Wer ohne Sünde ist - Åsa Larsson - E-Book
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Wer ohne Sünde ist E-Book

Åsa Larsson

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Beschreibung

Die schwedische Bestsellerautorin Åsa Larsson meldet sich endlich zurück! Ein grandioser neuer Fall für Staatsanwältin Rebecka Martinsson

»Bitte hilf mir, Rebecka!« Der Gerichtsmediziner Lars Pohjanen, der todkrank ist, bittet die Staatsanwältin Rebecka Martinsson, ihm zuliebe einen längst verjährten Mordfall wiederaufzunehmen. Aus purem Mitleid stimmt sie zu, auch wenn sie in Gedanken ganz woanders ist: Die beiden wichtigsten Männer in ihrem Leben – Krister, der Führer der Hundestaffel, und Mons, der smarte Jurist aus Stockholm – haben sich wütend von ihr abgewandt, nachdem Rebecka den einen mit dem anderen betrogen hat. Doch der Cold Case, dem sie sich zuwendet, benötigt ihre volle Aufmerksamkeit, denn er fördert Unheilvolles über ihre Heimatstadt Kiruna zutage. Aber vor allem zwingt er Rebecka, sich dem dunkelsten Kapitel ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen ….

Im letzten Band der gefeierten Rebecka-Martinsson-Reihe beweist Åsa Larsson mit einer fulminanten Spannungshandlung, atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen und einem faszinierenden Porträt Kirunas einmal mehr, dass sie Schwedens unangefochtene Queen of Crime ist. Der Roman wurde mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet.

»Knorrige Figuren, präzise Milieus, packender Plot – Åsa Larsson schreibt derzeit die besten Skandinavien-Krimis.« Hörzu

Entdecken Sie die weiteren Bände der Rebecka-Martinsson-Reihe. Alle Romane sind auch einzeln lesbar.

1. Sonnensturm

2. Weiße Nacht

3. Der schwarze Steg

4. Bis dein Zorn sich legt

5. Denn die Gier wird euch verderben

6. Wer ohne Sünde ist

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 795

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Ein grandioser neuer Fall für Staatsanwältin Rebecka Martinsson

»Bitte hilf mir, Rebecka!« Der Gerichtsmediziner Lars Pohjanen, der todkrank ist, bittet die Staatsanwältin Rebecka Martinsson, einen längst verjährten Mordfall wiederaufzunehmen, der ihm wichtig ist. Aus purem Mitleid stimmt sie zu, auch wenn sie in Gedanken ganz woanders ist: Die beiden wichtigsten Männer in ihrem Leben – Krister, der Führer der Hundestaffel, und Mons, der smarte Jurist aus Stockholm – haben sich wütend von ihr abgewandt, nachdem Rebecka den einen mit dem anderen betrogen hat. Doch der Cold Case, dem sie sich zuwendet, benötigt ihre volle Aufmerksamkeit, denn er fördert Unheilvolles über ihre Heimatstadt Kiruna zutage. Aber vor allem zwingt er Rebecka, sich dem dunkelsten Kapitel ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen …

Im letzten Band der gefeierten Rebecka-Martinsson-Reihe beweist Åsa Larsson mit einer fulminanten Spannungshandlung, atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen und einem faszinierenden Porträt Kirunas einmal mehr, dass sie Schwedens unangefochtene Queen of Crime ist. Der Roman wurde mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet.

Entdecken Sie die weiteren Bände der Rebecka-Martinsson-Reihe:

1. Sonnensturm

2. Weiße Nacht

3. Der schwarze Steg

4. Bis dein Zorn sich legt

5. Denn die Gier wird euch verderben

6. Wer ohne Sünde ist

Åsa Larsson, 1966 geboren, verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Kiruna. Sie arbeitete als Steueranwältin, bis sie beschloss, Autorin zu werden. Mit ihrem ersten Rebecka-Martinsson-Krimi Sonnensturm machte sie in Schweden sofort Furore (ausgezeichnet als bestes Krimi-Debüt). Auch ihre weiteren Romane mit der Staatsanwältin Rebecka Martinsson standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in zwei Staffeln erfolgreich von der ARD verfilmt. Wer ohne Sünde ist ist der sechste und letzte Band der gefeierten Krimiserie.

»Lapplands Krimi-Königin.« Frau im Spiegel

»Genialer Mix aus Poesie, eisiger Tragödie und Schwedenkrimi-Melancholie.« Grazia

»Knorrige Figuren, präzise Milieus, packender Plot – Åsa Larsson schreibt derzeit die besten Skandinavien-Krimis.« Hörzu

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ÅSA LARSSON

Wer ohne Sünde ist

THRILLER

Aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Fädernas missgärningar bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm 2021Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2021 Åsa Larsson

First published by Albert Bonniers Förlag, Stockholm, Sweden

Published in the German language by arrangement with Bonnier Group Agency, Stockholm

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Marie-Sophie Kasten

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildung: mauritius images/Cavan Images/Cody Duncan; www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12165-5V001

www.cbertelsmann.de

DIENSTAG, 26. APRIL

ALSSICHRAGNHILDPEKKARIFÜRden Tod entschied, wurde das Leben etwas erträglicher.

Sie hatte einen Plan. Nachts auf dem harschen Schnee Ski fahren, eine Strecke von zwei Stunden, falls sie nicht einbrach. An ihrem Ziel, einem Gebirgsbach, über den immer eine Schneebrücke führte, würde sie Feuer machen und ihre letzte Tasse Kaffee trinken. Sie würde Schnee schmelzen und in den Rucksack schütten, damit er nass und schwer wurde und wenig Luft enthielt. Dann würde sie auf Skiern auf die Schneebrücke fahren, unter der das Wasser dahinströmte, und wenn es wie erwartet lief, würde die Schneebrücke einbrechen. Andernfalls müsste sie sich mit dem Stock über die Kante schieben.

Es würde unglaublich schnell gehen. Keine Chance, es sich mit einem schweren Rucksack ohne Auftrieb und Skiern an den Füßen anders zu überlegen.

Dann würde es endlich vorbei sein.

Sie war mit dem Tod verabredet. Und würde ihn auch treffen, und zwar an dem Tag, den sie insgeheim festgelegt hatte, allerdings nicht ganz so, wie sie es sich vorstellte.

Nachdem sie sich entschieden hatte, ließ der Druck nach. Ihr Inneres reckte sich wie die Birken im Wald. Der Winterschnee hatte sie zu frostigen Bögen gekrümmt. Jetzt, in der Milde des Vorfrühlings, richteten sie sich erleichtert auf, und ihre Farbe ging von Grau in Violett über, die liturgische Farbe der Buße.

Letztes Jahr im Juni war sie in Rente gegangen. Der Chef der Klinik hatte eine ganz offensichtlich unvorbereitete Rede gehalten und ein falsches Antrittsjahr genannt, obwohl er das mühelos hätte nachsehen können. Dieser Dreckskerl! Er war einer dieser Ärzte, die sich durch Ragnhilds Größe bedroht fühlten. Seine rechte Hand, Elisabeth aus der Verwaltung, hatte das Geschenk besorgt. Einen Flaschenöffner in der Form eines silbernen Delfins. Nach all den Jahren – so etwas. Elisabeth war seit zwanzig Jahren in der Verwaltung tätig und hatte nicht den blassesten Schimmer, was die Schwestern auf Station leisteten. Sie war immer auf Seiten der Direktion und erhöhte den Druck mittels fieser Dienstpläne und zusätzlicher Aufgaben. Und jetzt auch noch dieser Silberdelfin! Ragnhild zwang sich zu einem unaufrichtigen »Danke« und verspürte dabei das dringende Bedürfnis, nach Hause zu fliehen und sich mit Stahlwolle zu schrubben.

Sie hätte kotzen können. Dieser Ausstand mit billigen Papierservietten und einer Torte aus dem Supermarkt. Einige Ärzte hatten sich im Pausenzimmer blicken lassen. Ragnhild hatte mit den anderen Schwestern Blicke gewechselt. Seltsam, dass Ärzte nie auf Notrufe reagierten, sich aber blitzschnell zu Süßigkeiten beamen konnten. Mit vollem Mund hatte einer der Assistenzärzte gefragt: »Was feiern wir eigentlich?«

Nach dem letzten Dienst hatte sie ihre Kolleginnen umarmt. Dann hatte sie eine Weile vor ihrem Spind gestanden, den sie fast dreißig Jahre lang benutzt hatte, ihn schließlich ein letztes Mal zugemacht und das Krankenhaus mit einem unwirklichen Gefühl und dem verdammten Delfin in einer Tüte verlassen.

Der Sommer verlief dann wie immer und kam ihr wie ein langer Urlaub vor. Es wurde Herbst, und sie legte sich neue Gewohnheiten zu. Zusammen mit einer ehemaligen, ebenfalls pensionierten Kollegin meldete sie sich zu einem Webkurs für Fortgeschrittene an. Trainierte jeden Tag, ging ins Fitnessstudio oder spazierte im Wald. Natürlich las sie auch Bücher, fast eines pro Tag.

Die erste Hälfte des Winters verging. Sie wusste, dass im Krankenhaus Personalmangel herrschte, aber niemand meldete sich bei ihr. Elisabeth hasste sie und wollte sie natürlich nicht zurückhaben.

Die Weihnachtsfeiertage verbrachte sie allein, was sich erstaunlich einsam anfühlte. Bislang hatte sie an den wichtigen Feiertagen immer gearbeitet.

Eines Montags Anfang März, als sie mit Tüten beladen vom Supermarkt nach Hause ging, überraschte sie eine Erinnerung aus der Kindheit.

Sie war nicht alt, vielleicht sechs. Sie hatte einen Onkel aufs Eis begleitet, und er hatte einen kaputten Außenborder in ein von ihm aufgesägtes Eisloch geworfen. Die Tante hatte dort am gleichen Tag Bettlaken ausgespült, und er nutzte die Gelegenheit, sich seines Gerümpels zu entledigen. Damals war es nicht ungewöhnlich, ausgediente Kühlschränke und anderes aufs Eis zu schaffen. Wenn das Eis schmolz, sanken die Dinge auf den Flussgrund. Aber jetzt gab es ein Eisloch, und da ließ sich alles reinwerfen, bevor es wieder zufror. Sie hatte am Rand des Loches gestanden. Ihr Onkel hatte ihr nicht verboten, so nahe am offenen Wasser zu stehen. Sie sah den schweren Bootsmotor ins Wasser plumpsen und dann langsam, gleichsam schwebend, versinken, bis er weich auf dem Grund landete.

Sie erinnerte sich an das Schwindelgefühl, das den Blick in die Tiefe begleitete. Die Gefahr, so nahe zu stehen, und den langsame, hypnotischen Tanz des Motors durch die Sonnenstreifen. Sie spürte den Sog, das Gefühl, zu fallen, hinabzuschweben. Eine Wolke aus Schlamm stieg auf, als der Motor lautlos auftraf.

So war es einfach. Während sie sich nach ihrem Wocheneinkauf mit den Einkaufstüten abschleppte, war ihr Motor auf den Grund gesunken. Neun Monate, nachdem sie in Rente gegangen war, dachte sie: »Jetzt reicht’s.«

Die Erleichterung war unbeschreiblich. Sie beschloss, noch diesen letzten Vorfrühling zu leben. Und dann einen Schlussstrich zu ziehen, bevor der Vorfrühling in die sogenannte »Seufzer-Zeit« überging und der Schnee eine dicke Decke bildete, die weder trug und noch barst, aber hin und wieder mit tiefen Seufzern nachgab.

Im März und April lief sie im Wald Ski. Jeden Tag, bei Sonne oder Schneesturm. An sonnigen Tagen machte sie ein Feuer, setzte sich auf ihre Sitzunterlage aus Rentierfell, trank Kaffee und aß belegte Brote. Sie las keine Bücher mehr. Sie blickte nach innen und staunte über die Stille. Über die seltsame Kraft ihres Entschlusses, der ihren trüben Schmerz fast vollkommen getilgt hatte.

Ende April begann sie mit dem Todesputz, aber nicht allzu gründlich. Er durfte nicht auf Selbstmord hinweisen. Allein der Gedanke, dass jemand den Kopf zur Seite neigen und sagen könnte: »Sie war sicher sehr einsam.«

Nein, es sollte wie ein Unfall aussehen. Im Kühlschrank mussten verderbliche Lebensmittel stehen. Außerdem trug sie ihre Winterjacke in die Reinigung. Wer brachte seine Kleider in die Reinigung, wenn er vorhatte, sich das Leben zu nehmen? Den rosa Einlieferungsschein legte sie deutlich sichtbar auf die Arbeitsplatte neben den Wasserkocher.

Vor dem Fenster tropfte es von den Eiszapfen an der Regenrinne. Ein eintöniges Klimpern, das sich im Verlauf des Frühjahrs beschleunigte. Der Schnee stürzte vom Dach und schmolz auf dem Asphalt. Der Tag rückte näher. Auf dem harschen Schnee ließ sich nachts gerade noch langlaufen, was ja eine Voraussetzung war.

Während sie aufräumte, machte sie sich ausgiebig Gedanken über die Fotos ihrer Tochter. Die konnten nicht wie bisher in ihren Lieblingsromanen im Regal stecken bleiben. Es bestand die Gefahr, dass die Bücher für fünf Kronen das Stück beim Roten Kreuz auf dem Wühltisch landeten, und dann durften nicht Paulas Fotos herausfallen. Wie sie sich dann den Mund zerreißen würden! »Warum hat sie Fotos von ihrer Tochter in die Bücher gelegt? Seltsame Person.« Leidtun würde sie ihnen. Nein danke, bloß nicht.

Was tun? Sollte sie sie einrahmen und ins Regal stellen? Verbrennen? Sie hielt sie eine Weile in der Hand. Hier war Paula zwei Jahre alt, mit strahlendem Lächeln, Eiscreme im ganzen Gesicht und Prinzessinnenkrone auf dem Kopf. Mit fünf auf ihrer ersten Gebirgswanderung zum Trollsjön an einem heißen Tag, die Landschaft blühte, sie trug nur Unterhose und Sonnenhut und wälzte sich in vereinzelten, übrig gebliebenen Schneeflecken. Als sie müde wurde, trug Ragnhild sie auf ihren Schultern.

Damals war ich zäh wie eine Zwergbirke, dachte Ragnhild jetzt. Mit Rucksack und einem Kind den Berg hinauf! Ein Klacks.

Sie nahm ein Sommerbild vom Strandbad Pite in die Hand, auf dem Paula ihre Großmutter umarmte. Und dann waren da noch die üblichen Schulfotos. Langweiliger blauer Hintergrund und ein Lächeln, das keines war, sondern nur ein starr geöffneter Kindermund, der dem Schrecken in den Augen entsprach.

Ragnhild schaute die Fotos vorsichtig und mit flacher Atmung durch und saß dabei ganz still da. In ihrem Inneren wohnte immer noch ein Tier, das erwachen konnte. Sie musste aufpassen. Sie fürchtete dieses Muttertier, das mit gesträubten Nackenhaaren und rollenden Augen aus seinem Bau kriechen konnte. Wütend, verletzt und besinnungslos. Mit dem Bedürfnis, zu erklären, zu ordnen, Vergebung zu finden und auf Mitschuldige zu deuten. Anrufe zu tätigen.

Schließlich legte sie die Fotos von Paula in eine Schreibtischschublade.

Eigentlich mussten die Fenster geputzt werden, aber jetzt waren andere Aufräumaktionen angesagt. Das Private musste weg. Eine zu ordentliche Wohnung machte aus ihr nur eine bemitleidenswerte Person ohne Lebensinhalt. Mit den Fenstern konnte sich ruhig jemand anderes abrackern.

Den letzten Tag verbrachte Ragnhild wie geplant. Am Abend packte sie ihren Rucksack mit schweren Sachen, die passend wirken sollten, der Trangia-Sturmkocher, ein altes Winterzelt, eine Flasche Wein, ein Winterschlafsack, ein Rentierfell und eine Daunenjacke.

Sie goss auch noch die Blumen. Sie hatten schließlich niemandem etwas getan.

Dann zog sie ihre Bibel aus dem Regal.

»Falls du mir noch etwas zu sagen hast«, sagte sie zu Gott.

Sie schlug das Buch einfach irgendwo auf und landete im Buch der Richter. Jaël tötet den Feldhauptmann Sisera. Als er schläft, schleicht sie sich mit einem Hammer in der Hand an ihn heran, schlägt ihm einen Zeltpflock durch die Schläfe und nagelt ihn am Boden fest.

»Du bist lustig«, wies Ragnhild den Herrgott zurecht. »Wie ein übellauniger Alter. Hast immer eine Meinung, aber tust nichts.«

Sie schlug die Bibel zu. Diese Verse waren für sie bedeutungslos.

Als gegen ein Uhr nachts in der Grube gesprengt wurde, zitterte das Haus ein wenig. Da legte sie sich aufs Bett und schlummerte eine Weile.

Um halb drei Uhr nachts zog sie zum letzten Mal ihre Wohnungstür zu. Sie empfand dabei nichts Besonderes. Wie immer dachte sie: »Wasserhahn zu, Herd aus.« Dann schloss sie ab.

Sie verstaute Skier und Gepäck im Auto. Die Zeit der Mitternachtssonne begann erst in drei Wochen, aber schon jetzt waren die Nächte deutlich heller. Mit Ausnahme der Geräusche aus dem Bergwerk, die nachts nicht vom Stadtverkehr übertönt wurden, herrschte Stille in Kiruna. Da war das Kreischen der verlangsamenden Eisenerzzüge und das Rumpeln, wenn die Bremsen gelöst wurden und die Züge wieder anfuhren. Und das Brausen der Grubenventilation.

Trotzdem war die Grube, die diese Scheißstadt unerbittlich von unten zerfraß, erstaunlich leise.

Kein Mensch war zu sehen, als sie Kiruna verließ. Die Stadt wirkte verlassen, entvölkert. Als hätte man sie bereits geräumt.

Wenig später befand sich Ragnhild auf der E 10. Sie überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis jemand den Schlüsseldienst verständigte und ihre Wohnung betrat. Kolleginnen, die sich nach ihr erkundigen könnten, gab es nicht mehr, aber einige Aktivitäten, an denen sie regelmäßig teilnahm. Yoga, Gymnastik und die letzte Stunde des Webkurses, der jetzt endete. Mehr als zwei Wochen würden nicht verstreichen, bevor man sie vermisste.

Sie bog nach Osten Richtung Vittangi ab. Die Landstraße folgte dem Fluss ihrer Kindheit, dem Torneälven. Sie dachte an die baldige Eisschmelze, das Sprießen der Blätter, das Vogelgezwitscher und die Mitternachtssonne. Sie fühlte in sich hinein, verspürte aber keine Sehnsucht, all dies noch einmal zu erleben.

Sie schaltete das Autoradio nicht ein, und außer einigen Lastwagen mit Eisenerz war kein Verkehr. Die Straße war trocken, und der Bodenfrost hatte viele Schlaglöcher hinterlassen.

Sie parkte auf einer geräumten Ausweichstelle, klemmte die Skier unter den Arm und folgte der Landstraße auf der Suche nach einem günstigen Ort, um den vereisten, buckligen Schneewall zu überwinden. Irgendwo mit gebrochenen Armen und Beinen zu liegen, passte nicht in ihren Plan.

Als sie schließlich in den Wald gelangte, sah sie sich um. Das Auto und die Landstraße waren hinter dem hohen Schneewall verschwunden. Sie existierten nicht mehr.

Die Bergfinken zwitscherten. Viele dieses Jahr. Ihr Lärm erinnerte an einen Tropenwald, verstärkte dieses wiederkehrende Gefühl, wenn sie in den Wald ging, eine Welt zu verlassen und eine neue zu betreten. Der Wald erschien ihr wie eine Mutter. Eine Göttin, vielleicht die Máttáráhkka der Sami, die sie willkommen hieß. Wie wenn man von einem Schulhof, auf dem man geärgert wurde, zur Mutter nach Hause läuft, die behutsam die Tür des Zufluchtsortes hinter einem schließt, an dem man von niemandem behelligt werden kann.

Jetzt gab es nur sie und den Wald. Kupferschimmernde Kiefern. Große alte Tannen mit grauen Unterröcken. Der Himmel changierte von Rosa zu Hellblau, mit der tief stehenden Morgensonne im Südosten und dem weißen Vollmond im Nordwesten. Sie strahlten um die Wette, und ihr Licht war ineinander verflochten wie der Zinndrahtschmuck der Sami.

Sie schnallte ihre Langlaufskier an und glitt mit leichtem Abstoß über den harschen Schnee. Er war hart und glänzte, und es erforderte eine gewisse Geschicklichkeit, sich auf den Beinen zu halten, da die Skier immer wieder seitlich wegrutschten. Unter den Bäumen, wo der geschmolzene Schnee herabgetropft und gefroren war, war der Harsch besonders fest und glich körnigem, dickem Glas. Wenn die Morgensonne zu sehr wärmte und den Schnee aufweichte, könnte sie diese schattige Route wählen.

Aber noch trug der Harsch, und sie kam mühelos voran. Die Stahlkanten ihrer Langlaufskier hinterließen kaum Spuren. Sie hörte Raben, die aus der Ferne fast wie bellende Hunde klangen, aber nach wenigen Augenblicken tauchten sie auf und flogen spähend über sie weg, riefen sich etwas zu.

Die Zeit verging, und sie war erstaunt, als sie das Rauschen des Wassers hörte. War sie etwa bereits am Ziel? Sie schaute auf die Uhr. Halb sechs. Sie legte das letzte Stück zwischen den Weiden zurück, die bereits ihre wolligen Kätzchen trugen.

Sie folgte dem Gebirgsbach stromabwärts bis zur Schneebrücke. Sie war noch da. Ein schöner Steg aus Schnee und Eis über der obersten Stromschnelle.

Erst einmal wollte sie Kaffee trinken. Nur zwanzig Meter von der Brücke entfernt stand auf einem Hügelchen eine hübsche kleine, knorrige Krüppelkiefer. Um ihren Stamm herum war der Schnee bereits geschmolzen. Dort konnte sie ein Feuer machen.

Sie sammelte Trockenholz und was sie sonst zum Anzünden benötigte: graue Tannenzweige, Birkenrinde, Bartflechte und Wacholderreisig. Sie schlug ein Loch in den Harsch und füllte Kaffeekessel und Kochgeschirr mit Schnee. Sie wagte sich nicht zum Wasserholen an den Fluss, denn das Ufer war vereist, und sie wollte nicht hineinfallen. Über die unzureichende Logik dieser Vorsichtsmaßnahme musste sie lächelnd den Kopf schütteln. Aber es sollte nun einmal so geschehen, wie sie es sich vorgenommen hatte.

Mit dem Zündstein machte sie Feuer. Sie war stolz darauf, überall und bei jedem Wetter ohne Streichhölzer Feuer machen zu können. Seit über fünf Jahren hatte sie dieselbe Streichholzschachtel in der Tasche. Aber eigentlich war es lächerlich, sich innerlich damit zu brüsten.

Als der Kaffee aufkochte, klingelte zu ihrem großen Erstaunen ihr Handy. Sie nahm den Kaffeekessel vom Feuer und zog das Handy aus der Innentasche ihrer Jacke. Drei Minuten nach sechs. Eine Festnetznummer. Wer hatte heutzutage noch ein Festnetz? Es war eine 0981-Vorwahl. Das Dorf ihrer Kindheit lag in der Region.

Argwöhnisch starrte sie auf ihr Handy. Sie hatte jahrelang nicht mehr mit Leuten aus der Gegend gesprochen. Das Klingeln nahm kein Ende. Schließlich nahm sie das Gespräch an.

Eine Männerstimme. Sie klang jung.

»Spreche ich mit Ragnhild Pekkari?«, fragte er. »Also. Ich fürchte, dass ich Ihnen eine sehr traurige Nachricht überbringen muss.«

DERMANNAMANDERENENDEnannte seinen Namen und erzählte, er sei der Besitzer des Lebensmittelladens in Junosuando.

»Es geht um Ihren Bruder«, sagte er, »Henry Pekkari. Er war seit fast drei Wochen nicht mehr im Laden.«

Ragnhild sah ein, dass sie etwas sagen musste. Aber ihre Gedanken waren träge und tasteten sich mühsam voran wie ein mit Valium vollgepumpter Patient. Sie brachte kein Wort über die Lippen. Der Lebensmittelhändler fuhr fort: »Vielleicht hat es nichts zu bedeuten, aber Henry kauft normalerweise jeden Donnerstag ein, wenn die Lieferung vom Systembolaget eingetroffen ist. Hallo, oletko sielä? Sind Sie noch dran?«

»Ja, ich bin da«, sagte Ragnhild.

»Ich dachte schon, die Verbindung sei unterbrochen. Also, es kommt schon mal vor, dass er wegbleibt, wie jetzt, wenn dem Eis nicht mehr zu trauen ist. Dann sitzt er auf der Insel fest. Dann können Wochen vergehen. Aber er ruft dann immer an. Er wohnt ja allein. Wenn er nicht rüberkommen kann, meldet er sich immer. Wir hier im Laden sind wohl die Einzigen, die er trifft und mit denen er redet. Ich habe versucht, ihn telefonisch zu erreichen, gestern und heute früh. Aber er geht einfach nicht dran.«

»Was Sie nicht sagen«, erwiderte Ragnhild Pekkari äußerst kühl. Ein Ton, den sie anstrengenden Angehörigen oder dem Klinikchef und seinem Fußvolk gegenüber gerne verwendet hatte.

Sie betrachtete den Kessel. Der Kaffee war inzwischen kalt. Sie konnte ihn zwar aufkochen, aber dann würde er wie Katzenpisse schmecken.

Geschieht mir recht, dachte sie. Meine letzte Tasse Kaffee ist ein Eiskaffee.

»Wie dem auch sei«, meinte der Lebensmittelhändler. »Ich dachte, er hätte sich vielleicht bei Ihnen gemeldet.«

»Wir haben seit 31 Jahren keinen Kontakt mehr«, sagte Ragnhild Pekkari. »Das wissen Sie sicher, genau wie alle anderen in Junis.«

»Aber er ist trotz allem Ihr Bruder. Ich dachte einfach, dass ich Sie lieber mal anrufe«, rechtfertigte sich der Lebensmittelhändler.

Ihr fiel auf, dass er in jedem zweiten Satz »ich dachte« sagte, obwohl er vermutlich nicht fähig war, über seine Nasenspitze hinauszudenken.

»Na, dann entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte der Lebensmittelhändler abschließend. »Ich habe die Polizei in Kiruna angerufen, aber die sagen, sie können mit dem Hubschrauber nicht auf der Insel landen, wenn der Schnee weich wie Kartoffelbrei ist.«

Er wollte gerade auflegen, und Ragnhild stellte sich vor, wie er zu seinen Kollegen sagen würde: »Diese Ragnhild Pekkari ist nicht ganz richtig im Kopf. Ihr scheint das alles scheißegal zu sein.«

Da hörte sie sich plötzlich sagen:

»Eine Frage … Wenn Henry bei Ihnen im Laden war, hat er dann auch Hundefutter gekauft?«

»Keine Ahnung«, antwortete der Lebensmittelhändler. »Ich bin nur selten an der Kasse, aber warten Sie, ich frage meine bessere Hälfte. Warten Sie einen Moment!«

Seine Stimme klang sogleich munterer, weil er sich nicht mehr abgewiesen fühlte. Ragnhild bereute ihre Frage. Sie überlegte, das Gespräch abzubrechen und ihr Handy auszuschalten.

Aber da war der Mann bereits wieder am Apparat.

Er berichtete, dass Henry auch Hundefutter kaufte.

Ragnhild schaute in den hellblauen Himmel und versuchte, die Erinnerungen an Villa, die Hündin, deren Name »Wolle« in der Sprache ihrer Kindheit bedeutete, abzuwehren.

Villa, mit ihren lieben kleinen Augen und dem weißen Stern auf der Brust. Villa, die Vögel aufscheuchte und den Fährten der Elche folgte, die die Kühe zusammentrieb und in den Sommernächten Maulwürfe jagte. Villa, die im Winter immer an ihrem Fußende geschlafen hatte.

Villa, die bei Henry auf der Insel geblieben war. Damals, vor, meine Güte, sie musste nachrechnen, damals, vor 54 Jahren. Als Henry achtzehn war und den Hof auf der Insel übernommen hatte. Sie war erst zwölf und war mit ihren Eltern und der Pflegeschwester Virpi in die Stadt gezogen. Weinend hatte sie verlangt, Villa mitnehmen zu dürfen, aber ohne Erfolg. »Villa hält es in einer Stadtwohnung nicht aus«, hatte ihr Vater gesagt. Was er nicht wusste: Das galt für sie alle. Sie waren nicht für eine Stadtwohnung gemacht, wie sich später herausstellte.

Ragnhild war wehrlos. Ein Weinkrampf bahnte sich an. Wegen ihrer Hündin, die schon so lange tot war.

Der Lebensmittelhändler redete weiter. Ragnhild sagte räuspernd »danke«, ein Wort, das ihr nur selten über die Lippen kam. Dann beendete sie das Gespräch.

Sie goss den Kaffee in das Feuer. Es zischte auf. Wie ein Ameisenhaufen lag der Kaffeesatz auf der Asche. Von dem schneefreien Flecken Erde unter der Kiefer klaubte sie etwas Moos und reinigte damit den Kaffeekessel. Dann packte sie ihre Sachen in den Rucksack und schnallte die Skier an.

Die Schneebrücke würde ihr nicht davonlaufen. Der Harsch trug auch noch in einer Woche. Sie würde zurückkehren. Aber jetzt ging es um den Hund auf der Insel. Sie konnte ihn nicht im Stich lassen.

Henry, du verdammter Alki, warum hast du dir bloß einen Hund zugelegt?

Auf dem Rückweg zum Auto sah sie eine Auerhenne. Die Balz raubte ihr jede Angst vor den Menschen. Sie hüpfte über Ragnhilds Skier und folgte ihr dann, wobei sie immer wieder mit schweren Flügelschlägen abhob, um den Anschluss nicht zu verlieren. Vielleicht hatten Ragnhilds Skistöcke die Lust der armen Henne geweckt. Auf alles, was flatterte und sich wie ein balzender Auerhahn bewegte. Manchmal erschienen Waldvogelweibchen in der Paarungszeit auf Schulhöfen, weil sie sich von spielenden, gestikulierenden Kindern angezogen fühlten. Ragnhilds Mutter hatte das immer deren Mutterinstinkt zugeschrieben, der sich sogar auf Menschenkinder erstreckte. Ragnhild hatte das für dummes Zeug gehalten. Die Auerhenne, die ganz und gar ihren Gefühlen ausgeliefert war, verfolgte sie fast zwei Kilometer weit.

»Hör schon auf«, rief Ragnhild ihr zu. »Das lohnt sich nicht.«

Ragnhild fuhr weiter und ließ den Tod vorübergehend hinter sich, wie sie dachte. Aber der Tod lauert immer vor uns. Und jetzt war er ganz nahe.

RAGNHILDPEKKARITRAFMORGENSKURZnach neun im Dorf Kurkkio ein. Sie parkte neben Fredrikssons altem Lagerhaus, klemmte Skier und Skistöcke unter den Arm und ging zum Fluss hinunter. Der Weg war bis zur Sauna am Ufer freigeschaufelt. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie zur Insel hinüber. Inzwischen war es wärmer, mehrere Grade über null. Die Eisdecke war heimtückisch, das wusste sie, sie war zwar meterdick, aber butterweich. Brach man ein, versank man in einer Suppe aus Schnee und Eisstücken.

Einige alte Schneemobilspuren führten kreuz und quer über den Fluss und auch zur Insel hinüber. Sie glitzerten in der gleißenden Sonne wie Straßen aus Glas. Vielleicht trugen sie. Andernfalls musste sie bis zum nächsten Morgen warten und sich den Nachtharsch zunutze machen. Aber sie wollte und konnte nicht warten. Sie dachte an den Hund. Und natürlich auch an Henry, aber der war tot. Sie war sich sicher. War auch höchste Zeit.

In nur zweihundert Metern Entfernung lag ihr Elternhaus. Aus der Ferne sah es aus wie früher, aber sie konnte sehen, dass das halbe Stalldach eingestürzt war.

Ihren Rucksack hatte sie im Auto zurückgelassen, nur kein unnötiges Gewicht. Sie wagte nicht, die Skibindungen zu schließen. Falls sie einbrach, wollte sie nicht in den Skiern festhängen. Vorsichtig stieß sie sich ab und glitt in eine Schneemobilspur, die zur Insel führte.

Das Eis war nass und glatt, die Skier rutschten in alle Richtungen. Und ihre Schuhe glitten immer wieder von den Skiern. Eine richtig dumme Idee, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie schob sich mit Hilfe der Skistöcke voran und hielt dabei den einen Ski immer ein wenig vor dem anderen, um das Gewicht möglichst gleichmäßig zu verteilen.

Sie warf einen Blick auf die Wochenendhäuser am Ufer. Falls jemand zu Hause war, folgte man ihr bestimmt mit dem Fernglas. Und fragte sich, was das für eine Irre war.

Sie schwitzte unter ihrer Mütze, salzig troff es ihr in die brennenden Augen. Aber sie wagte nicht, anzuhalten, um die Mütze auszuziehen, wagte nicht, mit dem ganzen Gewicht auf ein und derselben Stelle zu verharren. Sie musste in Bewegung bleiben.

Jetzt, in der Mitte zwischen Insel und Festland, wurde die Eiskruste in der Spur dünner. Der Schatten des Uferwaldes reichte nicht bis hierher, und die Sonne schien den ganzen Tag auf das spiegelblanke Eis. Sie hörte es unter den Skiern bersten, ein leises Krachen, das Keile des Schreckens in ihre Entschlossenheit trieb. Irgendwo unter ihr verlief die Stromschnelle, und an dieser Stelle war das Eis noch dünner.

Zum Umkehren war es zu spät, dann müsste sie die Skier ablegen und würde garantiert einbrechen. Sie vertrieb den Gedanken an das kalte schwarze Wasser und an den Brei aus Schnee, der über ihr zusammenschwappen würde. Weiter jetzt!

Vierzig Meter von der Insel entfernt brach ein Ski durchs Eis. Mit einem »Schlopp!« verschwand ein Bein unter ihr, und sie fiel auf die Seite. Ein Schrei löste sich wie von selbst aus ihrer Kehle, schrill, einsam. Wie ein Insekt krabbelte sie weiter, zog das Bein aus dem Schneebrei und meinte, gleich zu versinken, schnell und hilflos. Die Todesangst schoss durch ihre Brust wie ein aufgescheuchter Hase.

Sie richtete sich auf allen vieren auf, wagte nicht, ganz aufzustehen, und kroch wie ein angeschossenes Wild mit einem Knie auf dem verbliebenen Ski weiter. Die Stöcke ließ sie zurück.

Sie fluchte sich vorwärts.

»Verdammt, verdammt, verdammt, Scheiße, Scheiße, Scheiße.«

Als sie das Ufer erreichte, überfiel sie eine so große Müdigkeit, dass sie im Schnee hätte einschlafen können. Zum zweiten Mal an diesem Morgen staunte sie über ihre Angst vor dem Tod.

Genau so hatte sie ihn sich doch vorgestellt. Kaltes schwarzes Wasser. Aber als es so weit war, hatte sie sich wie ein Insekt mit abgeschnittenen Beinen an Land gekämpft.

Vielleicht eignest du dich doch eher zum Tabletten- und Alkoholjunkie, dachte sie wie ihr eigener Advokat des Teufels in schwarzer Robe. Feigling.

Nein, verteidigte sie sich gegen die höhnische Stimme. Bloß nicht hier. Nicht jetzt. Nicht auf dem Weg zu Henry.

Ragnhild schleppte sich bis zum Haus. Die Sonne brannte, blitzte mit tausendfachen Reflexen im kreideweißen Schnee auf. Schmelzwasser drang durch ihre Outdoor-Kleidung, und ihre Schuhe waren voller Schneematsch.

Schweren Herzens schaute sie sich um. Vor 31 Jahren war sie zum letzten Mal hier gewesen. Sie hatte ihren Bruder besucht, um ihn vom Tod ihrer Mutter zu unterrichten. Sie hatte versucht, ihn anzurufen, aber er war nicht drangegangen. Schließlich war sie auf die Insel gefahren. Einer der Nachbarn hatte sie mit seinem Boot übergesetzt.

Das menschliche Elend, in dem Henry sich suhlte, hatte sie eiskalt gelassen. Sie hatte ihm mitgeteilt, dass er bei der Beerdigung willkommen sei, sofern er nüchtern erscheine. Mit dem üblichen Selbstmitleid der Alkis hatte er es ihr versprochen. Und dann natürlich nicht gehalten. Jemand aus dem Dorf hatte ihn vor der Kirche in Junosuando abgeladen. Ein Müllhaufen in einem Anzug, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Nicht einmal ein Hemd unter dem Jackett. Sie überredeten den Pfarrer, den Trauergottesdienst ein Weilchen aufzuschieben, und irgendjemand war nach Hause gefahren und hatte ein passendes Hemd geholt. Der Sarg kam in die Erde, und am Grab ihrer Mutter kündigte ihm Ragnhild die Verwandtschaft mit den Worten auf: »Nie wieder«, und: »Du bist nicht mehr mein Bruder.«

Trotzdem war sie ihn nicht losgeworden. Jeden Tag hatte sie irgendwann wütend an ihn gedacht. In ihrem Kopf bewohnte er eine geräumige Dreizimmerwohnung.

Virpi war nicht zum Begräbnis erschienen. Olle war da, gebügelt und mit polierten Schuhen, mit seiner gertenschlanken Frau, die Chefsekretärin bei der Stadtverwaltung war. Er war Henry gegenüber nicht so unversöhnlich wie sie. Aber Olle hatte seine Jugend auch nicht damit verbracht, jedes zweite Wochenende mit Äiti, der Mutter, auf die Insel zu fahren, um Henrys Haus zu putzen und seine Wäsche zu waschen. Irgendwann, da war sie schon über zwanzig, hatte sie sich geweigert mitzukommen. Aber ihre Mutter hatte weitergemacht. Bis ihre Krankheit dem ein Ende gesetzt hatte.

Mein verbittertes Herz, dachte Ragnhild. Was mache ich nur mit dir, jetzt wo Äiti und Isä tot sind? Und auch Virpi. Olle genießt sein gutes Leben, der Teufel soll ihn holen. Ich werde ihn nicht anrufen, um ihm zu sagen, dass Henry tot ist.

Aber vielleicht war Henry gar nicht tot. Vielleicht würde sie ihn dort drinnen betrunken und eingepisst vorfinden.

Jetzt stand sie vor dem Haus. Es war immer noch dunkelrot gestrichen, aber die Sonnenseite wies kaum noch Farbe auf. Die Mutter hatte in ihrem letzten Lebensjahr noch einen Anstrich bezahlt. Auf der Nordseite war das Dach wie eine Hängematte eingedellt. Aus der Regenrinne ragten ein paar armlange Stöcke, und erst nach einer Weile erkannte Ragnhild, dass kleine Birken dort in dem Laub, das nie entfernt wurde, Wurzeln geschlagen hatten.

Die Heuschober standen noch auf der Wiese, aber die Tore waren von den Scharnieren gefallen, und Schnee war ins Innere geweht. Jetzt sahen die Scheunen aus wie dunkle schwankende Wesen, die Toröffnungen zum lautlosen Schrei aufgerissen. Früher, in einem anderen Leben, waren diese Schober gut gepflegt und mit duftendem Heu gefüllt gewesen. Virpi und sie hatten dort gespielt, Höhlen gegraben und in dem schwachen Licht, das durch die Ritzen zwischen den Brettern drang, Mädchenbücher gelesen. Und sie waren auf dem Heu herumgehopst, obwohl das eigentlich verboten war.

Jetzt war der ganze Hof in sich zusammengesackt, vorzeitig gealtert, der Hässlichkeit zum Opfer gefallen.

Hoffentlich ist Henry tot, dachte Ragnhild. Sonst muss ich ihn doch noch totschlagen.

Zwischen Haus und Stall war der Platz notdürftig geräumt. Hier und da leuchteten gelbe Urinflecken im Schnee.

Der Hund?, überlegte Ragnhild. Oder Henry?

Auf der Außentreppe befreite sie ihre Schuhe vom Schnee. Die Tür war nicht abgeschlossen. Als sie sie öffnete, traf sie der Gestank wie eine Faust. Pisse. Alkohol. Schmutz.

Ihre vielen Jahre als Krankenschwester waren ihr jetzt eine große Hilfe. Sie verschloss ihre Nase, atmete durch den Mund und betrat das Haus.

»Henry«, rief sie.

Keine Antwort. Die winzige Diele führte in die Küche. Der Boden war von einer Schmutzschicht überzogen, seine ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen. Die modrig-feuchten Gardinen starrten vor Dreck. Auf den Fensterbrettern lagen Berge toter Fliegen, die Fensterscheiben waren fleckig von Fliegendreck. Auf der Spüle türmten sich Fertiggerichtverpackungen mit verschimmelten Essensresten. Überall leere Flaschen und Bierdosen.

Unter der Arbeitsplatte, in der für eine Spülmaschine vorgesehenen Lücke, lag eine tote, halb zerfressene Ratte. Ihre Verwandten? Oder der Hund? Auf dem Fußboden standen zwei leere Futternäpfe.

Koirariepu, dachte Ragnhild. Armer Hund. Was für ein Leben!

Bestimmt war er längere Phasen ohne Futter gewöhnt, hatte gelernt, diverse Strapazen zu überleben.

Sie pfiff zum Obergeschoss hinauf, aber kein Hund regte sich.

Dann ging sie in die gute Stube. Dort fand sie Henry.

Er lag rücklings auf dem Sofa. Reglos. Das Gesicht zur Rückenlehne gedreht. Sein abgemagerter Körper wie die Überbleibsel von Kiel und Spanten eines ausgedienten Kahns, die am Fluss im Gestrüpp liegen. Sie trat näher. Konnte keine Atmung erkennen. Als sie sein Gesicht sah, wusste sie, dass er tot war. Sie erkannte es kaum wieder, zerzauster Bart und eingefallen. Seine Haut hatte die Farbe des Todes. Sie berührte ihn, er war kalt.

Und auch sie fühlte sich unterkühlt, unlebendig. Die nassen Kleider sogen die Wärme aus ihrem Körper. Sie setzte sich neben ihn auf den Couchtisch.

Ihre Hand tastete in der Hosentasche nach dem Handy. Sie musste den Krankenwagen rufen, nein, lieber gleich den Bestatter, sinnlos, die Zeit der Sanitäter zu vergeuden, schließlich war er tot. Dann musste sie Olle anrufen, jetzt waren nur noch sie beide übrig, Geschwister in derselben Stadt, die kaum Kontakt hatten. Der alte Groll regte sich. Wie Wellen in finsterer Nacht. Henry und Olle. Sie hatten sich das Erbe unter den Nagel gerissen, als Isä, der Vater, starb. Und sie musste sich damals um Äiti und die Beerdigung kümmern.

Ich telefoniere, dachte sie. Aber nicht gleich. Ich muss erst eine Weile allein sein. Auf dem Hof, in der Erinnerung an Mutter und Vater, Henry, Virpi und Olle. An das Leben, das ich hier gelebt und das ich verloren habe. Niemand weiß, dass ich hier bin. Was spielt es für eine Rolle, wenn ich eine Stunde später anrufe? Und dann der Hund. Ich muss ihn finden!

Sie stand auf. Plötzlich erschien es ihr ungemein wichtig, das arme Tier zu finden. Falls es noch lebte.

Sie dachte einen Augenblick an die Küche, an die fremden Leute, die den Toten wegbringen würden. Sie würden ihr Elternhaus in diesem verfallenen Zustand sehen.

Aber das ist Henrys Verfall, sagte sie sich. Nicht meiner. Das ist nicht meine Schande. Ich weigere mich.

Dann öffnete sie trotzdem die Fenster, um zu lüften. Suchte überall im Haus nach dem Hund.

Sie öffnete sogar die Schränke. Die Zimmer im Obergeschoss waren bis auf drei Matratzen auf dem Fußboden leer. Was ihr seltsam erschien. Hatten dort seine Saufkumpane übernachtet? Keine Spur von einem Hund.

Sie floh an die frische Luft. Hielt auf dem Treppenabsatz vor der Haustür inne und atmete tief durch.

Sie musste einen Spaten für die tote Ratte finden. Die würde sie aus dem Haus befördern, aber aufräumen – keinesfalls.

Ragnhild rief und pfiff. Vertiefungen im Schnee konnten Hundespuren sein. Oder die eines Fuchses? Das warme Wetter machte die Spuren unkenntlich.

Sie bahnte sich einen Weg zum Stall, öffnete die Tür des alten Plumpsklos, des Brennholzvorrats, der Lagerräume und anderer Schuppen. Wo hatte Henry seine Schneeschaufel?

Sie stellte fest, dass es auf diesem Hof nichts von Wert gab, nur Gerümpel. Henrys sogenannte Kumpel hatten schon vor Ewigkeiten alles Verwertbare mitgenommen, mit seinem Einverständnis und auch ohne. Vor dem Haus standen ein Schneemobil und ein Quad. Auch ein Boot hatte Henry behalten, weil er sonst keinen Schnaps hätte kaufen können. Aber Traktor, Motorsägen, Mähdrescher, all diese Dinge waren schon lange verschwunden. Versoffen.

Neben dem Plumpsklo kam unter dem schmelzenden Schnee ein ausgedienter Fernseher zum Vorschein.

Die Trauer über den Verfall, über den ganzen Müll, das grelle Sonnenlicht, das ihr erschwerte, die Augen offen zu halten, all das machte sie unglaublich müde.

Ich muss mich einen Augenblick hinlegen, dachte sie.

Aber wo? Ihr fielen die Matratzen im Obergeschoss ein, aber nie im Leben würde sie sich dort hinlegen, wo seine versifften Kumpel gelegen hatten. Dann schon lieber der Stall und die Mistrinne.

Der Stall. Da muss ein Spaten stehen, dachte sie. Ich erledige die Anrufe, aber vorher muss die Ratte weg.

Die Stalltür ließ sich nicht öffnen. Zu viel Schnee lag davor. Er war vom Dach gerutscht und hart wie Beton. Sie stützte sich an der Wand ab und trat beharrlich dagegen, um ihn wegzubekommen. Plötzlich hielt sie inne. Sie hörte ein Geräusch aus dem Stall. Eine Bewegung, ein Rasseln.

Sie trat gegen den Eishaufen, bis ihr die Zehen wehtaten. Dann mit dem anderen Fuß.

Ihr ältester Bruder Olle hatte Isä und Äiti dazu überredet, Henry die kleine Landwirtschaft auf der Insel zu überlassen.

Henry war in schlechte Gesellschaft geraten. Feierte in Tärendö, Pajala und Kiruna. Kam heim, wenn er Geld brauchte, hatte aber keine Lust, auf dem Hof mit anzupacken. »Hier ist man doch nur der Knecht«, maulte er, wenn er mal half. Er hatte keinen Respekt. Nicht vor der Schule, der Kirche, dem Pfarrer, dem Besitz anderer, der Arbeit, der Familie. Nicht einmal vor Isä, seinem Vater.

»Wenn Henry den Hof übernehmen darf, wird er mit der Verantwortung wachsen«, hatte ihr großer Bruder Olle den Eltern erklärt.

Äiti und Isä hatten ohnehin schon ein schlechtes Gewissen, was Henry betraf. Als Kind war er mitten in der Heuernte an einer Mittelohrentzündung erkrankt. Sie hatten ihn erst viel zu spät zum Bezirksarzt gebracht. Anschließend war sein Gehör ruiniert, und er klagte oft über ein anhaltendes Pfeifen. Sein Lehrer, ein ungeduldiger Zeitgenosse, ohrfeigte ihn oft, weil er nicht zuhörte.

Olle war es besser ergangen. Bereits mit zwanzig war er Vorarbeiter in der Kirunaer Grube geworden. Er versprach, auch Isä einen Job dort zu besorgen.

»In der Reparaturwerkstatt brauchen sie immer fähige Leute wie dich«, sagte er.

Isä willigte ein. Er wusste sich für Henry keinen Rat mehr. Streit und Drohungen halfen nicht. Vor die Tür setzen konnte er ihn nicht. Wo hätte er denn hinsollen? Er hatte so viele Jobangebote und Chancen verpatzt. Außerdem spürte Isä damals bereits seine Hüfte. Es wurde also entschieden.

Sie haben geglaubt, dass alles besser werden würde, dachte Ragnhild. Lohn, Urlaub, Wohnung.

Virpi war sieben gewesen und hatte über den Spielplatz hinter der Mietskaserne geplappert. Sie hatte ihn nie gesehen, beschrieb ihn aber wie ein Märchenland. Nur Ragnhild heulte und sträubte sich. Schließlich riss Äiti der Geduldsfaden.

»Heitä nyt, hör auf. Du kannst nicht immer nur an dich denken. Papa ist nicht mehr jung. Die Arbeit auf dem Hof strengt ihn zu sehr an. In der Stadt wird für uns alles besser. Und du hast dann Freunde in der Nähe.«

Der Tag, an dem sie mit dem Boot übersetzen wollten. Das Eis war vor Kurzem aufgebrochen. Das Laub der Bäume erinnerte an Mäuseohren. Die Kühe weideten auf der Sommerwiese. Die Wohnung in Kiruna war bereits möbliert. Wartete auf sie. Ragnhild rannte mit Villa in den Inselwald. Er war nicht groß. Vom Boot hörte sie Virpi weinend nach ihr rufen. Das war ihr doch egal! Sie versteckte sich unter einer Tanne. Nach einer Weile kam Isä angestiefelt, energische, ungeduldige Schritte. Er rief nach ihr. Villa bellte fröhlich und verriet so ihr Versteck.

Isä packte Ragnhild am Arm und schleifte sie zum Boot, obwohl sie weinte und ihre Beine keinen Schritt machten. Villa folgte ihnen ans Ufer, durfte aber nicht auf das Boot. Vom Steg aus sah sie ihnen hinterher. Legte sich hin. Erwartete ihre Rückkehr.

Ragnhild erwachte aus ihren Gedanken, als ihr auffiel, dass sie das ganze Eis vor der Stalltüre weggetreten hatte. Wie Glasscherben lag es vor ihren Füßen. Sie drehte den großen Schlüssel um und öffnete.

»Villa«, sagte sie leise, als sie eintrat.

Es spielte keine Rolle, wie sie diesen Hund nannte. Sie wusste nicht, wie er hieß.

Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Der Stall war unverändert. Im Halbdunkel sah sie die Pferdebox und die kleinen Stände der fünf Bergkühe.

Sie schnupperte. Wie konnte es sein, dass es nach so vielen Jahren noch immer nach dem Vieh roch? Sie verlor sich in dem Geruch, und die Kühe mit ihren hornlosen Köpfen, lockigen Schwänzen und klugen braunen Augen kehrten zu ihr zurück. Majros, Punakorva, Mansikka, Virrankukka und Sköna. Das letzte Pferd, Liinikkö, war auf die ewigen Weiden weitergezogen, als sie neun Jahre alt war. Aber die Kühe hatte es noch zum Zeitpunkt ihres Umzugs gegeben. Jetzt waren sie irgendwie wieder da. Das Geräusch des Wiederkäuens, die Milch, die aus den Zitzen in den Melkeimer spritzte, das Gefühl ihres warmen Atems auf dem Arm, das Lärmen der Milchzentrifuge in der Milchkammer.

Da bewegte sich etwas in der alten Kälberbox. Der Hund. Schwarze, glänzende Augen. Er sah aus wie Villa. Wie war das möglich? Eine Dorfhundmischung mit viel Jämthund und Gråhund. Spitze Ohren mit schwarzen Konturen und ein weißes Lätzchen mit einem kleinen Stern. Genau wie Villa.

Ragnhild lockte den Hund, so wie man in ihrer Kindheit Hunde angelockt hatte. Mit einem kurzen »Tjö!« Er kam nicht. Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu.

Als sie sich der Öffnung der Kälberbox näherte, grollte der Hund warnend und zog sich in eine Ecke zurück. Mit eingeklemmtem Schwanz, angelegten Ohren und gebleckten Zähnen knurrte er.

Ragnhild blieb stehen.

Der hat Prügel bezogen, dachte sie. Er hat gelernt, dass den Menschen nicht zu trauen ist.

Sie sah sich um, um herauszufinden, wie der Hund in den Stall gelangt war, die Tür war schließlich zu gewesen.

Dann entdeckte sie die alte Mistklappe. Sie stand offen, war aber mit Schnee und Eis verrammelt. Spuren von Krallen waren im Schnee zu erkennen. Natürlich war der Hund da reingekommen. Dann war eine Ladung Eis vom Dach gerutscht und hatte den Eingang blockiert. Es war dem Hund nicht gelungen, sich auszugraben. Vielleicht versteckte er sich immer hier, wenn Henry zu viel soff? Und ernährte sich von Schnee und Feldmäusen, wenn Henry vergaß, ihm Wasser und Futter hinzustellen.

»Hör mal«, sagte sie mit weicher Stimme. »Ich bin lieb. Jedenfalls zu Tieren.«

Sie zog einen Handschuh aus, ging in die Hocke und streckte die Hand aus, damit er daran schnuppern konnte.

»Villa«, sagte sie noch einmal.

Im nächsten Augenblick griff der Hund an. Schnappte nach ihrer Hand. Dann stürzte er ins Freie.

Fluchend kam Ragnhild wieder auf die Beine. Aber es blutete nicht. Die Hand tat nicht einmal weh. Nur die Scham brannte. Sie hatte den Hund bedrängt. Wie dumm von ihr.

Ich verstehe dich, dachte sie. Ich reagiere genauso.

Sie musste ihn mit Futter locken. Vertrauen aufbauen. Sie trat auf den Hofplatz und kniff die Augen bei dem grellen Sonnenlicht und dem gleißenden Schnee zusammen. Der Hund war spurlos verschwunden.

Sie musste etwas Besseres als normales Trockenfutter auftreiben. Etwas, dem der Hund nicht widerstehen konnte. Die drei Kühltruhen im Wohnzimmer fielen ihr ein. Typisch Henry. Sie waren sicher mit Schnepfen und Elchfleisch gefüllt. Sein Anteil an der Beute, weil die regionale Jagdgruppe auf seinem Land jagen durfte. Bestimmt hatte er sich trotzdem von Fertiggerichten ernährt, weil keine Frau für ihn kochte.

Sie kehrte ins Haus zurück, ging ins Wohnzimmer und erschrak, als sie Henry auf dem Sofa sah. Sie hatte ihn vollkommen vergessen, vergessen, dass er tot im Wohnzimmer lag.

Ich bin wirklich nicht ganz bei Trost, dachte sie. Ich habe wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Sie musste den Bestatter anrufen. Keine Ahnung, wie sie Henry bei dem brüchigen Eis wegschaffen würden. Und Olle, sie musste ihn verständigen. Aber der Hund hatte Vorrang. Schlimmstenfalls würde er versuchen, über den Fluss zu entkommen, im Tiefschnee versinken, stecken bleiben. Er würde erfrieren, oder Raben oder Krähen würden das hilflose Tier töten. Sie musste versuchen, ihn einzufangen.

Instinktiv ging sie auf die älteste Kühltruhe zu. Sie wusste, wie man aus überlagertem Fleisch mit Gefrierbrand Hundefutter kochte.

Ragnhild öffnete den Deckel. Die Truhe war wirklich sehr alt, ein Wunder, dass sie immer noch brummte.

Vor lauter Reif war der Inhalt kaum zu erkennen. Die Wände waren von einer dicken, ausbuchtenden Eisschicht bedeckt. Sie streckte den Arm in die Truhe und wühlte. Erstaunt zog sie eine leere Verpackung nach der anderen hervor, uralt, Fischstäbchen, Hamburger, Fleischbällchen, Heidelbeer-Pie. Sie warf die Schachteln auf den Boden. Als sie eine leere Ketchupflasche zu fassen kriegte, hielt sie inne.

»Was soll das, Henry?«, sagte sie und wandte sich ihrem Bruder zu, als könne er antworten.

Hat er die Truhe als Mülleimer verwendet?, überlegte sie und stützte sich auf der Truhenkante ab. Aber warum war sie dann eingeschaltet?

Wütend wühlte sie weiter, schob Eisklumpen beiseite, entdeckte karierten Stoff.

Nanu?, dachte sie und fegte eine Eisschicht weg. Ein Ärmel kam zum Vorschein.

Hat er Kleider in die Kühltruhe gelegt? War er am Ende dement? Verwirrt? Zugedröhnt?

Ihre Hand schmerzte vor Kälte. Sie schob sie in die Achselhöhle, um sie aufzuwärmen. Dann steckte sie die Finger in den Mund. Verdammt, wie kalt sie waren, sie hätte einen Handschuh anziehen sollen.

Dann lehnte sie sich etwas zur Seite, damit das Licht der Deckenlampe in die Gefriertruhe fiel.

Mit wachsendem Entsetzen erkannte sie, dass sie nicht mehr weiterwühlen musste. Im Ärmel steckte ein Arm. Und zuunterst eine verschrumpelte Hand.

Sie schrie nicht. Sie warf sich nicht zurück. Sie nahm die Finger aus dem Mund und wartete auf den Brechreiz, der sich jedoch nicht einstellte. Hatte sie da eben noch herumgewühlt und dann die Finger in den Mund gesteckt? Sie spuckte auf den Boden. Mehrmals.

Dann wählte sie die 112. Erläuterte die Lage. Dass sie sich in einem Zimmer auf einer Insel im Torneälven befand, in Gesellschaft zweier Toter. Genau, richtig verstanden. Sie musste es trotzdem wiederholen. Ein Toter auf der Couch, der andere in der Tiefkühltruhe.

Sie befürchtete, dass sie zu gelassen klang. Dass die Sache zu verrückt klang und dass man ihr keinen Glauben schenken würde. Um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen, fügte sie hastig hinzu: »Wenn Sie mit der Polizei in Kiruna reden, können Sie auch gleich Oberstaatsanwältin Rebecka Martinsson verständigen. Henry Pekkari, der Mann auf dem Sofa, ist ihr Onkel. Ich bin ihre Tante.«

Sie bereute das sofort.

Der Notruf-Disponent erwiderte:

»Entschuldigen Sie, ich habe nicht alles verstanden. Wen sollen wir verständigen?«

»Niemanden«, erwiderte Ragnhild. »Nicht so wichtig.«

Virpis Tochter würde es früh genug erfahren. Und Ragnhild wollte wirklich nichts mit Rebecka Martinsson zu tun haben.

OBERSTAATSANWÄLTINREBECKAMARTINSSONSTANDANihrem höhenverstellbaren Schreibtisch, als Inspektor Tommy Rantakyrö den Kopf durch die Tür steckte.

»Meine Güte, was für ein Seufzer«, sagte er.

Rebecka zwang sich zu einem Grinsen. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie geseufzt hatte.

»Das kommt vom Alter«, meinte sie. »Ich bin schon wie meine Großmutter, sie hat auch ständig geseufzt. Das waren so richtige ›Wenn unser Herrgott mich doch nur von dieser Welt befreien könnte‹-Seufzer.«

Rantakyrö lachte und stellte ihr eine Tüte auf den Schreibtisch.

»Zum Nachmittagskaffee«, erklärte er. »Raw-Food-Kugeln, Lakritze und Ingwer-Zimt. Gut gegen Seufzer.«

»Super! Dann muss mich unser Herrgott nicht sofort befreien.«

»Jedenfalls nicht vor dem Nachmittagskaffee.«

Dankbar schnupperte sie an der Tüte, um Tommy eine Freude zu machen. Er war nett. Sie bemühte sich, seine Freundlichkeit zu erwidern. Seine Freundin war vor zwei Monaten ausgezogen, und er gab sich alle Mühe, der beste und einfühlsamste Kollege zu sein. Er war immer noch der Frischling im Team. Irgendwie war es schade, dass er nie richtig erwachsen wurde. Seit seine Freundin Schluss gemacht hatte und Sven-Erik in Rente gegangen war, tauchte er oft in der Staatsanwaltschaft auf, um sich mit ihr zu unterhalten, und blieb immer ein wenig zu lange. Sie sah sich dann gezwungen, ihn mit einem »Jetzt muss ich aber« rauszuwerfen.

»Wie läuft es mit den Rückständen?«, fragte er und nickte Richtung Papierberge auf ihrem Schreibtisch.

Rebecka stieß wieder einen dieser Großmutterseufzer aus und hob die Hände, als wolle sie die höheren Mächte anflehen. Daraufhin seufzte Tommy noch tiefer. Beide lachten über diesen privaten Scherz.

Rebeckas Chef, Alf Björnfot, hatte seinen Urlaub aufgespart, sich zusätzlich noch zwei Monate freigenommen und war nach Alaska gefahren. Eine Traumreise mit seiner erwachsenen Tochter. Bären beobachten und Lachse angeln.

Rebeckas Kollege, Oberstaatsanwalt Carl von Post, war dadurch stellvertretender Leitender Oberstaatsanwalt geworden. An seinem letzten Arbeitstag war Björnfot in Rebeckas Büro erschienen und hatte eine gelbe Haftnotiz an ihr Whiteboard gepappt: »NICHTNERVEN.« Ein Scherz, aber nicht nur.

»Vertrag dich mit Calle«, hatte Björnfot gesagt. »Ich weiß, dass er nicht dein Lieblingskollege ist, aber er hat mehr Dienstjahre als du. Also wird er mein Stellvertreter. Aber ich will keine empörten Anrufe erhalten, die mir die Reise vermiesen.«

»Ich käme nie auf die Idee, dich mit Klagen zu belästigen«, antwortete Rebecka. »Vielleicht solltest du auch in seinem Büro so einen Zettel aufhängen.«

»Ich weiß«, erwiderte Björnfot. »Aber er ist, wie er ist. Da nützen keine Zettel. Er wird dich also sicher zur Weißglut treiben. Das musst du verkraften. Wenn du ihn ärgerst, macht er mich im hintersten Winkel der Wildnis ausfindig. Also lass es bitte.«

Er streckte ihr seine gefalteten Hände entgegen. Dann verließ er das Gebäude. Noch bevor die Eingangstür hinter Björnfot zugefallen war, hatte ihr von Post als stellvertretender Dienststellenleiter und ihr neuer Chef neue Aufgaben übertragen. Er legte ihr sämtliche von der Polizei durchgeführten Ermittlungsverfahren auf den Schreibtisch, über hundertfünfzig, hauptsächlich Ladendiebstähle, Internetbetrügereien und Trunkenheit am Steuer. Sie sollte entscheiden, ob Anklage erhoben wurde, und sie dann vor Gericht abarbeiten. Ein mörderisch langweiliger und einsamer Job.

»Wie läuft’s?«, fragte Tommy Rantakyrö.

Rebecka riss sich zusammen. Seit drei Wochen war sie nun schon an ihren Schreibtisch gefesselt. Sie hatte nicht geahnt, wie sehr ihr die Einsamkeit zusetzen würde. Von Post hatte ihr nicht nur die zu bearbeitenden abgeschlossenen Polizeiermittlungen übertragen, sondern außerdem noch ihre eigenen laufenden Ermittlungen übernommen. Damit sie sich vollständig auf die »offenen Verfahren konzentrieren« könne. Sie hatte nicht protestiert. Björnfots Haftnotiz strahlte wie ein Gebot Gottes über ihrem Dasein.

Da sie keine eigenen Ermittlungen leitete, erschienen auch keine Polizisten in ihrem Büro, um Maßnahmen einer laufenden Voruntersuchung zu diskutieren. Und auch sie hatte keinerlei Veranlassung, hinüberzugehen, um Informationen einzuholen oder neue Anweisungen zu erteilen. Das Telefon blieb stumm.

Ich sollte mich mehr über Tommy freuen, dachte sie. Er kümmert sich. Warum weiß man die Leute, die sich wirklich kümmern, nie zu schätzen?

»Ich bereite meine Gerichtstermine vor«, sagte sie. »Montag geht’s los. Vielleicht werden die Kleinganoven endlich mal verurteilt.«

»Wäre gut für die Statistik«, sagte Tommy.

Gut für von Posts Statistik, dachte Rebecka.

In diesem Moment waren die Schritte von Posts auf dem Korridor zu hören. Kurz darauf stand er in der Tür. Jungenhaft zerzaustes Haar, ordentlich gebügeltes Hemd und null Bauchansatz.

»Hallo, Tommy«, grüßte er kumpelhaft und klopfte Tommy Rantakyrö etwas zu fest auf die Schulter. »Wie läuft’s, Martinsson?«

Rebecka erstarrte. Darin unterschieden sich von Post und sie. Oder sie und die Oberschicht. Er begegnete Freund wie Feind nett wie ein Fernsehmoderator. Ihr hingegen fiel es schwer, ihre wahren Gefühle zu verbergen, sie wurde einsilbig und stur, ihr Nacken verspannte sich, und sie verkniff den Mund. Es fiel ihr schwer, Leuten, die sie nicht mochte, in die Augen zu schauen. Sie verachtete sich dafür, dieses Spiel nicht spielen zu können. Sie war zum seelischen Underdog verurteilt.

Carl von Post warf ihr ein vielsagendes Lächeln zu. Es machte ihm nichts aus, dass sie ihn verabscheute. Dass sie ihm die Antwort schuldig blieb, schien ihn nur zu belustigen.

»Wie läuft’s mit den Tiefkühlwaren?«, erkundigte sich von Post und wandte sich dabei an Tommy Rantakyrö.

»Die Leiche in der Tiefkühltruhe?« erwiderte Tommy. »Tja, wir haben einen Hubschrauber angefordert, der schließlich landen konnte. Er hat die Kühltruhe und den Alten, der tot im Haus aufgefunden wurde, abgeholt.«

»Was?«, rief von Post. »Zwei Tote? Mord?«

»Wir wissen noch nichts. Die Leichen sind in der Rechtsmedizin. Pohjanen meldet sich bestimmt, sobald er Näheres weiß.«

»Gut, gut. Neuigkeiten an dieser Front werden direkt mit mir besprochen. Martinsson hat genug mit …«

»Ja, ich weiß«, unterbrach ihn Tommy Rantakyrö. »Ich habe ihr was Süßes mitgebracht, um sie aufzumuntern. Sie muss sich durch einen ordentlichen Aktenberg quälen.«

Von Posts Lächeln wurde noch breiter.

»Mmm, es ist ungemein lehrreich, Akten abzuarbeiten. Schließlich war ihr Weg in die Staatsanwaltschaft recht ungewöhnlich. Ich habe erst neun Monate Anwartschaft hinter mich gebracht und war dann zwei Jahre Assistent des Staatsanwalts. Ihr fehlen also gewisse Grundlagen.«

Rebecka biss die Zähne zusammen und starrte von Post an. Unglaublich, über ihren Kopf hinweg solche Betrachtungen anzustellen und so zu tun, als wäre sie weniger qualifiziert als er. In Wahrheit war sie überqualifiziert, und das wusste er ganz genau. Vermutlich raubte ihm das Wissen, dass sie ihre Stelle bei Meijer & Ditzinger, von der er nur sehnsüchtig träumen konnte, für den Posten einer Staatsanwältin in Kiruna aufgegeben hatte, nachts den Schlaf.

Wahrscheinlich glaubt er, dass sie mich jederzeit mit offenen Armen wieder aufnehmen würden, dachte sie. Ich wäre mir da gar nicht so sicher.

»Gut, dann lasse ich dich mal in Ruhe weiterarbeiten«, sagte von Post zu Rebecka und forderte Tommy Rantakyrö mit einem Blick zum Gehen auf.

Aber Tommy hatte nicht die Absicht, aufzubrechen. Rebecka beugte sich vor und fischte eine Raw-Food-Kugel aus der Papiertüte.

»Magst du die Hälfte?«, fragte sie Tommy.

Von Post verschwand in den Korridor.

»Was für ein Typ«, meinte Tommy Rantakyrö.

Rebecka verkniff sich eine Bemerkung.

Nicht meckern, ermahnte sie sich selbst.

Als Björnfot seinen langen Urlaub angetreten hatte, hatte sie sich zuerst unentwegt über die unangenehme Art von Posts, den sie von Pest nannte, beklagt. Alle Kollegen von der Polizei hatten sich die berüchtigte Haftnotiz angesehen, und sie hatte den Ausdruck »Die Zeit der Pest« geprägt.

Nach und nach beschlich sie jedoch das Gefühl, dass die anderen ihre Klagen leid waren. Es fiel ihr schwer, darauf zu verzichten. Sie beschloss jedoch, einfach nur »gut« zu antworten, wenn sich jemand erkundigte, wie es mit der Arbeit laufe, und nur noch über angenehme Dinge zu reden. Aber nach wenigen Sätzen hörte sie sich dann doch wieder über die Pestratte herziehen. Es war wie verhext.

Sie war verbittert und deprimiert. Die Kollegen von der Polizei kamen auf dem Weg zu von Post an ihrem Büro vorbei. Sie hegte den Verdacht, dass sie sie nicht für ganz unkompliziert hielten. Sie mussten sich nur in Erinnerung rufen, wie sie den Kollegen Krister Eriksson behandelt hatte.

Krister und sie hatten anderthalb Jahre lang ein beziehungsähnliches Verhältnis gehabt.

Aber sie hatte immer beharrt: »Wir sind kein Paar.« Und er hatte lächelnd erwidert: »Ne, ne!«, sie aufs Haar geküsst, sie in den Wald, zum Fischen und ins Bett mitgenommen. Er wollte mehr. Sie wollte weniger. Dann hatte sie alles zerstört. Sie war die Böse. Das wussten alle.

Nachdem Krister die Tür hinter sich zugeknallt hatte, war sie zu Måns Wenngren zurückgekehrt. Auch er wollte weniger. Sie waren befreundet mit Sex als Bonus. Er lag ihr auch nicht mehr damit in den Ohren, dass sie nach Stockholm zurückkehren sollte. Aber er fand, dass sie einen Dachschaden hatte, weil sie bei der Staatsanwaltschaft in Kiruna arbeitete. »Wann kündigst du endlich?«, fragte er. »Wenn dir der lächerliche Post irgendwann erklärt, dass Kloputzen auch noch zu deinem Arbeitsbereich gehört?«

Sie kehrte in die Gegenwart zurück und bemühte sich, Tommy Rantakyrö ein Lächeln zu schenken.

»Zur Hölle mit von Post«, sagte sie so heiter wie möglich. »Die sind aber lecker! Teilen wir noch eine? Was habt ihr für eine Leiche in einem Tiefkühler gefunden?«

»Weiß ich noch nicht. Sie scheint da schon länger gelegen zu haben.«

»Zerteilt?«

»Ne, offenbar nicht. Schade, dass nicht du das EV leitest, aber von Post ist auf diese Sache wahnsinnig geil.«

»Tja, dann viel Spaß mit dem Tiefkühlmord«, erwiderte Rebecka. »Verschwendet bloß keine Gedanken an mich, während ich Ladendieben, Sprayern und Rasern das Leben schwer mache.«

»Du bist einfach toll«, meinte Tommy Rantakyrö voller Bewunderung. »Das finden alle.«

»Ja, aber mit einer Ausnahme«, meinte Rebecka.

Dann fügte sie blitzschnell hinzu: »Aber das ist mir egal.«

Mit übertriebenem Interesse wühlte sie in der Papiertüte.

»Sie kommt drüber hinweg«, meinte Tommy. »Du weißt ja, wie Mella ist.«

Rebecka stockte, schaute von der Tüte mit den Raw-Food-Kugeln auf.

»Mella?«, fragte sie.

»Oh, verdammt, du hast natürlich von Post gemeint …«

Tommy Rantakyrö verstummte und schaute auf die Haftnotiz an Rebeckas Wand.

»Mella!«, rief Rebecka. »Ist Anna-Maria wütend auf mich? Warum denn?«

»Vergiss es«, flehte Tommy. »Ich dachte, sie hätte sich schon bei dir beklagt. Bitte! Vergiss, dass ich was gesagt habe.«

»Was habe ich ihr denn getan?«, fragte Rebecka erbost. »Ich habe sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr …«

Sie ließ die Tüte auf den Tisch fallen und ging zur Tür.

»Du musst mir gar nichts erklären. Ich finde das schon selbst heraus.«

Dann stürmte sie auf den Korridor hinaus.

Tommy Rantakyrö dachte daran, ihr zu folgen, ließ es dann aber bleiben.

»Nein, ich fahre lieber nach Hause«, sagte er laut. »Denn jetzt knallt’s.«

Kommissarin Anna-Maria Mella drückte im Pausenzimmer auf den Kaffeeautomaten, der wie eine Kreissäge loslärmte. Als die Tasse voll war, erschienen die Worte »Genieß es!« auf dem Display. Anna-Maria starrte auf die roten Buchstaben.

»Macht euch das nicht auch wahnsinnig?«, fragte sie in die Runde. »Ich lasse mir doch Genuss nicht vorschreiben. Ich genieße, wenn es mir passt.«

Inspektor Fred Olsson und die zwei Neuen in Uniform kicherten zustimmend.

»Das erinnert mich an einen meiner Ex«, fuhr Anna-Maria, bestärkt von dem Gelächter, fort. »Wenn wir, wie soll ich sagen, intim waren, hat er die ganze Zeit gemurmelt: ›Genieß es. Geniiieß es!‹ Ich dachte bloß, wenn du im Bett besser bist, dann genieße ich es auch, okay?«

Sie erntete ein weiteres Gelächter und hatte ein leicht schlechtes Gewissen. Die Geschichte stimmte zwar, aber es klang ganz so, als hätte sie die Männer regelrecht verschlungen, als wäre er einer von vielen gewesen. Als wäre sie zu diesem Zeitpunkt schon älter gewesen. Fakt war, dass sie außer mit Robert nur mit einem anderen Mann geschlafen hatte. Sie war damals siebzehn und hatte gerade mit Robert Schluss gemacht. Sie war unglücklich und betrunken, und Jalle war einfach nur betrunken. Er machte eine Ausbildung zum Automechaniker und wohnte in Kiruna zur Untermiete, aber mit eigenem Eingang. Eine Woche später waren Robert und sie wieder zusammen. Es war nur eine kleine Meinungsverschiedenheit gewesen. Schließlich gehörten sie zusammen. Was hatte sie jetzt auf diesen Jalle gebracht? Wie war noch gleich sein Nachname, den hatte sie glücklicherweise vergessen.

»Was ist eigentlich mit diesen Geräten los?«, meinte Karzan Tigris, einer der Neuen in Uniform.

Er hatte vor anderthalb Monaten im regulären Dienst angefangen und unterhielt ein Instagram-Konto mit vielen Followern, in dem er seinen geliebten Polizeiberuf schilderte. Er postete Selfies, auf denen er »Bullenkaffee« trank oder in voller Montur einen Handstand machte. Anna-Maria fand, dass er aussah, als besuche er noch die Mittelstufe. So ging es ihr inzwischen oft. Ärzte, Lehrer, Pfarrer, man konnte sie kaum ernst nehmen. Viele sahen aus, als wären sie noch nicht mal volljährig. Wirklich komisch.

Karzan sann weiter: »Alles piepst und lärmt. Die Waschmaschine, zum Beispiel. Die piepst auch, wenn die Wäsche durch ist. Und hört einfach nicht auf. Man kann also keine Wäsche anwerfen, bevor man ins Bett geht.«

»Die Techniker bauen diese Extras einfach ein, um zu zeigen, was sie können«, vermutete die uniformierte Kollegin, Magda Vidarsdotter.

Sie stammte aus Flen und war kinderlos, besaß aber ein Pferd, das sie in einem Stall in Jukkasjärvi untergebracht hatte. Sie war auch Polizeiassistentin, allerdings keine Anfängerin mehr. Sie hatte bereits in Eskilstuna gearbeitet und war der Natur wegen nach Kiruna gezogen. Rebecka und sie unterhielten sich gerne und so lange über Pferde und Hunde, dass fast der Eindruck entstehen konnte, man arbeite auf einem Bauernhof. Anna-Maria hoffte inständig, dass Vidarsdotter und Tigris in Kiruna bleiben würden.

»Wie es wohl aussieht, wenn die KI-Technik nichts mehr kostet?«, fuhr Magda Vidarsdotter fort. »Dann heißt es: ›Hallo, Anna-Maria. Dein Cortisolspiegel ist erhöht. Bitte drei Mal tief einatmen. Überlege, ob du diesen Kaffee wirklich brauchst.‹«

Letzteres trug sie mit nachgeahmter Computerstimme vor. Monoton, mit seltsamen Pausen und einer hellen, aufmunternden Stimme.

Anna-Maria lachte übertrieben, weil Magda Vidarsdotter normalerweise eher einsilbig war. So allmählich schien sie aufzutauen. Sie rauften sich zusammen. Wie fröhliche, bellende Hunde. Anna-Maria war eine fähige Alphahündin. Sie würden bestimmt ein gutes Team werden. Aber Sven-Erik Stålnacke hatte eine Lücke hinterlassen, das ließ sich nun einmal nicht ändern.

Es war ein seltsames Gefühl, jetzt die Gruppenälteste zu sein. Bis Sven-Erik in Rente gegangen war, hatte sie sich wie zwanzig gefühlt.

»Wenn einen nicht die Kinder erziehen, dann sind es die Haushaltsgeräte«, meinte Anna-Maria mit gespielter Resignation. »Es wäre schön, wenn …«

Aber die Kollegen erfuhren nie, was schön wäre, denn in diesem Augenblick erschien Rebecka Martinsson in der Tür. Ihre ausdruckslose Miene verriet, dass Gefahr im Verzug war.

Anna-Maria spürte sofort, dass ihr Cortisolspiegel anstieg. Dazu brauchte sie keinen Kaffeeautomaten.

»Hallo, Martinsson«, grüßte Fred Olsson, dem der Stimmungsumschwung entgangen war, fröhlich.

Rebecka Martinsson nickte kurz und kam dann zur Sache.

»Ist was?«, fragte sie Anna-Maria. »Tommy hat so was angedeutet.«