Der schwarze Steg - Åsa Larsson - E-Book
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Åsa Larsson

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Beschreibung

»Nicht nur eine der besten Krimischriftstellerinnen Skandinaviens, sondern auch weltweit.« Antje Deistler, WDR

Anwältin Rebecka Martinsson fasst nach ihrem letzten Fall nur schwer wieder Fuß. Sie entschließt sich, Stockholm zu verlassen und nach Kiruna zu ziehen, in das alte Haus ihrer Großmutter. Doch die Stille ihres neuen Lebens wird jäh unterbrochen, als eine Frau ermordet aufgefunden wird. Die Identität der Toten ist schnell geklärt: Sie war leitende Angestellte einer Grubengesellschaft. Bei ihren Ermittlungen stößt Rebecka auf die dubiosen Machenschaften des schillernden Industriemagnaten Mauri Kalli. Ein Mann, der offensichtlich bereit ist, über Leichen zu gehen.

»Knorrige Figuren, präzise Milieus, packender Plot – Åsa Larsson schreibt derzeit die besten Skandinavien-Krimis.« Hörzu

Entdecken Sie die weiteren Bände der Rebecka-Martinsson-Reihe:

1. Sonnensturm

2. Weiße Nacht

3. Der schwarze Steg

4. Bis dein Zorn sich legt

5. Denn die Gier wird euch verderben

6. Wer ohne Sünde ist

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Seitenzahl: 526

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ÅSA LARSSON

DER SCHWARZE STEG

ROMAN

Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Svart stig« bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.

1. Auflage

Copyright © 2006 by Åsa Larsson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007

beim C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12645-2www.bertelsmann-verlag.de

Können Sie sich erinnern?

Rebecka Martinsson sah ihren toten Freund in Poikkijärvi im Kies liegen. Und die Welt brach zusammen. Rebecka musste festgehalten werden, sonst wäre sie in den Fluss gegangen.

Das hier ist das dritte Buch.

Auszug aus dem Krankenbericht, 12. September 2003, betr. Patientin Rebecka Martinsson

Kontaktursache: Pat. wurde ins Krankenhaus von Kiruna eingeliefert, mit Gesichtsverletzungen nach Sturz und Schlag auf den Kopf. Befindet sich bei Einweisung in akutem psychotischem Zustand. Chirurgische Behandlung der Gesichtsverletzungen notwendig, weshalb Pat. in Narkose versetzt wurde. Bei Erwachen weiterhin floride psychotische Symptome vorhanden. Entscheidung zur Zwangseinweisung gemäß § 3 Gesundheitsgesetzgebung. Überführung in die psychiatrische Abteilung des St.-Görans-Krankenhauses in Stockholm, geschlossene Abteilung. Vorl. Diagnose: Psychose INA. Behandlung: Risperdal mix 8 mg/Tag sowie Sobril 50 mg/Tag.

Die Zeit ist nahe.

Sehet, er kommt mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen.

Die Stunde ist nahe.

Es ist die Zeit des feuerroten Pferdes. Dessen, der da kommt mit dem langen Schwert, auf dass die Menschen einander abschlachten.

Und hier! Halten sie mich in den Armen! Sie hören nicht! Hartnäckig weigern sie sich, den Blick zum Himmel zu heben, der sich über ihnen auftut.

Es ist die Zeit des fahlen Pferdes.

Und er scharrt mit seinem scharfen Huf. Er tritt die Erde auf seinem Weg fort. Da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack voller Haare, und der ganze Mond wurde wie Blut.

Und ich blieb zurück. Es sind ihrer viele, die zurückgelassen wurden. Wir fallen vor unserer Reise in die Finsternis auf die Knie, und wir leeren vor Furcht unser Gedärm. Auf dem Weg zur See, die mit Feuer und Schwefel brennt, und das ist der zweite Tod. Nur wenige Minuten bleiben noch. Man packt das Erstbeste. Klammert sich an den Nächstbesten.

Ich höre die Stimmen der sieben Donner. Endlich sind die Wörter deutlich.

Sie sagen. Dass die Zeit. Nahe ist.

Aber hier hört niemand zu!

Auszug aus dem Krankenbericht, 27. September 2003, betr. Patientin Rebecka Martinsson.

Die Patientin ist ansprechbar, antwortet auf Anrede, kann sich zu den Ereignissen äußern, die die depressive Psychose ausgelöst haben. Zeigt Symptome von Depressivität, wie Gewichtsverlust, Unlust, gestörten Nachtschlaf und frühes Erwachen. Suizidgefährdet. ECT-Behandlung wird fortgesetzt. Cipramil in Tablettenform, 40 mg/Tag.

Einer der Pfleger (ich habe Pfleger, allein die Vorstellung!) heißt Johan. Oder Jonas? Johnny? Er geht mit mir spazieren. Ich darf nicht allein los. Wir gehen nicht weit. Trotzdem werde ich unvorstellbar müde. Vielleicht sieht er das, als wir zurückgehen. Er gibt vor, nichts zu merken. Redet die ganze Zeit. Das ist gut, dann muss ich nichts sagen.

Er spricht über Muhammad Alis Titelkampf 1974 gegen George Foreman in Zaire.

»Der hat so viel Prügel eingesteckt! Stand vor dem Seil und ließ Foreman schlagen. Foreman, also, der war übel. Wir reden hier von Schwergewicht, die meisten haben das ja vergessen, aber die Leute haben sich vor diesem Kampf wirklich Sorgen um Ali gemacht. Dachten, Foreman würde ihn vielleicht umbringen. Und dann stand Ali einfach da wie ein verdammter … Fels! Und steckte sieben Runden lang Prügel ein. Hat Foreman psychisch total fertig gemacht. In der siebten Runde beugte er sich zu Foreman vor und flüsterte ihm ins Ohr: ›Is that all you got, George?‹ Und das war es auch. Danach, in der achten, konnte Foreman sich kaum noch verteidigen, und dann kam diese Öffnung. Ali, einfach: tschum!« (Seine rechte Hand jagt als Haken durch die Luft.) »Foreman kippt um wie ein gefällter Baum. Prrrakasch!«

Ich gehe schweigend weiter. Registriere, dass es bei den Bäumen jetzt nach Herbst riecht. Er dagegen redet. Rumble in the Jungle. I am the greatest. Thrilla in Manilla.

Oder er redet über den Zweiten Weltkrieg (darf er das eigentlich, frage ich mich in Gedanken, bin ich denn nicht empfindlich, zerbrechlich sozusagen, was würde der Oberarzt dazu sagen?).

»Die Japaner, das sind echte Krieger. Verstehst du, wenn den Kampfflugzeugen mitten über dem Pazifik der Treibstoff ausging. Wenn ein amerikanischer Flugzeugträger in Reichweite war, haben sie sich einfach drauffallen lassen. Peng. Oder sie haben auf dem Meer eine elegante Bauchlandung hingelegt, nur um zu zeigen, was sie für unglaublich fähige Flieger waren. Danach, wenn sie überlebt hatten, sprangen sie ins Wasser und töteten sich mit dem Schwert. Sie fielen dem Feind nicht lebend in die Hände. Das war auch bei den Kämpfen bei Guadalcanal so. Sie sprangen wie Lemminge in den Abgrund, als ihnen aufging, dass sie besiegt waren. Die Amis standen da mit ihren Megafonen und riefen, sie sollten sich ergeben.«

Als wir zur Station zurückkommen, habe ich plötzlich Angst, er könnte mich fragen, ob ich gern spazieren gehe. Fragen, ob ich diesen Spaziergang gern gemacht habe. Ob ich morgen auch einen machen möchte.

Ich kann nicht mit »ja« oder »gern« antworten. Dann komme ich mir vor wie damals als Kind. Bei den Frauen im Dorf, wenn sie zu Eis oder Limo einluden. Die mussten immer fragen: »Schmeckt das?« Obwohl sie es doch sehen konnten. Ich saß da und schleckte, andächtig, stumm. Ich musste ihnen etwas geben. Einen Preis. »Ja« und am liebsten »danke« von der Kleinen, der Armen mit der verrückten Mutter. Jetzt habe ich nichts zu geben. Nicht einen Mucks. Wenn er fragt, muss ich Nein sagen. Obwohl es wunderschön war, in der Luft zu atmen. Auf der Station riecht es nach ausgeschwitzter Medizin, nach Zigaretten, Schmutz, Krankenhaus, Reinigungsmittel für die Plastikböden.

Aber er fragt nicht. Nimmt mich auch am nächsten Tag mit auf eine Runde.

Auszug aus dem Krankenbericht, 27. September 2003, betr. Patientin Rebecka Martinsson.

Patientin reagiert gut auf die Behandlung. Suizidgefahr scheint nicht mehr zu bestehen. In den beiden vergangenen Wochen Behandlung im Rahmen der Gesundheitsgesetzgebung. Niedergeschlagen, aber nicht ernsthaft deprimiert. Wird in eine Wohnung in Kurravaara gebracht, einem Dorf bei Kiruna, wo sie aufgewachsen ist. Weiterhin poliklinische Gesprächstherapie in Kiruna. Weiterhin medikamentös behandelt, Cipramil 40 mg/Tag.

Der Oberarzt fragt, wie es mir geht. Ich antworte: Gut.

Er schweigt und sieht mich an. Fast ein Lächeln. Verständnisvoll. Er kann unendlich lange schweigen. Darin ist er Experte. Schweigen provoziert ihn nicht. Am Ende antworte ich: Gut genug. Das ist die richtige Antwort. Er nickt.

Ich darf nicht hierbleiben. Habe lange genug Platz weggenommen. Es gibt Frauen, die diesen Platz dringender brauchen. Solche, die sich die Haare anstecken. Die hier auf der Toilette Spiegelscherben schlucken und in aller Eile auf die Notstation gebracht werden müssen. Ich kann sprechen, antworten, morgens aufstehen und mir die Zähne putzen.

Ich hasse ihn, weil er mich nicht dazu zwingt, in alle Ewigkeit hierzubleiben. Weil er nicht Gott ist.

Dann sitze ich im Zug nach Norden. Die Landschaft jagt in kleinen Bruchstücken vorbei. Zuerst hohe Laubbäume in roten und gelben Tönen. Herbstsonne und jede Menge Häuser. In allen leben Menschen ihre Leben. Auf irgendeine Weise kommen sie weiter.

Hinter Bastuträsk liegt Schnee. Und dann endlich: Wald, Wald, Wald. Ich bin auf dem Heimweg. Die Birken schrumpfen, heben sich jämmerlich und schwarz vom Weiß ab.

Ich presse Stirn und Nase ans Fenster.

Mir geht es gut, sage ich mir. So ist es, wenn es gut geht.

Samstag, 15. März 2005

SPÄTWINTERABEND IN TORNETRÄSK. Das Eis lag dick, über einen Meter. Überall auf dem siebzig Kilometer langen See standen die Archen, kleine Hütten auf Kufen, vier Quadratmeter groß. Im Spätwinter pilgerten die Bewohner von Kiruna nach Torneträsk. Sie fuhren mit dem Schneemobil und der Arche im Schlepp.

Der Boden der Arche hatte eine Luke. Ins dicke Eis wurde ein Loch gebohrt. Ein Plastikrohr verband das Loch mit der Luke im Boden, auf diese Weise konnte der eisige Wind nicht von unten her in die Arche eindringen. Und dann saß jemand in der Arche und angelte durch das Loch.

Leif Pudas war nur mit seiner Unterhose bekleidet und angelte. Es war halb neun Uhr abends. Er hatte ein paar Bier getrunken, es war ja Samstag, der Propanofen sauste und pfiff. Es war wirklich warm, inzwischen über fünfundzwanzig Grad. Fische hatte er auch erwischt, fünfzehn Bergforellen, kleine zwar, aber dennoch. Außerdem hatte er für die Katze seiner Schwester ein paar Aalquappen beiseite gelegt.

Als er pinkeln musste, kam ihm das wie eine Befreiung vor, er war einfach überhitzt, es würde schön sein, sich draußen ein wenig abkühlen zu können. Er stieg in seine Schneemobilstiefel und ging, weiterhin nur mit der Unterhose bekleidet, hinaus in die Kälte und die Finsternis.

Als er die Tür öffnete, packte sie der Wind.

Tagsüber hatte die Sonne geschienen, und es war windstill gewesen. Aber im Gebirge ändert sich das Wetter die ganze Zeit. Jetzt riss und zerrte der Sturm an der Tür wie ein tollwütiger Hund. Zuerst gab es kaum Wind, er lag sozusagen auf der Lauer und knurrte und sammelte Kraft, dann legte er wie der Teufel los. Man konnte sich wirklich fragen, ob die Türangeln durchhalten würden. Leif Pudas musste die Tür mit beiden Händen packen, um sie schließen zu können. Vielleicht hätte er sich mehr anziehen sollen. Aber Scheiß drauf, Wasser abzuschlagen dauerte ja wohl nicht lange.

Die Windstöße brachten Schnee mit sich. Keinen weichen, feinen Pulverschnee, sondern scharfgeschliffene Diamanten. Der Schnee jagte über den Boden wie eine weiße neunschwänzige Katze und zerfetzte Leif Pudas’ Haut in einem langsamen, bösen Rhythmus.

Leif Pudas rannte um die Arche herum, um Schutz vor dem Wind zu finden, und stellte sich zum Pinkeln auf. Hier war es windgeschützt, aber auch ungeheuer kalt. Er hätte nicht in Unterhose aus dem Haus gehen dürfen. Sein Sack zog sich zu einer steinharten Kugel zusammen. Aber immerhin kam die Pisse. Er wartete fast darauf, dass sie auf dem Weg durch die Luft gefror. Sich in einen gelben Eisbogen verwandelte.

Als er fertig war, hörte er durch das Fenster eine Art Gebrüll, dann hatte er die Arche plötzlich im Rücken. Fast hätte sie ihn überfahren, und gleich darauf war sie verschwunden.

Erst nach zwei Sekunden ging ihm wirklich auf, was passiert war. Der Sturm hatte die Arche mitgerissen. Er sah das Fenster, das Viereck aus warmem Licht in der Dunkelheit, und er sah, dass es ohne ihn davonjagte.

Er machte einige rasche Schritte durch die Dunkelheit, aber als die Vertäuung riss, gewann die Arche an Tempo. Er hatte nicht die geringste Chance, sie einzuholen, auf ihren Kufen jagte sie davon.

Zuerst dachte er nur an die Arche. Er hatte sie selbst aus Spanplatten gebaut und sie isoliert und mit Aluminium verkleidet. Morgen, wenn er sie fand, würde sie nur noch Kleinholz sein. Er konnte nur hoffen, dass sie keinen Schaden anrichtete.

Dann kam ein kräftiger Windstoß. Der riss ihn fast zu Boden. Nun erst ging ihm auf, dass er in Gefahr schwebte. Und er hatte noch dazu so viel Bier getrunken, sein Blut lag sozusagen gleich unter der Haut. Wenn er nicht sehr bald ins Warme käme, würde er im Handumdrehen erfroren sein.

Er sah sich um. Zur Touristenstation in Abisko war es mindestens ein Kilometer, das würde er nie im Leben schaffen, jetzt ging es um Minuten. Wo war die nächste Arche? Schneegestöber und Sturm hinderten ihn daran, das Licht der anderen Archen zu sehen.

Überlegen, sagte er sich. Jetzt gehst du nicht einen Scheißschritt, solange du deinen Grips nicht angestrengt hast. In welche Richtung schaust du gerade?

Er strengte drei Sekunden lang seinen Grips an, merkte, dass seine Hände schon steif wurden, schob sie in seine Achselhöhlen. Ging vier Schritte geradeaus und lief voll gegen sein Schneemobil. Der Schlüssel lag in der fliehenden Arche, aber unter dem Sitz hatte er einen kleinen Werkzeugkasten. Den zog er hervor.

Dann betete er zu jemandem da oben, ihn den richtigen Weg einschlagen zu lassen, und lief los in Richtung der nächsten Arche. Es waren nur zwanzig Meter, aber er hätte bei jedem Schritt in Tränen ausbrechen mögen. Aus Angst, sie zu verfehlen. Denn das würde den Tod bedeuten.

Er hielt Ausschau nach Perssons Glasfaserarche. Der scharfe Schnee wurde ihm in die Augen geweht, er kniff die Augen zusammen, und eine Schicht aus Schneematsch legte sich darüber, die er wegwischen musste. Er konnte einfach nichts sehen, außer Dunkelheit und Schnee.

Er dachte an seine Schwester. Und er dachte an seine ehemalige Lebensgefährtin, daran, dass sie es trotz allem gut miteinander gehabt hatten.

Er stieß fast gegen Perssons Arche, ehe er sie sah. Niemand zu Haus, schwarze Fenster. Er zog den Hammer aus dem Werkzeugkasten, musste die linke Hand nehmen, die rechte war einfach unbrauchbar, sie tat schrecklich weh, da sie den kalten Stahlgriff des Werkzeugkastens gehalten hatte. Er tastete in der Dunkelheit nach dem kleinen Kunststofffenster und schlug es ein.

Die Angst machte ihn stark, er hievte seinen an die hundert Kilo schweren Körper durch das Fenster. Fluchte, als er sich den Bauch an der scharfen Metallkante aufschrammte. Aber was spielte das für eine Rolle. Aus solcher Nähe hatte der Tod ihm noch nie in den Nacken gehaucht.

In der Arche musste er ganz schnell Feuer machen. Er war zwar jetzt vor dem Wind geschützt, aber trotzdem war es hier drinnen eiskalt.

Er suchte in allerlei Kästen, bis er Streichhölzer gefunden hatte. Wie ist es möglich, etwas so Kleines festzuhalten, wenn die Hände durch die Kälte unbrauchbar geworden sind? Er steckte die Finger in den Mund, um sie zu wärmen, dann bekam er sie so weit unter Kontrolle, dass er Propanlampe und Ofen anzünden konnte. Sein Körper wollte nur noch zittern und beben, nie im Leben hatte er dermaßen gefroren. Eiskalt bis auf die Knochen.

»Jetzt ist es verdammt noch mal kalt, Scheiße, das ist ja vielleicht kalt«, sagte er mehrmals vor sich hin. Er redete laut, das hielt ihm in gewisser Weise die Panik vom Leib, er hatte das Gefühl, sich selber Gesellschaft zu leisten.

Der Wind schlug durch das Fenster wie ein boshafter Gott, Leif Pudas riss eine Matratze an sich, die an der Wand lehnte, und konnte sie einigermaßen an Ort und Stelle bugsieren, er klemmte sie zwischen Gardinenstange und Wand ein.

Er fand eine rote Daunenjacke, die vermutlich Frau Persson gehörte. Er fand auch einen Kasten mit Unterwäsche, zog zwei lange Unterhosen an, eine über die Beine und eine über den Kopf.

Die Wärme kam langsam, er hielt seine Glieder vor den Ofen, in seinen Körperteilen prickelte und brannte es, es tat schrecklich weh. In der einen Wange und dem Ohr hatte er überhaupt kein Gefühl, das war grauenhaft.

Auf der Pritsche lag ein Haufen Decken. Die waren natürlich eiskalt, aber er konnte sich trotzdem hineinwickeln, sie isolierten immerhin.

Ich habe überlebt, sagte er sich. Was spielt es da für eine Rolle, ob mein Ohr sich verabschiedet hat?

Er riss die Tagesdecke von der Pritsche. Sie war großgeblümt, in allerlei Blautönen, ein Relikt aus den Siebzigerjahren.

Und darunter lag eine Frau. Ihre Augen waren offen und zu Eis gefroren, sie waren ganz weiß, wie mattes Glas. Etwas, das aussah wie Brei oder vielleicht Erbrochenes, an ihrem Kinn und ihren Händen. Sie trug einen Trainingsanzug. Das Oberteil wies einen roten Fleck auf.

Er schrie nicht. Er war nicht einmal überrascht. Sein Empfindungsvermögen war nach allem, was er soeben durchgemacht hatte, sozusagen erschöpft.

»Also, zum Teufel«, sagte er nur.

Und seine Gefühle glichen denen, die man hat, wenn man sich einen kleinen Hund zulegt und der zum hundertsten Mal ins Zimmer pisst. Es war die Resignation angesichts der Tücke jeglichen Objekts.

Er unterdrückte den Impuls, einfach die Decke zurückzulegen und die Frau zu vergessen.

Dann setzte er sich hin und überlegte. Was zum Henker sollte er jetzt tun? Natürlich musste er machen, dass er zur Touristenstation kam. Nicht, dass er Lust gehabt hätte, sich in der Dunkelheit auf den Weg zu begeben. Aber ihm blieb wohl keine Wahl. Und außerdem wollte er nicht mit der Frau zusammen auftauen.

Aber eine kleine Weile musste er doch noch sitzen bleiben. Bis er nicht mehr so entsetzlich fror.

Zwischen ihnen bildete sich eine Art Gemeinschaft. Sie leistete ihm Gesellschaft, als er eine Stunde lang mit schmerzendem Körper dasaß, während die Wärme sich wieder einstellte. Er hielt die Hände gegen den Propanofen. Er sagte nichts. Und sie auch nicht.

KOMMISSARIN ANNA-MARIA Mella und ihr Kollege Sven-Erik Stålnacke kamen um Viertel vor zwölf in der Nacht zum Sonntag an der Fundstelle an. Die Polizei hatte bei der Touristenstation Abisko zwei Schneemobile ausgeliehen. Das eine hatte einen Schlitten. Ein Bergführer hatte seine Hilfe angeboten und die beiden nach unten gefahren. Durch Sturm und Finsternis.

Leif Pudas, der die Leiche gefunden hatte, saß in der Touristenstation und war bereits einmal vernommen worden, von der Besatzung des Streifenwagens, der zuerst hier eingetroffen war.

Als Leif Pudas zur Touristenstation gekommen war, war die Rezeption geschlossen gewesen. Es hatte eine Weile gedauert, bis die Leute in der Kneipe ihm geglaubt hatten. Es war doch Samstagabend, und zwar waren sie in der Touristenstation an saloppe Kleidung gewöhnt, viele streiften einfach den Schneemobilanzug ab und tranken ihr Bier in Unterwäsche. Aber Leif Pudas kam in einer Damendaunenjacke hereingewankt, die ihm knapp bis zum Nabel reichte, dazu trug er wie einen Turban eine lange Unterhose um den Kopf.

Erst, als er in Tränen ausbrach, begriffen sie, dass etwas Entsetzliches passiert sein musste. Sie hörten ihm zu, und danach behandelten sie ihn wie ein rohes Ei, während sie auf die Polizei warteten.

Er hatte eine Tote gefunden, sagte er. Mehrere Male betonte er, dass es nicht seine Arche war. Trotzdem hielten sie ihn sicher für einen Mann, der seine Frau umgebracht hat. Niemand wollte seinen Blick erwidern. Er saß ganz allein da und weinte, ohne irgendwen zu stören, als die Polizei eintraf.

Es erwies sich als unmöglich, die Umgebung der Arche abzusperren, der Wind riss die Absperrbänder sofort mit. Also hatten sie die gelb-schwarz gestreiften Bänder um die Arche gewickelt, hatten die Arche wie ein Paket verschnürt. Jetzt knisterten die Bänder wütend im Wind. Die Techniker waren schon eingetroffen und arbeiteten auf engstem Raum, im Schein der Scheinwerfer und der gedämpften Propanbeleuchtung aus der Arche.

Drinnen war wirklich kein Platz für mehr als zwei Personen. Während die Technik den Boden untersuchte, standen Anna-Maria Mella und Sven-Erik Stålnacke draußen und versuchten, in Bewegung zu bleiben.

Es war so gut wie unmöglich, durch den Sturm und die dicken Mützen zu hören, was gesagt wurde. Sogar Sven-Erik trug eine Mütze mit Ohrenklappen, obwohl er sonst noch mitten im Winter barhäuptig herumlief. Sie brüllten einander an und bewegten sich in ihren dicken Schneemobilanzügen wie Michelinmännchen.

»Sieh mal«, rief Anna-Maria. »Das ist doch komisch!«

Sie breitete die Arme aus und stand da wie ein geblähtes Segel. Sie war eine kleine Frau, wog nicht gerade viel. Außerdem war der Schnee tagsüber geschmolzen, um dann abends zu gefrieren und blank und wie Eis zu werden, und als sie also so in Positur ging, packte sie der Wind, und langsam glitt sie davon.

Sven-Erik lachte und gab vor, sie eilig einfangen zu wollen, ehe sie auf die andere Seite des Sees getrieben würde.

Jetzt kamen die Techniker aus der Arche.

»Das ist jedenfalls nicht der Tatort«, rief der eine Anna-Maria Mella zu. »Erstochen, wie es aussieht. Aber wie gesagt, offenbar nicht hier. Ihr könnt die Leiche haben. Wir machen morgen weiter, wenn wir etwas sehen können.«

»Und uns nicht den Arsch abfrieren«, schrie sein viel zu dünn angezogener Kollege.

Die Techniker setzten sich auf den Schlitten des Schneemobils und wurden zur Touristenstation kutschiert.

Anna-Maria Mella und Sven-Erik Stålnacke gingen in die Arche.

Dort war es eng und kalt.

»Aber immerhin sind wir vor dem Scheißwind geschützt«, sagte Sven-Erik und zog die Tür zu. »So, jetzt können wir uns in normaler Lautstärke unterhalten.«

Der kleine, an der Wand befestigte Klapptisch war mit Folie in Holzoptik bezogen. Stühle, vier Stück aus weißem Kunststoff, waren aufeinandergestapelt. Es gab eine Kochplatte und eine kleine Spülschüssel. Ein rot-weiß karierter Vorhang und Stoffblumen in einer Keramikvase lagen auf dem Boden unter dem Plexiglasfenster. Eine dort festgeklemmte Matratze hielt den Wind, der durch das Fenster eindringen wollte, einigermaßen auf.

Sven-Erik öffnete den Schrank. Dort stand ein Brennapparat für die Schnapsherstellung. Er schloss den Schrank.

»Ja, ja, das haben wir nicht gesehen«, sagte er nur.

Anna-Maria betrachtete die Frau auf der Pritsche.

»Eins fünfundsiebzig?«, fragte sie.

Sven-Erik nickte und brach sich kleine Eiszapfen vom Schnurrbart. Anna-Maria zog das Tonbandgerät aus der Tasche. Sie fummelte eine Weile daran herum, denn die Batterien waren so kalt geworden, dass das Gerät nicht funktionierte.

»Na los«, sagte sie und hielt es vor den Propanofen, der tapfer kämpfte, um trotz des eingeschlagenen Fensters und des Rein- und Rausgerennes das Archeninnere zu wärmen.

Als das Tonbandgerät endlich ansprang, gab Anna-Maria eine Beschreibung.

»Frau, blond, Pagenkopf, um die vierzig … sieht gut aus, was?«

Sven-Erik stieß einen Laut der Zustimmung aus.

»Ich finde das jedenfalls. An die eins fünfundsiebzig groß, schlank, große Brüste. Kein Ring am Finger. Kein Schmuck. Augenfarbe in dieser Situation schwer zu beurteilen, vielleicht kann die Gerichtsmedizin … helle Trainingsjacke, winddichtes Modell, vermutlich mit Blutflecken, aber das werden wir wohl bald erfahren, dazu passende Trainingshose, Turnschuhe.« Anna-Maria beugte sich über die Frau.

»Und sie ist geschminkt, Lippenstift, Lidschatten und Wimperntusche«, fügte sie hinzu. »Ist das nicht ein bisschen seltsam, wenn sie doch joggen wollte? Und warum trägt sie keine Mütze?«

»Heute war es mittags sehr warm und schön, gestern auch«, sagte Sven-Erik. »Solange kein Wind weht …«

»Aber es ist Winter! Du bist der Einzige weit und breit, der nie eine Mütze trägt. Die Kleider sehen jedenfalls nicht billig aus, und die Frau auch nicht. Sie wirkt irgendwie fein.«

Anna-Maria schaltete das Tonbandgerät aus.

»Wir müssen schon heute Abend die Umgebung befragen. Touristenstation und Ost-Abisko. Wir erkundigen uns auch im Laden, ob sie da bekannt ist. Und eigentlich müsste doch irgendwer sie vermisst melden, finde ich.«

»Mir kommt sie irgendwie bekannt vor«, sagte Sven-Erik nachdenklich.

Anna-Maria nickte.

»Vielleicht ist sie aus Kiruna. Muss überlegen. Vielleicht haben wir sie da gesehen. Zahnärztin? Verkäuferin in irgendeinem Laden? Bank?«

Sven-Erik schüttelte den Kopf.

»Hör auf«, sagte er. »Es wird uns schon einfallen.«

»Wir müssen auch zwischen den Archen nachsehen«, sagte Anna-Maria.

»Ja, und das bei diesem Scheißsturm!«

»Trotzdem.«

»Ja.«

Sie musterten einander eine Weile lang.

Sven-Erik wirkte müde, fand Anna-Maria. Müde und niedergeschlagen. Das war er oft angesichts von toten Frauen. In der Regel handelte es sich ja um tragische Todesfälle. Sie lagen erschlagen in der Küche, der Mann saß in Tränen aufgelöst im Nebenzimmer, und man musste froh sein, wenn es keine kleinen Kinder gab, die alles mit angesehen hatten.

Sie selbst fühlte sich nie so unangenehm berührt, doch, natürlich, wenn es um Kinder ging. Kinder und Tiere, daran würde sie sich nie gewöhnen. Aber ein Mord wie dieser. Nicht, dass er sie in gute Laune versetzte. Oder dass sie es gut fand, dass irgendwer umgebracht worden war, so war das nicht. Aber ein Mord wie dieser … Der brachte doch sozusagen etwas zu beißen. Und das konnte sie brauchen.

Sie lächelte in Gedanken über Sven-Eriks nassen Schnurrbart. Der sah aus wie etwas, das überfahren und am Straßenrand liegen gelassen worden ist. In letzter Zeit wucherte er ganz schön. Sie fragte sich, wie einsam Sven-Erik wirklich war. Seine Tochter wohnte mit ihrer Familie in Luleå. Sie sahen sich wohl nicht sehr oft.

Und vor anderthalb Jahren war ja sein Kater verschwunden. Anna-Maria wollte ihn überreden, sich einen neuen zuzulegen, aber Sven-Erik weigerte sich. »Das macht nur Ärger«, sagte er. »Und man ist so gebunden.« Sie wusste natürlich, was das bedeutete. Er wollte sich neuen Kummer ersparen. Himmel, was hatte er sich wegen Manne Sorgen gemacht und den Kopf zerbrochen, ehe er endlich die Hoffnung aufgegeben und nicht mehr über ihn gesprochen hatte.

Und das fand Anna-Maria so schade. Sven-Erik war ein feiner Bursche. Er würde für irgendeine Frau einen guten Mann abgeben. Und ein gutes Herrchen für jegliches Tier. Er und Anna-Maria verstanden sich gut miteinander, aber sie würden nie auf die Idee kommen, auch ihre Freizeit zusammen zu verbringen. Das lag nicht nur daran, dass er viel älter war. Sie hatten ganz einfach nicht so viele Gemeinsamkeiten. Wenn sie sich außer Dienst in der Stadt oder im Laden begegneten, fehlte es immer an Gesprächsstoff. Bei der Arbeit dagegen konnten sie plaudern und sich zusammen einfach wohlfühlen.

Sven-Erik sah Anna-Maria an. Sie war wirklich eine kleine Frau, gerade mal eins fünfzig, sie verschwand fast in ihrem voluminösen Schneemobilanzug. Ihre langen blonden Haare waren von der Mütze platt gedrückt. Nicht, dass sie das interessiert hätte. Sie hatte keinen Sinn für Schminke und solche Dinge. Hatte wohl auch keine Zeit. Vier Kinder und ein Mann, der zu Hause offenbar nicht oft mit anpackte. Ansonsten war wohl nicht viel an Robert auszusetzen, Anna-Maria und er schienen sich gut zu verstehen, nur war er so träge.

Obwohl, wie viel hatte er denn selbst zu Hause gemacht, als er noch mit Hjördis verheiratet gewesen war? Er konnte sich nur vage daran erinnern, aber er wusste noch, wie ungewohnt ihm das Kochen vorgekommen war, als er dann allein lebte.

»Also«, sagte Anna-Maria. »Sollen wir beiden uns anbieten, im Schneesturm zwischen den Archen herumzukriechen? Dann können die anderen sich Dorf und Touristenstation vornehmen.«

Sven-Erik grinste.

»Spielt ja eigentlich keine Rolle, der Samstagabend ist ohnehin ruiniert.«

Was aber im Grunde nicht stimmte. Was hätte er denn sonst gemacht? Ferngesehen und vielleicht mit dem Nachbarn in der Sauna gesessen. Immer das Gleiche.

»Ja«, antwortete Anna-Maria und zog den Reißverschluss ihres Schneemobilanzugs hoch.

Aber es kam nicht von Herzen. Das hier war durchaus kein ruinierter Samstagabend. Ein Ritter kann einfach nicht zu Hause im Schoße der Familie herumlungern, das macht ihn verrückt. Er muss losziehen und sein Schwert schwenken. Um dann heimzukehren, erschöpft und der Abenteuer satt, zur Familie, die bestimmt die leeren Pizzakartons und die Plastikflaschen wild durcheinander auf dem Wohnzimmertisch herumliegen lässt, aber das spielte keine Rolle. So war das Leben einfach wunderbar. Mit einer Suchaktion draußen auf dem Eis, in der Dunkelheit.

»Hoffentlich hatte sie keine Kinder«, sagte Anna-Maria, als sie in den Wind hinausgingen.

Sven-Erik gab keine Antwort. Er schämte sich ein wenig. An Kinder hatte er nicht einmal gedacht. Er hatte nur gedacht, dass hoffentlich nicht irgendwo, eingesperrt in eine Wohnung, eine Katze auf ihr Frauchen wartete.

NOVEMBER 2003

REBECKA MARTINSSON WIRD aus der psychiatrischen Klinik St. Göran entlassen. Sie fährt mit dem Zug nach Kiruna. Jetzt sitzt sie in einem Taxi vor dem Haus ihrer Großmutter in Kurravaara.

Seit die Großmutter tot ist, gehört das Haus Rebecka und Onkel Affe. Es ist ein graues Eternithaus unten am Flussufer. Abgenutzte Linoleumböden und feuchte Flecken an den Wänden.

Früher roch das Haus alt, aber bewohnt. Ein stetiger Geruch, trotz feuchter Gummistiefel, Stall, Kocherei und Backerei. Großmutters Geborgenheit schenkender Geruch. Und Papas natürlich, damals. Jetzt riecht das Haus verlassen und muffig. Der Keller ist mit Glaswolle vollgestopft, um die Bodenkälte auszusperren.

Der Taxifahrer bringt ihren Koffer ins Haus. Fragt, ob er den ins Erdgeschoss oder in den ersten Stock tragen soll.

»In den ersten«, antwortet sie. Sie hat mit der Großmutter im ersten Stock gewohnt.

Papa wohnte in der Wohnung unten. Dort stehen die Möbel in einem seltsam stillen, zeitlosen Schlaf unter großen weißen Laken. Onkel Affes Frau Inga-Britt nutzt das Erdgeschoss als Lager. Hier sammeln sich immer neue Bananenkartons mit Büchern und Kleidern, hier stehen alte Stühle, die Inga-Britt billig gekauft hat und irgendwann restaurieren wird. Papas Möbel unter den Laken müssen immer dichter an die Wand geschoben werden.

Es hilft nichts, dass es nicht so aussieht wie früher. Für Rebecka ändert sich die Wohnung im Erdgeschoss nicht.

Papa ist seit so vielen Jahren tot, aber sowie sie zur Tür hineintritt, sieht sie ihn auf dem Küchensofa sitzen. Es ist Zeit zum Frühstück oben bei Großmutter. Er hat sie die Treppe herunterkommen hören und ist ganz schnell aufgestanden. Er trägt ein rot-schwarz kariertes Flanellhemd und einen blauen Helly-Hansen-Pullover. Seine blaue Arbeitshose aus Nylon hat er in grobe Wollsocken gesteckt, die die Großmutter gestrickt hat. Seine Augen sind ein wenig geschwollen. Als er Rebecka erblickt, streicht er sich über die Bartstoppeln und lächelt.

Sie sieht jetzt so viel, was sie damals nicht gesehen hat. Oder vielleicht doch? Die Hand, die über die Bartstoppeln strich, jetzt sieht sie, dass es eine verlegene Bewegung war. Was schert sie das denn? Dass er sich nicht rasiert hat? Dass er angezogen geschlafen hat? Das ist ihr doch egal. Er ist schön, schön.

Und die Bierdose, die auf dem Spülstein steht. Die ist so glanzlos und abgegriffen. Sie enthält schon lange kein Bier mehr. Er trinkt etwas anderes daraus, aber die Nachbarn sollen glauben, dass es sich um Lightbier handelt.

Mir war das doch immer egal, möchte sie sagen. Mama hat sich darüber beschwert. Ich hab dich wirklich, wirklich lieb gehabt.

Das Taxi ist gefahren. Sie hat im Kamin Feuer gemacht und die Heizkörper aufgedreht.

Sie liegt auf dem Rücken in der Küche, auf einem von Großmutters Flickenteppichen. Sieht einer Fliege zu. Die brummt laut und gequält. Knallt immer wieder wie blind gegen die Decke. Sie sind so, wenn sie erwachen, weil es im Haus plötzlich warm geworden ist. Ein quälend lautes Geräusch, unsicheres, langsames Fliegen. Jetzt landet sie auf der Wand, wandert träge und ziellos umher. Sie hat überhaupt kein Reaktionsvermögen. Rebecka könnte sie vermutlich mit der bloßen Hand erschlagen. Dann würde sie sich dieses Brummen nicht anhören müssen. Aber sie bringt es nicht über sich. Liegt einfach nur da und sieht zu. Die wird ja doch bald sterben. Und dann kann sie sie wegfegen.

DEZEMBER 2003

ES IST DIENSTAG. Jeden Dienstag fährt Rebecka in die Stadt. Sucht eine Therapeutin auf und holt sich ihre Wochendosis Cipramil. Die Therapeutin ist eine Frau von Mitte vierzig. Rebecka versucht, sie nicht zu verachten. Muss sich aber immer wieder ihre Schuhe vorstellen und »billig« denken, und ihre Jacke, und dass die nicht richtig sitzt.

Verachtung ist jedoch eine verräterische Freundin. Sie kehrt sich plötzlich gegen uns: Und was ist mit dir? Du arbeitest ja nicht einmal.

Die Therapeutin bittet sie, von ihrer Kindheit zu erzählen.

»Warum?«, fragt Rebecka. »Deshalb bin ich ja wohl nicht hier.«

»Warum sind Sie dann hier, was meinen Sie?«

Rebecka hat diese professionellen Gegenfragen so satt. Sie starrt den Teppich an, um ihren Blick zu verbergen.

Was könnte sie denn schon erzählen? Jedes kleinste Ereignis ist wie ein roter Knopf. Wenn sie draufdrückt, weiß niemand, was passiert. Man erinnert sich, dass man ein Glas Milch getrunken hat, und alles andere kommt von selbst.

Ich habe nicht vor, mich darin zu suhlen, denkt sie und starrt hasserfüllt auf den Karton mit Papiertaschentüchern, die immer zwischen ihnen auf dem Tisch bereitstehen.

Sie sieht sich von außen. Kann nicht arbeiten. Sitzt morgens auf der kalten Klobrille und drückt die Tabletten aus der Platte, hat Angst davor, was sonst passieren könnte.

Es gibt so viele Wörter. Peinlich, pathetisch, jämmerlich, ekelhaft, widerlich, Belastung, verrückt, krank. Mörderin.

Sie muss ein bisschen nett zu der Therapeutin sein. Entgegenkommend. Auf dem Weg der Besserung. Nicht immer so anstrengend.

Ich werde ihr etwas erzählen, denkt sie. Beim nächsten Mal.

Sie könnte lügen. Das wäre nicht das erste Mal.

Sie könnte sagen: Meine Mutter. Ich glaube, sie hat mich nicht geliebt. Und das wäre vielleicht gar keine Lüge. Sondern eine kleine Wahrheit. Aber diese kleine Wahrheit verbirgt die große Wahrheit:

Ich habe bei ihrem Tod nicht geweint, denkt Rebecka. Ich war elf Jahre alt und eiskalt. Etwas Grundlegendes stimmt nicht mit mir.

SILVESTER 2003

REBECKA FEIERT SILVESTER zusammen mit Sivving Fjällborgs Hündin Bella. Sivving ist ihr Nachbar. Er war ein Freund ihrer Großmutter, als Rebecka noch klein war.

Er hatte Rebecka eingeladen, mit zu seiner Tochter zu kommen, zu Lena und ihrer Familie. Rebecka servierte Ausflüchte, und er versuchte nicht, sie zu überreden. Stattdessen ließ er den Hund bei ihr zurück. Eigentlich ist es kein Problem, Bella mitzunehmen. Er sagte, Bella müsse das Haus bewachen, aber wer hier wirklich bewacht werden muss, ist Rebecka. Das spielt keine Rolle. Rebecka ist froh darüber, dass sie Gesellschaft hat.

Bella ist eine lebhafte Vorsteherhündin. Sie ist verrückt nach Essen wie alle Vorstehhunde, und sie wäre dick wie eine Wurst, wenn sie nicht die ganze Zeit aktiv wäre. Sivving lässt sie auf dem Fluss rennen, bis die schlimmste Unruhe verflogen ist, und er versucht, andere aus dem Dorf zu überreden, sie ab und zu mit auf die Jagd zu nehmen. Sie läuft im Haus umher, reibt sich an den Beinen der Menschen, es ist zum Verrücktwerden. Springt beim geringsten Geräusch hoch und bellt los. Aber diese dauernde Aktivität sorgt dafür, dass sie dünn wie ein Strich ist. Ihre Rippen zeichnen sich unter ihrem Fell deutlich ab.

In der Regel betrachtet sie es als Strafe, liegen zu müssen. Aber jetzt schnarcht Bella auf Rebeckas Bett. Rebecka war stundenlang am Fluss auf Skiern unterwegs. Anfangs musste Bella sie ziehen. Dann durfte Bella frei laufen, sie jagte wie verrückt hin und her, und der Schnee stob nur so auf. Die letzten Kilometer trottete sie zufrieden in Rebeckas Skispuren.

Gegen zehn ruft Måns an, Rebeckas Chef aus der Kanzlei.

Als sie seine Stimme hört, fährt ihre Hand durch ihre Haare. Als ob er sie sehen könnte.

Sie hat an ihn gedacht. Oft. Sie bildet sich ein, dass er angerufen und sich nach ihr erkundigt hat, als sie im Krankenhaus war. Aber sie ist sich nicht sicher. Ihre Erinnerung ist so schlecht. Aber sie glaubt, zur Stationsschwester gesagt zu haben, dass sie nicht mit ihm reden wolle. Die Elektroschocks hatten sie so verwirrt. Und ihr Kurzzeitgedächtnis war verschwunden. Sie wurde wie eine alte Frau, die innerhalb von fünf Minuten mehrmals das Gleiche sagt. Sie wollte damals zu keinem Menschen Kontakt haben. Und zu Måns schon gar nicht. Der durfte sie nicht so sehen.

»Wie geht’s?«, fragt er.

»Gut«, sagt sie und kommt sich innerlich vor wie ein blödes mechanisches Klavier, sowie sie seine Stimme hört. »Und du?«

»Ja, verdammt, unverschämt gut.«

Jetzt muss sie etwas sagen. Sie versucht, etwas Kluges zu finden, am besten etwas Witziges, aber in ihrem Kopf steht alles still.

»Ich sitze in einem Hotelzimmer in Barcelona«, sagt er endlich.

»Ich sehe mit dem Hund meines Nachbarn fern. Der Nachbar feiert bei seiner Tochter Neujahr.«

Måns antwortet nicht sofort. Er wartet eine Sekunde. Rebecka lauscht. Später wird sie sich über diese stumme Sekunde den Kopf zerbrechen wie ein Teenie. Hatte die etwas zu bedeuten? Wenn ja, was? Einen Hauch von Eifersucht auf den Nachbarn mit dem Hund?

»Was ist denn das für einer?«, fragt Måns.

»Ach, das ist Sivving. Er ist Rentner und wohnt im Haus gegenüber.«

Sie erzählt von Sivving. Dass er mit dem Hund in seinem Heizkeller haust. Weil das einfacher ist. Da hat er doch alles, was er braucht, Kühlschrank, Dusche und Kochplatte. Und weniger Mühe mit der Sauberkeit, wenn er sich nicht überall ausbreitet. Und sie erzählt, woher er seinen Namen hat. Dass er eigentlich Erik heißt, dass seine Mutter aber in einem Anfall von Stolz seinen Titel, Zivil-Ingenieur, ins Telefonbuch eintragen ließ, Siv. Ing. auf Schwedisch. Und dass sich das sofort im Dorf verbreitete, wo nach der Devise gelebt wurde: »Da könnte ja jeder kommen«, und es hieß: »Sieh an, da kommt ja der Sivving persönlich!«

Måns lacht. Sie lacht auch. Und dann lachen sie noch ein wenig, vor allem, weil sie sich nichts zu sagen haben. Er fragt, ob es kalt ist. Sie steht vom Küchensofa auf und schaut aufs Thermometer.

»Zweiunddreißig Grad.«

»O Scheiße!«

Neues Schweigen. Ein wenig zu lange. Dann sagt er rasch:

»Ich wollte dir nur ein gutes neues Jahr wünschen … Ich bin ja schließlich noch immer dein Chef.«

Was will er damit sagen?, überlegt Rebecka. Ruft er alle seine Angestellten an? Oder nur die, von denen er weiß, dass sie kein Leben haben? Oder macht er sich Sorgen um mich?

»Danke, gleichfalls«, sagt sie, und weil das schon ziemlich förmlich klingt, erlaubt sie ihrer Stimme, weich zu werden.

»Nein … jetzt muss ich wohl mal rausgehen und mir das Feuerwerk ansehen …«

»Und ich muss bald mit dem Hund raus …«

Als sie aufgelegt haben, bleibt sie mit dem Telefon in der Hand sitzen. Ob er allein in Barcelona ist? Wohl kaum, was? Am Ende war alles ein bisschen schnell gegangen. Hatte sie eine Tür gehört? War jemand ins Zimmer gekommen? Hatte er das Gespräch deshalb so abrupt beendet?

JUNI 2004

ES WAR GUT, dass Rebecka Martinsson niemals zusehen musste, wie der Oberstaatsanwalt Alf Björnfot bettelte, um sie anstellen zu dürfen. Denn dann hätte ihr Stolz sie gezwungen, Nein zu sagen.

Oberstaatsanwalt Alf Björnfot trifft seine Vorgesetzte, Margareta Huuva, bei einem frühen Abendessen nach Feierabend, und er sucht sich ein Lokal mit soliden Leinenservietten und echten Blumen in den Vasen auf den Tischen aus.

Margareta Huuva wird in gute Laune versetzt, der junge Kellner rückt ihr außerdem den Stuhl zurecht und macht ihr ein Kompliment.

Man könnte glauben, das hier sei ein Stelldichein. Ein Paar, das erst spät im Leben zueinandergefunden hat, beide sind über sechzig.

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