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Jana Hensel

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Beschreibung

Den Osten verstehen. Wer sind diese Ostdeutschen?, fragt sich die Öffentlichkeit nicht zuletzt seit Pegida, NSU und den Wahlerfolgen der AfD. Antidemokraten, Fremdenfeinde, unverbesserliche Ostalgiker? Zwei herausragende Stimmen des Ostens stellen sich in diesem Streitgespräch jenseits von Vorurteilen und Klischees der Frage nach der ostdeutschen Erfahrung, die, so ihre These, „vielleicht am besten mit Heimatlosigkeit zu beschreiben ist, mit einem Unbehaustsein, das viele Facetten kennt. Das sich nicht jeden Tag übergroß vor einem aufstellt, aber das immer spürbar ist, nie weggeht.“ Ein unverzichtbarer Beitrag zur Geschichtsschreibung des Nachwendedeutschlands.

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Über Wolfgang Engler

Wolfgang Engler, geb. 1952 in Dresden, Soziologe, Dozent an der Schauspielhochschule »Ernst Busch« in Berlin, von 2005 bis 2017 dort Rektor. Langjähriger Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. Bei Aufbau erschienen »Unerhörte Freiheit. Arbeit und Bildung in Zukunft«, »Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus«, »Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land«, »Die Ostdeutschen als Avantgarde« und »Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft«.

Jana Hensel, geboren 1976 in Leipzig, wurde 2002 mit ihrem Porträt einer jungen ostdeutschen Generation »Zonenkinder« schlagartig bekannt. Autorin und Journalistin. 2010 gewann sie den Theodor-Wolff-Preis, 2017 erschien ihr Roman »Keinland» und sorgte für große Resonanz. Hensel arbeitet als Autorin für Zeit Online und Die Zeit im Osten.

Informationen zum Buch

Den Osten verstehen

Wer sind diese Ostdeutschen?, fragt sich die Öffentlichkeit nicht zuletzt seit Pegida, NSU und den Wahlerfolgen der AfD. Antidemokraten, Fremdenfeinde, unverbesserliche Ostalgiker? Zwei herausragende Stimmen des Ostens stellen sich in diesem Streitgespräch jenseits von Vorurteilen und Klischees der Frage nach der ostdeutschen Erfahrung, die, so ihre These, »vielleicht am besten mit Heimatlosigkeit zu beschreiben ist, mit einem Unbehaustsein, das viele Facetten kennt. Das sich nicht jeden Tag übergroß vor einem aufstellt, aber das immer spürbar ist, nie weggeht.« Ein unverzichtbarer Beitrag zur Geschichtsschreibung des Nachwendedeutschlands.

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Wolfgang EnglerJana Hensel

Wer Wir sind

Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein

Inhaltsübersicht

Über Wolfgang Engler

Informationen zum Buch

Newsletter

I. Wer wir sind. Eine Begrüßung

II. Der ewig fremde Blick.Über die Innen- und Außenwahrnehmung der Ostdeutschen

III. Eine Stunde öffentlichen Glücks.Über den Herbst 1989

IV. Zeitenwende. Kahlschlag. Widerstand.Über die neunziger Jahre

V. Emanzipation von rechts.Über den Aufstieg von Pegida und AfD

VI. Herkunft als Auftrag?Über unsere Biografien

VII. Verlust und Wiederaneignung.Über ostdeutsche Diskurse

VIII. Brüche. Wechsel der Perspektiven.Wir versus ihr. Über aktuelle Debatten

IX. Das rechtliche Leben im falschen.Über Eigentum vor und nach dem Umbruch

X. Wie wir wurden, wer wir sind.Eine Verabschiedung

Literaturverzeichnis

Impressum

I. Wer wir sind. Eine Begrüßung

Jana Hensel:  Der Herbst 2015 ist für Deutschland ein historisch strahlender Moment.

Wolfgang Engler:  Im Herbst 2015 manifestierte sich eine tiefgreifende Krise der politischen Repräsentation.

Wolfgang Engler:  Hätte ich Sie am Tag der Bundestagswahl gefragt, ob wir gemeinsam ein Buch machen sollten, was hätten Sie geantwortet?

Jana Hensel:  Ja, natürlich, unbedingt! Nicht nur, weil ich mich noch sehr gut an unser Treffen am Nachmittag vor der Wahl am 24. September 2017 erinnern kann. Wir saßen damals in einem Seminarraum der Theaterhochschule »Ernst Busch« und führten ein sehr intensives Gespräch. Eine Nervosität lag in der Luft, eine gewisse Angespanntheit auch. Der Osten würde wohl in großen Zahlen die AfD wählen und damit zum ersten Mal eine rechtspopulistische Partei in den Bundestag bringen.

WE:  Genauso kam es ja dann auch.

JH:  Gemeinsam mit einem Kollegen wollte ich deshalb für »Die Zeit« schon einmal vorab mit Ihnen über den möglichen Wahlausgang und seine Ursachen sprechen. Aber unser Gespräch war eigentlich viel zu kurz. Das fiel mir sofort auf. Unsere Gedanken und Überlegungen zu Ostdeutschland flogen schnell wie Bälle durch den Raum, und ich hatte das Gefühl, dass wir uns wunderbar ergänzten.

WE:  Glücklicherweise hat der Aufbau Verlag uns nun zusammengebracht. Die Bundestagswahl 2017 ist ja inzwischen in vielerlei Hinsicht zu einer Zäsur geworden. Die Wahlergebnisse lösten einen gesellschaftlichen Schock aus, als dessen Folge sich ein neuer Umgang mit Ostdeutschland im letzten Jahr abzeichnet. Die öffentliche Wahrnehmung der Ostdeutschen hat sich seither verändert.

JH:  Dabei schien der Bundestagswahlkampf sehr lange, zumindest an der Oberfläche, eher themenlos zu sein. Es gab sogar hin und wieder Journalisten, die sinngemäß fragten: »Geht es den Deutschen zu gut?« Donald Trump war im November des Jahres 2016 zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden, die Briten hatten für den Brexit gestimmt, der Front National war mit Marine Le Pen in die Stichwahl um das französische Präsidentenamt gelangt und dennoch, der deutsche Wahlkampf plätscherte so dahin. Angela Merkel führte ihren Wahlkampf sehr präsidial, und der Herausforderer Martin Schulz, wie wir es später in der preisgekrönten Reportage »Mannomannomann« des »Spiegel«-Autors Markus Feldenkirchen nachlesen konnten, kämpfte eher gegen sich selbst, sein Team und schwache Umfragewerte.

WE:  Ja, erst ungefähr vier Wochen vor dem Wahltermin nahm das Ganze plötzlich mit einem Mal Fahrt auf.

JH:  Die Wut der Ostdeutschen, die sich auf den Marktplätzen während der Wahlkampfauftritte von Angela Merkel lautstark artikulierte, wurde zu einem Thema.

WE:  »Merkel muss weg!«

JH:  Genau. Unter anderem »Der Spiegel« titelte Anfang September »Alles wird Wut! Die Berliner Ruhe trügt – in Deutschland brodelt es«.

WE:  Sie haben damals einen offenen Brief an Angela Merkel geschrieben.

JH:  Ja. Ich hatte am 6. September einen Wahlkampftermin der Bundeskanzlerin in Finsterwalde mitverfolgt. Der Marktplatz war erstaunlich gut gefüllt, und dennoch wurde die Veranstaltung, auf der ich mit meinem Sohn war, von den Pöblern und Buhrufern hinter der Absperrung dominiert, die mit ihren Parolen und Trillerpfeifen ein ohrenbetäubendes Hasskonzert aufführten. Ich bin den ganzen Abend über den Marktplatz gelaufen, immer wieder hin und her zwischen den Pöblern und Angela Merkel vorn auf der Bühne. Was mich am meisten schockierte und worüber ich dann in der Form eines Briefes an die Bundeskanzlerin schrieb, war, dass es Angela Merkel nicht gelang, mit den Hasstiraden wirklich souverän umzugehen oder auch nur einmal angemessen darauf zu reagieren. Auf eine gewisse Art und Weise erschien mir dieser Abend wie ein Symbol für den gesamten Wahlkampf: Man versuchte, die AfD und ihre Anhänger, gleichwohl sie seit vielen Monaten mit ihrer Kritik an der Flüchtlingspolitik die Themen beherrschten, noch immer zu ignorieren. Diesen Brief haben dann bei »Zeit Online« innerhalb von vierundzwanzig Stunden über 500000 Leute gelesen und, ja, ich glaube, das kann man so sagen, plötzlich hatte der Wahlkampf ein Thema. Die Wut der Ostdeutschen. Aber nicht nur. Denn auch auf einigen westdeutschen Marktplätzen ging es turbulent her. Auch deswegen hatten wir Sie also am Tag vor der Wahl um ein Hintergrundgespräch gebeten. Aber das ist nicht unsere erste Begegnung gewesen. Ich erinnere mich auch an ein Interview, das ich einmal für die Wochenzeitung »Der Freitag« mit Ihnen geführt habe. Wir haben damals eine Sonderausgabe mit dem Titel »Was früher besser war« herausgebracht, und ich habe mit Ihnen über die Jahre nach dem Mauerbau in der DDR gesprochen.

WE:  Wann war das denn?

JH:  Das muss im Jahr 2013 gewesen sein. Und wir sprachen über die Zeit zwischen dem Mauerbau und dem XI. Plenum, weil Sie ja in Ihrem wunderbaren Buch »Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land« überzeugend schreiben, welch liberale Jahre das gewesen sind. Und diese Beschreibung passte gut zu unserem Titel.

WE:  Das ist ein Weilchen her, oder?

JH:  Ich habe Ihre »Ostdeutschen« immer wieder zur Hand genommen, es ist für mich das beste Buch über die DDR, eine Art Standardwerk. Ich mag darin die sehr genauen Beobachtungen, die luziden und überzeugenden Thesen, aber vor allem mag ich auch Ihren Stil, Ihren fast literarischen Ton, mit dem Sie sich soziologischen Themen zuwenden. Und auch wenn Sie nie explizit autobiographisch werden, merkt man doch, es ist stets das eigene Erleben, das Ihre Überlegungen wie ein Fundament trägt. Ich glaube, dass wir beide von einer grundsätzlich anderen Erfahrungswelt der Ostdeutschen vor 1989 und danach ausgehen und dass wir diese Erfahrungen, aus freilich unterschiedlichen Generationsperspektiven, mit einem Blick für die Brüche und Kontinuitäten möglichst präzise zu beschreiben, zu erklären und einzuordnen versuchen.

WE:  Richtig. Ich war, als »Zonenkinder« erschien, sehr erstaunt, welcher Erfahrungsraum einer jüngeren ostdeutschen Generation sich da auftut. Eine Perspektive auf Ostdeutschland, die ich vorher nicht kannte. Ähnlich erging es mir vor kurzem mit »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon. In seinem Buch geht es nicht um Ostdeutschland, aber die Erklärungsversuche zur politischen Lage Frankreichs, die er darin offenbart, lassen sich auch in Hinblick auf die Verhältnisse im Osten lesen. Ich traf ihn übrigens am Mittag des Wahltags, und wir redeten über den außerordentlichen Erfolg seines Buches in Deutschland. Ich glaube, der war hier sogar größer als in Frankreich. Das überraschte ihn.

JH:  Vor allem war es ein nachgeholter Erfolg, so etwas gelingt ja nur sehr wenigen Büchern.

WE:  Ja, sieben Jahre nachdem es im Französischen erschienen war, kam es im Deutschen heraus. Und war, denke ich, deshalb bei uns so erfolgreich, weil darin ein Prozess verhandelt wurde, der in Frankreich viel früher in Gang gekommen war, nun aber auch Deutschland erreicht hatte. In einem seiner Aufsätze rund um das Buch brachte er das Thema auf den Punkt: »Wie aus Linken Rechte wurden«. Das interessierte die Leute natürlich, nach Pegida und dem Aufschwung der AfD. Ein Buch zur rechten Zeit, am richtigen Ort, im Osten, aber auch im Westen. Deshalb wurde das binnen kurzem zum Bestseller. Das ging von Mund zu Mund und von Hand zu Hand. Weit über den Kreis der erwartbaren Leserschaft hinaus, nicht zuletzt aufgrund der persönlichen Note, soziologischen Analyse und Familiengeschichte in einem.

JH:  Eribon konnte das Buch ja erst schreiben, als sein Vater gestorben war.

WE:  Die Adaption des Materials für die Berliner Schaubühne passte zeitlich perfekt zum Wahlgeschehen hierzulande, das war auch so gewollt. Der Abend ist seither komplett überbucht. Thomas Ostermeier, der Regisseur, war mit Eribon an den Orten des Geschehens, Fotos und Videos werden während der Aufführung eingeblendet. Man sieht Eribon am Küchentisch mit seiner Mutter, einer Frau, die ihr ganzes Leben körperlich hart gearbeitet hat. Man sieht die Gegend, in der Eribon mit seinen Eltern und Geschwistern früher gewohnt hat, die Siedlung, die Häuser, erfährt, wie einschneidend die gesellschaftlichen Umbrüche Landschaft und Menschen getroffen haben, und versteht ihr Problem, ihre Frage: Wer interessiert sich für uns, die Abgehängten, scheinbar Überflüssigen? An wen können wir uns wenden, um unseren Sorgen und Anliegen politisch Ausdruck zu verleihen? Bis in die späten siebziger, frühen achtziger Jahre hinein bestand kein Zweifel über den Adressaten der eigenen Forderungen, das war die KPF, die Kommunistische Partei Frankreichs, und da galt: »Right or wrong, my party«, gleichgültig, ob einem im Einzelfall passte, was deren Repräsentanten gerade sagten und taten. Der Ablöseprozess vollzog sich schleichend. Irgendwann in den Achtzigern kamen die ersten von der Wahl verdruckst nach Hause, um auf Nachfragen verschämt zu gestehen, sie hätten Front National gewählt. Ein Tabubruch, anfangs noch schambesetzt, Eribon schildert das sehr nachdrücklich. Derweil wählen viele mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie einst die alte Linke gewählt hatten, die neue Rechte. Was ist da passiert und aus der Sicht der Linken schiefgegangen? Diese Frage treibt den Autor um und uns ebenso, im Osten Deutschlands ganz besonders. 400000 Wähler verlor die Linke 2017 bundesweit an die AfD. In Ostdeutschland wurde die AfD vor der Linken zweitstärkste Kraft.

JH:  Also am Mittag des Wahltages haben Sie Didier Eribon getroffen und am Abend: Haben Sie da mit der Fernbedienung auf der Couch gesessen?

WE:  Ja, abends habe ich, wie viele andere auch, Fernsehen geschaut. Ich persönlich war über das, was dort vermeldet wurde, weder schockiert noch überrascht. Ich hatte ein paar Tage zuvor im Freundeskreis meine Prognose abgegeben und die AfD bei 14 Prozent gesehen. Nach den Landtagswahlen 2016 und im ersten Halbjahr 2017 bedurfte es dazu keiner hellseherischen Fähigkeiten: Selbst in Baden-Württemberg, im westdeutschen Musterländle, war die AfD mit 15,1 Prozent drittstärkste Partei nach den Grünen und der CDU geworden. Auch die mediale Dominanz von AfD-Themen in den Wochen unmittelbar vor der Bundestagswahl trug zu diesem vorhersehbaren Ergebnis bei.

JH:  12,6 Prozent der Wähler haben bundesweit für die AfD gestimmt, wobei die neuen Länder insgesamt 21 Prozent ihrer Stimmen den Rechtspopulisten gaben. Doppelt so viele wie in den alten Ländern. Das waren über 16 Prozentpunkte mehr als vier Jahre zuvor. Ja, und leider muss man sagen, überraschend war daran nichts. Zumal die letzten Landtagswahlergebnisse im Osten, in Sachsen-Anhalt beispielsweise im Jahr 2016, schon ebenso erschreckend hoch gewesen sind. Nun aber bekam die AfD in Sachsen mit 27 Prozent sogar mehr Stimmen als die seit der Wiedervereinigung immer führende CDU. Ein Stimmungswechsel, der in Wahrheit ein Paradigmenwechsel ist und wahrscheinlich als die vorerst wichtigste politische Zäsur nach der Wiedervereinigung angesehen werden muss. Vielleicht werden wir eines Tages feststellen, dass diese Bundestagswahl das Ende der Nachwendezeit markiert – so wie das Jahr 1968 das Ende der Nachkriegszeit markiert –, weil der Erfolg der AfD, erst einmal gänzlich wertfrei gesagt, die bisher größte Emanzipationsleistung der Ostdeutschen darstellt. Obwohl, ich will es noch einmal wiederholen, daran nichts überraschend war, im Osten brodelte es schon lange, das konnte jeder erfahren, der dort einmal mit Menschen sprach, schockierend war es dennoch. Zutiefst schockierend. Gerade weil offenbar auch die beinahe barbarisch wirkenden Trillerpfeifenkonzerte auf den Marktplätzen, ich habe das ja unmittelbar gespürt, wie viel Gewalt dort in der Luft lag, weil diese vor allem verbale Gewalt kaum Wähler abzuschrecken vermochte. Ich kann noch immer nicht glauben, dass man als Protestwähler in so großen Zahlen in Kauf nimmt, eine rassistische, fremdenfeindliche und antidemokratische Partei zu wählen, dass man also all das in Kauf nimmt, um seinen Protest zu artikulieren. Aber schockiert hat mich auch, dass wir diese Entwicklung bundesweit eigentlich bis zum Schluss mehr oder weniger zu ignorieren versucht haben. Dass wir zwar die Rassisten verurteilt, aber nicht wirklich nach den Ursachen gefragt haben. Nach dem Schock der Trump-Wahl wurde bei »Zeit Online« das Ressort »#D17« gegründet; es nahm sich vor, nachdem die linksliberalen großen Medien der Ostküste offenbar an der amerikanischen Realität vorbeigeschrieben hatten, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Trump wurde, wie gesagt, im November 2016 gewählt, man wusste damals, knapp zehn Monate später würde die Bundestagswahl stattfinden, und die verbleibende Zeit wollten wir nutzen, um anders zu berichten. In einem Text habe ich gefragt: »Und wenn die AfD recht hat?« Aber diese Art der Berichterstattung hat es viel zu wenig gegeben, würde ich sagen. Die Medien berichteten stets nur schlaglichthaft und oft in Empörungszyklen. Als in den Monaten vor der Bundestagswahl die Zustimmungswerte für die AfD einmal kurzzeitig sogar zurückgingen, wurde das Thema beinahe schon wieder abmoderiert. Die AfD hat jedoch untergründig den Wahlkampf organisiert, und die Medien haben über die spezifischen Gründe für ihre Popularität im Osten nicht wirklich berichtet. Und waren im Grunde genommen auch dann, als das Wahlergebnis bekanntgegeben wurde, erneut schockiert und haben reagiert, als sei nichts daran vorhersehbar gewesen. Als würden Aufrufe in den sozialen Netzwerken, man solle nicht rechtspopulistisch wählen, solle nicht rassistisch wählen, irgendjemanden in Zwickau oder in Crimmitschau …

WE:  … beeindrucken …

JH:  … ja, oder gar umstimmen können.

WE:  Nein, sicher nicht. Diese Wahl passte sich ein in den Brexit, die Trump-Wahl, den französischen Präsidentschaftswahlkampf, in Prozesse, die man schon länger beobachten konnte. In der Schweiz gibt es eine neue Rechte, in Österreich besetzte Jörg Haider bereits in den neunziger Jahren das rechte Spektrum der FPÖ. Wir waren da sozusagen im Verzug. Auch aus Gründen, die mit der deutschen Geschichte zusammenhängen, mit Besonderheiten des öffentlichen, politischen Diskurses. Hier lagen die Schwellen des von rechts aus Sagbaren, Tolerierbaren, Zustimmungsfähigen lange höher als in den gerade genannten Ländern. Die Alarmglocken schrillten früher, und so blieb beispielsweise die NPD ein Randphänomen in der politischen Landschaft. Der Umschwung kam nach meinem Eindruck im Herbst 2015. Da zerbröselte der stillschweigende Konsens der Demokraten spürbar. Ich beobachtete das an Menschen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, also inmitten der ominösen Mitte der Gesellschaft. Etliche unter ihnen fanden die Politik der offenen Tür entweder naiv oder schlichtweg verderblich, weil sie darin eine Vorlage für die radikale Rechte sahen.

JH:  »Politik der offenen Tür«? – Was meinen Sie damit?

WE:  Diese Tage im September 2015, als Angela Merkel in der Nacht vom 4. auf den 5. September einvernehmlich mit ihrer Regierung entschieden hatte, die Leute, die da auf den Trampelpfaden unterwegs waren, …

JH:  … Sie meinen die vielen Menschen, die teilweise seit Tagen auf dem Budapester Ostbahnhof festsaßen und sich dann auf den Weg nach Österreichisch und Deutschland machten, teilweise über die Autobahn … oder auch vorher über die verschiedenen Flüchtlingsrouten, östliche Mittelmeerroute, westliche Balkanroute, über die Ägäis …

WE:  … ins Land zu lassen, die Nachströmenden ebenso. Das war ein Signal zum Aufbruch für Abertausende an der europäischen Peripherie, es diesen gleichzutun. Viele Menschen, deren Biografie an ihrer linken politischen Haltung keinen Zweifel zuließ, nicht alle, aber doch die meisten, fanden das grundfalsch. Und ich will meine eigenen Bedenken in diesem Zusammenhang nicht verhehlen.

JH:  Aber ist der Terminus »Politik der offenen Tür« ein Versuch von Ihnen, etwas objektiv zu beschreiben? Oder schwingt da eine Bewertung mit? Mir scheint, ich höre da auch eine Bewertung heraus.

WE:  Für mich ist das ein neutraler Ausdruck, der das Geschehen ohne moralischen Wertakzent abbildet. Andere sprachen damals von »Flüchtlingsfluten«. Da war die Wertung unüberhörbar.

JH:  Ich verstehe.

WE:  Oder von »Überrollung«, Peter Sloterdijk griff zu dieser suggestiven Formulierung. Jedenfalls löste die viele Wochen währende Grenzöffnung heftige, höchst erregte Debatten aus …

JH:  Nun, um genau zu sein: Am 13. September gab der Bundesinnenminister bekannt, dass es nun wieder Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze geben würde.

WE:  … Erregung, Zwist bis in die Familien hinein, unter Leuten, die bis dato sicher waren, von einer gemeinsamen Basis aus zu argumentieren und zu streiten. Die Wellen schlugen hoch, und ein neuer gesellschaftlicher Konsens über Fragen der Migration und Zuwanderung hat sich seither nicht eingestellt. Warum war und ist das so? Was brach und bricht sich da öffentlich Bahn? Etwas Tieferliegendes, so scheint es mir zumindest. Merkels »Wir schaffen das« wurde vielfach weniger als Ermutigung aufgefasst, im Sinne von »Jetzt packen wir’s mal gemeinsam an«, sondern als konzentrierter Ausdruck der Arroganz der Macht. Als Pluralis Majestatis über die Köpfe der Regierten hinweg: Wir haben das so entschieden, und ihr werdet damit schon zurechtkommen. In einem so wohlhabenden Land wie dem unseren sollte das kein Problem sein.

JH:  Dieser Satz wird eigentlich immer verkürzt wiedergegeben. In der Bundespressekonferenz sagte Angela Merkel am 31. August 2015: »Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!« Ich sehe darin ja eher eine Aufforderung, einen sehr demokratischen Imperativ.

WE:  Viele sahen darin ein Problem, so wie sie schon in der Art der Lösung der globalen Finanzkrise ein Problem gesehen hatten: Rettung der Geldfabriken auf Kosten der Allgemeinheit. Ganz nach dem Motto »Wir machen das, und ihr badet das aus!«. Das muss man mitbedenken, um den starken Ausschlag des Gefühlspegels zu verstehen.

JH:  Trotzdem störe ich mich nun doch an Ihrem Terminus »Politik der offenen Tür«. Weil Sie damit offenbar auf ein sehr stark irrationales Moment in der Flüchtlingspolitik verweisen möchten. Ich sehe dieses irrationale Moment in der Entscheidung, damals keine Kontrollen an den Grenzen einzuführen, nicht. Einerseits war die Situation nicht aus dem Nichts entstanden, seit dem Jahr 2014 sind die Flüchtlingszahlen merklich angestiegen, der Syrienkrieg dauerte bereits vier Jahre, und ein Ende war nicht in Sicht, im Sommer des Jahres 2015 waren mehr als 800000 Menschen auf dem Weg nach Europa. Nur wenige Beispiele: Im April starben fast eintausend Menschen, weil ihr schwer überladenes Boot auf dem Weg von Libyen nach Italien kenterte, am 26. August wurde in der Nähe von Wien ein LKW gefunden, in dem einundsiebzig Menschen erstickten, am 2. September wurde der leblose Körper des dreijährigen Alan Kurdi an einem türkischen Strand gefunden – ertrunken im Mittelmeer, auf der Flucht nach Europa. Zwei Tage später entscheidet sich Angela Merkel, die Menschen ohne Kontrollen ins Land zu lassen. Geöffnet wurden die Grenzen nicht, sie waren ja vorher, weil wir uns im Schengen-Raum befinden, nicht geschlossen gewesen. Aber in jenem Sommer waren so viele Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen gestrandet, dass es darum ging, eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Irrational scheint mir deshalb nicht die richtige Beschreibung zu sein, obwohl ich Ihnen recht gebe, dass diese Entscheidung ein spontanes, ja unvorhergesehenes Moment beinhaltet. Das aber macht für mich den Kern von Politik aus. Ich habe Angela Merkel auch in ihren spontanen politischen Entscheidungen immer respektiert. Also ihren Ausstieg aus der Atomenergie nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011, den viele aufgrund seiner Spontaneität kritisiert haben, der erschien mir gerade in dieser Spontaneität äußerst einleuchtend. Das stellt für mich den Glutkern politischen Handelns dar.

WE:  Die Katastrophe als Lehrmeister, die politisches Umsteuern bewirkt.

JH:  Wenn Sie es so nennen wollen, ja. Warum auch nicht? Ehrlich gesagt ist die Entscheidung, keine Kontrollen einzuführen, für mich noch immer ein politischer Moment, der bei mir Gänsehaut erzeugt. Ein politischer Moment von historischer Dimension. Dass wir in der Lage sind oder dass eine Kanzlerin in der Lage ist – und das halte ich gar nicht für eine »Arroganz der Macht« –, aus einer emotionalen Motivation heraus so etwas zu entscheiden, obwohl wir einen völlig überstrukturierten politischen Apparat haben, Diplomatie oft mit langsamen Mühlen mahlt, ich muss gestehen, das macht mich zu einem großen Fan von Politik. In so einem Moment verstehe ich Politik, weil die Akteure plötzlich als Menschen sichtbar werden. Da glaube ich sehen zu können, warum Menschen sich entscheiden, in die Politik zu gehen. Da verstehe ich, warum wir so fasziniert sind von Politik, die in so einer Situation allen beamtenhaften Charakter verliert. Aber noch einmal: Es gab einen zweifellos humanitären Anlass. Angela Merkel hat eine humanitäre Katastrophe abzuwenden versucht, und sie hat sie abgewendet.

WE:  Ja, das stimmt. Das war ein humanitärer Notstand, auf den man unmittelbar reagieren musste.

JH:  Es macht mich stolz, dass wir so reagiert haben. Kein anderes westeuropäisches Land hat bis heute so viele Flüchtlinge aufgenommen wie wir. Angela Merkel hat damit unserer Nachkriegsidentität eine ganz wichtige Facette hinzugefügt: die Deutschen als ein humanes Volk. Ein Volk, das sich bereit erklärt, seinen Wohlstand zu teilen, und nicht länger die Augen vor dem verschließt, was sich außerhalb seiner Grenzen abspielt. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dafür hätte sie eigentlich den Friedensnobelpreis verdient. Wie der Kniefall von Willy Brandt im Jahr 1970 vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos war das eine ganz wichtige und, ja, spontane politische Entscheidung und Geste. Der Kniefall von Willy Brandt war damals ebenfalls höchst umstritten, die Mehrheit der Deutschen wäre, hätte man sie vorher nach ihrer Meinung gefragt, dagegen gewesen. Heute ist er jedoch einer der wenigen politischen Momente, die für uns Nachgeborenen die Erhabenheit und Größe politischen Handelns markierten. Ein historisch strahlender Moment.

WE:  Die erste Phase des Ansturms, da sind wir einer Meinung, da gab es keine Alternative.

JH:  Doch, es hätte eine Alternative gegeben.

WE:  Welche?

JH:  Die Alternative wäre gewesen, die Flüchtlinge nicht hereinzulassen, die Grenzen dichtzumachen. So wie es andere Länder getan haben.

WE:  Die hatten ein vergleichsweise leichteres Spiel. Denn fast alle, die unterwegs waren, wollten doch nach Deutschland.

JH:  Also gänzlich alternativlos war diese Entscheidung, anders als Angela Merkel es selbst gesagt hat, nicht. Humanitär betrachtet, war diese Entscheidung alternativlos. Aber die anderen Länder haben ja auch andere Entscheidungen getroffen.

WE:  Haben sie. Tun sie bis heute. Merkels Entscheidung hat die Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft nicht eben zusammengeführt. Deutschland stand damals ziemlich alleine auf weiter Flur. Länder im Osten koppelten sich völlig davon ab. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Internationalismus in einem Land, das konnte nicht gutgehen. Aber, ja, die Menschen wären in der Mitte Europas gestrandet. Deutschland hat sie aufgenommen, und das war im ersten Anlauf gut so.

JH:  Letztlich ist aber die Kritik an der Flüchtlingspolitik, das will ich gar nicht bestreiten, so wie Sie sie äußern und in Ihrem Bekanntenkreis beobachten, zu einem wichtigen Thema für die Bundestagswahl geworden. Sie sagten, der Stimmungsumschwung hinsichtlich dessen, was man vielleicht auch mit einer Entfremdung von Politik beschreiben könnte, setzte im Herbst 2015 ein. Allerdings, und auch das ist eine Tatsache: Pegida formierte sich schon lange vor den Sommertagen des Jahres 2015 – nämlich gegen Ende 2014. Der Dresdner Korrespondent der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« Stefan Locke zeichnet die Anfänge von Pegida in einem Text in dem übrigens insgesamt sehr lesenswerten Buch »Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen« von Heike Kleffner und Matthias Meisner nach. Ich selbst hatte damals gerade aufgehört, für den »Freitag« zu arbeiten, und wollte mich erst einmal auf mein Sofa legen und über Dinge nachdenken, für die ich zuvor eigentlich keine Zeit mehr gehabt hatte. Also jedenfalls nicht über Politik! Plötzlich kamen diese Nachrichten aus Dresden. Im Januar 2015 bin ich in meine Heimatstadt Leipzig gefahren, um mir anzusehen, ob es Pegida gelingen würde, auch dort als eine Art Ableger mit dem Namen Legida, Fuß zu fassen.

WE:  Ja, das war eine Hochzeit der Pegida-Demonstrationen, kurz nach dem Attentat auf Charlie Hebdo am 7. Januar.

JH:  Die Demonstranten trafen sich am ehemaligen Zentralstadion, das jetzt Red Bull Arena heißt, um von dort durch das sogenannte Waldstraßenviertel zu ziehen, das ja einmal das jüdische Viertel Leipzigs gewesen war. Was mich sehr berührte, war, dass Anwohner entlang der Marschroute Lautsprecher in ihre Fenster gestellt hatten, um mit der Musik von Ludwig van Beethoven oder Johann Sebastian Bach den Rechtspopulisten – es waren auch sehr viele Rechtsradikale unter den Demonstranten – etwas entgegenzusetzen. Gleichzeitig, und das wollte ich eigentlich erzählen, gingen an diesem Abend fast 30000 Leipziger gegen Pegida und Legida auf die Straße, ganz vorneweg der SPD-Oberbürgermeister Burkhard Jung. Pegida hat sich in Leipzig nie etablieren können, die Zivilgesellschaft der Stadt hat das verhindert. Aber, um auf Ihre Beschreibungen zurückzukommen, die Kritik Ihrer Bekannten, ich vermute, die entzündete sich vielleicht an der Flüchtlingspolitik des Sommers 2015. Anleihen jedoch konnten sie schon vorher nehmen, vielleicht auch eine gewisse Legitimation, aber das weiß ich nicht. Was meinen Sie? Haben sich Ihre Bekannten die Kritik bei Pegida abgeschaut oder vielleicht sogar entlehnt?

WE:  Pegida bildete den Auftakt für den aufflammenden gesellschaftlichen Streit mit wachsendem persönlichem Verletzungspotential. Die pauschale Abkanzelung der Demonstranten als dröge Mitläufer von Brandstiftern missfiel manchen meiner langjährigen Gesprächspartner und mir selbst auch. Den gesamten Januar hindurch waren zwischen 17000 und 25000 Leute in Dresden unterwegs und die vermittelten nicht das Bild eines furchterregenden Mobs.

JH:  Da muss ich Ihnen widersprechen. Es waren teilweise martialische Bilder, die man von den Pegida-Aufmärschen sehen konnte. Und auch die Reden ließen zu diesem Zeitpunkt keinen Zweifel mehr an dem rassistischen und deutschtümelnden Charakter der Bewegung. Dass die brachiale und oft höhnische Kritik an Pegida einen als Ostdeutschen verletzen konnte, das allerdings kann ich nachvollziehen. Da wurde gern allzu pauschal gleich der ganze Osten abgewertet. Auch mir bleiben diese Monate als ein dunkles Kapitel des innerdeutschen Zwiegespräches in Erinnerung.

WE:  Die Montagsdemos, die 2004 gegen Hartz IV begannen, hatten nicht im Ansatz so viel Zulauf.

JH:  Gut, dass Sie daran erinnern. Denn auch das war damals keine unbedeutende Bewegung gewesen, die erste überregional sichtbare Protestbewegung in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung.

WE:  Zu Anfang. Es schlief halt allmählich ein.

JH:  Aber die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV sind im Grunde die einzige Vorgängerart von Pegida. Interessant ist, dass beide rein formal an die Montagsdemonstrationen des Jahres 1989 anzuschließen versucht haben.

WE:  Zehn Jahre später startet im Osten Deutschlands eine Protestbewegung mit stetig anschwellender Mobilisierung, erst auf der Straße, dann in den Wahllokalen und den sozialen Medien. Da nahm etwas für die kulturellen und politischen Üblichkeiten hierzulande Neues seinen Anfang. »Sachsen verstehen: Sachsen als Avantgarde« lautet deshalb auch der Titel eines Vortrags von Werner Patzelt, in dem er im Februar 2018 auf diesen Prozess Rückschau hält. Nüchtern betrachtet haben wir es hier mit einem Streit zu tun, der seine Wurzeln und auch seine Berechtigung hat. »Dresden ist Hauptstadt der Debattenkultur« – so äußerte sich der Soziologe Joachim Fischer kürzlich in den »Dresdner Neuesten Nachrichten« und zog eine Linie von Pegida über die Kontroversen rund um die Waldschlößchenbrücke bis hin zum Disput zwischen Uwe Tellkamp und Durs Grünbein. Warum nicht auch diesen Blick einmal ausprobieren?

JH:  Gern. Wo sehen Sie denn die Berechtigung für diesen Streit?

WE:  Es gibt keinen absoluten Anfang für die sich hier artikulierende Erfahrung einer Entfremdung von Politik. Da kam vieles zusammen, staute sich auf zum verbreiteten Eindruck einer tiefgreifenden Krise der Repräsentation. Die Hartz-Reformen vergraulten Millionen von Menschen, die in diese Mühle gerieten, selbst langjährige Gewerkschafter und SPD-Mitglieder empörten sich darüber, gründeten eine eigene Organisation. Von der globalen Finanzkrise 2008/09 war bereits die Rede. Man muss das im Zusammenhang sehen: 2008 stand man kurz vor der Kernschmelze der Weltwirtschaft und die Regierenden kommen mal kurz daher und wälzen die Schulden von Banken im Maßstab von Billionen auf uns ab. Und haben Trost im Gepäck: »Okay, eure Sparguthaben sind sicher.« Politischer Generalkonsens in dieser jede und jeden existentiell betreffenden Angelegenheit mit Ausnahme der Linken. Was soll man davon halten? Medial, in den Wirtschaftsredaktionen von Presse, Rundfunk, Fernsehen derselbe Konsens, wieder mit ein paar rühmlichen Ausnahmen. Und dann im Spätsommer 2015: »Wir schaffen das.« Wie bitte? Wer ist hier wir? Da sagt sich doch jeder, der noch Interesse an öffentlichen Angelegenheiten hat, die da oben ticken nicht ganz richtig, jedenfalls ganz anders als wir, das Publikum, und diesen Dissens fechten wir jetzt mal aus. Die Folgen dieser »Verstimmung« sind noch in der verbal mehr als dürftigen »Erklärung 2018« sichtbar. Ich denke nicht, dass Menschen, mit denen ich persönlichen Umgang habe, zu deren Unterzeichnern zählen.

JH:  Das wissen Sie gar nicht. Mittlerweile gibt es wohl 165000 Unterzeichner, und die Zahl steigt noch immer täglich an.

WE:  Ich bin mir ziemlich sicher. Sagen wir es so: Auch in diese »Erklärung« spielt mehr hinein als der Wunsch nach gutbewachten Außengrenzen. Das sind doch fast alles Akademiker, Mitglieder der sogenannten »guten Gesellschaft«, Wissenschaftler, Juristen, Theologen, Ärzte, Künstler. Die haben sich, jeder und jede Einzelne, gut überlegt, ob sie da mitmachen, und sich dann bewusst dafür entschieden. Ein Coming-out der Honoratioren im Maßstab von Zehntausenden, die sich vor wenigen Jahren vor einem solchen Bekenntnis noch gehütet hätten. Da denkt man doch: »Hallo, was ist denn da passiert?!«

JH:  Das sind vornehmlich Menschen, die sich gegen eine offene und tolerante Gesellschaft stellen, glaube ich. Menschen, die ihren Wohlstand nicht teilen wollen und Angst um ihre Pfründe haben. Ich weiß, das klingt simpel, und vielen wird es zu simpel klingen, aber ich glaube, darin liegt der Kern dieser Abwehrhaltung begründet. Der Leipziger Maler Neo Rauch, der ja ebenfalls gern mit rechten politischen Ansichten kokettiert und den Schriftsteller Uwe Tellkamp verteidigt hat, hat es im Frühjahr einmal so formuliert: »In meinem Fall ist es ein Bedürfnis nach Heimat, nach Weltaneignung, nach Sicherstellung der Besitzstände.« Genau um die Sicherstellung der Besitzstände geht es, und diese Besitzstände sind ökonomischer, kultureller und auch mentaler Art. Im sogenannten Bürgertum sind diese Ängste offenbar am ausgeprägtesten.

WE:  Das wäre vor fünf, sechs Jahren nicht in dem Maße passiert. Das zeigt: die Schwellen der Äußerungsbereitschaft für Äußerungen, die tonangebende Schichten der Gesellschaft als rechts abstempeln, sind rasant gesunken, die vormalige Einschüchterung greift nicht mehr. Die konsensorientierte Formatierung der öffentlichen Diskurse ist weithin außer Kraft gesetzt.

JH:  Aber, nein, da muss ich Ihnen jetzt doch einmal lautstark widersprechen. Wer formatiert denn hierzulande die Diskurse?

WE:  In Gesellschaften wie der unseren funktioniert das ohne Dirigenten. Die Mehrzahl der Personen, die gesamtöffentlich durchdringen mit ihren Äußerungen, teilen aufgrund ihrer Rekrutierung und Sozialisierung in den diversen Redaktionen und Büros Haltungen und Überzeugungen, deren Konformität nur deshalb nicht ins Bewusstsein tritt, weil das Gros der anderen ebenso empfindet, bewertet und denkt wie man selbst. Womit wir es hier zu tun haben, ist eine Normalisierung und Formatierung medialer Diskurse ohne zentralen Dirigenten.

JH:  Das ist erst einmal eine Arbeitsthese!

WE:  Ich würde schon sagen, dass es eine Tendenz zur Gleichschaltung gibt.

JH:  Arbeitsthese! Aber, gern, finden wir doch gemeinsam heraus, ob sie stimmt. Denn haben wir nicht beide das Recht, gegen die Gleichschaltung, wie Sie sagen, anzukämpfen, Stellung zu beziehen?

WE:  Nun, Gleichschaltung ist ein zu forciertes, zu belastetes Wort. Sagen wir Gleichklang, Gleichklang ohne Dirigenten mit der Folge einer nicht leicht überbrückbaren Kluft zwischen veröffentlichter und gesellschaftlicher Meinung. Mangelnde Selbstbeobachtung trägt dazu bei, diese Kluft zu vertiefen. Menschen mit einem professionellen Verhältnis zur Sprache tendieren dazu, dieses Verhältnis zu verabsolutieren: Sprache nicht primär als Werkzeug der Lebensführung und Problembewältigung, sondern als Werkzeug des Denkens, der Analyse, der Reflexion, des Kommentars. Wenn Wittgenstein mit seiner Ansicht richtigliegt, dass die Sprache eine Lebensform ist, dann konstituieren verschiedene Arten, Sprache zu gebrauchen, verschiedene Lebensformen, verschiedene Sichtweisen auf die soziale Welt. Die einen bringen Verhältnisse mittels Sprache auf Distanz, die den anderen unmittelbar unter die Haut gehen, und wundern sich, wenn diese die Gelassenheit vermissen lassen, mit der sie selbst zu Werke gehen. Der Flüchtling als Fremder, der kommt, um zu bleiben, kann in der Wahrnehmung durch Einheimische ganz verschiedene Rollen spielen. Menschen mit einem distanzierten Verhältnis zur Welt ist zuzumuten, diese Wahrnehmungsdifferenz mitzureflektieren, statt sie zu moralisieren. Hier wir, die Großzügigen, Weltoffenen, Toleranten, dort die Zugeknöpften, Engherzigen, nur auf sich selbst Bedachten. Ein Blick auf den anderen, der die Bedingungen nicht durchschaut, die ihn formen. Geistiger Konformismus erwächst aus der Blindheit für den eigenen Blick. Dagegen muss man ankämpfen, stets von neuem.

JH:  Das empfinde ich nicht nur als mein Recht, sondern strenggenommen sogar als meine Pflicht, weil ich an eine grundsätzliche Offenheit der Diskurse glaube, weil ich glaube, dass die Teilnehmer der Diskurse für deren prinzipielle Offenheit und Vielstimmigkeit sorgen müssen. Und: Tun wir das mit diesem Buch nicht auch? Also für Meinungsvielfalt und Pluralismus sorgen?

WE:  Man muss sich gegen den falschen Konsens stemmen, und man kann es unter den heutigen Bedingungen.

JH:  Zumal wir beide, qua Herkunft, qua Themen und oft auch qua Perspektive eben nicht per se dazugehören. Jene Gleichschaltung, von der Sie sprachen, müsste uns also permanent aus dem System katapultieren. Nun haben Sie diesen Begriff korrigiert und möchten lieber von Gleichklang sprechen.

WE:  An den Rand des legitimen Diskurses gedrängt zu werden, zum »Ostalgiker« oder schlimmer, zum Rechtfertigungsliteraten der DDR abgestempelt zu werden – das ist uns doch beiden mehrmals widerfahren?

JH:  Ja, das stimmt. Aber trotzdem mag ich diese Vergleiche DDR versus Bundesrepublik überhaupt nicht. Sie sind oft genauso falsch wie die Nazivergleiche. Obwohl es viele Phänomene gibt, die uns in beiden Systemen ähnlich erscheinen, glaube ich, dass sich diese Ähnlichkeiten, je genauer wir die Phänomene betrachten, immer stärker auflösen. Ich glaube, dass sich ein offenes System wie das der Bundesrepublik grundsätzlich von einem geschlossenen System, wie die DDR eines war, unterscheidet. Ich würde immer argumentieren, dass alle Phänomene des politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens damit in zwei grundsätzlich verschiedenen Systemen – wie in zwei grundsätzlich verschiedenen Gefäßen – stecken.

WE:  Können Sie das näher beschreiben?

JH:  Phänomene wie das Verhältnis zu Arbeit, Identitätsbildung, das Verhältnis von Öffentlichkeit und Kritik, das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem. All das steckt in unterschiedlichen Gefäßen, auch deshalb fällt es uns im Nachhinein so schwer, das Leben in der DDR posthum zu erzählen, zu beschreiben, zu kritisieren und einzuordnen. Aber auch in offenen Gesellschaften, da gebe ich Ihnen recht, entstehen Meinungsbildungsprozesse, die mitunter Gefahr laufen, homogen zu werden, weil sie natürlich Mehrheitsmeinungen eher abbilden als die von Minderheiten. Aber da findet dennoch keine Formatierung statt. Eines meiner wichtigsten Themen ist immer die fehlende Darstellung ostdeutscher Perspektiven gewesen. In Wahrheit widerspreche ich jetzt ein bisschen mir selbst, wenn ich Ihnen widerspreche.

WE:  Stimmt.

JH:  Weil ich selbst immer eine Kritikerin vieler Meinungsbildungsprozesse gewesen bin, mich in vielen Texten über Ostdeutschland dazu geäußert habe. Aber gegen Formatierung von Diskursen muss ich mich als Journalistin zutiefst wehren, weil ich mich sonst selbst nicht ernst nehmen könnte. Weil ich dann ja Teil dieses Prozesses wäre.

WE:  Ja, da sind wir vielleicht nicht einer Meinung. Ich lasse Ihre Ansicht umso bereitwilliger gelten, als ich mit einer ganzen Reihe von Journalisten gut bekannt oder befreundet bin, deren Arbeit ich sehr schätze. Wenn ich trotzdem eine Tendenz zum medialen Gleichklang ohne Dirigenten behaupte, dann darf man schon erwarten, dass ich dafür auch den einen oder anderen Beleg liefere. Hier wäre einer: Eine Studie der Otto Brenner Stiftung (»Die Flüchtlingskrise in den Medien«) hat mehr als 30000 Medienberichte zwischen Februar 2015 und März 2016 ausgewertet und dabei einen mehr als auffälligen flüchtlingsfreundlichen Tenor ermittelt. In 83 Prozent der Beiträge in Tageszeitungen etwa wurde demzufolge ein durchgehend positives Bild der Willkommenskultur gezeichnet. Für den Rundfunk und das Fernsehen erinnere ich das ganz ähnlich. Die Berichterstattung über Putins Russland stimmt einen unter dem Gesichtspunkt Meinungsvielfalt auch nicht gerade froh. Ebenso wenig die mediale Begleitmusik zum Spar-, Schuldabstattungs- und Privatisierungsdiktat, das Schäuble und die Eurogruppe Griechenland aufzwangen, zum hauptsächlichen Nutzen institutioneller Gläubiger, die sich verzockt hatten und jetzt trotzdem Profit einfuhren. Dank der beharrlichen Solidarität Europas mit den Griechen sei das Ende der Krise nun glücklicherweise in Sicht, tönte noch soeben einer dieser Helden ganz unbefangen in der »Tagesschau«. Ungezählte andere verbreiteten denselben Nonsens in Presse, Rundfunk, Fernsehen. Wenn das kein Gleichklang ist, was dann? Ist in den Redaktionsstuben wirklich niemand zur Stelle, dem der Zynismus solcher Verlautbarungen aufstößt? Und schließlich kommen wir beide doch hier zusammen, weil wir den Eindruck teilen, dass das »Ossi-Bashing« geradezu zu den Pflichtübungen der maßgeblichen Meinungsbildner zählt.

JH:  Ja und nein. Bleiben wir bei der Flüchtlingskrise: Laut dem ZDF-Politbarometer sagten Anfang September 2015 66 Prozent der Deutschen, dass die Entscheidung Angela Merkels, die Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, richtig war. Die von Ihnen beschriebene eher positive Berichterstattung über die sogenannte Willkommenskultur fand damals ihren Widerhall in der Stimmung der Bevölkerung. Sie kippt nach den Ausschreitungen der Kölner Silvesternacht, aber genau zu demselben Zeitpunkt nehmen auch die kritischen Zeitungsberichte über Flüchtlinge wieder zu. Und was die Arbeit der Bundesregierung ganz allgemein betrifft, ich habe nicht das Gefühl, dass deren Arbeit von den Medien oder der Öffentlichkeit kritiklos begleitet würde.

WE:  Es gibt Kritik, keine Frage, aber es gibt, wie eben dargelegt, auch Grenzen der Kritik. Auf die stieß ich zum Beispiel in der medialen Resonanz auf mein Buch »Bürger, ohne Arbeit« aus dem Jahr 2005. Damals wurden gleich mehrere Journalisten, die mich dazu interviewen wollten, nach meiner Zusage von ihren Redaktionen zurückgepfiffen. Einer Infragestellung der Grundlagen der Lohnarbeitsgesellschaft öffentlich Gehör zu verschaffen sei nicht wünschenswert, war die Begründung, die sie mir mit der Bitte um Vertraulichkeit übermittelten. Heute diskutiert darüber alle Welt. Die Verfechter der diskursiven Ordnung sind deshalb nicht arbeitslos. Sie suchen sich neue Objekte.Die einschlägigen Medien bilden die Vielfalt und Strittigkeit der gesellschaftlichen Debatten jedenfalls sehr unzureichend ab. Zu diesem Befund gelangte bereits die einzige umfassende empirische Untersuchung zu dieser Problematik, die 2006 unter dem Titel »Die Souffleure der Mediengesellschaft« erschien. Die dort benannten Defizite dieser Zunft dürften seither noch an Bedeutung gewonnen haben. Hauptberufliche Journalisten zählten und zählen zu mehr als zwei Dritteln zur akademisch gebildeten Mittelschicht. Sie orientieren sich bei ihrer Meinungsbildung vorwiegend an anderen Journalisten, die auch in ihrem persönlichen Umgang an erster Stelle stehen. Ihre Bereitschaft, sich für die Belange sozial Benachteiligter einzusetzen, ist wenig ausgeprägt. Resümee in den Worten von Lutz Hachmeister, einem Gewährsmann der Studie: »Fraglich ist (…), ob der wohlig im spätbürgerlichen Zentrismus eingerichtete Prestige-Journalismus die Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten von den formaldemokratischen Ritualen überhaupt noch mitbekommt. Seit geraumer Zeit scheinen ihm selbstbezügliche Feuilleton-Scharmützel und medienwirtschaftliche Positionskämpfe wichtiger als die nüchterne Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Realität.« Die unverzichtbare Funktion der Medien als Organe der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung nimmt Schaden.

JH:  Es gibt etwas, was ich als eine Konvention der Kritik beschreiben würde. Viele Entscheidungen müssen erst mal kritisiert werden, bevor man sich fragt, warum diese Entscheidungen so gefällt worden sind. Und gerade Angela Merkel ist doch als Person, als Ostdeutsche, als Frau durch solche Sturmgewitter von Kritik gegangen. Es ist ihr doch alles andere als leicht gemacht worden, sich als CDU-Vorsitzende, dann auch über Umwege als Kanzlerkandidatin und Bundeskanzlerin, also in ihren verschiedenen Rollen, Autorität zu erarbeiten. Das war ein ganz langer Weg, den sie gegangen ist, selbst gegen schwere Widerstände in der eigenen Partei, in den Medien und in der Öffentlichkeit.

WE:  Ganz Ihrer Meinung. Es fehlte nicht an Versuchen, sie zur Strecke zu bringen. Dass sie sich trotzdem durchgesetzt hat, ist ermutigend für alle, die vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Da sind wir in unseren Bemühungen ganz bei ihr.

JH: