Wer wir waren - Roger Willemsen - E-Book

Wer wir waren E-Book

Roger Willemsen

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Beschreibung

Roger Willemsen hatte vor seinem Tod an einem neuen Buch gearbeitet. Es sollte ›Wer wir waren‹ heißen und unsere Gegenwart betrachten – aus der Zukunft. Als Roger Willemsen im Sommer 2015 krank wurde, stellte er die Arbeit an diesem Buch ein. Zentrale Gedanken davon aber stecken in einer mitreißenden »Zukunftsrede«, die zu seinem letzten öffentlichen Auftritt wurde. Sie ist nicht nur das melancholische Resümee und die brillante Analyse eines außergewöhnlichen Zeitgenossen, sondern zugleich das leidenschaftliche Plädoyer für eine »Abspaltung aus der Rasanz der Zeit«. Sie ist ein Aufruf an die nächste Generation, sich nicht einverstanden zu erklären. »Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.« Roger Willemsen

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Seitenzahl: 43

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Roger Willemsen

Wer wir waren

Zukunftsrede

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Inhalt

[…] Wir erwachen im [...]Wer wir warenEditorische Notiz

[…] Wir erwachen im Goldenen Zeitalter der Ruhelosen und werden sagen können: Wenn wir in den Städten auf die Straße traten, hatte der Kampf um unsere Aufmerksamkeit schon eingesetzt. Die Fassaden schrien uns an, die Nackten umgarnten uns in den Auslagen, immer gab es etwas Hingeräkeltes, Schmeichlerisches, das uns besser gefallen wollte als alles sonst auf der Welt. Alles Großaufnahme, alles äußerste Steigerungsform, und wir dazwischen, die umkämpften Abgekämpften.

Dass wir nicht mehr können, erliegen, dass wir unrettbar sind, in der Kapitulation leben, das sagten wir nicht, wir fühlten es bloß, und es gab Waren dagegen, käufliche Stimmungen und Versprechen. Der Mensch für sich, er hat sein Recht verwirkt, es auch draußen zu sein. Die Außenwelt betritt er nur unter Verzicht auf dieses aufgeriebene, kaum mehr souveräne Ich.

Und mehr noch: Wir leben als die neuen Menschen mitten in einer Multiplikation der Aufmerksamkeitsherde. Fahren, Essen, Mailen, Musikhören, Schreiben, Nachrichten-Aufnehmen, all das vollzieht sich im selben Zeitabschnitt. Wir wissen es, wir horten eine Art schlechtes Gewissen angesichts unserer Flüchtigkeit und kultivieren sie weiter, die flache Aufmerksamkeit, die jedes Detail darin weniger prägnant, auch weniger beeindruckend erscheinen lässt.

Neu ist vielleicht nicht der Mensch, der neugieriger auf die Uhr schaut als ins Gesicht der Ehefrau. Neu ist nicht einmal jener, der auf den Bildschirm interessierter blickt als auf die Welt und von »virtueller Welt« spricht, damit sie der alt-analogen wenigstens noch semantisch gleiche. Neu ist eher jener Typus des »Second-Screen-Menschen«, dem der eine Bildschirm nicht mehr reicht, der ohne mehrere Parallelhandlungen die Welt nicht erträgt und im Blend der Informationen, Impulse und bildgeleiteten Affekte sich selbst eine Art behäbiger Mutterkonzern ist, unpraktisch konfiguriert und irgendwie fern und unerreichbar.

Wir machten dabei nicht der Gegenwart allein den Prozess, sondern unserer eigenen Anwesenheit. Wir fanden, die Räume seien es nicht wert, dass man in ihnen verweilte, wir selbst fühlten uns nicht gemacht, hier zu sein und zu bleiben. Selbst im öffentlichen Raum schwinden ja die Transit-Zonen des reinen Wartens, die Fristen der nicht-effektiven Zeiten, der drohenden Selbstversenkung werden knapp. Musik fällt ein, Bilder strömen, Informationen schwirren aus, ungerufen.

Dauernd öffnen sich neue Räume und in diesen wieder neue, des Konsums, der Serviceangebote, und die Apparate emanzipierten sich: Was dazu da gewesen war, eine Sprechverbindung zu eröffnen, war plötzlich ein Spiegelkabinett, vollgestopft mit Bildern. Ganze Daten-Halden führten wir mit uns, sinnvoll-sinnlos, nützlich-nutzlos geballte Nachrichtenkomplexe, Kaufanreize, Orientierungsangebote, Wellnessofferten.

Was ein Telefon gewesen war, wurde ein Zentralrechner, was ein Hemd war, ein Thermometer, ein Haus wurde eine Komfort-Maschine. Alle Modifikationen mündeten in dieser großen Bequemlichkeit und Verfügbarkeit, die wir kurz genossen, dann kaum mehr empfanden und durch einen neuen Lebenszustand ersetzten: die Überforderung, die Abstumpfung, die Kapitulation vor der Entmündigung. Ja, wir brannten aus in all der Reibungslosigkeit.

Wer wir waren

Es ist jetzt fünf bis sieben Millionen Jahre her, da trennten sich die Hominiden von den afrikanischen Affen. Einstimmig. Südafrika war zu dieser Zeit nicht Savanne, sondern tropischer Regenwald, und da die größten Schöpfungsmythen der Welt nicht zufällig im Wald beginnen, finden sich hier auch die ersten Fußspuren des biologischen Menschen: die Spuren kleiner Füße, denn wer durch die Wipfel kletterte, benutzte vor allem die Hände. Als der Wald aber ausdünnte, musste die afrikanische Baumbevölkerung auf den Boden kommen und der Welt den aufrechten Gang beibringen.

Vor ungefähr 3,5 Millionen Jahren ist ein solcher Hominide in eine Höhle gefallen, vielleicht ein dickfelliger, humorloser Materialist, der nie nach dem Sinn seines Lebens fragte. Heute wissen wir, dass es seine Bestimmung war, der erste Mensch zu sein, von dem wir erfahren sollten. Gefunden wurde er liegend, das Gesicht in den angewinkelten Arm gedrückt, in derselben kontemplativen Haltung wie später »Ötzi«.

Die Nachgeborenen erkennen in diesen Todesschläfern die letzten kompletten Menschen. Denn seit ihren Tagen ist der Mensch in der Krise, der Krise des Homo habilis, der Krise des Homo erectus und endlich der Krise Homo sapiens genannt, die sich als Krise der ganzen Welt herausstellen sollte. Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten.

Ja, der Globus hat Homo sapiens, und dessen einzige sichere Zukunft ist die Krise, der wir immer neue Namen geben, Namen wie Klimaerwärmung, Übersäuerung der Meere, Abschmelzen der Gletscher, Migration, Burnout, Dürre, Glaubens- und Handelskriege, Ansteigen des Meeresspiegels, Austrocknung der Wüsten, Ressourcenknappheit, Überbevölkerung, Artensterben, multiresistente Keime. Wir können es nicht mehr hören, nicht wahr? Wir wollen trotzdem von der Zukunft reden, aber was meinen wir eigentlich: die Fabrikation einer Welt, abseits ihrer Existenzbedingungen, Fantasy, Cyber-Glanzbildchen, Science-Fiction ohne Science, Future-Kitsch?

Heute sind die Konsequenzen unseres Lebens und Handelns so dramatisch, dass man uns, anders als die Menschen des 19