. Jahrhunderts Bischof von Athen wurde, zeigte er sich fassungslos angesichts der unglaublichen Ignoranz der Athener, die keinerlei Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit ihrer Stadt bewahrten, die einem Fremden nichts über die noch erhaltenen Tempel zu berichten wussten, noch ihm zu zeigen vermochten, wo Sokrates, Platon und Aristoteles unterrichtet hatten.

In jenem durch ein nicht enden wollendes Mittelalter gedächtnislos gewordenen Athen hatte man den Parthenon zur Kirche umfunktioniert, die Wände bedeckt mit Ikonen und anderen sakralen Malereien, der Raum erfüllt von liturgischen Gesängen und dem Duft nach Weihrauch. Später in eine lateinische Kathedrale verwandelt (nach dem Kreuzzug von 1204), wurde er von Venezianern und Florentinern wiederholt seines Schmuckes beraubt, ohne dass die Athener jemals einen Finger zu seiner Verteidigung gerührt hätten oder auch nur eine Stimme erhoben worden wäre, um an seine ruhmreiche Geschichte zu erinnern. Als die Türken 1456 Athen besetzten (und die Parthenon-Kirche zur Moschee wurde), geriet sogar der Name der Stadt in Vergessenheit. Was blieb, war ein kümmerliches Dorf, bestehend aus einer Reihe von Hütten, die hier und da zwischen den Ruinen verstreut lagen, und eine auf wenige Tausend zusammengeschrumpfte Bevölkerung, die ihre Stadt Satiné, Satines nannte, eine Verballhornung, die der Name Roms (zum Beispiel) niemals erfahren musste. Doch die Selbstvergessenheit der Athener setzte schon viel früher ein: Bereits um 430 v. Chr. berichtet der neuplatonische Philosoph Proklos, der in der Nähe der Akropolis lebte, dass ihm im Traum Athene, die Göttin des Parthenon, erschienen sei, die ihn, aus ihrem Tempel vertrieben, um Obdach in seinem Haus gebeten habe. In diesem wehmütigen Traum drückt sich nicht nur das Ende einer Religion und ihrer Monumente aus, sondern der Untergang einer Kultur und ihres Bewusstseins für sich selbst.

Ganz so wie bei einem Menschen, der sein Gedächtnis verliert, zeigt sich auch bei Städten, wenn eine kollektive Amnesie sie befällt, die Neigung, die eigene Würde zu vergessen. Bleibt etwas von ihrem antiken Geist erhalten, so muss er anderswo Zuflucht suchen (wie im Falle Athens in Konstantinopel, in Moskau oder im italienischen Humanismus). Selbst wir haben heute vergessen, dass es mit Athen so weit kam, dass es sich selbst vergaß. Wir tun jedoch gut daran, uns die Dunkelheit dieses Vergessens ins Gedächtnis zu rufen, wenn wir vermeiden wollen, dass uns dasselbe Leiden befällt. Das Dunkel kommt nicht plötzlich über eine Gemeinschaft, es legt sich langsam und schubweise über sie, wie ein stockend fallender Bühnenvorhang. Damit der Vorhang sich ganz schließt, er alle Dinge wie in gestaltloser Nacht umfängt, bedarf es keiner Mittäterschaft, es genügt Gleichgültigkeit. Deshalb ist es bedeutsam, so wie es für die geistige und körperliche Gesundheit eines jeden von uns bedeutsam ist, auf das geringste Anzeichen von Vergesslichkeit zu achten und umgehend etwas dagegen zu unternehmen.

Es ist in den letzten Jahren in Mode gekommen, einem Stoßgebet gleich zu wiederholen, dass »Schönheit die Welt retten wird«. Es sind Worte, die Dostojewski dem Fürsten Myschkin, dem Protagonisten in Der Idiot, in den Mund legt und die zumindest in Italien inzwischen wie ein tröstliches (und uns selbst freisprechendes) Mantra wieder und wieder zitiert werden, allerdings immer aus dem Kontext gerissen. »Was ist denn das für eine Schönheit, durch die die Welt gerettet werden wird«?, will der junge Ippolit von Myschkin wissen, und fügt hinzu, »dass er so leichtsinnige Gedanken jetzt deshalb hat, weil er verliebt ist«. Denn »die Schönheit ist ein Rätsel«, auch wenn man mit einer solchen, wie der von Aglaja Iwanowna »die Welt auf den Kopf stellen kann«. Für Myschkin ist die Schönheit ein Zustand der Anmut, »eine außerordentliche Steigerung des Selbstbewusstseins«, die aus »Schönheit und Gebet« besteht, einem veränderten Bewusstseinszustand, wie er ihn unmittelbar vor jedem epileptischen Anfall erlebt (»Ja, für diesen Augenblick könnte man das ganze Leben hingeben!«). Die Schönheit, von der Myschkin spricht, steht also über uns, ist etwas, an das man sich verliert, Verliebtheit oder Gebet, ein Gefühl »der Versöhnung und des entzückten, gebetartigen Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des Lebens«.

Etwas anderes ist die Schönheit der Städte und Landschaften – sie ist berührbarer Horizont, nicht schwärmerisches Schauen; kein individuelles Gut, sondern eines der Gemeinschaft; nicht aus plötzlichen Erleuchtungen gemacht, sondern aus einer kontinuierlichen Vernetzung von Bestrebungen, von Blicken, Gesten, Kenntnissen und Erinnerungen. Nicht über uns steht sie, wir sind vielmehr selbst ein essenzieller Bestandteil von ihr, weil ein und dieselbe Luft, ein und dasselbe Blut die Monumente der Kunst, die Natur und die Geschichte mit demjenigen verbindet, der sie geschaffen hat, sie bewahrt und in ihnen wohnt. Sie ist die lebendige Erfahrung der Männer und Frauen heute, die Vermittler und Bindeglied zwischen den vergangenen und künftigen Generationen sind.

Athens außerordentliche Schönheit hat die Stadt nicht vor dem eigenen Vergessen bewahrt, auch nicht vor dem Raub ihrer Zierden und den darauffolgenden Zerstörungen. Weder hinderte es die Herzöge von Athen aus der Florentiner Familie Acciaiuoli daran, die Propyläen in ihren befestigten Wohnsitz zu verwandeln (um 1403), oder die Türken, den Parthenon als Lager für Munitionspulver zu nutzen, noch den Venezianer Francesco Morosini, Kanonen auf ihn abzufeuern und größtenteils in die Luft zu sprengen (geschehen am 26. September 1687, wovon die mehr als 700 Kanoneneinschläge auf den Marmorwerken des Perikles und Phidias zeugen). Wenn wir uns nur ein wenig umsehen, in unseren Landschaften und Städten, wird deutlich, dass es nicht genügt (nie genügt hat), allein auf Schönheit zu bauen, es nicht genügen wird, von ihr eine wundersame, selbstauslösende Rettung zu erwarten und uns damit von jeglicher Verantwortung loszusprechen. Schönheit muss im Gegenteil von den Lebenden Tag für Tag gepflegt werden, wenn wir etwas von ihr für uns selbst und über unseren Tod hinaus erhalten wollen. Die Schönheit wird nichts und niemanden retten, sofern es uns nicht gelingen wird, die Schönheit zu retten und mit ihr die Kultur, die Geschichte, die Erinnerung, die Ökonomie, kurz, das Leben.

Venedig ohne Bürgerschaft

Die Gefahr des Verschwindens von Erinnerung schwebt über uns allen, sie bedroht das menschliche Zusammenleben, gefährdet die Zukunft, raubt der Gegenwart den Atem. Geht man von der Stadt als idealtypischer Form der menschlichen Gemeinschaft aus, so ist Venedig heute, nicht nur in Italien, das herausragende Symbol für die Verdichtung dieser Bedeutungen, steht aber auch emblematisch für ihren Untergang. Sollte Venedig jemals sterben, wird dies nicht der Grausamkeit eines Feindes geschuldet sein oder dem Eindringen eines Eroberers. Es wird vor allem durch ein Vergessen der eigenen Identität geschehen. Dieses Sich-selbst-Vergessen bedeutet für eine Gemeinschaft der heutigen Zeit nicht nur das Ausblenden der eigenen Geschichte und auch keine morbide Gewöhnung an Schönheit, welche sie in ihrer Selbstverständlichkeit als blutleeres Ornament erlebt und Trost in ihr sucht. Es bedeutet vielmehr das fehlende Bewusstsein für etwas, das immer notwendiger wird, nämlich die ganz spezifische Rolle einer jeden Stadt im Vergleich zu all den anderen, ihre Einzigartigkeit und Verschiedenheit – Eigenschaften, die Venedig in höherem Maße besitzt als jede andere Stadt auf der Welt. So wie jedes menschliche Lebewesen durch das charakterisiert wird, was einmalig an ihm ist, dies aber erst im direkten Vergleich mit den Begabungen und Erfahrungen anderer herauszuheben und gewinnbringend einzusetzen vermag, so auch die Städte: In der grenzenlosen Mannigfaltigkeit ihrer geschichtlichen Wechselfälle, der urbanen Formen, architektonischen Sprachen, der Materialien, mit denen sie errichtet wurden, und den Landschaften, in die sie eingebettet sind, ist jede Stadt einzigartig und wird als solche von ihren Bewohnern erlebt und geliebt. Es ist dieses Erbe, auf dem sie ihre Zukunft aufbauen sollte. Allerdings steht jede Stadt auch repräsentativ für eine ganz besondere Entwicklung, die aus dem Zusammenspiel von Ähnlichkeiten und Unterschieden zu anderen Städten Sinn, Kraft und Bestimmung zieht. Jede Stadt ist das Ergebnis einer endlosen Zahl von Entscheidungen, die im Verlauf der Zeit getroffen wurden; Entscheidungen, die an jeder Gabelung ihrer Geschichte eine andere Richtung hätten weisen können. Aus diesem Grund sind in jeder Stadt noch weitere enthalten: Städte, die sie einmal gewesen ist und die mehr oder weniger deutliche Spuren hinterlassen haben, aber auch die potenziellen Städte, jene, die sie hätte sein können, aber nicht war, und die man zuweilen aufgrund von Ähnlichkeit oder Affinität in anderen Städten verkörpert sieht. Das physische Gewebe der Stadt und die Morphologie ihres Standortes bilden ein Ganzes mit dem Netz ihrer Institutionen, der Ereignisse, deren Schauplatz sie war und ist, der Pläne und Hoffnungen, denen sie Raum geboten hat und die sie immer noch hervorzubringen vermag. Das Aufeinanderfolgen der Generationen, die jenes Geflecht gewebt haben, ist wesensgleich mit ihm, erzeugt es und wird durch es erzeugt.

Im Italien der hundert Städte ist die urbane Gestalt viele Male geboren und wiedergeboren worden: in den griechischen und etruskischen Städten, in Rom und auf römischem Territorium, durch ein langes und fruchtbares Mittelalter hindurch und in einer spektakulären Abfolge und Kontinuität seit der Renaissance bis in die jüngste Vergangenheit. Obwohl sie sich seitdem grundlegend erneuert hat, sind häufig Mauerringe, Straßenzüge, Tempel, auch jahrhundertealte Brücken erhalten geblieben, lebendige Spuren einer Vergangenheit, die so reich ist, dass man sie unmöglich ignorieren kann. Noch immer vermag man in italienischen Städten Straßenzüge zu entdecken, denen ähnlich oder gar mit jenen identisch, die Vergil, Dante oder Ariost entlanggegangen sind. Auf unserer geistigen Reise von den Alpen bis nach Sizilien erkennen wir eine unvergleichliche Vielfalt lokaler Formen des städtischen Lebens, von denen jede einzelne nicht nur in Palästen, Kirchen und Plätzen Gestalt annahm, sondern sich auch, von den Königen Neapels bis hin zu den Republiken von Genua und Venedig, in Institutionen und Regierungspraktiken niederschlug. Und in diesem abwechslungsreichen Szenario der Städte vollzog sich über Generationen hinweg ein intensives Nachdenken über das Wesen der Bürgerschaft [im Italienischen wird der Begriff ›Stadtbürger‹, cittadino, und nicht ›Staatsbürger‹ benutzt; Anm. d. Ü.], mit der Vergangenheit als Folie, vor deren Hintergrund die Gegenwart gelesen wurde. Auf den ersten Blick können wir eine Teilansicht von Palermo oder Neapel von einer Genuas oder Venedigs unterscheiden, doch zugleich erkennen wir trotz aller formidablen Vielfalt auch einen gemeinsamen – italienischen – Faden, und zwar aufgrund desselben Zusammenspiels von Verweisen und Gemeinsamkeiten, die in den Versen des Toskaners Dante das Echo der sizilianischen Dichter widerhallen lassen und auf den Seiten des Lombarden Manzoni die Neubildung einer auf dem Toskanischen beruhenden literarischen Sprache dokumentiert. Zeitliche Kontinuität und räumliche Vielfalt sind die beiden Pole, zwischen denen sich die Geschichte der italienischen Stadt (und Zivilisation) bewegt: eine Geschichte, die Gewerbe, Handel und Künste, Musik und Dichtung, das Bestellen der Felder und die Miniaturmalerei in Manuskripten, den Beruf des Architekten wie den des Arztes mit einschließt. In diesem Zusammenspiel von Konstanten und Varianten wird eine ›italienische‹ urbane Form erkennbar, die es in weiten Teilen der Welt zu einem der einflussreichsten Modelle werden ließ. Und es ist gerade die Polarität zwischen Stadt und Land, die den ursprünglichen Kontrast zwischen natürlichem Raum und urbanem Raum, zwischen einer natürlichen Ordnung und einer Ordnung der Kultur auf immer neue Weise zum Ausdruck bringt.

Jede Stadt ist also eine lebendige Erzählung der eigenen Geschichte, aber auch das Gesicht und in Stein übersetzter Ausdruck der Bevölkerung, die in ihr lebt, sie bewahrt und gestaltet. Stadt und Bevölkerung sind eins, ein einzelner Knoten verknüpft die Erfahrung der Lebenden mit der Erinnerung der Dinge. Aber wie steht es um die Bewohner von Venedig? Wird es den Venezianern gelingen, unter dem Schutz der Ruhmestaten jener città nobilissima, et singolare, dieser überaus vornehmen und einzigartigen Stadt, wie der Florentiner Francesco Sansovino seine Chronik übertitelte (1581), Herz und Wesen ihrer Stadt zu bewahren?

Das Territorium von Venedig schließt gemäß der aktuellen Verwaltungsgliederung auch ein ausgedehntes Gebiet auf dem Festland mit ein, darunter Marghera, Mestre und weitere Bezirke, wie den Flughafen von Tessera. Hierher hat es die Bevölkerung, vor allem die jüngeren Generationen, in den vergangenen Jahrzehnten gezogen. Ungeachtet der Fluktuation innerhalb der Gemeinde ist die Population auf dem gesamten Gebiet von 1971 bis 2011 um gut 100 000 Einwohner gesunken (von 363 062 auf 263 996). Betrachten wir hingegen, wie es notwendig ist, ausschließlich die im historischen Zentrum ansässige Bevölkerung, liefern die Daten ein sehr viel dramatischeres Bild:

1540

129 971

1624

141 625

1631 (nach der Pest von 1630)

ca. 98 000

1760

149 476

1797 (Fall der venezianischen Republik)

137 240

1871

128 787

1951

174 808

1961

137 150

1971

108 426

1981

93 598

1991

76 644

2001

65 695

2012 (30. Juni)

58 606

2013 (21. Oktober)

57 539

2014 (30. Juni)

56 684

2015 (30. Juni)

56 072

Venedig hat also in den vergangenen Jahrhunderten nur einmal einen vergleichbaren Bevölkerungseinbruch wie heute erlebt, und zwar infolge der Pestepidemie von 1630, nach der fast ein Jahrhundert vergehen musste, bis das ursprüngliche Niveau wieder erreicht wurde. Gleichermaßen vernichtend, wenn auch die demographischen Daten hier weit weniger zuverlässig sind, wütete die Pest von 1348, welche die Zahl der Einwohner von circa 120 000 auf 58 000 – etwas mehr als heute – dezimierte. Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich in Venedig jedoch eine neue Epidemie eingenistet. 1950 gab es in Venedig 1924 Neugeborene gegenüber 1932 Verstorbenen (also ein fast ausgeglichenes Verhältnis). Im Jahr 2000 ändern sich die Proportionen und die Bilanz kippt ins Negative: 404 Neugeborene, 1058 Verstorbene. Überalterung und Wegzug der Ansässigen, Auflösung der Familien, niedrige Geburtenrate und stetiger Rückgang der Bevölkerung zeichnen das Bild einer Stadt auf der Flucht vor sich selbst. Vor diesem Hintergrund verstehen wir, warum in der Apotheke Morelli am Campo San Bartolomeo ein Leuchtzählwerk installiert wurde, das Tag für Tag die kontinuierlich abnehmende Zahl der Einwohner Venedigs dokumentiert. Keine öffentliche Institution hat diesen dramatischen Count-down inszeniert, sondern eine Bürgergruppe. Einer von ihnen, Matteo Secchi, verkündet: »Sehr bald werden wir Venedigs Begräbnis feiern und den Sarg in einem Trauerzug zum Rathaus tragen«. Hinzu kommt, dass die im historischen Zentrum wohnhaften Venezianer »ihren Bürgermeister gar nicht wählen, weil die Zahl der Einwohner von Mestre (das Festland der Gemeinde) dreimal so hoch ist« (so der Ökonom Francesco Giavazzi).

Wer sind also ›die Bürger‹ Venedigs? Und was ist das für eine Seuche, die dabei ist, sie auszulöschen? Während die Stadt sich leert, fallen die Reichen und Berühmten über sie her, die bereitwillig Höchstpreise für ein Haus zahlen, ein Statussymbol, das sie dann fünf Tage im Jahr bewohnen. Dieser allmähliche Austausch der Bevölkerung hat zu einer Verzerrung des Marktes geführt und zwingt ihm ein Preissystem auf, das die Venezianer aus ihrer Stadt hinausdrängt und sie zur Hauptstadt der Zweitwohnungsbesitzer macht, die mit viel Pomp und Mondänität in Erscheinung treten, um dann wieder für Monate im Nichts zu verschwinden. Unterdessen schieben sich jedes Jahr acht Millionen Touristen durch die Straßen und Kanäle von Venedig, den Übernachtungszahlen von 34 Millionen steht eine maximale »Traglast« von 12 Millionen gegenüber (G. Tattara, Contare il crocerismo, 2014). Mit anderen Worten: Auf jede Person, die dauerhaft in Venedig lebt, kommen mehr oder weniger 600 flüchtige Besucher. Dieses desaströse Missverhältnis hat die Sprengkraft einer Bombe, mit drastischen demographischen und wirtschaftlichen Folgen. Die Stadt wird inzwischen von einer touristischen Monokultur dominiert, welche die Einheimischen vertreibt und das Überleben der Zurückgebliebenen und der Stadt fast ausschließlich an die Bereitschaft zur touristischen Dienstleistung knüpft. Nichts anderes scheint Venedig hervorbringen zu können als bed & breakfast, Restaurants und Hotels, Immobilienagenturen, den Verkauf typischer Produkte (von Glas bis zu Masken) und das Ausrichten sinnentleerter Karnevale, mit melancholisch geschminkter Miene, um den Anschein eines pausenlosen Dorffestes zu wahren. Und die Seuche, die das soziale Gefüge der Stadt, ihren Zusammenhalt und die öffentliche Kultur heimsucht und unterwandert, wird aus dem Bewusstsein verdrängt.

Und doch dominiert der Tourismus, der Venedig entvölkert, nach wie vor alles, so sehr, dass nicht einmal die aktuellen 2 400 Unterbringungseinrichtungen die Begierden zu stillen vermögen. Sollte es nicht gelingen, den von der Region Venetien beschlossenen piano casa zur Gebäudeerweiterung zu stoppen, könnte die Zahl der Beherbergungsbetriebe im historischen Zentrum auf 50 000 anwachsen und damit den Großteil des Stadtkerns vereinnahmen (Stella, ›Corriere della Sera‹, 25. Januar 2014). Allein entlang des Canal Grande, dieser so besonderen Straße einer besonderen Stadt, haben seit dem Jahr 2000 das Schulamt, der Consiglio Nazionale delle Richerche (›Nationaler Forschungsrat‹), eine Reihe von Justizbüros, jene der Verkehrsbetriebe, das Deutsche Konsulat, der Sitz von Mediocredito, darüber hinaus rund zwanzig Gebäudeeinheiten, Arztpraxen und Lagerhäuser geschlossen. An ihrer Stelle wurden sechzehn neue Hotels eröffnet (mehr als eines pro Jahr, allein elf seit 2007), mit einer Kapazität von 797 Betten. Auf den vier derzeitigen Baustellen entstehen Luxushotels, zwei sollen noch vor Weihnachten eröffnen, die anderen beiden 2016. Auf diese Weise wird die natürliche Mischung von Funktionen in der historischen Altstadt abgetötet und durch eine Monokultur des Tourismus und Hotelgewerbes ersetzt.

Nur, die Bürger von Venedig sind nicht die Touristen, auch nicht die aufmerksamsten, die Tage oder gar Wochen dort verweilen. Es sind auch nicht die Besitzer der Unmengen von Zweit-, Dritt- oder Viertwohnungen, die sie kaum bewohnen. Weder die einen noch die anderen vermögen das zu sein, was Menschen für eine Stadt sein sollten: Lebenssaft in jenen Adern, die ihre Straßen und Plätze sind; die Bewahrer und Urheber der Erinnerung; eine Gemeinschaft, welche die materielle Form der Stadt und ihre ethische Vernunft definiert – Le pietre e il popolo, die Steine und das Volk, wie es der Kunsthistoriker Tomaso Montanari 2013 im Titel seines Buches formuliert. Ist heute tatsächlich der immer spärlichere Haufen der in Venedig ansässigen Einwohner, die einem fast wie Überlebende nach einem Kahlschlag erscheinen, dieses Volk von Venedig? Sie werden es sein können, allerdings nur, wenn wir jene unter ihnen nicht alleine lassen, die »den stolzen und verzweifelten Versuch unternehmen, zu überleben, während ihre Stadt tagein, tagaus von einem nicht abreißenden Strom der Millionen von Fremden überschwemmt wird, die dort keine wirkliche Investition tätigen können« (Polly Coles, The Politics of Washing. Real Life in Venice, 2013). Venedig läuft Gefahr, bald ohne Bürger dazustehen. Wenn wir dies verhindern wollen, müssen auch wir Nicht-Venezianer uns zu Bürgern von Venedig, zu Bewahrern seiner Schönheit und Erinnerung machen und sorgsam über seine Zukunft wachen. Bürger sein müssen wir während unserer seltenen Besuche, vor allem aber indem wir dieser Stadt den Tribut zollen, den sie von uns einfordert: eine tiefgreifende Reflexion über jene Stadtform, die Venedig auf höchstem Niveau darstellt, über die Lebensart (und das Dasein als Bürger in der Stadt), die in ihr verkörpert ist, sowie über die Notwendigkeit, ein Konzept zu erarbeiten, das den Lebenssaft – die Bürger – wieder durch seine Adern strömen lässt. Wir müssen Venedigs ›Volk‹ sein, weil uns das Nachdenken über Venedig etwas über die anderen Städte, die, in denen wir leben, begreiflich machen wird und uns hilft, ihren Sinn und ihr Schicksal – unser Schicksal – zu verstehen.

Die unsichtbare Stadt

Haben Städte eine Seele? Die Unterscheidung beziehungsweise Opposition von ›Körper‹ und ›Seele‹ ist in tausendfachen Deklinationen und Varianten in allen menschlichen Kulturen präsent. Nehmen wir Sokrates: Für ihn ist die psyche das wahre Ich, das Bewusstsein von sich selbst und der Welt, das Wissensprinzip, das innere Gericht, die moralische und rationale Instanz, die Anleitung zu moralischem Handeln. Kern der individuellen Lebensführung ist die »Fürsorge für die Seele«, will heißen das Wissen darum, welches das gute Leben ist, dem es nachzustreben gilt und im Einklang mit dem man in der Polis (in der Stadt und der Gemeinschaft der Bürger) zu handeln hat. Seele und Körper widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich wie zwei Seiten derselben Individualität. Der Körper ist das Werkzeug der Seele, die ihn anleitet und seine Impulse mit Blick auf ein ethisch höherstehendes Ziel steuert.

Ohne auf weitere Formulierungen drängen oder das Verhältnis zwischen ›Seele‹ und ›Körper‹ zeitgemäß übersetzen zu wollen, soll uns diese antike Doktrin als wirkungsvolles metaphorisches Instrument dienen, das nicht nur das Individuum, sondern die menschliche Gemeinschaft erfasst. Eines, das nicht allein die Polis als institutioneller Apparat und Schauplatz der Demokratie betrifft, sondern auch die physische Form der Stadt. Versuchen wir uns vorzustellen, die Stadt habe einen Körper, bestehend aus Mauern, Gebäuden, Plätzen und Straßen, aber auch eine Seele; und dass diese Seele nicht nur ihre Bewohner sind, sondern auch ein lebendiges Geflecht aus Erzählungen und Geschichten, Erinnerungen und Grundsätzen, Sprachen und Bedürfnissen, Institutionen und Plänen, die ihre aktuelle Form bestimmt haben und ihre künftige Entwicklung lenken werden. Eine Stadt, nur aus Mauern, ohne Seele, wäre ein toter, trauriger Ort, gliche dem trostlosen Szenario nach dem Einschlag der Neutronenbombe, die jede Form von Leben auslöscht, aber die Gebäude unversehrt lässt und sie dem Gebrauch durch einen künftigen Eroberer überlässt. Unsere Erfahrung zeigt jedoch, dass eine Stadt der Mauern und eine Stadt der Menschen miteinander leben. Und in der Stadt der Menschen gibt es eine Seele, es ist die ihrer Gemeinschaft – sie ist die unsichtbare Stadt.

In dieser unsichtbaren Stadt gelten ungeschriebene und daher umso zwingendere Regeln. So zum Beispiel eine sehr deutliche, durch konventionelle und unzweideutige Zeichen betonte Unterscheidung zwischen Stadt und Land, zwischen urbanisiertem Raum und dem natürlichen Raum, der ihn umgibt. Diese Funktion erfüllten die hohen Stadtmauern der mittelalterlichen Städte, sie tun dies bis weit in die moderne Zeit hinein, wie man es etwa in Lucca noch immer zu sehen vermag. Auch darin einzigartig, bietet Venedig das expliziteste Beispiel für einen Übergang von der Ordnung der Natur zur Ordnung der Kultur über das Wasser: Die Lagune, dieses die Stadt umschließende Ökosystem, ist für Venedig noch immer das, was für andere Städte das ländliche Umland war (und in Teilen noch ist). Die Lagunenlandschaft repräsentierte einerseits die campagna, weil sie Anbaugebiet (Gemüse, Obst, Weinberge) und Versorgungsquelle (Fisch, Salz) war, zugleich aber eng mit der Stadt zusammenhing, weil sich auf ihren Inseln wichtige Einrichtungen für das alltägliche Leben befanden (Liegeplätze der Boote, Klöster, Hospize, Lazarette), jedoch auch dauerhaft bewohnte Siedlungen.

Eine weitere Spielregel, untrennbar verbunden mit der unsichtbaren Stadt‹ und damit auch mit ihrer realen physischen Gestalt, bestimmt das Spannungsverhältnis zwischen dem Gründungsakt, der naturgemäß in einem präzisen zeitlichen Moment rituell erfolgt, und der langsamen Ausbreitung des städtischen Gewebes. Der Akt der Gründung, oft eingebunden in historische oder mythische Erzählungen, impliziert, dass jeder sichtbaren Stadt eine unsichtbare im Geiste vorausgeht, wie etwa die Furche, die Romulus bei der Gründung Roms um das Stadtgebiet zieht, noch bevor darin auch nur ein einziges Haus steht. Aus dieser präexistenten Stadt, aus ihrer ›Seele‹, leitet die sichtbare Stadt eine Reihe von Normen ab, die an spezifische Funktionen geknüpft sind: so beispielsweise architektonische Gestaltungsformen, die Hierarchien und Aneinanderreihung der Stadtviertel und Straßen, Diktion und Fügetechniken in Mauerwerksbau und Baugliedern. Mit der Zeit formt und verändert die unsichtbare die sichtbare Stadt, erschafft sie nach ihrem Bild und Gleichnis, verwandelt die Tempel der Götter in Kirchen und Moscheen, die Paläste der Herrscher in Museen. Mit der Zeit verändert sich das Verhältnis zwischen privatem Raum und den vielfachen Untergliederungen des öffentlichen Raums, die dem religiösen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben gewidmet sind. Die sichtbare Stadt erzählt, oft nur durch verstreute Überbleibsel, von der Geschichte der unsichtbaren Stadt. Wie in einem Palimpsest lässt sie unter den Häusern und Straßen von heute die soziale Ordnung, aber auch die Spannungen und Konflikte all unserer Gestern hervorscheinen.

Die unsichtbare Stadt begleitet uns Schritt für Schritt, ist in uns – wir sind die unsichtbare Stadt. »Diese Stadt, die sich nicht aus dem Gedächtnis löschen lässt, ist wie ein Gerüst oder Gitterwerk, in dessen Felder jeder einordnen kann, woran er sich erinnern will« (Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, ital. Ausgabe 1972, dt. Übers. 2013). Für jeden von uns ist die eigene Stadt ein unverzichtbares mnemotechnisches Theater, ein Orientierungsrahmen für die individuelle Erinnerung und das kollektive Gedächtnis. Keine Stadt der Menschen kann allerdings, wie Calvinos Zora, gezwungen werden, »immobil und sich selbst immer gleich zu bleiben, damit man sich leichter an sie erinnern [kann]«. Denn dies würde allein dazu führen, dass sie dahinsiechen, zerfallen und vergehen würde und folglich in Vergessenheit gerät. Das Paradox der Erinnerung besteht darin, dass sie der Veränderung bedarf, so wie sie notwendigerweise sich selbst konservieren und wiederholen muss: »Die Stadt ist redundant: Sie wiederholt sich, damit etwas im Gedächtnis haftenbleibt. […] Sie wiederholt die Zeichen, damit die Stadt zu existieren beginnt« (Die unsichtbaren Städte). Der Großkhan stellt fest, dass alle Städte, die Marco Polo beschreibt, sich gleichen. Darauf erwidert dieser: »Beim Reisen merkt man, dass die Unterschiede verblassen: Jede Stadt gleicht sich allen Städten an, die Orte tauschen untereinander Form, Ordnung, Entfernungen aus, ein unförmiger Staub überzieht die Kontinente«.

»›Da ist noch eine, von der du nie sprichst.‹

Marco Polo senkte den Kopf.

›Venedig‹, sagte der Khan.

Marco lächelte. ›Wovon sonst, meinst du wohl, habe ich dir erzählt?‹

Der Kaiser verzog keine Miene. ›Und doch habe ich nie seinen Namen von dir gehört.‹

Darauf Polo: Jedesmal, wenn ich eine Stadt beschreibe, sage ich etwas über Venedig.‹

›Wenn ich dich nach anderen Städten frage, möchte ich dich über sie sprechen hören. Und von Venedig, wenn ich dich nach Venedig frage.‹

›Um die Eigenschaften der anderen zu unterscheiden, muss ich von einer ersten Stadt ausgehen, die implizit bleibt. Für mich ist das Venedig.‹

[…]

›Wenn die Bilder der Erinnerung erst einmal in Worte gefasst sind, erlöschen sie‹, sagte Polo. ›Vielleicht fürchte ich, das ganze Venedig auf einmal zu verlieren, wenn ich davon spreche. Oder vielleicht habe ich es, während ich von anderen Städten sprach, bereits nach und nach verloren.‹«

Richtung Chongqing

Wenn Marco Polo dem Khan hundert reale und imaginäre Städte beschreibt, tut er nichts anderes, als das Bild Venedigs, seiner unsichtbaren Stadt, in Brechung zu spiegeln. Und Calvino tut es ihm nach, er prägt Bilder von Städten, die an Venedig erinnern. Warum dies so ist, erklärt er 1983 seinen Studenten an der Columbia University:

»Die unsichtbaren Städte sind ein Traum, der im Herzen der unwohnlichen Städte geboren wird […]. Die Krise der zu großen Stadt ist die andere Seite der Krise der Natur. Die Vorstellung der ›Megalopole‹, einer grenzenlos ausufernden, uniformen Stadt, die sich allmählich über die ganze Welt ausbreitet, beherrscht auch mein Buch.«

Als Gegenpol zur Megalopole schlägt Calvino Venedig vor, es ist das Antidoton zur formlosen Stadt. Und so kommentiert er den gewaltigen Atlas von Kublai Khan, in dem alle Städte enthalten sind, die Haus für Haus beschrieben werden: