Wer sein Kind liebt ... - Franziska Klinkigt - E-Book

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Franziska Klinkigt

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Beschreibung

Wenn Kinder unter der Schule leiden, unglücklich sind oder gar krank werden, wird die Ursache dafür oft im Kind gesucht. Ihre Eltern leiden mit ihnen und suchen nach Wegen, ihnen zu helfen. Doch meist liegen die Ursachen nicht im Kind oder in der Familie, sondern in der Struktur, in der sie leben und der damit verbundenen Gewalt. Das zu erkennen, kann Familien Hilfe und Befreiung bringen. - Mobbing - Nur ein Missverständnis? - Schulstress - unsere Rettung? - Theorie und Praxis der strukturellen Gewalt: - Ein Puzzle der Grausamkeit - Hat der reale Wahnsinn das Vorstellbare überholt? - Gespräche zwischen Generationen - Die grundlegendste aller Freiheiten ist die Freiheit, etwas abbrechen und weggehen zu können - Ein Beitrag von Peter Gray edition unerzogen In der edition unerzogen erscheinen Bücher mit beliebten Artikeln aus dem unerzogen Magazin. Sie stellen entweder einen Reihe eines Autors oder verschiedene Artikel zu einem Thema in den Vordergrund. Jedes Buch enthält weitere, unveröffentlichte Texte.

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Seitenzahl: 122

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Franziska Klinkigt

Wer sein Kind liebt …

Theorie und Praxis

der strukturellen Gewalt

Für Nele, Marla und Laurin, Mackenzie, Tjelle und Onno … und für alle Menschen, die sich betroffen fühlen und die es betrifft …

Einleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

haben Sie erkannt, worin der Titel dieses Buches seinen Ursprung hat? In den biblischen Sprüchen Salomons (13,24) von Luther sinngemäß übersetzt mit: »Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn liebhat, der züchtigt ihn bald«. Uns ist heute der Satz bekannt in den zwei Formulierungen: »Wer sein Kind liebt, der züchtigt es« und »Wer sein Kind liebt, der schont die Rute nicht.« Diesem Erziehungsgebot folgten seit dem 16. Jahrhundert Generationen von Menschen – bis auch heute noch. In der Übersetzung aus dem frühen 20. Jahrhundert von Martin Buber und Franz Rosenzweig heißt es entsprechend »Wer seinem Stecken kargt, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, bereitet ihm Zucht«.

Als tragisch ist nun allerdings nicht nur unsere jahrhundertelange Vergangenheit als züchtigende Gesellschaft anzusehen, die noch immer nicht überwunden ist, sondern darüber hinaus die Vermutung, dass diese Vergangenheit ihre Wurzeln in einer tendenziösen Interpretation, einer Fehldeutung der Originalschriften haben könnte: in diesen war nicht die Rede von Gewalt als Führungskunst. Das Wort, welches Luther mit »züchtigen« übersetzte, hatte eigentlich die Bedeutung von »erziehen« im Sinne der Akkulturation, im Sinne eines Nicht-Vernachlässigens. Die dortigen Worte sind eher als ein Appell gegen eine Laissez-faire-Haltung anzusehen: Der Nachwuchs möge mit Sorgfalt erzogen und nicht vernachlässigt werden. Entsprechend könnte es lauten »Wer als Eltern seiner Verantwortung für sein Kind nicht nachkommt, schadet ihm; wer es liebt, versucht es zu erziehen«1. Das mit »Rute« oder »Stecken« übersetzte Wort trägt auch die Bedeutung »Hirtenstab« oder »(Familien-)Stamm«, wodurch die Botschaft ebenfalls eine völlig andere Färbung erhielte: Wer seinen Familienstamm liebt, der übernimmt auch die Verantwortung für sein gesundes und der Gemeinschaft förderliches Dasein. Dieser Appell wäre vermutlich durchaus zeitgemäß gewesen angesichts der rohen, chaotischen, brutalen und von Umbruch und Wertzerfall gekennzeichneten Zustände des Mittelalters, die allerdings den Umgang der Menschen allen Alters miteinander prägten (eine Trennung zwischen »Kindheit« und »Erwachsenenwelt« gab es damals nämlich nicht). Die gewalttätige Konnotation der Übersetzung Luthers hingegen, gemäß der er die Menschen aufforderte, ihre Kinder zu erziehen, entsprach offensichtlich seinem Menschenbild, welches anschaulich in Carl-Heinz Mallets Buch Untertan Kind. Nachforschungen über Erziehung beschrieben ist:

Kinder waren für ihn von Geburt an böse, schlecht und verderbt. Ohne Erziehung seien sie »eitel wilde Tiere und Säu in der Welt, die zu nichts nutze sind, denn zu fressen und saufen«. Von da leitete Luther die Notwendigkeit ab, jedes Eigensein der Kinder zu unterdrücken und sie zu willenlosen Untertanen von Eltern und Obrigkeit zu machen. Das war es, was er unter Erziehung verstand, und er sah nur einen Weg, sie wirksam durchzusetzen: mit dem Knüppel.

Obwohl körperliche Gewalt heutzutage verboten und von »gewaltfreier Erziehung« die Rede ist, ist ganz und gar nicht davon auszugehen, dass erzieherische Gewalt überwunden wäre. Die erzieherische Gewalt zu der Zeit, als Mütter und Väter noch an den berühmten Satz glaubten und danach zu handeln suchten, müsste eigentlich offenkundig gewesen sein und demjenigen, dem sie zuteil wurde, muss sich die Frage aufgedrängt haben: »Kann das ein Ausdruck von Liebe sein?« Welche Möglichkeiten gab es für die Empfänger dieser Liebe, damit umzugehen?

1. An die Liebe zu glauben und Leid zu ertragen im Namen der Liebe, was schließlich zu einer Identifikation mit dem Aggressor führen muss, zu der Verinnerlichung der Vorstellung: Gewalt ist dann keine Gewalt, wenn sie im Namen der Erziehung, denn im Namen der Liebe stattfindet.

Diese vermutlich häufigste Reaktion spiegelt sich u. a. in dem weit verbreiteten Satz wider: »Mir hat das auch nicht geschadet!«

2. Die schreckliche Möglichkeit in Erwägung zu ziehen oder gar zu der entsetzlichen Erkenntnis zu gelangen: »Meine Eltern lieben mich nicht.« Das Leid aufgrund dieses Gedankens dürfte unermesslich sein und einen Menschen dazu bringen, sich völlig allein und verlassen zu fühlen und an »gar nichts mehr« zu glauben.

3. Die schwierigste und vielleicht gesündeste Reaktion: zu erkennen, dass der Satz nicht wahr sein kann: »Meine Eltern müssen sich irren. Sie lieben mich, und denken, das sei gut für mich – die Armen! Aus irgendeinem Grund können oder dürfen sie nicht anders – die Armen!«

Erzieherische Gewalt war schon immer heimtückisch, nur ist sie im Laufe der Zeit immer heimtückischer geworden. Aus dem »Ja, Gewalt muss sein im Namen der Erziehung!« wurde »Nein, Gewalt darf nicht sein, das darf es nicht mehr geben – und das gibt es auch von jetzt an nicht mehr – dafür werden wir sorgen, koste es, was es wolle!« Die vermeintliche offene Bekundung, Gewalt in der Erziehung abzulehnen, verbunden mit der Angst vor Strafe (denn wir haben die kultivierte Gewohnheit verinnerlicht, Verbotenes durch die Androhung und Umsetzung von Bestrafung durchzusetzen) haben dazu geführt, dass wir Gewalt immer weiter verstecken mussten, Altes neu definieren und es nun so zurechtlegen müssen, dass es passt: so werden Strafen heute »Konsequenzen« genannt – die dürfen nicht nur, sondern müssen ja sein! Der Eingriff in die freie Selbstentfaltung des Menschen wird heute »Förderung« genannt. Im Zweifel kann jegliches Verhalten, welches unter mündigen, erwachsenen Menschen als Übergriff oder Gewalt angesehen würde, unter den Begriffen »Schutz« und »Erziehung« getarnt und legitimiert werden – und dies wird es auch.

Wir haben uns schöne Gesetze ausgedacht. So lautet seit dem Jahr 2000 im Bürgerlichen Gesetzbuch der §1631 (2): »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.« Nur wer hat das Definitionsprimat darüber, was verletzend und entwürdigend ist? Ist dies im Namen der Erziehung zu relativieren?

Wir machen uns viele Gedanken darüber, wie wir mit weniger gewaltvollen, mit möglichst gewaltfreien Methoden unsere Ziele – nämlich all jene des Erziehungs- und des Bildungsauftrags – erreichen können … Seltener machen wir uns Gedanken über die Ziele selbst, deren Inhalt und Sinn. Und eigentlich nie machen wir uns Gedanken darüber, ob die Tatsache, dass wir überhaupt Ziele verfolgen, fraglich ist? Offen bleibt die Frage:

Kann Erziehung jemals gewaltfrei sein?

Die Frage »Was ist Gewalt und wie begegnen wir ihr?« bildet einen roten Faden, der sich durch die folgenden Kapitel zieht. Aus einigen schmerzlichen Beobachtungen heraus entstand bei mir der Wunsch, Dinge einmal aus anderen als den üblichen Perspektiven zu betrachten: den Ursachen von Gewalt auf den Grund zu gehen, anstatt sie »symptomatisch« zu behandeln – also nur oberflächlich etwas verändern zu wollen; Gesamtzusammenhänge zu betrachten und die Dinge im Rahmen ihres Kontextes zu sehen, anstatt vereinzelte Schuldige zu suchen und zu finden; aus dem Täter-Opfer-Denken auszusteigen, welches Gewalt verlagert und weiterhin nährt; und vor allem: unsere Krisen, Sorgen und Nöte als Chancen zu begreifen, etwas zu erkennen und uns weiterzuentwickeln.

Im Fokus steht die Schule, und zwar aus dem Grunde, weil an ihr deutlich wird, wie es um die Würde des Menschen und um den Respekt vor seinem Sein, seiner Freiheit, seiner Selbstbestimmtheit, seiner Grundrechte steht. Auch deshalb, weil gerade hier der Aspekt der Gewalt von besonderer Bedeutung ist, da ein Staat, der sich verfassungsmäßig dazu verpflichtet hat, Menschen vor Gewalt zu schützen, selbst als Akteur systematisch und tiefgreifend gewalttätig ist – aber offiziell wird offensichtliche staatliche Gewalt nicht als Gewalt definiert. Aus dem Grunde ist es so schwer, staatliche Institutionen und Behörden, von denen klar Gewalt ausgeht, wegen der eindeutigen Verletzung der Würde eines Menschen juristisch zu belangen.

In diesem Buch geht es um ein mit einem Tabu belegtes Thema, also nicht nur ein Thema, welches keinen Platz im öffentlichen Raum einer Gemeinschaft hat, somit vor jeder wirklich grundlegenden Diskussion darüber geschützt ist, sondern welches viel mehr noch unangreifbar, unhinterfragbar ist und sich jeglicher rationalen Begründung und Kritik entzieht. Im Dorsch – Lexikon der Psychologie ist zu lesen: »Die Tabus der modernen Gesellschaft sind vielfach in der Rechtsprechung verankert oder werden als Verhaltensregeln anerzogen.«

Es gibt Hinweise, aufgrund derer wir vermuten können, auf ein Tabu-Thema gestoßen zu sein: Die Erwähnung des Themas führt zu starken emotional aufgeladenen Spannungszuständen bei den Zuhörern (oder Lesern). Eine Diskussion auf sachlicher, vernünftiger, rationaler Ebene scheint unmöglich; es geht meist nicht mehr um die Sache und die Inhalte des Themas, sondern um die Infragestellung der Person, die das Thema ansprach (»unglaubwürdig«, »nicht ernst zu nehmen«, »Verrückter«, »Spinner« usw.). Lassen wir uns also überraschen, was nach dem Tabubruch geschieht, welcher mit dieser Schrift begangen wird.

An dieser Stelle ist es mir wichtig, den Leserinnen und Lesern meiner in den unerzogen Magazinen publizierten Beiträge zu danken, dass sie durch ihr Interesse mich dazu bewogen haben, das nun vorliegende Buch herauszugeben.

Gießen, Herbst 2015

Franziska Klinkigt

1auslegungssache.at/4030/wer-sein-kind-liebt-der-zuechtigt-es/

Mobbing – nur ein Missverständnis?

Eine erste systemische Annäherung an ein bedeutsames Phänomen

Neulich fragte die Leiterin einer Kindertagesstätte, in deren Team ich eine Weiterbildung zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung veranstaltete: »Wieso machen wir denn eigentlich diese Schulungen, wenn doch die Rahmenbedingungen in unseren Einrichtungen Kindeswohlgefährdung begünstigen?«

Wie war es dazu gekommen, dass sie diese Frage stellte? Im Laufe der Auseinandersetzung mit der Frage, wann und wodurch das Kindeswohl gefährdet sei, wurde allen anhand eines eigenen Fallbeispiels immer deutlicher, dass in der Einrichtung selbst Gewalt stattgefunden hatte. Konnte es sein, dass die mit Gewalt verbundenen Lösungsversuche der Beteiligten zum Problem geworden waren? Konnte es vielleicht sogar sein, dass der Kontext selbst das Problem war und die gewaltvollen Handlungen nur ein Ausdruck dessen?

Wenn es um das Phänomen »Mobbing in der Schule« geht, sollten wir uns dieselben Fragen stellen. Betrachten wir aber die übliche Behandlung des Tatbestandes Mobbing in der Schule, entdecken wir, dass es hierbei zugeht wie bei einer Hetzjagd. »Mobbing muss in jeglicher Form in der Schule geächtet werden«, so Udo Beckmann, der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung1. Ob er sich bei dieser Aussage dessen bewusst war, dass »ächten« bedeutet, jemanden aus einer Gemeinschaft auszustoßen? Diese Maßnahme klingt noch absurder, wenn wir uns die Definition des Begriffes »Mobbing« anschauen.

Der Autor und Studiendirektor Karl Dambach schreibt in seinem Buch Mobbing in der Schulklasse2, »dass mit ›Mobbing‹ nur die lange anhaltende (mindestens über mehrere Monate anhaltende) Ausgrenzung Einzelner von der Mehrheit bezeichnet wird«. Soll nun also Gleiches mit Gleichem bekämpft werden? Dies scheint immerhin nicht überall üblich zu sein, denn kürzlich hörte ich, dass eine Erzieherin ihres Arbeitsplatzes verwiesen wurde, nachdem sie ein Kind, von welchem sie getreten worden war, zurück getreten hatte. Aber birgt Beckmanns Forderung nicht einen unlösbaren Widerspruch: Genau das zu tun, was eigentlich verhindert werden soll? Also mehr desselben? Wenn wir jetzt aufhorchen, werden wir dank dieses Lösungsversuchs erkennen, dass wir auf dem Holzweg sind.

Was ist eigentlich »Mobbing«?

Wer oder was soll denn hier »geächtet« werden (diese Bezeichnung findet sich bemerkenswerterweise auch an anderer Stelle, in einer Pressemitteilung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes3)? Das Phänomen Mobbing? Das ist ein interessanter Gedanke, wenn bedacht wird, in welchem Zusammenhang dieser Begriff ursprünglich verwendet wurde. Der Zoologe und Ethnologe Konrad Lorenz beschrieb Anfang der 1960er Jahre ein bestimmtes Verteidigungsverhalten vieler Vogelarten, die sich zu einer Gruppe zusammentaten, um gemeinsam durch Alarmrufe und Scheinangriffe einen Fressfeind oder anderen überlegenen Gegner in die Flucht zu schlagen (das konnte auch ein Artgenosse sein, der die eigene Brut bedrohte). Dieses Verhalten nannte er »Hassen« (Singvögel beispielsweise »hassen besonders intensiv auf« Eulen), was auf Englisch »Mobbing« bedeutet.

Mobbing ist also in seinem ursprünglichen Sinne ein sinnvolles Verhalten: eine Lösungsstrategie in Notsituationen. Gleichzeitig ist dieses Verhalten ein Ausdruck des Erlebens von Gefahr, das heißt, wenn die entsprechenden Lebewesen etwas als gefährlich wahrnehmen, greifen sie zu diesem Verhaltensmuster, um die vielleicht nur vermeintliche oder gar tatsächliche Gefahr abzuwenden.

Greifen nun junge Menschen in der Schule zum Verhaltensmuster Mobbing, stellt sich dann nicht die Frage nach dem Sinn dieses Verhaltens? Ist es denkbar, dass diese jungen Menschen sich in einem Verteidigungsmodus befinden, da sie sich in einer Notsituation erleben? Eine Situation, in der sie sich bedroht fühlen von Gefahren für ihren Selbstwert, ihre Würde, ihre Integrität und Freiheit, für ihr Selbstvertrauen, ihr Gefühl von Selbstwirksamkeit, für ihre Selbstbestimmung und ihr Potential zur Selbstentfaltung – kurzum: für ihr Leben? Sind es also vielleicht die Rahmenbedingungen, die Mobbing begünstigen oder überhaupt erst hervorrufen? Und was sagt uns umgekehrt das Phänomen Mobbing über diese Rahmenbedingungen?

Diese Fragen leiten hin zu dem eigentlichen Schlüsselgedanken, der zum besseren Verständnis der Problematik führt: Mobbing ist ein Symptom, ein Kennzeichen, ein Hinweis darauf, dass das System, innerhalb dessen es auftritt, gestört ist.

Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, betrachten wir einmal beispielhaft und sehr vereinfacht dargestellt das kleine »System« Familie. Kennzeichnend für dieses System ist, dass seine Mitglieder in Beziehungen zueinander stehen und miteinander kommunizieren. In der Familientherapie ist häufig zu beobachten, dass ein Familienmitglied, meist ein Sohn oder eine Tochter, als diejenige Person beschrieben wird, die das Problem »hat«. Wer aber genauer hinschaut, stellt zumeist fest, dass es im Bereich der Beziehungen und in der Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern (meist verdeckte) Schwierigkeiten bzw. »Störungen« gibt. Die Person, die als Problem vorgestellt wird, »besitzt« nicht das Problem, sondern »trägt« es. Sie übernimmt eine ganz wichtige und für die Familie wertvolle Rolle, indem sie zum einen das dysfunktionale System stützt und vor Zusammenbruch bewahrt und zum anderen signalisiert: »Hier stimmt etwas nicht«. »Um dies zu verdeutlichen folgendes Beispiel: Eltern kommen mit ihrem neunjährigen Sohn, der seit Wochen wieder einnässt, in eine kinderpsychologische Praxis. Im Laufe des Gesprächs kommt heraus, dass die Eltern schon seit langer Zeit überlegen, sich zu trennen. Das ›Problem des Sohnes‹ übernimmt hier die Rolle, die Eltern durch ihre gemeinsame Sorge zu verbinden und lenkt den Fokus weg von den Beziehungsproblemen hin zu einem anderen Problem: dem Einnässen. Gleichzeitig dient es als Signal des Sohnes: ›Ich merke, dass etwas nicht stimmt.‹ Würde hier nun die Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Jungen gelegt werden und ein irgendwie geartetes Schließmuskel- oder Toilettentraining oder gar eine medikamentöse Behandlung empfohlen, bliebe die Funktion bzw. die Botschaft dieses Symptoms völlig unberücksichtigt.«

Wenn nun Mobbing in der Schule gleichermaßen Ausdruck eines dysfunktionalen Systems ist, so würden wir mit Ächtung genau das Gegenteil tun, als das, was dieser »Rolle« zusteht. Ächtung ist die große Schwester der »Verachtung«, also der dauerhaften Abwertung. Was Mobbing als Symptom aber braucht, ist sowohl Achtung im Sinne von Anerkennung als auch Beachtung im Sinne von Interesse an dessen Botschaft.

Ächtung statt Achtung?

Stattdessen werden im Zuge der Ächtung Schuldige gesucht, gefunden und schlimmstenfalls zu »Tätern« gemacht und bestraft. Dabei wird gerade hier wieder die Paradoxie dieser Vorgehensweise deutlich. In einem Interview erzählt Zoë Readhead, die Leiterin der bekannten Demokratischen Schule Summerhill in England, wie dort mit Mobbing umgegangen wird: »Das ist bei uns zum Glück kein großes Thema, weil solche Vorfälle immer schnell ans Licht kommen. Besonders die älteren Schüler sind da wachsam. Aber wer tatsächlich jemand anderen mobbt, kommt auf die Mobbingliste: Er wird von allen Gemeinschaftsveranstaltungen ausgeschlossen und muss sich als Letzter in der Reihe beim Essen anstellen.«4