Wenn Wattwürmer weinen - Christiane Franke - E-Book + Hörbuch

Wenn Wattwürmer weinen Hörbuch

Christiane Franke

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Beschreibung

An einem wunderschönen Sommertag wird der Marketingmanager von Neuharlingersiel leblos in einem Schlafstrandkorb gefunden. Die Todesursache: vergifteter Rotwein. Die Kripo konzentriert sich auf die Frauenbekanntschaften des Toten – und hat damit alle Hände voll zu tun. Lehrerin Rosa, die sich sonst keinen neuen Fall entgehen lässt, ist erstaunlich zurückhaltend, ihr Privatleben hält sie auf Trab. Doch als ein weiterer Mann ums Leben kommt und bei ihm das gleiche Gift nachgewiesen wird, ist ihre Neugierde geweckt. Zwischen Frisörsalon, Imkerkurs und Seebestattung schaut das Kult-Trio Rosa, Dorfpolizist Rudi und Postbote Henner wieder einmal über den Tellerrand – und entdeckt Erstaunliches.

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Zeit:6 Std. 27 min

Sprecher:Tetje Mierendorf

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Christiane Franke • Cornelia Kuhnert

Wenn Wattwürmer weinen

Ein Ostfriesen-Krimi

Über dieses Buch

Situationskomik aus dem prallen Leben!» Klaus-Peter Wolf

 

«Wer geglaubt hat, dass er Ostfriesland kennt, der wird hier eines Besseren belehrt – und das mit einer saftigen Portion Spannung und vor allem Humor, dem manch einer den knorrigen Charakteren am Nordseestrand nicht zutraut, was aber einmal mehr beweist: Friesland singt nicht nur, es lacht auch!» Margarete von Schwarzkopf

 

«Morden im Norden: spannend und witzig und vor allem mit viel Herz erzählt.» WDR 5

Vita

Christiane Franke wurde an der Nordseeküste geboren und lebt immer noch gerne dort. Neben ihren gemeinsamen Projekten mit Cornelia Kuhnert schreibt sie eine weitere Krimiserie um die Wilhelmshavener Kommissarinnen Oda Wagner und Christine Cordes, die im Emons Verlag erscheint.

Cornelia Kuhnert lebt in Hannover und hat dort als Lehrerin gearbeitet. Sie hat bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht und Anthologien herausgegeben.

Samstag

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Und Henner Steffens sowieso. Auch wenn er sich heute wegen der Seebestattung seines alten Grundschullehrers frei genommen hat, stellt sich seine innere Uhr nicht einfach auf Urlaubsmodus um. Wie stets ist er mit den Hühnern aufgewacht, den Hahn seines besten Kumpels Rudi hat er eben schon krähen gehört. Ist schließlich ruhig hier in Neuharlingersiel, trotz Hochsaison. Und Rudi wohnt ja um die Ecke.

Nach der ersten Tasse Tee, die er zum Wachwerden braucht, schlüpft Henner in seine ausgebeulte Jogginghose. Normalerweise reicht ihm das tägliche Fahrradfahren beim Postaustragen, aber heute ist ein guter Tag, um mit dem Joggen anzufangen. Schließlich muss man körperlich fit bleiben, damit man nicht so endet wie sein alter Lehrer, der kurz nach der Pensionierung von jetzt auf gleich den Löffel abgegeben hat. Nee, Henner will lange was von seinem Rentnerleben haben. Auch wenn er bis dahin noch knapp zwanzig Jahre arbeiten muss.

Er streift sich das Frotteestirnband über, steckt den Wohnungsschlüssel ein und los geht’s. Anfangs sieht das noch nicht wirklich nach einem federnden Laufschritt aus, wie sein Spiegelbild in der Schaufensterscheibe zeigt, er muss eben erst mal wieder in die Gänge kommen.

Henner läuft um den idyllischen Kutterhafen herum, an den Seehundfiguren vorbei und über den großen Parkplatz, auf dem um diese Uhrzeit nur wenige Autos stehen. Vor dem Deich hält er an und verschnauft am Fuß der Treppe. Er ist wirklich ganz schön aus der Übung. Langsam geht er die Stufen hinauf. Auf der Deichkrone lässt er den Blick schweifen. Golden glänzt der Sandstrand im Licht der aufgehenden Sonne. Die Flut ist auf dem Höhepunkt, und die Wellen schlagen gemächlich gegen die Uferbefestigung. Wie ruhig und friedlich es noch ist. Nur die Möwen ziehen kreischend ihre Runden. Aber in spätestens zwei Stunden wimmelt es hier von sonnenhungrigen Familien, die die Strandkörbe bevölkern, Ball spielen und im Wasser toben. Werden ja dreißig Grad, hat der Wetterheini im Fernsehen gesagt.

Henner dreht um und geht die Stufen wieder hinunter. Als er weiterläuft, hat er das Gefühl, dass er nicht mehr so eingerostet ist. Doch auf Höhe des Campingplatzes, der geschützt hinter dem Deich liegt, bekommt er Seitenstiche und hält keuchend an. Besser nicht übertreiben, denkt er sich und macht kehrt. Gemächlich schreitet er zurück und lässt die Arme kreisen. Soll ja gut für die Schulter sein. Neben dem Bistro der Surf- und Kiteschule Windloop stoppt er. Auf der mit einer Kordel abgegrenzten Holzterrasse steht die neue Touristenattraktion von Neuharlingersiel, übermorgen geht sie offiziell in Betrieb: der Übernachtungsstrandkorb! Dafür wird jede Menge Werbung gemacht. Eine Nacht unterm glitzernden Sternenhimmel mit Wellenrauschen, lautet der Slogan. Vom Grundsatz her natürlich gut. Aber was, wenn das Wetter nicht mitspielt? Ist ja meist eher windig hier. Und Nieselregen ist auch nicht wirklich angenehm. Egal, jeder soll nach seiner Fasson selig werden, sagt er immer, auch wenn er von diesem neumodischen Kram nichts hält. Henner guckt sich um. Niemand zu sehen. Das ist die Gelegenheit! Zielstrebig steuert er den überdimensionalen Strandkorb an und linst durch das Bullauge hinein.

Sofort zuckt er zurück. Schiete, das Ding ist gar nicht leer. Drinnen liegt jemand unter einer weißen Bettdecke. Vorsichtig guckt Henner noch einmal. Moment, den kennt er doch. Das ist kein Tourist, das ist Ulfert Johannsen. Der Tourismus-Manager. Henner grinst. Dann will er dem doch mal zeigen, wie das ist, von fremden Menschen am frühen Morgen geweckt zu werden. «Moin!», ruft er fröhlich. «Na, wie war die Nacht am Strand?»

Johannsen rührt sich nicht. Komisch. Henner geht um den Strandkorb herum und blickt durch das Bullauge auf der gegenüberliegenden Seite. Ach herrje! Was ist das denn? Der Tourismus-Manager schläft nicht, sondern starrt ins Leere. Das ist kein gutes Zeichen. Der blinzelt nicht mal.

«Moin», ruft Henner noch einmal, jetzt weniger fröhlich. Aber Johannsen reagiert nicht. Verdammi noch mal! Ohne lange nachzudenken, schiebt er das Kunststoffverdeck zurück. Johannsen rührt sich immer noch nicht. Henner legt ihm zögerlich die Hand auf die Stirn. Kalt. Ach du Scheibenkleister. Der scheint mausetot zu sein. Was soll er jetzt bloß machen? Zu dumm, dass sein Handy zu Hause in der Küche liegt. Er hat ja nicht damit gerechnet, dass er beim Joggen telefonieren muss. Er überlegt. Kann er den Toten alleine lassen und Hilfe holen oder muss er hier warten?

***

Grüne Smoothies sind Rosa Molls neue Leidenschaft. Heute gibt es bei ihr «Sonne im Glas». Ein Römersalatherz, zwei geschälte Orangen, eine Scheibe frische Ananas, ein bisschen Wasser dazu und ab in den Mixer. Wie köstlich das schmeckt! Wenn sie morgens diesen kleinen Muntermacher getrunken hat, fühlt sie sich wie neugeboren. Voller Energie. Und da die Temperaturen schon jetzt an der Fünfundzwanzig-Grad-Marke kratzen, könnte sie schwimmen gehen. Sie guckt zum Tidekalender, der am Küchenschrank klebt. Das passiert ihr nicht noch einmal, dass sie bei Ebbe im Badeanzug am Strand steht. Fix sucht sie die Reihe mit dem heutigen Datum. 21. August. In einer Stunde ist Flut. Bei dem Datum stutzt Rosa allerdings. Wenn heute der 21. ist, dann ist ihre Regel schon zehn Tage überfällig. Die kommt eigentlich verlässlich wie ein Uhrwerk. So ein Mist, dass ihr das nicht eher aufgefallen ist. Aber es war einfach so viel los in letzter Zeit. Ihr Herz klopft schneller. Sie ist doch nicht etwa schwanger? Nein, das kann nicht sein. Oder etwa doch? Bitte nicht. Eine Schwangerschaft ist das Letzte, was sie jetzt gebrauchen kann. Und so lange kennt sie Holger auch noch gar nicht. Ach was, wird schon nichts sein. Schließlich nimmt sie die Pille.

Zuversichtlich zieht sie sich Badeanzug und Bademantel an. Auf in den Kampf mit den Wellen! An der Wohnungstür zögert sie jedoch. Im Bademantel zum Strand zu radeln, ist vielleicht nicht so angebracht. Sie streift sich stattdessen ihr leichtes Sommerkleid über und nimmt ein Handtuch mit. Im Erdgeschoss wirft sie einen kurzen Blick auf die Wohnungstür ihres Kumpels Henner. Der hat sich ja wegen der Beerdigung heute freigenommen. Ob er auch Lust auf Schwimmen hat? Sicher nicht. Der ist eher ein Bewegungsmuffel. Außer beim Boßeln.

 

Als Rosa beim BadeWerk das Rad den abschüssigen Weg zum Strand hinunterrollen lässt, sieht sie am Windloop jemanden wie wild winken. Direkt neben dem neuen Übernachtungsstrandkorb. Was der wohl will? Sie tritt in die Pedale und schaltet in einen höheren Gang. Als sie näher kommt, erkennt sie Henner. In matschfarbener Jogginghose! Er zeigt auf den Riesenstrandkorb. Ob er darin übernachtet hat? Das hätte sie ihm gar nicht zugetraut! Ach nee, geht ja gar nicht. Sie hat schließlich heute Morgen im Bett die Videos von Ulfert Johannsen gesehen. War total witzig, wie er sich selbst in dem Strandkorb gefilmt hat. Er hat seinen Facebook-Freunden sogar mit einem Glas Rotwein zugeprostet. Man konnte tatsächlich das Meeresrauschen im Hintergrund hören. Sah richtig romantisch aus. Vielleicht sollte sie Holger zu solch einer Übernachtung einladen, schließlich sind sie nächste Woche schon drei Monate zusammen.

«Rosa», ruft Henner und sie meint, Erleichterung in seiner Stimme zu hören. «Hast du dein Telefon dabei? Schnell, ruf Rudi an! Wir brauchen Hilfe!»

***

Rudolf Hieronymus Bakker, von allen nur Rudi genannt, braust in seiner Polizeiuniform auf der alten DKW seines achtzehnjährigen Sohnes Sven zum Strand. Nach Rosas Anruf hat er schleunigst den Notarzt verständigt, das ist Pflicht. Auch wenn davon auszugehen ist, dass sie es mit einem Toten zu tun haben. Aber ob jemand wirklich tot ist, kann eben nur ein Arzt feststellen. Keine Lehrerin wie Rosa, kein Postbote wie Henner und selbst kein Polizist wie er.

«Da bist du ja endlich!» Rosa rennt ihm entgegen, als er beim Windloop von seinem Moped steigt. «Wo bleibt der Notarzt?»

«Immer mit der Ruhe. Der kommt schon gleich. Ich verschaff mir jetzt erst mal einen Eindruck.» Rudi tritt auf die kleine Holzterrasse und beugt sich über den Rand des langgezogenen Strandkorbs. Tatsächlich. Da liegt Ulfert Johannsen. Der ist hin. So viel steht fest. Ob der einen Herzinfarkt hatte? Er war ja unglaublich engagiert und stand immer unter Strom. Nee, nee, man sollte alles lieber gemächlich angehen. Sieht man ja, wohin der übertriebene Einsatz im Job führt. Oder liegt es an der Hitze? Rudi hat den Eindruck, als ob die Leute im Moment wie die Fliegen sterben. Nachher muss er ja auch noch zur Seebestattung.

 

Eine halbe Stunde später ist alles amtlich. Der Notarzt ist zwar nur Orthopäde, aber er stellt den Tod von Ulfert Johannsen fest. Allerdings weigert er sich, auf dem Totenschein das Kreuzchen bei «natürliche Todesursache» zu machen. Kann man verstehen. Wann sieht ein Orthopäde im beruflichen Alltag schon Leichen? Jedenfalls muss die Kripo aus Wittmund nun anrücken. Auch das ist in einem solchen Fall Pflicht.

Es dauert nicht lange, da trifft das Team aus Wittmund ein. Rund um den Windloop wächst der Fuhrpark und das Blaulicht flackert fortwährend.

Im wehenden Sommermantel steuert Hauptkommissar Siegfried Haueisen den Strandkorb an, vor dem Rudi, Rosa, Henner sowie der Notarzt und sein Rettungsassistent mit ihren Köfferchen stehen. Ein paar Schritte hinter Haueisen humpelt Oberkommissar Helmut Schnepel, er hat beim Laufen durch den Sand einen Schuh verloren, den er nun in der Hand hält.

Als Haueisen Rosa sieht, bleibt er abrupt stehen. «Sie?! Was machen Sie denn hier? Haben Sie etwa schon wieder die Leiche gefunden?»

«Nein, Sie können sich beruhigen. Dieses Mal war es Henner.»

***

«Und diese Biene, die ich meine, nennt sich Maaaja!» Hoyko Manninga singt lauthals und tritt in die Pedale. Hoyko ist Rudis lang verschollen geglaubter Vater, der aber vor dreiundvierzig Jahren gar nicht mit dem Frachter untergegangen ist, sondern in Kanada abmusterte und sich dort in eine junge Frau verliebte, mit der er nicht nur eine Familie, sondern auch ein Hotel gründete.

Das gab vielleicht ein Hallo und Achso, als er vor einigen Monaten mit seinen beiden Töchtern in Neuharlingersiel auftauchte. Die Töchter sind inzwischen wieder in Kanada, doch Hoyko ist geblieben. Seine Frau ist schon längere Zeit tot, und Hoyko hat ganz tief in sich den Wunsch gespürt, in seiner angestammten Heimat ein zweites Zuhause zu haben. Er möchte vor allem eine Beziehung zu seinem Sohn aufbauen, von dem er bis vor ein paar Monaten nicht einmal gewusst hat, dass es ihn überhaupt gibt. Zugegeben, die Freundschaft mit Rudis Mutter Helga ist damals nicht rein platonisch gewesen, aber dass Helga schwanger gewesen ist, hat er nicht gewusst. Und Rudi hat ihn mit Sven sogar schon zum Großvater gemacht! Nach der ersten Überraschung hat er sich riesig über den unverhofften Familienzuwachs gefreut. Und gemerkt, dass auch die alte Heimat ihn sofort wieder in ihren Bann zieht. Hier spürt er seine Wurzeln. Hier hat er in Gerda und Heinrich Steffens alte Freunde. Gemeinsame Erinnerungen an seine Kindheit. Seine Jugend. Seine erste Liebe. Deshalb hat er sich ein Haus in Neuharlingersiel gekauft. Gleich in der Nachbarschaft von Rudi und Sven. Eigene Scholle ist schließlich Gold wert.

Und als naturverbundener Wahlkanadier möchte er hier ebenfalls einen Beitrag dazu leisten, dass die Artenvielfalt erhalten bleibt. Deshalb hat er sich zu einem Hobby-Imker-Kurs an der Volkshochschule angemeldet. Die Theorie hat er bereits hinter sich gebracht, heute geht es endlich an die praktische Arbeit. Denn er will die Bienen vor dem Aussterben retten. Und damit die Welt. Eigentlich ist die Sache ganz einfach. Man muss nur den großen Zusammenhang sehen – und das ist etwas, was Hoyko kann. Sonst hätte er es in der Fremde nie so weit gebracht. Darauf ist er sehr stolz. Genau wie auf seine beiden Töchter, die das Hotel jetzt ohne ihn leiten.

Hoyko radelt vorfreudig vor sich hin, mit seinem E-Bike fliegt die Strecke nur so dahin. Tolle Erfindung. Da kann er sportlich sein, ohne sich bei dem ständigen Gegenwind hier an der Küste völlig verausgaben zu müssen. Er ist schließlich nicht mehr der Jüngste.

***

Nachdem sich der Chef und Schnepel den Leichnam angeschaut haben und Ulfert Johannsen vom Bestatter abgeholt worden ist, entspannt sich Rudi. Die Obduktion wird reine Routine sein. Passiert ja schon mal, dass jemand nach einem stressigen Tag einen Herzinfarkt kriegt. Davon liest man alle nasenlang in der Zeitung. Vielleicht hätte Johannsen gerettet werden können, wenn jemand bei ihm gewesen wäre. Ist eben Schicksal. Niemand weiß, wann sein Lebensweg zu Ende ist, denkt Rudi und packt alles, was im Strandkorb liegt, ein: Johannsens Handy, eine leere Weinflasche und ein Weinglas.

Henner ist bereits wieder nach Hause gefahren, aber Rosa steht noch am Dienstfahrzeug des Chefs. Als der Leichenwagen langsam davongerollt ist, kommt sie näher.

«Übrigens, Johannsen hat gestern einige Videos bei Facebook hochgeladen», sagt sie. «Die hat er hier gemacht, im Strandkorb.» Sie tippt auf ihrem Handy herum und startet ein Video. Johannsen sitzt im Strandkorb, grinst in die Kamera, die er dann dreht, um eine 180-Grad-Aufnahme vom Strand zu machen. «Herrlich ruhig hier», hört man ihn sagen. «Eine ganz besondere, eine ganz neue Erfahrung, den Strand so zu erleben. Hört ihr das Meer rauschen?» Dann ist er wieder selbst zu sehen. «Ich werde später weiter berichten. Und euch teilhaben lassen an dem Zauber, der einer Übernachtung in diesem besonderen Ambiente innewohnt.» Nun hebt er sein Glas Rotwein. «Auf euch!»

«Ach nee», ruft Schnepel überrascht, Haueisen zieht lediglich die Stirn in Falten.

Rosa lässt die anderen kurzen Videoclips laufen. Auf jedem ist Ulfert Johannsen allein zu sehen, und tatsächlich vermitteln die Bilder des einsamen Strandes und des rosigen Sonnenuntergangs eine wunderbare Stimmung.

«Ha! Das nenn ich mal eine Chronik des Todes!» Schnepel klingt begeistert. «Gerade noch voller Saft und Kraft und schon hat’s ihn dahingerafft. So ein Pech aber auch!»

«Darüber macht man keine Witze», rügt Haueisen ihn, aber Schnepel grinst weiter.

«Ach was, Chef. So ist das Leben. Andererseits …» Nun kneift Schnepel die Augen zusammen und beugt sich noch einmal über Rosas Handy. «Wer weiß, wer diese Videos gesehen hat. Vielleicht ist jemand hergekommen und hat ihn zu Tode erschreckt. Ein hinterhältiger Totschlag sozusagen.» Er richtet sich auf, nimmt die Sonnenbrille aus der Manteltasche und setzt sie auf. «Ich schlage vor, dass wir den Inhalt der Müllkörbe der unmittelbaren Umgebung mitnehmen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, sage ich immer. Und vielleicht handelt es sich doch um einen Tatort, und wir müssen später jedes Sandkorn umdrehen.»

Rudi tippt sich an die Stirn. «So ein Unsinn! Es deutet doch alles darauf hin, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist. Und was willste im Müll auch finden?»

«Abwarten und Tee trinken, mein Freund.» Schnepel drückt Rudi einen Plastiksack in die Hand. «Fang mal an mit dem Einsammeln.»

«Schaden kann es jedenfalls nicht», pflichtet Rosa ihm bei. «Aber auf mich müsst ihr jetzt verzichten, ich hab in zehn Minuten einen Termin. Tschühüs!»

***

Waltraud Kämpfer wohnt auf einem alten Resthof. Ein mit Wildblumen gesäumter Weg führt zum Haus. Hier wird vorbildlich für die Bienen gesorgt, bemerkt Hoyko. Nichts anderes hätte er von Waltraud erwartet. Schließlich hat er in ihrem Kurs gelernt, dass Artenvielfalt und nektarreiche Blüten wichtig für den Fortbestand der Bienen sind. Gelb blühende Forsythien sollte man gleich abholzen, sie sind nur Schein, kein Sein. Im Unterschied zu Lupinen, Ginster und unaufgeräumten Gärten. Die bieten den Bienen Lebensraum. Das Unkrautzupfen kann auch gleich wegfallen. Eigentlich praktisch. Sieht nur nicht so gepflegt aus.

Auf dem großzügigen Platz vor dem «Bienen-Hof» wartet Waltraud auf ihre Kursteilnehmer. Nicht alle, die den Theoriekurs belegt haben, interessieren sich auch für die Praxis. Das kann Hoyko gar nicht verstehen. Er lächelt, als er Waltraud sieht, die nicht nur Imkerin, sondern sogar die Honigobfrau des örtlichen Bienenzüchtervereins ist. Neben ihr steht Reinhard Schmidt, ein bärtiger Landschaftsgärtner um die vierzig. Irgendetwas an ihm gefällt Hoyko nicht, aber er könnte nicht sagen, was es ist. Maya hingegen mag er. Sie ist eine Bekannte seines Sohnes und obendrein noch Yogalehrerin. Er hat tatsächlich ein paar Mal an ihrem Unterricht teilgenommen. Aber nur, weil sein alter Kumpel Heinrich Steffens und sein Sohn das auch machen. So wirklich kann Hoyko sich mit diesen Verrenkungen nicht anfreunden. Da sind ihm die Bienen lieber.

Nachdem als Letzte nun auch Monika und Olaf, ein Pärchen aus Altfunnixsiel, da sind, begrüßt Waltraud die kleine Truppe: «Ich freue mich sehr, dass ihr da seid! Nur durch engagierte Bürger wie euch haben wir eine Chance, die Bienen zu retten. Denn wir müssen uns immer in Erinnerung rufen: Ohne Bienen geht unsere Welt unter. Ohne Bienen verlieren auch die Menschen ihren Lebensraum. Also, lasst uns loslegen. Folgt mir.»

Überall in dem weitläufigen Garten summt und brummt es. Hoyko entdeckt schon auf den ersten Blick drei verschiedene Schmetterlinge. Unter alten Apfelbäumen stapeln sich grüne Kisten. Waltraud zeigt auf eine Öffnung im obersten Kasten. «Hier ist das Eingangsloch, durch das die Bienen ein und aus fliegen. Schaut her.»

«Stechen die nicht, wenn man da so dicht rantritt?», fragt Monika. Der Respekt vor dem Bienenvolk ist ihr anzusehen.

«Nein, Bienen sind friedliche Tiere. Sie mögen es nur nicht, wenn jemand stark parfümiert ist oder in ihrer Nähe eine Banane isst. Dieser Geruch ähnelt dem des sogenannten Alarmpheromons, das freigesetzt wird, wenn eine Honigbiene sticht. Das warnt die anderen Bienen sofort und lässt sie ebenfalls aggressiv werden. Alle schalten dann blitzschnell auf Beschützermodus um und stechen schon mal zur Verteidigung – selbst wenn sie direkt danach sterben. Das hält sie nicht davon ab. Übrigens, vielleicht fragt ihr euch, warum Imker weiße Schutzkleidung tragen?» Sie zeigt auf Hoyko, der sich bereits umgezogen hat. Nun trägt er seine weiße Imkerjacke mit Hut und abnehmbarem Schleier, die Sven ihm zum Geburtstag geschenkt hat.

«Sie verwechseln Menschen in dunkler Kleidung mit Bären», antwortet Hoyko grinsend. «Und vor denen haben sie Angst. Man muss ja nur mal an Balu, den Bären aus dem Dschungelbuch, denken, wie der den Honig schleckt.»

«Gut aufgepasst in meinem Unterricht», lobt Waltraud ihn und Hoyko wirft dem Landschaftsgärtner Reinhard einen stolzen Seitenblick zu. Nur weil er schon etwas älter ist, soll Reinhard bloß nicht glauben, er hätte keine Chancen mehr bei den Frauen.

***

Die Glöckchen über der Tür vom Frisörsalon Anita bimmeln, als Rosa den Laden betritt. Sofort flitzt der Mischlingsrüde von Henners Schwester Gudrun auf sie zu und springt kläffend an ihren Beinen hoch.

«Aus, Schecki! Sitz!» Gudrun pfeift den Hund zurück, der zu Rosas Überraschung prompt reagiert. Anscheinend hat der Lehrgang in der Hundeschule etwas gebracht.

«Moin!» Rosa begrüßt Gudrun mit einem Wangenkuss. Sigrid und Tante Hildegard winkt sie nur zu, die eine sitzt unter der Trockenhaube, der anderen werden gerade Lockenwickler eingedreht.

«Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Aber ich kam nicht vom Strand weg. Obwohl ich nicht einmal zum Baden gekommen bin.» Rosa macht eine dramatische Pause und setzt sich auf den Frisörstuhl. «Ich musste der Polizei unter die Arme greifen.»

Sofort drehen sich alle Köpfe in ihre Richtung.

«Polizei?», kommt es wie aus einem Mund von Tante Hildegard und Sigrid. Beide gucken sie alarmiert an. Vielleicht weil sie vor kurzem ebenfalls ins Visier der Beamten aus Wittmund geraten sind. Aber das war ja zum Glück nur ein Sturm im Wasserglas.

«Habt ihr das gar nicht mitbekommen?» Rosa stellt ihre Füße auf der Edelstahl-Fußstütze an der Wand ab.

«Ach, du meinst den Krankenwagen?» Sigrid schiebt ihren Kopf unter der Trockenhaube vor. «Hab ich vom Fenster aus gesehen. Erst den Krankenwagen, dann die Polizei und schließlich den Leichenwagen. Das kennt man ja schon während der Saison.»

«Stimmt.» Tante Hildegard nickt und verzieht dabei das Gesicht. Die Wickler in ihren Haaren ziepen wohl wegen ihrer hektischen Bewegung. «Die Touristen glauben, sie seien die Herren über Ebbe und Flut und brauchen die Gezeiten nicht zu respektieren – bis ihnen das Wasser buchstäblich bis zum Hals steht.»

«Das war aber kein Tourist. Das war Ulfert Johannsen. Der lag heute früh tot im neuen Übernachtungsstrandkorb.»

«Der Chef vom Tourismusbüro?» Gudrun pikst die Kunststoffnadel für den Lockenwickler vor Schreck so tief in die Haare, dass Tante Hildegard aufjault.

Danach ist es ganz still im Laden. Alle Blicke richten sich gespannt auf Rosa.

«Ja. Stellt euch vor! Gestern hat er noch jede Menge Filme von sich im Strandkorb gepostet. Und heute Morgen ist er tot. Henner hat ihn gefunden. Vermutlich ein Herzinfarkt.»

Betretenes Gemurmel erfüllt den Raum. Sigrid fängt sich als Erste. «Noch einer, den der Herr zu sich holt. Dieses heiße Wetter hat es in sich. Damit ist nicht zu spaßen. Ich muss Ludwig unbedingt warnen, dass der das Haus gar nicht erst verlässt. Sonst ist er der Dritte, der umkippt. Ihr wisst ja, wie empfindlich der ist.»

«Ludwig ist aber nicht mehr in dem gefährlichen Alter zwischen vierzig und fünfzig», entgegnet Tante Hildegard.

«War Ewald Wulff auch nicht. Und den geben wir nachher dennoch in die Hände des Herrn.» Sigrid rutscht wieder unter die Trockenhaube.

«Eher in die Wellen des Herrn», entgegnet Tante Hildegard trocken. Sie hält Gudrun ihr Sektglas hin. «Kannst du uns noch mal nachschenken, bitte? Das haben wir heute nötig. Ein Toter und eine Beerdigung an einem Tag. Das muss man erst mal verkraften.»

Gudrun geht mit der Sektflasche rum, gießt nach und hält auch Rosa ein Glas hin. Die schüttelt den Kopf.

«Was ist denn los?» Gudrun sieht sie alarmiert an. «Du trinkst doch sonst immer ein Gläschen mit.»

Rosa seufzt. Ihre Lippen zucken. «Ich würd ja gern. Aber … Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?», flüstert sie Gudrun ins Ohr.

Die nickt ihr verschwörerisch zu.

«Könnte sein, dass ich schwanger bin.»

Gudrun schaut sie überrascht an. «Schwanger? Von Holger?»

«Wer ist schwanger?» Tante Hildegard hat Ohren wie ein Luchs.

Im nächsten Moment bebt der Laden. Gudrun nimmt Rosa in den Arm, Sigrid folgt. Seit Rosa im Häkelbüdel-Club aufgenommen ist, gehört sie zum inneren Kreis der Neuharlingersieler Frauen. Aber seitdem muss sie auch damit leben, dass es keine Geheimnisse gibt. Alle reden durcheinander und geben gute Ratschläge.

«Wie weit bist du denn?», fragt Gudrun.

«Keine Ahnung. Noch ziemlich am Anfang.» Ein mulmiges Gefühl beschleicht Rosa. Sie sollte unbedingt einen Test machen, um sicherzugehen. Aber woher soll sie den jetzt auf die Schnelle bekommen? In Neuharlingersiel gibt es keine Apotheke. Und nachher muss sie zur Beerdigung. Außerdem hat sie Montagmorgen sowieso einen Termin bei der Frauenärztin. Und bis dahin muss sie es Holger ja noch gar nicht sagen und kann sich selbst erst einmal mit dem Gedanken vertraut machen.

«Du solltest das Kind auf jeden Fall schon in der Krippe anmelden. Meine Tochter hatte solche Schwierigkeiten, einen Platz zu bekommen, weil sie das erst nach der Geburt gemacht hat», sagt Gudrun und trinkt einen Schluck Sekt. «‹Die kleinen Wattwürmer› sind die beliebteste Kindergruppe weit und breit. Du kannst dich da schon jetzt online anmelden.»

***

Die Überbringung der Todesnachricht hat der Chef Rudi aufgedrückt. Er weiß nicht nur, wo Johannsen wohnt, sondern auch, dass der mit seiner Freundin zusammenlebt. Bis die bei ihm eingezogen ist, hatte Johannsen einen ganz schönen Verschleiß an Frauen. Zugegeben, er sah auch ziemlich gut aus. Durchtrainierter Körper, groß, beginnendes Grau im Haar, obwohl er erst Anfang vierzig war. Das soll ja angeblich sexy auf Frauen wirken. Lag vielleicht auch an seinem Job. Als Marketingchef der Werbegemeinschaft für Touristik hat er jede Menge interessanter Menschen kennengelernt. Krimi-Autoren und Musiker, sogar Matthias Reim und Ella Endlich sind schon in Neuharlingersiel aufgetreten. Auf der Festbühne beim Hafenfest. Klar, dass die Frauen hofften, sich im Dunstkreis der Stars aufhalten zu können, wenn sie mit Ulfert zusammen waren. Aber der ist nie lange bei einer geblieben. Nur die Neue, die zu ihm gezogen ist, mit der ist er seit über einem halben Jahr zusammen gewesen.

Rudi seufzt. Im Überbringen schlechter Nachrichten ist er nicht besonders gut. Er ist schließlich kein Psychologe. Aber jammern nützt nix. Er setzt den Helm auf, schnappt sich die DKW und fährt langsam los. Inzwischen tummeln sich eine Menge Touristen am Strand. Gott sei Dank ist die Leiche schon abtransportiert worden, bevor der Trubel hier richtig losgegangen ist.

Als er auf der Straße ist, gibt er Gas, nur um wenige hundert Meter weiter scharf abzubremsen und in Johannsens Straße einzubiegen. Das Nurdachhaus hat früher dem Geschäftsführer der Krabbenpulfabrik gehört. Der ist aber auch tot. Seltsam. Ob ein Fluch auf dem Haus liegt?

Vor der Garage steht Johannsens schwarzer SUV. Rudi parkt dahinter, hängt den Helm an den Lenker, nimmt die Dienstmütze vom Gepäckträger und atmet tief durch. Los geht’s, macht er sich Mut. Er setzt die Mütze auf und klingelt. Und wartet. Es tut sich aber nichts. Er will erneut klingeln, da fällt sein Blick auf das Türschild. Dort haben mal zwei Namen gestanden. Nun ist einer durchgestrichen. Nur Johannsen steht noch da. Eigenartig. Rudi kratzt sich an der Nase und überlegt. Dann dreht er sich um und blickt auf das gegenüberliegende Haus. Dort wohnen Gisela und Erwin Frerichs. Gisela ist eine Freundin der Familie Steffens. Und überaus neugierig. Um nicht zu sagen die größte Tratschtante Neuharlingersiels.

Die Küchengardine bewegt sich. Rudi schmunzelt. Gemächlich schlendert er über die Straße und klingelt. Gleich darauf wird die Tür geöffnet.

«Rudi!?» Gisela klingt überrascht und kriegt rote Flecken im Gesicht. Sie trägt eine schwarze Hose und eine rot-grün karierte Bluse, die geschickt die Rundungen um ihre Leibesmitte kaschiert.

«Moin, Gisela.» Rudi nimmt die Mütze vom Kopf. «Ich wollte drüben zu der Freundin von Ulfert Johannsen. Aber die macht nicht auf und es steht auch nur noch sein Name am Klingelschild. Wohnt die da nicht mehr?»

«Ach, die arme Deern.» Gisela tritt einen Schritt zurück. «Komm man erst mal rein. Muss ja nicht jeder sehen, dass du in Uniform bei uns vor der Tür stehst. Magst ’nen Tee?» Sie geht in die Küche vor, in der Erwin am Tisch sitzt und Kreuzworträtsel löst.

«Moin», grüßt Rudi. Erwin grüßt zurück, ohne den Kopf zu heben.

«Wie ist das nun mit Tee?» Gisela hält die Kanne hoch.

Rudi lehnt dankend ab. «Wieso sagtest du gerade: ‹die arme Deern›?»

«Na, der Johannsen hat doch mit ihr Schluss gemacht und sie vor die Tür gesetzt. Erst letzte Woche. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie die sich auf der Straße angebrüllt haben. Das war mir direkt peinlich, obwohl ich ja gar nichts damit zu tun hatte.»

«Weißt du, wo sie jetzt wohnt?»

«Nein», sagt Gisela ein wenig pikiert, «von mir hat sie sich nicht einmal verabschiedet.»

«Aber den Namen weißt du? Und wo sie arbeitet?»

«Na klar. Was denkst du denn? Man muss sich doch für seine direkten Nachbarn interessieren. Das gehört zum guten Ton. Sie heißt Amelie Nansen und arbeitet als Altenpflegerin im Seniorenstift.»

«Hat Johannsen Verwandte im Ort?» Irgendjemanden muss Rudi schließlich benachrichtigen.

«Nee, hier nicht. Aber er hat noch eine Schwester. Die wohnt in Wilhelmshaven. Hat drei kleine Kinder. Ganz goldig. Wie die Orgelpfeifen sind die. Die Älteste ist im letzten Jahr in die Schule gekommen. Ab und zu besuchen sie Herrn Johannsen hier mal.»

«Weißt du, wie die heißt?»

«Na klar. Herr Johannsen hat mir ihren Namen und ihre Telefonnummer gegeben. Für den Fall, dass was sein sollte, wenn er im Urlaub ist. Einbruch oder Wasserschaden oder so.»

«Kannst du mir beides bitte aufschreiben?»

«Sicher. Was ist denn nun mit dem Johannsen?» Gespannt schaut Gisela Rudi an.

«Sei nicht so neugierig», mahnt ihr Mann Erwin vom Küchentisch aus.

«Er ist gestorben.»

«Um Himmels willen», ruft Gisela entsetzt und reißt die Hände hoch. «Der arme Mann. Der war doch noch so jung! Und hatte nicht mal eine eigene Familie. Ach, wie schade!» Sie kräuselt nachdenklich die Lippen. «Wie ist er denn gestorben? Ein Autounfall kann’s nicht gewesen sein, sein Wagen steht ja noch drüben.»

«War wohl ein Herzinfarkt.»

«Ojemine, ojemine.» Gisela guckt betroffen drein.

«Gibst du mir nun die Kontaktdaten der Schwester?», drängt Rudi. Schließlich beginnt die Seebestattung von seinem alten Grundschullehrer in einer Stunde. Und die möchte er nicht verpassen. Schon aus Erinnerung an die Schulzeit. Außerdem gibt’s nach dem Zuwasserlassen der Urne immer so leckeren Butterkuchen auf dem Schiff.

***

Beschwingt radelt Hoyko zurück nach Hause. Er hat vorhin unter Waltrauds Anweisungen ein Rähmchen aus dem Bienenstock gezogen und von ganz nah angesehen. Die sechseckigen Waben sind derart exakt ausgebildet, dass Hoyko es kaum glauben kann. Waltraud hat erzählt, dass die Wände frisch gebauter Zellen perfekt glatt und überall gleich dick sind – und das Tollste: Die Winkel, mit denen sie zusammenstoßen, betragen immer genau 120 Grad. Wie die kleinen Tiere das bloß hinkriegen, das grenzt Hoykos Meinung nach an ein Wunder.

Als er beim Steffens-Hof abbremst, sitzen Gerda und Heinrich im Schatten unter dem Apfelbaum. Auf dem Gartentisch stehen zwei Teetassen und eine abgedeckte Schale mit Apfelmus.

«Na, ihr zwei, ihr habt’s euch ja nett gemütlich gemacht. Darf ich mich zu euch gesellen?»

«Na klar. Trinkst ’ne Tasse mit?» Gerda steht schon auf.

«Sehr gerne.» Hoyko lässt sich auf einen Stuhl plumpsen. «Mann, das war vielleicht ein Vormittag! Mir brummt der Schädel von all dem, was ich gerade erlebt habe.»

«Das musst du unbedingt gleich ausführlicher erzählen», sagt Gerda. «Ich hätte auch so gern ein Bienenvolk, aber Heinrich will nichts davon wissen. Vielleicht kannst du ihn ja überzeugen. Ich hole dir jetzt erst mal eine Tasse und Sprudelwasser für uns alle.»

«Bin nicht zu überzeugen», brummt Heinrich und greift zu seiner Teetasse. «Wir haben genug Viehzeug. Wird mir fast schon zu viel.»

«Jeder so, wie er mag.» Hoyko grinst. Er ahnt jetzt schon, dass Gerda sich durchsetzen wird. Wenn sie sich was vorgenommen hat, dann kriegt sie es in den allermeisten Fällen auch hin. Aber besser, er wechselt erst mal das Thema. «Keins von den Kindern da?»

Hofhund Butscher hebt träge den Kopf, um sich bemerkbar zu machen, und Heinrich streicht ihm sanft über den Kopf. «Die müssen gleich alle zur Beerdigung.»

Er verscheucht eine Biene, die sich gerade auf das Apfelmus in seinem Glasschälchen setzen will.

«Nicht mit der Hand wedeln, das erschreckt die Bienen und dann stechen sie!», ruft Hoyko und ist dann gar nicht mehr zu bremsen. Gerda, die gerade mit dem beladenen Tablett zurückkehrt, kriegt große Augen, als er von den Bienenvölkern erzählt. Und von der gefährlichen Milbe, die den Bienen den Tod bringt.

«Gerade Wildbienen brauchen unseren besonderen Schutz», erzählt er weiter. «Sie entfernen sich nur wenige Meter von ihrer Behausung und suchen in der Nähe nach Nektar. Ich werde nachher gleich mit dem Bau eines Insektenhotels für sie anfangen. Das solltest du auch machen, Heinrich.»

Der lässt die Hosenträger an seiner ausgebeulten Cordhose schnappen und guckt Hoyko für einen Moment schweigend an, bevor er fragt: «Haben sie dir Sabbelwasser gegeben bei deinem Kurs?»

«Nee, Heinrich. Ich meine das wirklich ernst. Wir müssen den Wildbienen wieder Lebensraum geben.»

Heinrich deutet mit dem Finger auf die Ecke hinter dem Schuppen, zum Stapel mit dem Totholz.

«Bei uns haben sie genug Lebensraum. Guck selbst. Und im Gebälk vom Haus sind auch jede Menge Schlupflöcher für die Viecher. Insektenhotels sind was für Städter.»

«Waltraud sagt, dass wir eine Verantwortung haben. Die Bestäubung durch die Bienen sichert Ernten. Waltraud sagt …»

«Sach mal, du schwärmst ja von der wie in jungen Jahren für Helga – hast du was mit dieser Waltraud?» Heinrich lässt erneut die Hosenträger schnappen.

***

Rosa überlegt schon eine Weile, was sie zur Trauerfeier anziehen soll. Bei den hochsommerlichen Temperaturen heizt sich schwarze Kleidung zwar richtig auf, aber es nützt ja nichts. Sie schlüpft in einen schwarzen Rock, der knapp über den Knien endet. Nicht schlecht. Dazu das gleichfarbige Top mit dem Paillettenherz. Den hüftlangen Blazer kann sie an Bord ausziehen und erst wieder überstreifen, wenn die Urne zu Wasser gelassen wird. Auf Perlonstrümpfe verzichtet sie, an Pumps führt aber kein Weg vorbei.

Sie mustert sich im Spiegel. Ja, so passt das. Statt des pinkfarbenen Lippenstifts wählt sie heute den in Altrosé. Das ist dezenter. Während sie ihre Lippen anmalt, kommt ihr Gudruns Rat in den Sinn. Ob sie das Ungeborene wirklich schon in der Kinderkrippe anmelden sollte? Ach was. Oder lieber doch? Sie wirft einen Blick auf die Uhr. Ein paar Minuten hat sie noch. Also klappt sie ihren Laptop auf, geht auf die Seite «Kleine Wattwürmer Neuharlingersiel» und meldet das Baby dort an. Es ist ein eigenartiges Gefühl, die Mail abzuschicken. Ist das ein Hauch von Glück, den sie da verspürt, oder eher Ängstlichkeit vor all den Ungewissheiten, die da auf sie zukommen? Sie schüttelt sich, schließt den Laptop, schnappt sich ihre Handtasche und verlässt die Wohnung.

Als sie die Treppe hinunterläuft, tritt Henner gerade aus seiner Wohnung. Im schwarzen Anzug hat sie ihn lange nicht gesehen. Ein bisschen fremd sieht er darin aus, aber gut.

«Brauchst gar nicht so gucken. Ich weiß, was sich gehört. Und einen schwarzen Anzug hätte Herr Wulff von mir erwartet.»

«Stimmt», sagt Rosa. Sie selbst hat Ewald Wulff noch kennengelernt, als sie an der Schule in Esens angefangen hat. «Als Rektor war der ganz schön pingelig. Ein richtiger Korinthenkacker. Ich war eigentlich ganz froh, als er in Pension gegangen ist. Sein Nachfolger sieht alles viel lockerer.» Sie hakt sich bei Henner ein, damit er nicht so schnell geht. In den hochhackigen Schuhen ist sie immer ein bisschen langsamer.

«Über Tote soll man nicht schlecht reden.»

Rosa wirft Henner einen empörten Blick zu. «Du hättest vorhin beim Frisör mal hören sollen, was die Damen vom Häkelbüdel-Club über den gesagt haben.»

«Musst nicht alles glauben, was die erzählen. Die machen doch den ganzen Tag nichts anderes als tratschen.»

Rosa zieht eine Schnute. Tratschen hört sich aus Henners Mund abwertend an. Dabei ist es doch eher so, dass man auf dem Laufenden sein möchte. Sie leben ja nun hier nicht so anonym wie in der Großstadt, man will doch wissen, was um einen herum los ist.

 

Die MS Meeresleuchten liegt heute in Höhe des Fähranlegers. Das Schiff ist auf Halbmast geflaggt. Die ersten Trauergäste sind schon an Bord. Rosa gibt sich alle Mühe, mit ihren Pumps nicht auf der Stelling auszurutschen. Zum Glück gibt es alle dreißig Zentimeter eine Querschiene, da finden ihre Füße Halt. An Bord begrüßt der Kapitän sie mit Handschlag. Etliche von Rosas Kollegen stehen an Deck und reden leise miteinander, Rosa erkennt den Bäcker und einige Krabbenfischer, denen sie zunickt. Jede Menge Leute sind hier. Kein Wunder, viele zählten sicher zu den Schülern des Verstorbenen. Oder sind Eltern von Schülern. So alt war Ewald Wulff ja nun auch noch nicht.

Die Gruppe der Hornbläser steht an Deck, alle in grüner Jagdmontur und mit passenden Hüten. Ganz rechts am Rand entdeckt Rosa Holger, das Horn lässig in der Hand. Erst vor ein paar Tagen hat er ihr alle fünf Töne des Jagdhorns vorgeblasen. Da hat sie laut lachen müssen. Aber er hat das mit Humor genommen, wie er überhaupt alles mit Humor nimmt. «Alleine zu blasen ist immer schwieriger als in der Gruppe», hat er gesagt und ihr einen Kuss gegeben.

Rosa winkt ihm zu, aber Holger bemerkt sie nicht, er ist ins Gespräch vertieft. Macht nichts, sie sehen sich ja noch, auf dem Schiff kann keiner weglaufen.

Rosa gesellt sich zu Henner und seinen acht Schwestern, die wie ein Haufen Hühner durcheinanderschnattern. Heute nur etwas gedämpfter als sonst. Rosa begrüßt jede mit einem Wangenkuss. Gerade als der Kapitän die Stelling einholen will, kommt Rudi angerannt.

«Grad noch geschafft», stößt er atemlos aus und schüttelt dem Kapitän die Hand, der direkt danach im Führerhaus verschwindet.

 

Die MS Meeresleuchten nimmt Kurs auf die Insel Spiekeroog.

«Wo wird die Urne denn ins Wasser gelassen?», will Rosa wissen.

«Zwischen Spiekeroog und Wangerooge gibt es ein speziell für Seebestattungen ausgewiesenes Gebiet», erklärt Gudrun. «Der Kapitän muss das genau auf der Karte dokumentieren.»

«Ach», wundert sich Rosa. «Das ist festgelegt?»

«Jo.» Henner beugt sich über die Reling und schaut ins aufspritzende Fahrwasser. «Is nichts mit von wegen: rausfahren und die Urne irgendwo ins Wasser werfen.»

«Nee, das geht gar nicht», ergänzt Rudi. «Ist wie bei den Bestattungen in einem Friedwald. Da kann man auch nicht einfach so die Urne einbuddeln.»

Bei ruhigem Seegang und herrlichstem Sonnenschein halten sich beinahe alle Trauergäste oben an Deck auf. Auch Ewald Wulffs Frau, die gerührt ist von den vielen Anekdoten über ihren Mann, die die Gäste aus ihrer Schulzeit erzählen.

«Als Junglehrer hat er einen Schüler im Museum in Emden vergessen. Danach hat er seine Pappenheimer immer dreimal durchgezählt, damit ihm das nicht noch einmal passiert», erinnert sich Adelheid, Henners älteste Schwester, schmunzelnd.

Einer der Jagdbläser erzählt von einer Treibjagd bei Schloss Lütetsburg, bei der sich Ewald Wulff einen Mann aus Nordrhein-Westfalen zur Brust genommen hat, der trotz der Absperrung den Wald betreten hat.

Rosa hat keine Ohren für das Jägerlatein, das sich anschließt, sondern nur Augen für Holger, der sich immer noch rege unterhält. Endlich dreht er sich zu ihr um, lächelt und winkt ihr zu. «Ich komme gleich», meint sie von seinen Lippen ablesen zu können.

Rudi stupst sie an. «Ich denke, dein Freund ist Sondelgänger und sucht mit diesem komischen Gerät im Sand nach Münzen und Schmuck. Was macht der denn bei der Jägertruppe?»

«Er ist eben vielseitig. Jäger und Sammler, wie schon unsere Urahnen», erwidert Rosa keck. In diesem Moment drosselt das Schiff seine Fahrt. Rosa schluckt. Nun wird es ernst. Alle Trauergäste stehen auf und nähern sich der Seeurne, die auf dem Achterdeck auf einem Tisch steht, eingefasst von einem Kranz aus gelben Rosen.

Der Kapitän tritt neben die Urne. Nimmt die Mütze ab. Alles ist ganz still, nur ein paar Möwen fliegen kreischend um das Schiff.

«Liebe Familie, liebe Freunde von Ewald Wulff», beginnt er. «Wir sind heute hier, um Ihrem Mann, Vater, Opa und Freund das letzte Geleit zu geben.» Er macht eine Pause. «Wie hat er immer gesagt? ‹Alles Leben kommt aus dem Meer.› Und heute schließt sich der Lebenskreis von Ewald Wulff. Er kehrt ins Meer zurück.» Behutsam nimmt der Kapitän den Blumenkranz mit der Urne, tritt an die Reling, lässt sie an einem schmalen Schiffstau zu Wasser und schlägt acht Mal die Schiffsglocke.

Rosa bekommt eine Gänsehaut, als die Jagdbläser nun das Halali anstimmen, das Ewald Wulff so geliebt hat. Alle Gäste stehen an der Reling und schauen aufs Meer zu dem Rosenkranz, der sich auf dem Wasser still und friedlich wiegt, während die Urne schon hinab auf den Meeresboden sinkt. Wie die anderen wirft Rosa eine langstielige gelbe Rose als letzten Gruß hinterher. Ein Schluchzen steigt in ihrer Kehle auf. Auf Beerdigungen muss sie immer weinen.

Inzwischen ist der Kapitän ins Führerhaus zurückgekehrt, der Motor springt an und die MS Meeresleuchten setzt sich in Bewegung. Langsam umrundet das Schiff den Rosenkranz, bevor es sich auf den Rückweg macht.

Während das Schiff wieder Fahrt aufnimmt, werden im Salon unter Deck Butterkuchen und belegte Brötchen angeboten, dazu gibt es Kaffee, Tee und geistige Getränke.

Holger setzt sich neben Rosa und legt den Arm um sie.