Wer wird Milliardär? - Heike Buchter - E-Book

Wer wird Milliardär? E-Book

Heike Buchter

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Beschreibung

Unser Finanzsystem ist ihre Geldmaschine, unsere Arbeit ihr Spielball, unser Land ihr Rohstofflager, unsere Gesundheit sind ihre Patente und aus den Umweltschäden der Welt ziehen sie ihre Profite: Die Milliardäre der Welt gewinnen immer mehr Geld und immer mehr Macht. Wall-Street-Korrespondentin Heike Buchter stellt die relevanten Akteure vor, die ihre ganz persönliche Agenda verfolgen. Ihr Aufstieg ist das Resultat eines überdrehten Finanzkapitalismus, der droht, unsere Demokratie auszuhöhlen. Enthüllende Geschichten von Finanztycoons, Silicon-Valley-Investoren, Oligarchen und Industriekapitalisten aus den verschiedensten Ländern kombiniert die Autorin mit augenöffnendem Finanzwissen.

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Cover for EPUB

Heike Buchter

WER WIRD MILLIARDÄR?

Vom großen globalen Abkassieren

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Unser Finanzsystem ist ihre Geldmaschine, unsere Arbeit ist ihr Spielball, unser Land ist ihr Rohstofflager, unsere Gesundheit sind ihre Patente, unsere Umweltschäden sind ihr Profit: Die Milliardäre der Welt bekommen immer mehr Geld und immer mehr Macht. Dabei haben viele von ihnen nicht mal ein Produkt erfunden und erst recht kein Start-up zum Großkonzern geführt. Sie machen schlicht mit viel Geld immer mehr. Doch wer sind diese Geldherrscher? Wall-Street-Korrespondentin Heike Buchter stellt die relevanten Akteure vor, die ihre ganz persönliche Agenda verfolgen und bei denen es sich nicht nur um die üblichen Verdächtigen handelt. Ihr Aufstieg ist das Resultat eines überdrehten Finanzkapitalismus, der droht, unsere Demokratie auszuhöhlen. Enthüllende Geschichten von Finanztycoons, Silicon-Valley-Investoren, Oligarchen und Industriekapitalisten aus den verschiedensten Ländern kombiniert mit augenöffnendem Finanzwissen.

Vita

Heike Buchter berichtet seit 2001 von der Wall Street. Als New Yorker Korrespondentin für »Die Zeit« sagte sie ihrer Redaktion Anfang 2007 die Finanzkrise vorher. Und sie war 2015 die Erste, die BlackRock ins Scheinwerferlicht gerückt hat. 2019 veröffentlichte sie ihr Buch »Ölbeben«.

Für meine Eltern, Heinz und Lore

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

INHALT

Impressum

INHALT

ES IST IHRE WELT. WIR LEBEN NUR DARIN

1 SIE SIND WENIGE …

REICH WIE ROCKEFELLER

AUS DER KURVE GEFLOGEN

DIE LISTE DER 400 UND DIE BIBER

UNSERE NEUEN VOLKSHELDEN?

KISS ME, I’M A BILLIONAIRE!

»VOM TELLERWÄSCHER ZUM MILLIONÄR« UND SONSTIGE MÄRCHEN

DER SONNENKÖNIG

KAVIAR-FRÜHSTÜCK BEI TIFFANY’S

2 … UND DOCH SIND SIE ÜBERALL

IN DEUTSCHLAND IST GEIZ GEIL

DYNASTIEN MIT MACHT UND MILLIARDEN

NS-ZWANGSARBEIT UND DIE NACHFAHREN

SECHSSTÖCKIGE GARAGEN UND EIN SLUMDOG MILLIONAIRE

VON SAUDI-PRINZEN UND ZUCKERKÖNIGEN

ENTWICKLUNGSBANK-HILFE FÜR KAUFLAND

ANGOLANISCHE ÖLMILLIARDEN: WASSER, DAS BERGAUF FLIESST

SWISS CONNECTION

3 ÜBER DIE HOHE KUNST DER GELDVERMEHRUNG

DER FREIBEUTER DER FINANZMÄRKTE

DER JAMES BOND DER ANLEIHEN

GEFÄHRLICHE BRIEFFEINDSCHAFTEN

HÄRTER ALS KRUPPSTAHL

DER HERR DER HEUSCHRECKEN

BARBARIANS AT THE GATE

STEUERERLEICHTERUNGEN FÜR PIRATENKAPITÄNE

DER GRÖSSTE VERMIETER DER WELT

PROFIT GIBT’S IN DER KLEINSTEN HÜTTE

BITTE BLEIBEN SIE GESUND!

PIRAÑAS DER WALL STREET

WELCOME TO MIAMI!

UNDANKBARES CHICAGO

DIE RÄCHER DER REICHEN?

UND ES MACHT PFOF!

DIE HANDELSREPUBLIK

4 DER KULT DER TECH-PROPHETEN

EIN RETTUNGSSCHIRM FÜR DIE REGENMACHER

DIE WAHREN URSPRÜNGE

AM ANFANG WAREN DIE RADIOWELLEN

MILLIARDEN DURCH EINEN MYTHOS

SAND HILL ROAD – DIE STRASSE ZUM REICHTUM 

WEWORK FOR THE MONEY

UND WO BLEIBEN DIE GRÜNEN EINHÖRNER?

5 ER IST ELON …

EIN MANN GEGEN MUSK

DAS GEHEIMNIS SEINES ERFOLGS

UNSER PLANET IST NICHT GENUG!

ES KANN NUR EINEN GEBEN

DIE MUSKETEERS UND DER KULT DES KAPITALISMUS

ELON, HAST DU MAL CASH?

DIE WAHRE QUELLE DES SUPERREICHTUMS 

MAL KURZ WEGGETWITTERT

6 … UND SIE SIND DIE KRYPTO-WUNDERKINDER

BITCOIN: EINE LÖSUNG AUF DER SUCHE NACH EINEM PROBLEM?

KULTISCHE ANLAGERITEN: DEN MOND ANHEULEN

MILLIARDEN ANLEGERGELD PULVERISIERT

ZURÜCK IM KINDERZIMMER

7 DIE PAYPAL-MAFIA

GESTATTEN, PAYPAL 

THE WINNER TAKES IT ALL 

MANHATTAN PROJECT ODER MARKETING-MASCHE?

8 DEUTSCHLAND, DEINE ERBEN

IST BESITZ PRIVATSACHE?

HAUPTSACHE, HAB UND GUT BLEIBEN BEISAMMEN

DIE MACHT DER MITTELSTÄNDLER

MITEIGENTÜMER EHER UNERWÜNSCHT

BEWAHRER – VON WAS?

DIE KUKA-SAGA

ZWISCHEN DEN SUPERMÄCHTEN

AUSGERECHNET WÄRMEPUMPEN

ALLES NUR EINZELFÄLLE?

KEINE NEIDDEBATTE, BITTE!

UND HEIDENHEIM?

9 DIE NEUEN LORDS VON »LONDONGRAD« …

ADEL VERPFLICHTET – ZU GAR NICHTS

ALLE AN BORD DER QUEEN K

MIT GUMMIENTEN ZUM INDUSTRIEKAPITÄN

10 … UND IHRE TREUEN VERWALTER

REIF FÜR DIE INSEL

FAMILIENANGELEGENHEITEN 

BITTE WEITERGEHEN, HIER GIBT ES NICHTS ZU SEHEN!

EIN FO-VETERAN PACKT AUS

11 SIE SIND SO GERNE UNSERE WOHLTÄTER …

STRAHLENDE ZUKUNFT FÜR KEMMERER

WILD WEST IM ALL

WER ZAHLT, SCHAFFT AN

DER GESUNDHEITSAPOSTEL

12 … UNSERE GEISTIGEN EIGENTÜMER …

ATTACKE GEGEN DIE HOBBYISTEN

DER LANGE ARM DES UNCLE SAM

DAS ARGUMENT GEGEN PATENTE

13 … UND UNSERE ERNÄHRER

DIE GROSSSCHLÄCHTER 

DIE PROTEINGIGANTEN

DIE BIENEN-BARONE

WEM GEHÖRT SCHOTTLAND?

SIE MACHEN SICH DIE WELT, WIE SIE IHNEN GEFÄLLT

INS MUSEUM ODER DOCH LIEBER ÜBERS SOFA?

DER TRIUMPH DER PREISSCHILDER

IHR AUFSTIEG – UNSER PROBLEM

ZU VIEL ÄRGER ZU HAUSE

WIR KÖNNEN UNS DIE MILLIARDÄRE NICHT MEHR LEISTEN

LITERATUR

ANMERKUNGEN

ES IST IHRE WELT. WIR LEBEN NUR DARIN

1 SIE SIND WENIGE …

3 ÜBER DIE HOHE KUNST DER GELDVERMEHRUNG

4 DER KULT DER TECH-PROPHETEN

5 ER IST ELON …

6 … UND SIE SIND DIE KRYPTO-WUNDERKINDER

7 DIE PAYPAL-MAFIA

8 DEUTSCHLAND, DEINE ERBEN

9 DIE NEUEN LORDS VON »LONDONGRAD« …

10 … UND IHRE TREUEN VERWALTER

11 SIE SIND SO GERNE UNSERE WOHLTÄTER …

12 … UNSERE GEISTIGEN EIGENTÜMER …

13 … UND UNSERE ERNÄHRER

WEM GEHÖRT SCHOTTLAND?

DANK

ES IST IHRE WELT. WIR LEBEN NUR DARIN

Vorbei an alten Steinmauern, grauen Cottages und grasenden Schafen schlängelt sich die Landstraße immer weiter in das Tal des Feshie. Der Fluss, tief in seinem steinigen Bett im schottischen Hochland nicht weit von Loch Ness, ist im Vorbeifahren mehr zu ahnen als zu sehen. Kommt ein Auto oder gar ein Minivan entgegen, heißt es hoffen, dass gerade eine Passing Zone auftaucht, also etwas Platz am Rand ist, und sich die Fahrzeuge nicht touchieren. Während mein Herz als Mietwagenfahrerin (ein nagelneuer Peugeot 2008!) dabei schneller schlägt, scheinen die Einheimischen – meist nett lächelnd – auf dem Gas zu bleiben. Bald sind fast nur noch Wanderer und Radfahrer unterwegs. Gerade als die Fichten und Birken den Blick freigeben auf verschneite Bergrücken, ein Bild wie gemacht für die Whiskey-Werbung, versperrt ein Gatter die Straße. Auf einem Schild daneben warnt eine Einrichtung namens WildLand: »Keine Durchfahrt ohne Genehmigung, please.«

WildLand ist das Unternehmen von Anders Povlsen, einem dänischen Modefabrikanten, zu dessen Marken Vero Moda und Jack&Jones gehören. Auch mehr als zehn Prozent des deutschen Onlinehändlers Zalando finden sich in seinem Portfolio. Umweltschützer sind nicht begeistert von Povlsens Produkten, sie zählen sie zur sogenannten Fast Fashion, Kleidung, die schnell produziert wird, um von Trends zu profitieren. Aktivisten machen das Geschäftsmodell maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Modeindustrie jährlich nicht nur 100 Milliarden Kleidungsstücke herstellt, sondern gleichzeitig rund 100 Millionen Tonnen davon weggeworfen werden. Anders ausgedrückt: Ein Lkw voller Kleidung landet jede Sekunde auf der Müllhalde. Für Povlsen, der mit 28 Jahren ein kleines Bekleidungsgeschäft in der dänischen Provinz von seinen Eltern übernahm, hat es sich gelohnt. Laut Forbes belief sich sein Vermögen Anfang 2023 auf sieben Milliarden US-Dollar. Dieser Reichtum hat Povlsen in die Lage versetzt, sich vor einigen Jahren Glenfeshie, das Tal des Feshie, zu kaufen. So gut wie alles, was man hier ringsherum sieht, inklusive einer Sammlung herrschaftlicher Jagdanwesen, gehört ihm und seiner Frau Anne.

Glenfeshie ist nur eines der Estates, der Ländereien, die der Däne in seinen Besitz gebracht hat. Vor ein paar Jahren hat er weite Teile des nördlichsten Gipfels der schottischen Highlands erworben, unter anderem einst das Herrschaftsgebiet der Herzöge von Sutherland. Povlsen ist inzwischen der größte Grundbesitzer in Schottland, ihm gehört hier mehr Land als König Charles oder der englischen Kirche. Doch nur wenige Menschen, die hier leben, sind dem Dänen bisher begegnet. »Der fliegt immer mal wieder ein«, glaubt die Kellnerin im Cairngorm Hotel in der kleinen Stadt Aviemore, das weiter unten im Tal liegt. Sie kennt Povlsen nicht, erklärt sie, nur ihr Mann habe ihn ein paar Mal gesehen, als er für Povlsens Estate in Glenfeshie arbeitete. Sie räumt die spärlichen Reste des Cooked English Breakfast mit Rührei und Yorkshire Pudding ab. Bevor sie die Teller in die Küche trägt, sagt sie: »Schon verrückt, dass ein Einzelner einfach so ganze Landstriche kaufen kann, oder?«

Ja, es ist verrückt, dass in unserer angeblich modernen Zeit mitten in Europa Strukturen entstehen, die an die Feudalherrschaft erinnern. Oder an Kolonialismus. Nur, dass die Kolonialisierung nicht durch einen Staat geschieht, sondern durch Einzelne: Milliardäre.

Ihre Zahl ist über die vergangenen 20 Jahre stetig gestiegen. 2 640 gibt es laut den jüngsten Erhebungen des US-Magazins Forbes weltweit.1 Ihnen gehören nicht nur Grundbesitz und Immobilien. Sie sind Eigentümer von Konzernen quer über alle Kontinente und Branchen. Ihnen gehören Autobahnen, Flughäfen und Wasserrechte. Sie halten Patente auf Medikamente und Technologien. Von ihnen finanzierte Stiftungen prägen Kunst und Kultur, ihre Denkfabriken und Spenden beeinflussen unsere Gesellschaft und Politik. Während ihr Einfluss wächst, bleiben die Herrscher des Geldes zunehmend unter sich.

Miami im Februar 2023. Die Stadt im Sunshine State Florida galt lange als zu heiß, zu laut und zu bunt, um die Geldelite anzulocken. Die Pandemie hat auch das geändert. Das liegt mit daran, dass Miami es den Multimillionären und Milliardären erlaubt, sich in ihren Anwesen auf privaten Inseln wie Fisher Island oder dem künstlich angelegten Star Island zu verschanzen, zu denen niemand ohne Erlaubnis Zugang erhält. »Vor dem Haus steht der Lamborghini, dahinter wartet der Sikorsky«, fasst es der Taxifahrer zusammen, der mich zur Miami International Boat Show bringt, der größten Bootsmesse der USA und einem der wichtigsten Treffen der Branche. Denn was den wahren Reichtum ausmacht, ist nicht nur das entsprechende Auto oder der Helikopter, sondern vor allem eine Yacht. Die Pandemie hat die Nachfrage nach den Luxusbooten so angetrieben, dass es Wartelisten gibt und viele der Werften volle Auftragsbücher bis 2024 und darüber hinaus haben. Entsprechend ist der Andrang. Es ist viel Italienisch zu hören, was daran liegt, dass Werften darunter sind wie die Ferretti Group aus Forlí, die inzwischen in Hongkong an der Börse gelistet ist und zu den führenden Anbietern gehört. In Miami stellt Ferretti die neue Serie mit Panoramafenstern von der Decke bis zum Boden vor. Gleich daneben lässt Konkurrent Azimut Benetti, aus Viareggio in der Toskana, seine Modelle ankern, vor denen sich zwei blondierte Besucherinnen fotografieren lassen. Gleich mit 16 »aufsehenerregend modernen« Yachten ist Azimut dieses Jahr vertreten, wie das Magazin Yacht Harbour berichtet.2 Auch die Superyachten gehören bei der Messe zum Angebot, allerdings muss man die erst einmal finden.

Weitab von dem Gedränge an den Marinas und den Zelten mit Anbietern von Entsalzungsanlagen, Hängematten und Motoren liegt der Yacht Haven Grande Miami. Das Wassertaxi, das Besucher dorthin bringt, bietet nicht viel Platz. Zwei Helfer stehen parat, um den Gästen aus dem Wassertaxi auf den Steg zu helfen. Dort schaukeln etwa ein Dutzend Superyachten. So bezeichnet die Branche traditionell Yachten mit einer Länge von mehr als 24 Metern – in der Regel nach den Wünschen des (ersten) Kunden gebaut. Weil es Yachten in dieser Länge nun auch »von der Stange« gibt und sie an Exklusivität einbüßten, gelten 30 Meter nun als der neue Standard. Die Pandemie hat die Nachfrage kräftig angeschoben. Orders für 1 024 neue Superyachten fanden sich 2022 in den Auftragsbüchern der Werften, 25 Prozent mehr als 2021. Wer nicht jahrelang warten will, kauft gebraucht.

Vor der Patience, 40 Meter lang und vor zehn Jahren in Italien bei Benetti vom Stapel gelaufen, sitzt eine junge Frau unter einem Sonnenschirm. Eigentlich will sie nicht mit der Presse sprechen, denn Diskretion ist das oberste Gebot in dieser Welt. Dafür wird gut gezahlt. Bis vor einem halben Jahr gehörte sie als 2nd Officer zur Crew einer Superyacht. Der Monatsverdienst für diese Führungsposition an Bord liegt laut Yacht Crew bei bis zu 8 000 Euro im Monat – plus Trinkgeld, das mehrere Tausend Euro zusätzlich betragen kann. Jetzt hat sie eine einjährige Tochter, ist wieder an Land und arbeitet für eine Maklerfirma, wie sie es ausdrückt. Nur ernst zu nehmende Interessenten darf sie an Bord lassen. Und wie findet sie heraus, wer sich die Patience im Zweifel tatsächlich leisten kann und wer nur ein neugieriger Tourist ist? An der Kleidung? Sie schüttelt den Kopf. Sie habe schon Milliardäre in Klamotten von Target getroffen, einer Kaufhauskette. Die meisten verraten sich selbst. Etwa der angebliche Käufer, der »so an die 100 Leute« auf die Patience einladen wollte. Zugelassen sind auf privaten Yachten laut der US-Küstenwache maximal 12 Gäste plus Mannschaft. Wer mehr befördert, muss als Passagierschiff zugelassen werden. Was als Sicherheitsmaßnahme begann, macht die Luxusyachten heute noch exklusiver. Dieses Detail nicht zu kennen entlarvte den Mann als Möchtegern-Milliardär.

So beeindruckend die Superyachten sind, sie wirken plötzlich wie Beiboote, geht man den Steg des Yachthafens weiter entlang. Dort ragen die Gigayachten auf. Die Kismet, 95 Meter lang, und die Ahpo, mit 115 Metern fast so lang wie eine Fregatte der Marine, suchen auf der Messe neue Eigentümer. Beide stammen von der Lürssen Werft in Bremen-Vegesack, die auf diese schwimmenden Paläste spezialisiert ist, die zweite Sparte der Gruppe baut Kriegsschiffe und Patrouillenboote. (Die Eigentümerfamilie Lürßen hat es damit immerhin auf ein Vermögen von 800 Millionen Euro gebracht.)3

Vor der Kismet laden Crew-Mitglieder Bouquets mit frischen Orchideen aus. Sie gehört dem pakistanisch-amerikanischen Geschäftsmann Shahid Khan, der sein Vermögen mit Stoßstangen für Pick-ups gemacht hat. Auf ihr ist Platz für 12 Gäste und 28 Crewmitglieder, die ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen dürften.Die Ahpo ankert schräg gegenüber und hat offenbar bereits Interessenten an diesem Morgen. Sie kommen gerade die Gangway herunter, beide in Marina Casual, er in Shorts mit frisch gebügeltem hellem Hemd, sie im kurzen schwarzen Kleid, dazu offenbar Sohn und Tochter sowie verschiedene Berater im Schlepptau.

Noch gehört die Ahpo mit ihren verschiedenen Pools, Kino, Dancefloor und Schönheitssalon dem Milliardär Michael Lee-Chin, einem kanadischen Finanzier mit Wurzeln in Jamaika. Das Schiff, dessen Name sich auf Lee-Chins Großmutter bezieht, ist für 330 Millionen Euro zu haben. Das ist etwa 50 000-mal so viel, wie ein Normalverdiener in Lee-Chins Heimat Jamaika im Jahr verdient. Dafür gibt es den ultimativen Luxus. Für die Käufer ist es eine eigene schwimmende Insel, die garantiert, dass kein Unbefugter Zutritt erhält. Für den Rest der Welt ist es das ultimative Symbol für das Auseinanderbrechen unserer Gesellschaft.

Nicht nur haben die Vermögen neue finanzielle Dimensionen erreicht, die kaum mit dem menschlichen Verstand zu erfassen sind. Fundamental geändert hat sich auch, wie man reich wird. Jeff Bezos und Bill Gates, die Amazon respektive Microsoft in Garagen gründeten, zählen zu den reichsten Menschen der Welt. Doch ihre Milliarden verdanken sie schon längst nicht mehr ihrem unternehmerischen Einfallsreichtum, sondern den Mechanismen der Finanzmärkte. Zu den Superreichen gehören außerdem zunehmend Menschen, die kein Produkt erfunden, kein Start-up zum Großkonzern geführt haben, sondern die schlicht mit viel Geld immer mehr Geld scheffeln.

Das hat Folgen für den Rest der Menschheit. Es ist nicht nur die ungleiche Verteilung des Wohlstands. Es ist auch die ungerechte Zuteilung der Fortschrittsgewinne. Arbeitnehmer profitieren immer weniger von technologischen Errungenschaften und der Gründung neuer Unternehmen. Stattdessen sind sie allzu oft die Verlierer, wenn Innovationen die Automatisierung und den Verlust von Arbeitsplätzen vorantreiben, während die Gründer in die Vermögens-Stratosphäre abheben. Inzwischen hat die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit Ausmaße angenommen, die nicht nur unseren westlichen Lebensstandard, sondern auch unsere Demokratie, ja schließlich unsere Existenz auf diesem Planeten gefährden.

Dabei macht die Ungleichheit auch vor den Reichen nicht halt. Wealth-X, eine Marktforschungsfirma, durchleuchtet die Superreichen und gibt einmal im Jahr den Billionaire Census heraus. Der Sinn, in den Worten der Herausgeber: »Die umfassende Datenbank von Wealth-X bietet einen unübertroffenen Einblick in den Status der weltweit vermögendsten Personen und ihre Eigenschaften, was sie zu einer unverzichtbaren Lektüre für alle Anbieter macht, die sich um Personen aus dieser außerordentlich exklusiven Gruppe bemühen und mit ihnen in Kontakt treten wollen.«4

Diesem Billionaire Census zufolge konzentriert sich immer mehr Vermögen an der Spitze. »Die Milliardäre machen weniger als 1 Prozent der weltweiten Superreichen aus, besitzen jedoch 24 Prozent des Gesamtvermögens dieser Gruppe«, heißt es dazu in dem Bericht von 2023. Das bedeutet im Klartext: Die Milliardäre lassen nicht nur Normalsterbliche immer weiter hinter sich, sondern auch Reiche. Was die Verteilung des Reichtums unter den Milliardären betrifft, so gehört etwas mehr als die Hälfte zur »untersten« Vermögensstufe der Milliardäre, mit einem Nettovermögen von »nur« ein bis zwei Milliarden Dollar. Ein weiteres Drittel verfügt über ein Nettovermögen von zwei bis fünf Milliarden Dollar. Zusammengenommen kontrolliert diese Kohorte von 85 Prozent der Milliardäre weniger als die Hälfte des gesamten Milliardärsvermögens.

Die Konzentration an der Spitze dieser Pyramide hat ebenfalls zugenommen: 2016 verfügten die Super-Milliardäre, wie Wealth-X Personen mit mehr als 50 Milliarden Dollar Vermögen nennt, über rund vier Prozent des gesamten Vermögens aller Milliardäre. Nur drei Jahre später belief sich ihr Anteil bereits auf elf Prozent. Und im Jahr 2021 gehörten den reichsten 20 Individuen 17 Prozent des Milliardärsvermögens.

In diesem Buch geht es um einzelne Superreiche. Sie stehen beispielhaft für ihre Klasse, denn Milliardäre haben enormen Einfluss auf Umwelt, Wirtschaft, Finanzen, Politik, Kultur, Sport, Medizin – ja, eigentlich fällt einem kein Bereich ein, in dem sie nicht eine Rolle spielen. Und es ist wichtig, ihre Rollen zu beleuchten. Aber es geht auch um die Mechanismen, die Superreiche hervorbringen, und welche Folgen diese für uns alle haben. Darum, was sie in unserer Welt tun und ihr antun. Worum es nicht geht: Was Milliardäre uns erzählen wollen. Ihnen stehen genügend Möglichkeiten zur Verfügung, ihre Ansichten kundzutun. Vielen gehören ganze Zeitungshäuser und TV-Stationen. Und sie haben überall das Ohr der Politik.

Wer wird Milliardär? Auf diese Frage gibt es eine kurze Antwort: wer die Kunst des Abkassierens beherrscht. Und eine umfangreichere in diesem Buch.

1 SIE SIND WENIGE …

Einführung

Unsere Milliardäre – ihre Meilensteine, Listen und Chronisten, der gefühlte Reichtum des Donald J. Trump und sehr großzügige Schwiegerväter

REICH WIE ROCKEFELLER

Als ein Millionär noch als reich galt, schwang John Travolta zu Night Fever die Hüften und ein rauchender Sitznachbar im Flieger war kein Grund zur Panik. Wer sich heute wirklich zu den Reichen der Welt zählen will, muss schon mindestens eine Milliarde, also 1 000 000 000 Dollar angehäuft haben. Eine Milliarde – tausendmal eine Million – ist schwer vorstellbar. Würde man täglich 100 Dollar zur Seite legen, bräuchte man 27 397 Jahre, um eine Milliarde zusammengespart zu haben. Das Sparbuch müsste von Nachkommen über 304 Generationen aufgefüllt werden. (Ohne Zinsen.) Oder so: Eine Million Sekunden sind 11 Tage, eine Milliarde Sekunden sind 31,7 Jahre. Solche Rechnungen sollen helfen, die Zahl anschaulich zu machen. Eine Vorstellung, was es heißt, über so viel Geld zu verfügen, geben sie nicht.

Der Mann, der 1916 als Erster diese Schallgrenze des Reichtums – gemessen in US-Dollar – durchbrach, war John D. Rockefeller. Eine Summe, die damals noch astronomischer gewirkt haben muss als heute. Schließlich belief sich das durchschnittliche Haushaltseinkommen in den USA 1915 laut der US-Censusbehörde auf 687 Dollar – im Jahr. Ein Brot kostete sieben Cent, ein Dutzend Eier 34 Cent und ein Einfamilienhaus 3 200 Dollar. Sein Vermögen hatte Rockefeller gescheffelt, indem er den wachsenden Markt für Petroleum monopolisierte – und dabei zu Machenschaften griff, die man durchaus kriminell nennen kann.1

Es sollten 83 Jahre vergehen, bis Microsoft-Gründer Bill Gates 100 Milliarden Dollar anhäufte und damit den nächsten Meilenstein der Milliardärsgeschichte erreichte. Wie einst Rockefeller den wachsenden Bedarf an Öl für die Wirtschaft erkannt und ausgenutzt hatte, so erkannte Gates den Bedarf an Software. Seine Betriebssysteme halfen, Computer zum wichtigsten Arbeitsgerät in den Büros zu machen. Und wie bei Rockefeller sah sich Gates‹ Unternehmen mit Monopolvorwürfen konfrontiert. In den 90er-Jahren kam es deshalb zu jahrelangen Gerichtsverfahren, bei denen Gates sich als unwilliger Zeuge zeigte. So oft gab der Unternehmensgründer an, sich nicht erinnern zu können, dass ihn die Businessweek »Teflon Bill« taufte und laut Bericht der Reporter damals sogar der Richter schließlich über den Microsoft-Boss mit den angeblichen Erinnerungslücken lachte.2

Schließlich einigte sich Microsoft 2002 mit den US-Behörden auf einen Vergleich. Gates, der sich sechs Jahre später von Microsoft verabschiedete, war von 1995 bis 2017 der reichste Mann der Welt (mit Unterbrechungen). Dann löste ihn Jeff Bezos ab. Der Amazon-Gründer erreichte den nächsten Meilenstein: Im August 2020 verfügte er über ein Vermögen von mehr als 200 Milliarden US-Dollar. Das verdankte Bezos letztlich der Pandemie. Während der wochenlangen Lockdowns vor allem in den wohlhabenden Regionen USA und Europa nahm Onlineshopping neue Dimensionen an, und Amazon – und damit auch der Aktienkurs des E-Commerce-Giganten – profitierte davon. Bezos wäre noch reicher, hätte er sich nicht von seiner Frau MacKenzie Scott scheiden lassen, mit der er einst Amazon aufgebaut hatte. Sie erhielt 25 Prozent von Bezos‹ Amazon-Anteilen, wurde selbst zur Multimilliardärin und ist heute eine der reichsten Frauen der Welt. Doch wie um vorzuführen, dass die Krisen der Menschheit die Superreichen nicht nur verschonten, sondern im Gegenteil deren Vermögen in neue Dimensionen schickten, wurde Bezos schon wenige Monate später von Elon Musk überholt. Dessen Vermögen schwoll im November 2021 auf die geradezu fantastische Summe von 340 Milliarden Dollar an – und hätte damit fast der Jahreswirtschaftsleistung von Musks Geburtsland Südafrika entsprochen. Angefeuert wurde sein Durchmarsch zum Spitzenplatz vom Hype um den E-Autobauer Tesla, an dem er als Investor und CEO große Anteile hält. Eine kurze Zeit flirteten Musks Bewunderer, die sich Musketeers nennen, sogar mit der Idee, Musk könnte der erste Billionär werden, 1 000 Milliarden Dollar privates Vermögen schienen ihnen offenbar ein gerechter Lohn für ihren Tech-Visionär.3 Der Absturz der Tesla-Aktien – dazu später mehr – reduzierte Musks Vermögen 2022 wieder auf das Maß eines »normalen« Multimilliardärs.

AUS DER KURVE GEFLOGEN

Während der Pandemie erreichte im Schnitt alle 30 Stunden ein bis dahin nur Superreicher den Milliardärsstatus, wie die Armutsbekämpfungsorganisation Oxfam errechnete. Gleichzeitig starben Millionen Menschen, die keinen Zugang zu Impfungen und zu medizinischer Versorgung hatten, manche buchstäblich, weil sie sich den Sauerstoff zum Atmen nicht leisten konnten. Die durch Covid-19 ausgelöste Krise hat die Umverteilung von unten nach oben noch einmal beschleunigt.

Dass dies viele empört, aber nicht mehr sonderlich überrascht, liegt nicht zuletzt an Thomas Piketty. Der gebürtige Pariser war bis 2013 vornehmlich unter Ökonomen als rising star bekannt. Außerhalb der akademischen Zirkel sagte der Name jedoch kaum jemandem etwas. Das änderte sich schlagartig vor rund zehn Jahren. 2013 veröffentlichte Piketty ein Buch mit dem Titel Das Kapital im 21. Jahrhundert zunächst auf Französisch, im März 2014 erschien die englische Übersetzung, Mitte 2014 lag das Buch auch auf Deutsch vor. Trotz des Bezugs zu Karl Marx‹ Das Kapital war es nun nicht gerade ein einladender Titel, zumal das Werk rund 700 Seiten umfasst. Doch dann passierte das Ungeheuerliche: Der Wälzer mit dem schlichten beigen Umschlag wurde zu einem globalen Bestseller. Bis heute sind mehr als 2,5 Millionen verkauft worden.

Piketty hatte einen Nerv getroffen. Er hatte ein Gefühl, das viele Menschen hatten, mit Statistiken und Formeln belegt und mit den Mitteln der Wissenschaft bestätigt. Es war das Gefühl, dass eine kleine Gruppe von Menschen immer reicher wird und der Rest bestenfalls auf der Stelle tritt. Es ist sicher kein Zufall, dass Pikettys Durchbruch nicht lange nach der Finanzkrise 2008 kam. An den Folgen dieses Zusammenbruchs hatten die Normalverdiener noch ein Jahrzehnt später zu tragen, erst im Jahr 2014 waren die in der Great Recession vernichteten Arbeitsplätze wieder wettgemacht. Dagegen ging es für die Banker, Broker und Großanleger an der Börse bereits ab 2009 wieder stetig aufwärts.

Was aber war die Entdeckung von Piketty, die diese Aufregung auslöste?

Piketty hatte – zusammen mit anderen Kollegen – Steuerunterlagen und andere Quellen aus über 250 Jahren durchforstet, um Daten über die Entwicklung von Vermögen und die Verteilung von Vermögen zu erhalten. Seine Erkenntnis: Die Ungleichheit der Vermögensverteilung hat seit Beginn des 20. Jahrhunderts zugenommen. Der Anteil der reichsten 1 Prozent am Gesamteigentum sei derzeit zweimal geringer als vor einem Jahrhundert, aber er bleibe gleichwohl fünfmal höher als der, den die ärmsten 50 Prozent halten.

Und sein provokanter Schluss daraus: Diese steigende Ungleichheit sei kein Zufall und keine Fehlentwicklung des Kapitalismus, sondern eine Funktion des Systems. Wenn die Wirtschaft langsamer wachse als die finanziellen Erträge, werde das ererbte Vermögen im Durchschnitt »das Vermögen, das durch die Arbeit eines ganzen Lebens angehäuft wurde, mit großem Abstand übertreffen«, so Piketty. Bis der Reichtum eine so hohe Konzentration erreicht, dass sie mit der Demokratie unvereinbar ist, geschweige denn mit sozialer Gerechtigkeit. Kurz gesagt, der Kapitalismus schafft automatisch unhaltbare Ungleichheiten. Nur durch den Eingriff des Staates könne wieder ein soziales Gleichgewicht hergestellt werden.

Kritiker – vor allem in den USA – schmähten das Buch und seinen Autor prompt als neomarxistisch. Zudem habe Piketty Datenquellen selektiv genutzt, so der Vorwurf, in Wirklichkeit sei die Ungleichheit gar nicht so dramatisch angestiegen. Tatsächlich beziehen sich Pikettys Daten häufig auf Frankreich, beanspruchen aber auch globale Geltung. Er selbst räumt ein, dass sozioökonomische Datenreihen dieser Art unvollkommen und immer weiter zu verbessern seien. Nach Piketty zeigen sie, dass der globale Fortschritt der Gleichheit kein Selbstläufer ist, sondern immer nur ein Resultat von Auseinandersetzung zwischen denen, die Ungleichheit bekämpfen und denen, die sie legitimieren wollen.

Um die Aufregung der überzeugten freien Marktwirtschaftler über Piketty zu verstehen, muss man das Werk eines anderen Volkswirts kennen. Simon Kuznets, geboren 1901 in Belarus, das damals noch zum russischen Reich gehörte. 1922 wanderte seine Familie in die USA aus, und der junge Simon studierte an der New Yorker Columbia University. Sein Beitrag zum Verständnis der modernen Volkswirtschaft war es, deren Thesen empirisch zu beleuchten, wofür er 1971 den Nobelpreis erhielt.

Aus seinen Beobachtungen folgerte er, dass in der ersten Phase der Industrialisierung einer Volkswirtschaft die Ungleichheit zunächst ansteige, um dann aber über einen längeren Zeitraum wieder zu fallen. Er bildete diesen Zusammenhang in der sogenannten Kuznets-Kurve ab.

Kuznets eigenes Erleben schien das zu bestätigen. Aufgewachsen noch in der zweiten Industrialisierungswelle, als die Trusts und Monopole unter anderem Rockefeller reich machten, erlebte Kuznets später als Erwachsener die Nachkriegszeit, die in den USA mit dem Aufstieg einer breiten Mittelschicht einherging. Die Kuznets-Kurve wurde von den meisten Wirtschaftswissenschaftlern noch bis in die 70er-Jahre akzeptiert. Doch mit dem Wiederanstieg der Ungleichheit wuchsen auch die Zweifel an Kuznets‹ behaupteter Gesetzmäßigkeit. Seine Ideen waren auch deshalb bei den freien Marktwirtschaftlern und konservativen Politikern beliebt, weil sie eine beruhigende und bequeme Botschaft beinhalten. Demnach würde sich das Problem der Ungleichverteilung mit der Zeit von selbst erledigen.

Kuznets‹ These gab Politikern einen Freifahrtschein, die wachsende Ungleichheit in den Industrieländern zu ignorieren. Ohne höhere Steuern für Vermögende und Unternehmen, ohne eine erzwungene staatliche Umverteilung. Piketty und seine Mitarbeiter bestätigten die Zweifler, indem sie den Beweis erbrachten, dass Kuznets‹ Annahme falsch ist.

Von Karl Marx unterscheidet den Franzosen, dass Ersterer in den Missständen des Kapitalismus vornehmlich ein Problem der Verteilung von Produktionsmitteln sieht. Dagegen stellt Piketty das System nicht grundsätzlich infrage. Er reiste nach dem Mauerfall in die ehemaligen Ostblockländer und urteilte, man könne ein solches System des Mangels nicht verteidigen, wie er in einem Interview mit dem Guardian erklärte.4 Er will stattdessen Einkommen und Vermögen gerechter verteilen.

Pikettys Blick sieht die wachsenden Vermögensunterschiede zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen dabei nur als einen Teil des Problems. In seinem Werk widmet Piketty auch der globalen Dimension von Ungleichheit breiten Raum. Ausführlich beschreibt er, wie Europa und die USA über Jahrhunderte hinweg die Rohstoffe und Arbeitskraft afrikanischer, südamerikanischer und asiatischer Länder ausbeuteten. Sklavenhandel sowie Militär- und Kolonialherrschaft seien bis heute für ein System internationaler Arbeitsteilung verantwortlich, das den reicheren Ländern nutzt und den ärmeren schadet, fasst er es zusammen. Sogar über Reparationszahlungen sinnierte er in dem Zusammenhang. Fest steht: Piketty und seine Mitstreiter produzierten damit sozialen Sprengstoff, der bis heute nichts an Brisanz verloren hat.

Zwar hat sich das Gefälle zwischen den Industrienationen und dem Rest der Welt etwas verringert, seit Pikettys Buch erschienen ist. So war das durchschnittliche Einkommen der reichsten zehn Prozent der Nationen und das in den 50 Prozent der ärmsten Länder vor rund 20 Jahren 50-mal so hoch. Heute ist es »nur« noch 40-mal so hoch. Das jedenfalls ist ein Ergebnis der Erhebung von Piketty und den Autoren des World Inequality Report, der zuletzt 2022 erschien. Angesichts der steigenden Zahl von Milliardären in Schwellen- und Entwicklungsländern wenig überraschend, ist gleichzeitig die Schere der Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb der einzelnen Länder dagegen weiter aufgeklafft. So hat sich der Abstand zwischen den durchschnittlichen Einkommen der oberen zehn Prozent der Einkommensempfänger zu den durchschnittlichen Einkommen der unteren 50 Prozent der Einkommensempfänger fast verdoppelt. Vor 20 Jahren verdienten die Reichsten demzufolge im Durchschnitt 8,5-mal so viel wie ihre ärmsten Landsleute. Heute ist es 15-mal so viel. »Die globale Ungleichheit scheint heute etwa genauso groß zu sein wie zu Zeiten des westlichen Imperialismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts«, so Piketty und seine Mitstreiter.5 Demnach entspricht der Anteil am Einkommen, der an die ärmsten 50 Prozent der Weltbevölkerung geht, nur noch der Hälfte von deren Anteil im Jahr 1820. In anderen Worten, Kuznets‹ Kurve trifft zu – wenn man sie auf den Kopf stellt.

DIE LISTE DER 400 UND DIE BIBER

Weder Krieg noch Pandemie können den Trend offenbar stoppen. Jahr für Jahr gibt es mehr Milliardäre – und nicht nur das: Sie werden auch immer reicher. Im Jahr 2022, dem zweiten Jahr der Pandemie, gab es 2 668 Milliardäre. Gemeinsam verfügten sie über 12,7 Billionen US-Dollar. Um diese Summe zu erwirtschaften, müssen statistisch gesehen 82 Millionen Menschen in Deutschland drei Jahre lang arbeiten.

Diese und unzählige weitere Zahlen zu den Reichsten der Reichen erhebt regelmäßig Forbes Magazine. Das US-Magazin gilt als die Autorität auf dem Gebiet, seine Reichen-Ranglisten werden inzwischen täglich aktualisiert.6

Die Forbes-Redakteure sind nicht nur die offiziellen Chronisten der 1 Prozent, des reichsten einen Prozents der Weltbevölkerung. Ihre Ranglisten dienen dem UHNW-Club auch als Mitgliedsnachweis: Wer dort nicht auftaucht, gehört nicht dazu. UHNW steht für Ultra High Net Worth und ist das gängige Kürzel, das Banker und Anlageberater für ihre exklusivste und begehrteste Klientel benutzen. Gegründet wurde Forbes von Bruce Charles Forbes, einem schottischen Einwanderer und Autor einer bekannten Finanzkolumne, zusammen mit einem Partner 1937 in – wo sonst? – New York. Ursprünglich hieß das Magazin Forbes: Devoted to Doers and Doings. Als Macher, denen die Postille gewidmet war, erkannte Forbes offenbar nur diejenigen an, die es zu monetärem Erfolg gebracht hatten. Das kam an beim Publikum, das den American Dream träumte, die Publikation machte Forbes selbst wohlhabend. Sein Sohn Malcolm war zunächst allerdings weniger ein Macher als ein Spendierer, er lebte gerne in Luxushotels, erwarb Yachten und Flugzeuge, sammelte Fesselballons und Fabergé-Eier wie einst die Zarin. Nach dem Tod seines Vaters und seines Bruders übernahm er 1957 die Führung des Familienverlags.

Wie seine Gründer sah sich Forbes, das Magazin, weniger als kritischer Begleiter von Business-Tycoons und Finanzmagnaten, sondern als Cheerleader des Kapitalismus. Malcolm war es auch, der 1981 die Idee hatte, regelmäßig ein Ranking der Reichen zu publizieren. Es war das Jahr, in dem Ronald Reagan das Präsidentenamt übernahm und der Mythos der absoluten Überlegenheit privaten Unternehmertums über staatliche Initiativen mit ihm ins Weiße Haus einzog. Forbes erteilte seinen Reportern die Aufgabe, eine Liste der 400 reichsten Amerikaner zusammenzustellen.7 Es war eine geniale Marketing-Idee, denn sie verband die Neureichen der Reagan-Jahre mit dem Nimbus des Gilded Age, des ersten goldenen Zeitalters New Yorks.

Die Zahl 400 geht auf Caroline Schermerhorn Astor zurück oder Mrs. Astor, wie die New Yorker High Society Ende des 19ten Jahrhunderts sie nannte. Es war die Zeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, als viele der Familien nach New York strebten, die im Mittleren Westen des Landes durch Landnahme, Minen oder Fabriken Geld angehäuft hatten. Wie viele der heutigen Milliardäre aus dem Mittleren Osten oder Lateinamerika mit Gewinnen aus ähnlichen Quellen, die sich Apartments und Stadtvillen in Manhattan kaufen, hofften die frischgebackenen Räuberbarone in der aufstrebenden Metropole auf mehr Gelegenheiten, um ihren neu erworbenen Status zu genießen und zur Schau zu stellen. Doch Mrs. Astor wollte von den Neureichen aus der Wildnis nicht viel wissen. Sie ließ der New York Times über eine Vertraute eine Liste mit 400 Namen zukommen, die aus Mrs. Astors Sicht zur feinen Gesellschaft zählten und auf eine Einladung in ihren Ballsaal hoffen durften. Astor gehörte schließlich zu den Dynastien des Alten Geldes. Die Tochter eines wohlhabenden Reeders, dessen Familie von den ursprünglichen niederländischen Siedlern abstammte, als die Hafenstadt noch New Amsterdam hieß, war mit dem Enkel von John Jacob Astor verheiratet. Er war der erste Multimillionär Amerikas. Er wurde 1763 als Johann Jakob Berg in Walldorf in der Kurpfalz geboren (heute besser bekannt als Sitz des Software-Riesen SAP, dessen Gründer Dietmar Hopp und Hasso Plattner beide Milliardäre sind). Berg ging erst nach London, wo er sich in ein angelsächsischer klingendes Astor umbenannte. Nach der Amerikanischen Revolution wanderte er in die junge US-Republik aus. Seinen Reichtum verdankte der umtriebige Neuankömmling, unterstützt von dem Gründervater und Ex-Präsidenten Thomas Jefferson, dem Pelzhandel. Pelze waren in Europa und Asien begehrt, vor allem das dichte, weiche und wasserabweisende Fell des amerikanischen Bibers. Astor zog exklusive Lieferketten mit Handelsposten in bis dahin kaum von Europäern betretenen Landstrichen im Nordwesten Nordamerikas auf. Seine Agenten tauschten die Pelze, die vor allem Angehörige der uramerikanischen Stämme erjagten, gegen billige Ramschwaren ein. So erzielte Astor traumhafte Margen, während die Biber nahezu ausgerottet wurden.8

Als er zunehmend Konkurrenz bekam, sattelte Astor um – unter anderem schmuggelte er Opium nach China. Er half damit britischen Händlern, die mit dem Erlös für die illegalen Drogen Tee und Porzellan erwarben. Gleichzeitig wurden Millionen Chinesen abhängig. Der Versuch der Qing-Dynastie, den fatalen Tausch zu unterbinden, führte 1839 zum Krieg. Die chinesische Niederlage drei Jahre später – mit durch die Opium-Epidemie verursacht – zwang das Reich der Mitte, sich den Kolonialmächten endgültig zu öffnen.9

Astor hatte da bereits seinen Schnitt gemacht. Mit den erzielten Gewinnen kaufte er Immobilien, ein Muster, das sich bei den Superreichen gehalten hat. Astors Spuren sind bis heute in New York zu finden. Da ist der Astor Place, dessen U-Bahn-Station mit Mosaiken von Bibern dekoriert ist. Da ist das Luxushotel Waldorf Astoria, dessen Name an seinen Geburtsort erinnert. Inzwischen hat es – ironische Wendung – erst eine chinesische Versicherung aufgekauft und renoviert, dann wurde es von der Volksrepublik direkt übernommen. Um Astors Erbe wurde noch in den 2000ern gerungen, als Anthony Marshall ins Gefängnis wanderte, nachdem er seine Mutter Brooke Astor, lange die Mrs. Astor der High Society des 20. Jahrhunderts, in den Jahren bis zu ihrem Tod nicht nur schwer vernachlässigt, sondern auch richtiggehend ausgeplündert hatte.10

Als diese tragische Fortsetzung der Astor-Saga sich abspielte, waren die Forbes-Reichenlisten längst zu einer eigenen Institution geworden. Wenn Journalisten – egal wo in der Welt – über Superreiche berichten, dann berufen sie sich fast immer auf Forbes. Das Wirtschaftsmagazin hat eine eigene Redaktion eingerichtet, die sich nur darauf konzentriert, das Auf und Ab der Vermögen der oberen Zehntausend zu verfolgen. Die Journalisten wühlen sich durch Pflichtmeldungen an die Börsenaufsicht, Unternehmenspublikationen, Gerichtsdokumente, Presseartikel anderer Medien. Aus ihren Quellen stellen sie eine Liste der Vermögenswerte der betreffenden Person zusammen: Immobilien, Aktien, Firmenanteile, Kunst, Yachten, Preziosen und was der schönen und wertvollen Dinge mehr sind.

Die Milliardärslisten haben geldwerte Vorteile für diejenigen, die dort auftauchen. Sie schaffen Vertrauen bei Geschäftspartnern, Investoren und Kreditgebern. Deswegen kann man schon verstehen, dass etwa Donald Trump darauf besteht, ein Milliardär zu sein, wenn auch möglicherweise nur gefühlt. Jenseits der Fiktion steht fest, dass Trump in den 80er-Jahren die wirtschaftliche Erholung in New York City und einige Steuersubventionen – sein Vater Fred verfügte über die notwendigen Beziehungen – zum Aufbau seines Geschäfts nutzte. Bald stand er im Ruf, ein goldenes Händchen für Immobilien zu haben. Seine New Yorker Erfolge verführten Trump, groß ins Casino-Geschäft im Ostküsten-Spielerparadies Atlantic City einzusteigen. Er ignorierte die Anzeichen einer aufziehenden Rezession und eröffnete 1990 dort das Taj Mahal. Die Baukosten für das »achte Weltwunder«, wie Trump es nannte, beliefen sich auf eine Milliarde Dollar. Bereits ein Jahr nach der Eröffnung ging das Casino in die Insolvenz.

Die Gläubiger hätten am liebsten das Casino liquidiert und die Reste unter sich verteilt. Für Trump wäre es die ganz große Blamage als Geschäftsmann gewesen. Doch Wilbur Ross, der eine Gruppe von Kreditgebern vertrat, argumentierte, das Taj Mahal sei mehr wert, wenn Trump mit seinem glamourösen Image als Immobilienmogul an Bord bliebe. So durfte Trump 25 Prozent Eigentumsanteil behalten – ein Zugeständnis, das es ihm ermöglichte, bis heute zu behaupten, er persönlich sei nie in Konkurs gegangen. Mitarbeiter, Handwerker, Anleger und Steuerzahler trugen die Verluste. Trump lernte aus dem Debakel, dass sein Name seinen wichtigsten Wert darstellt. Als er später Präsident wurde, machte Trump seinen einstigen Retter Ross zum Wirtschaftsminister. Weil dieser bei der Amtsübernahme seine Finanzen öffentlich ausweisen musste, stellte sich heraus, dass Ross entgegen seinen jahrelangen Behauptungen gar kein Milliardär war, sondern »nur« 600 Millionen sein Eigen nannte. Die Forbes-Redakteure waren nicht glücklich.11 Auch an Trumps Milliardärsstatus gab es immer wieder Zweifel. Nach dem Casino-Debakel mit dem Taj Mahal lehnten die namhaften Banken eine Zusammenarbeit mit Trump ab. Bis auf eine Ausnahme: die Deutsche Bank. Es brauchte den Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021, als ein von Trump angefeuerter Mob einen undemokratischen Umsturz in Washington versuchte, um das Verhältnis endgültig zu lösen. Dabei behandelte Trump die Frankfurter alles andere als fair. Im Jahr 2004 etwa behauptete Trump gegenüber der Bank, sein Nettovermögen betrage etwa drei Milliarden US-Dollar. Aber als Bankangestellte seine Finanzen überprüften, kamen sie zu dem Schluss, dass sein Vermögen etwa 788 Millionen Dollar wert war. Das geht aus Dokumenten hervor, die im Zusammenhang mit einer Klage vorgelegt wurden, die Trump gegen Timothy O’Brien, einen ehemaligen Journalisten der New York Times, eingereicht hatte. Die Bank gab Trump dennoch die Kredite, um den 92 Stockwerke hohen Trump Tower in Chicago zu bauen. Während Forbes Trump damals ein Vermögen von 2,7 Milliarden US-Dollar berechnete, kam O’Brien in einem 2005 veröffentlichten Buch auf gerade einmal 150 bis 250 Millionen Dollar. Trump verklagte den Autor wegen Rufschädigung auf Schadenersatz in Höhe von fünf Milliarden Dollar. »Ich bin ein Milliardär«, sagte ein empörter Trump bei der Verhandlung im Dezember 2007.12

»Wenn Sie Tim O’Briens Artikel lesen und was dann in der New York Times publiziert wurde, würden Sie das natürlich nicht glauben. Aber ich bin ein mehrfacher Milliardär, konservativ geschätzt.« Und das Buch habe ihn Geschäfte gekostet, fügte er hinzu. »Ich habe Geschäfte verloren. Ich habe deswegen bestimmte Geschäfte verloren.« Während seiner gesamten Aussage diskutierte Trump mit O’Briens Anwalt Andrew Ceresney darüber, wie der Immobilienmagnat seinen Wert ermittelte.

TRUMP: »Mein Vermögen schwankt, und es geht mit den Märkten und mit Einstellungen und Gefühlen auf und ab, sogar mit meinen eigenen Gefühlen.«

CERESNEY: »Lassen Sie mich das ein wenig verstehen. Sie sagten, Ihr Vermögen geht je nach Ihren eigenen Gefühlen hoch und runter?«

TRUMP: »Ja, meine eigenen Gefühle, wo die Welt steht, wohin die Welt geht, und das kann sich von Tag zu Tag schnell ändern …«

CERESNEY: »Wenn Sie öffentlich eine Nettovermögenszahl angeben, worauf stützen Sie diese Zahl?«

TRUMP: »Ich würde sagen, auf meine damalige allgemeine Einstellung, als die Frage gestellt wurde. Und wie gesagt, es ist unterschiedlich.«

Obwohl Trump einräumte, dass er O’Brien Jahresabschlüsse vorgelegt hatte, die sein Vermögen in Höhe von 3,6 Milliarden Dollar belegen sollten, reklamierte er in der Verhandlung, die tatsächliche Zahl habe eher bei sechs Milliarden Dollar gelegen. Denn:

»Diese Aussagen … haben nie den Wert der Marke eingeschlossen. Und es gibt diejenigen, die sagen, die Marke sei sehr, sehr wertvoll«, sagte Trump.

Trump scheiterte übrigens auch in der Berufung.

So ganz allein von den Stimmungen hat er sich vielleicht doch nicht leiten lassen. In einem Ermittlungsverfahren der Generalstaatsanwältin von New York ging es später um den Vorwurf, Trump und sein Unternehmen hätten etwa Immobilien gegenüber Kreditgebern und Geschäftspartnern eher hoch und dem Finanzamt gegenüber eher tief bewertet. Trump und seine Kinder, Ivanka, Don Jr. und Eric, bestreiten dies. Das Verfahren läuft noch (Mai 2023).13

UNSERE NEUEN VOLKSHELDEN?

Die Popularität von Reichenlisten wird nur noch durch die fiktiven Milliardäre übertroffen. Es ist eine rhetorische Frage, die so mancher libertäre Milliardär in den USA gerne stellt: »Seit wann ist es ein Verbrechen in diesem Land, erfolgreich zu sein?« In diesem Fall stellt sie Bobby Axelrod, ein New Yorker Hedgefonds-Manager, der nicht immer auf der richtigen Seite des Gesetzes bleibt. Wobei die Grenze zwischen Licht und Schatten in seiner Welt der Hochfinanz und politischen Power Player sowieso grau verwischt ist. Wenn es dann doch seiner Nemesis Chuck Rhoades, einem ebenso zwielichtigen wie ehrgeizigen Staatsanwalt, gelingt, Axelrod in die Enge zu treiben, gibt der sich abgebrüht: »Was ist der Sinn von ›Fuck you Money‹, wenn ich nicht ›Fuck you‹ sagen kann? Also: ›Fuck you!‹«

Die beiden Kontrahenten sind die Protagonisten der ersten Staffeln der TV-Serie Billions, die seit 2016 ausgestrahlt wird. Manche Kritiker bemängelten die angeblich übertriebene Darstellung der ruchlosen Finanzbranche in der Serie, doch wer die Wall Street kennt, hat zumindest ähnliche Sprüche schon öfter gehört. (Ironischerweise überholte im selben Jahr, als die Serie Premiere feierte, die Wirklichkeit alle Seifenopern: Trump, Reality-TV-Star und nach eigenen Angaben Multimilliardär, wurde zum US-Präsidenten gewählt.) Dass es Billions – wenn auch inzwischen mit neuen Antihelden – in dieser Zeit der kurzen Aufmerksamkeitsspannen inzwischen bis zur siebten Staffel geschafft hat, überrascht jedoch nicht. Denn der Blick durchs Schlüsselloch in die Welt der Finanz-Titanen, und seien sie bloß fiktiv, fasziniert ihre Fans wie ihre Gegner. Echte wie fiktive Milliardäre sind die Stars unseres neuen Gilded Age, wie die Epoche der amerikanischen robber barons genannt wird, der Räuberbarone der Industrialisierung wie Rockefeller, Stahlmagnat Andrew Carnegie oder der Eisenbahn-Mogul und Finanzier Jay Gould.

Selbst in der Welt der Superhelden spielen die Superreichen mit. Während Superman nur ein unbedeutender Zeitungsreporter ist, der sich in Telefonzellen quetschen muss, um in seinen Heldenanzug zu wechseln, wird etwa Batman zwischen seinen Rettungseinsätzen für die Menschheit in seinem Luxusanwesen hoch über Gotham City – der Comic-Version von New York – von seinem treuen Butler verwöhnt. Bekanntlich steckt unter Batmans Fledermausohren Bruce Wayne. Wayne ist ganz klassisch zu seinem Vermögen gekommen: Seine Eltern haben ihm Anteile an den wertvollsten Megakonzernen der Welt vermacht, und offenbar hatte Wayne noch genug Zeit, neben seinen Spritztouren mit Robin und dem Bat-Mobil seinen Reichtum kräftig zu vermehren. Jedenfalls begann der Comic-Held in der ersten Folge 1939 noch als einfacher Millionär.14

Wayne alias Batman ist nicht der einzige Milliardär unter den maskierten Rettern der Welt. Noch reicher ist Tony Stark, Ironman. Die beiden unterscheiden sich jedoch.15 Während Wayne sein Erbe lediglich bestmöglich verwaltet, ist Stark als Chef von Stark Industries direkt für den Erfolg der Unternehmung verantwortlich. Seine Erfindungen machen ihn reich und beglücken die Menschheit. Ironman hat einen Superfan: Elon Musk. Der findet sich offenbar so sehr in dem Typus des Super-Entrepreneurs verkörpert, dass er die Comic-Figur zu seinem Doppelgänger erklärt hat. Musk durfte sich selbst in Iron Man 2 spielen, nachdem er Regisseur Jon Favreau die Anlagen seines Raketenbau-Unternehmens SpaceX umsonst zur Verfügung gestellt hatte. Zuletzt sind die Parallelen zu Musk allerdings eher beunruhigend. Stark hat viel Geld verloren, weil er versucht, Waffen aus den Händen von Superbösen zurückzukaufen. Auch muss Stark die Opfer entschädigen, die bei der Explosion seines Anwesens, des Avenger Mansion, zu Schaden kamen. Nicht nur dieses hat er verloren, sondern auch den Avengers-Turm und die Strandvilla. Doch als seine Anwältin sich wegen der möglichen Pleite sorgt, zeigt sich Tony zuversichtlich: Er werde einfach schnell etwas erfinden, kein Ding!

KISS ME, I’M A BILLIONAIRE!

Mit Romanen über Milliardäre könnte man inzwischen ganze Bibliotheken füllen. Wer etwa unter der Rubrik Bücher die Stichwörter »Milliardäre« und »Romanze« eingibt, erhält mehr als 50 000 Treffer. Darunter die Billionaires Club-Serie sowie Werke wie den Broody Billionaire, das auf dem Cover den muskulösen Oberkörper eines jungen Mannes im Muscleshirt zeigt. Vor allem Frauen lesen offenbar gerne Geschichten über attraktive Männer mit Moneten, die sich in die meist junge, schöne und mittellose Protagonistin verlieben. Die Bücher folgen einem Schema: Der Milliardär verfügt zwar über schier unbegrenzte finanzielle Mittel, doch sein Privatleben ist problematisch. Die junge Frau wiederum, oft auf der Suche nach einem dringend benötigten Job, hat den Gefühlsreichtum, um dessen notleidende Seele aufleben zu lassen. Man kann darüber lächeln, aber die Sehnsucht nach finanzieller Stabilität und einem Partner, der diese bietet, ist in diesen Zeiten wackliger Arbeitsverhältnisse und unsicherer Altersversorgung besonders für Frauen durchaus nachvollziehbar.

Beunruhigender ist jedoch, dass sich die Seelenpein der Milliardäre oft in einer Neigung zur Dominanz bis hin zum Sadismus äußert. Das Werk, das eine Art Urfaust des Genres bildet, ist 50 Shades of Grey. Es ist das Produkt der erotischen Fantasie von Erika Mitchell, einer britischen Drehbuchautorin, die es unter dem Pseudonym E.L. James schrieb. Was als anregendes Hobby begann, wurde 2011 zum Bestseller. Es geht darin um Christian Grey, 27 Jahre alt und bereits Chef von Grey Enterprises Holdings, einem Konzern, der irgendwas mit Telekommunikation macht. Die Geschichte spielt im nebelig geheimnisvollen Nordwesten der USA, in Seattle. Grey steht auf Sadomasochismus, mit ihm in der dominanten Rolle. Die Protagonistin ist Anastasia Steele, eine Studentin, die Grey für eine Hausarbeit interviewt. Zwar wird Steele von Grey gezüchtigt und gedemütigt, aber sie erkennt, dass er der eigentlich Schwächere ist. »Armer fucked-up perverser, wohltätiger Christian«, lässt Mitchell sie einmal denken.

Mitchell zeigt sich gelegentlich überrascht über ihren Erfolg. Sie sei schließlich nicht die Einzige, die solche sexy Schmöker geschrieben habe. Eine Erklärung für den Erfolg von 50 Shades und den Nachahmerinnen ist sicherlich die dominante Rolle, die Amazon in der Verlagswelt spielt.

Jeff Bezos hatte Amazon 1994 in der Garage seiner Eltern gegründet – sie liehen ihm dazu noch 245 000 US-Dollar für sein Start-up. Bücher waren Bezos‹ erstes Produkt. Nicht etwa, weil der Gründer ein besonderes Interesse an Literatur gehabt hätte. Der ehemalige Hedgefonds-Manager fand lediglich, dass sie am einfachsten zu verschicken waren und damit eine gute Möglichkeit, seine Ideen für einen Onlinehandel auszuprobieren.

Zu seinem Geschäftsmodell, das so gerne als Ergebnis digitalen Fortschritts gelobt wird, gehörte nicht zuletzt das Ausnutzen einer Lücke in den US-Steuergesetzen. Wenn er seine Pakete aus einem anderen Bundesstaat abschickte, dann konnte der Bundesstaat, in dem der Empfänger wohnte, keine Umsatzsteuer erheben. Anfänglich etablierte Amazon seinen Vertrieb deshalb außerhalb von New York und Kalifornien, wo die meisten Kunden lebten. So war Amazon bis zu zehn Prozent billiger als die lokale Konkurrenz. Für den bereits unter dünnen Margen leidenden Buchhandel war das besonders verheerend.16 Später, als es für Amazon wichtig wurde, schneller zu liefern, um gegen lokale Geschäfte bestehen zu können, änderte der Onlinehändler seine Strategie und eröffnete Logistikzentren nahe oder sogar in den urbanen Zentren. Damit wurden die Artikel auch steuerpflichtig. Gleichzeitig setzte sich Bezos‹ Unternehmen nun dafür ein, die Umsatzsteuer flächendeckend auch für Onlineanbieter einzuführen, um so zu verhindern, dass andere E-Commerce-Konkurrenten die Lücke nutzten. Inzwischen stellen Bücher nur noch einen kleinen Teil von Amazons Angebot dar. Im Jahr 2022 machten sie lediglich zehn Prozent des Umsatzes von über 500 Milliarden Dollar aus. Doch das reicht aus, um innerhalb der Verlagsbranche der 800-Pfund-Gorilla zu sein, an dem niemand vorbeikommt. Laut einer Erhebung der Statistik-Webseite Statista im August 2022 kauften 67 Prozent der befragten Käufer in den USA Bücher bei Amazon, in Deutschland waren es 62 Prozent – und in der Schweiz lediglich 33 Prozent.17 Die Dominanz von Amazon erklärt sich durch die Bandbreite des Angebots. Dazu zählen nicht nur mehr als ein Dutzend eigener Verlage, sondern auch Audible, der größte US-Hörbuchverlag, sowie Goodreads, ein Buchkritik-Netzwerk. Und Amazons Kindle ist weltweit die populärste E-Book-Plattform. 50 Shades of Grey habe eine enorme Rolle dabei gespielt, »Amazons zerstörerischen, hyper-kapitalistischen, Algorithmus-getriebenen Buchhandel« zu konsolidieren, schrieb die Literaturkritikerin Lydia Kiesling einmal in der New York Times. Damit helfen erfundene Milliardäre dem ganz realen Milliardär Jeff Bezos, noch reicher zu werden.18

Wer jedoch die Romane, TV-Serien und Zeitungskolumnen und deren schier endlose Faszination für die Superreichen, fiktiv oder real, übertrieben findet, irrt sich gewaltig. Sie sind nur ein Ausdruck der Tatsache, dass wir uns ihrem Einfluss fast nirgendwo entziehen können.

»VOM TELLERWÄSCHER ZUM MILLIONÄR« UND SONSTIGE MÄRCHEN

Bei den meisten Milliardären sitzt die Überzeugung tief, dass ihnen ihr Reichtum nicht bloß so zugeflogen sei und sie keinesfalls lediglich, wie Warren Buffett es einmal bissig ausdrückte, »Mitglieder des glücklichen Sperma-Clubs und Gewinner der Eierstock-Lotterie« seien.19 So tief, dass nicht wenige Superreiche sich bemüßigt fühlen, ihre Erfolgsgeschichten und Einsichten mit den weniger Betuchten zu teilen.

Selten tun sie dies allerdings mit Pressevertretern, die mitunter unangenehme Fragen stellen. Lieber schreiben sie ihre Bekenntnisse in Buchform auf. Wie die Milliardärsromane sind die Milliardärs-Autobiografien inzwischen eine eigene Gattung. Mit das bekannteste Werk darunter dürfte Donald Trumps The Art of the Deal sein, das böse Zungen in »The Art of the Steal« umtaufen. 1987 erschienen, ist es bis heute ein Bestseller. Es war nicht zuletzt dieses Buch, das Trumps Image als erfolgreicher, hartgesottener Immobilienmogul und Businessman schuf. Es machte ihn weit über New York hinaus bekannt. Von The Art of the Deal, zu Deutsch Die Kunst des Deals, kann man eine Linie ziehen zu Trumps Reality-TV-Karriere als tougher Boss in The Apprentice, in der er mit Wonne am Ende jeder Episode sein »You are fired!« hinauspfefferte. Trumps TV-Prominenz wiederum bildete die Grundlage für seine Wahl zum US-Präsidenten 2016. Das sieht er offenbar genauso: Trump berief sich auf das Buch, als er am 16. Juni 2015 die goldene Rolltreppe im Trump Tower an der New Yorker Fifth Avenue hinab in die mit pinkem Marmor verkleidete Lobby fuhr, um den dort Versammelten seine Kandidatur anzukündigen. »We need a leader that wrote The Art of the Deal«, sagte er da. Nur jemand, der erfolgreich ein Unternehmen durch den Dschungel der Märkte geführt habe, könne auch eine Nation führen, sollte das heißen. Das erregte die Aufmerksamkeit von Tony Schwartz. »Vielen Dank an Donald Trump für den Vorschlag, dass ich mich um das Präsidentenamt bewerben sollte, angesichts der Tatsache, dass ich The Art of the Deal geschrieben habe.« Schwartz war Trumps Ghostwriter. Als Trump in seinen Reden mexikanische Einwanderer pauschal als »Vergewaltiger« verunglimpfte, verging Schwartz offenbar der Humor. Er bereue zutiefst, was er angerichtet habe, sagte er in Interviews im Sommer 2016, in denen er seinen einstigen Auftraggeber als »Soziopathen« bezeichnet.20 Das Werk sei weitgehend Fiktion, so Schwartz, und er sei ziemlich sicher, Trump, der vermeintliche Autor, habe es nie ganz zu Ende gelesen. Trumps Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Seine Anwälte forderten eine Unterlassungserklärung und zudem die Rückzahlung sämtlicher Tantiemen, die Schwartz für das Buch erhalten habe.21 Trump und Schwartz hatten die Einnahmen brüderlich geteilt. Trump erklärte, sein einstiger Co-Autor habe ihn jahrelang vergeblich um Arbeit angebettelt. »Ich mochte ihn nie«, sagte der Immobilienmogul. Bekanntermaßen hoffte Schwartz vergeblich, mit seinen Enthüllungen Trumps Präsidentschaft zu verhindern.

Was man Trump lassen muss: Er versucht nicht, sein Gewinnstreben zu rechtfertigen. Im Gegensatz etwa zu Charles Koch, der zusammen mit seinem Bruder David ein Öl- und Pipeline-Imperium von seinem Vater erbte und daher schlecht die »Vom Tellerwäscher zum Multimilliardär«-Story erzählen kann. In seinen Memoiren Good Profit müht er sich redlich, das knallharte Geschäftsgebaren seiner Familie als Wohltat für die Menschheit zu verbrämen. »Wenn ich sehe, dass wir einen Wert schaffen, dass wir helfen, das Leben der Menschen zu verbessern, und dass wir davon profitieren, dann ist es ein System des gegenseitigen Nutzens.«22

Oder etwa Sam Walton in seinem Buch Made in America. Der Gründer des größten Einzelhändlers der Welt schreibt: »Es ist eine Geschichte über Unternehmertum, Risiko und harte Arbeit und darüber, dass man weiß, wo man hinwill, und bereit ist, alles zu tun, um dorthin zu gelangen.«23 Das unterschlägt allerdings, dass Walton von seinem Schwiegervater zur Gründung seines Ladens 20 000 Dollar erhielt. Das entspräche etwa 300 000 Dollar heute. Weshalb Nathan J. Robinson, Kolumnist und Gründer des alternativen Magazins Current Affairs, in einem Essay zum Thema Milliardäre die Frage aufwarf, wie wahrscheinlich es sei, dass ein Schwarzer im Arkansas der 1940er-Jahre einen riesigen Kredit von einem reichen Schwiegervater erhalten und Waren an eine weiße Kundschaft verkaufen konnte? »Walmart konnte nicht von Schwarzen gegründet werden, egal wie hart sie arbeiteten«, so Robinsons Fazit.24

Laut Forbes waren von den 2 668 Milliardären 2022 nur 327 weiblich und nur 15 schwarz. Wie erklären sich Männer wie Walton oder Koch, dass die überwiegende Mehrheit der Milliardäre bis heute weiß und männlich ist?

So auch der Mann, der sich für viele überraschend 2022 an die Spitze der Reichenliste schob: Bernard Arnault.

DER SONNENKÖNIG

Als die ältere Frau hinter der Schaufensterscheibe plötzlich ihren Arm mit einem Pinsel hebt, zucken die Menschen davor kurz zusammen. Kennern moderner Kunst werden ihr orangefarbener Pagenkopf und ihre Kleidung mit den bunten Punkten bekannt vorkommen. Doch es ist nicht Yayoi Kusama, die hier an den Champs-Élysées steht, sondern nur ein Roboter, der ihr gleicht. Die Installation ist Teil einer großen Werbekampagne. Der Konzern LVMH, wie das Unternehmen meist abgekürzt wird, ist für Luxusartikel, was Nestlé für Lebensmittel ist. Hinter den Lettern verbergen sich der Edelhandtaschenhersteller Louis Vuitton, die 280 Jahre alte Champagnerkellerei Moët & Chandon sowie Hennessy, eines der vier großen französischen Cognac-Häuser. Ebenfalls zum LVMH-Reich der feinen Dinge gehören die Pariser Haute-Couture-Schneider von Dior, die Juweliere von Bulgari sowie die Uhrmacher von TAG Heuer, mit deren TAG Heuer Carrera Plasma Tourbillon man mal eben 350 000 Dollar am Handgelenk hat. Nicht zu vergessen: Dom Pérignon, die Champagner-Hausmarke von 007 James Bond.

Vor dem Louis-Vuitton-Ladenlokal in Paris mit der künstlichen Künstlerin, nur ein paar Schritte vom Arc de Triomphe entfernt, hat sich trotz des Nieselregens eine Schlange gebildet. Der Eingang zum Konsumtempel wird von einem strengen Schnauzbart bewacht. Drinnen leuchtet es verheißungsvoll gülden, beautiful people in smartem Dress trennen schnell die Spreu der Touristen von den UHNW, den Superreichen. Die Zusammenarbeit der Luxusmarken mit Kusama hat die über 90-jährige Japanerin zur bestverdienenden Frau im Kunstbetrieb gemacht. Ihre Punkte und Kürbisse und Sonnen finden sich auf T-Shirts (610 bis 1 500 Euro), Sneakers (1 200 Euro), Sonnenbrillen, Pyjamas, Bikinis, Hüten und natürlich Handtaschen. Mit Preisen unter 3 000 Euro gehören sie allerdings in die Grabbelkisten-Kategorie des Konzerns. Wer dagegen die Kusama Pumpkin Minaudiere Jewel Bag sein Eigen nennen will, muss 110 000 Euro oder 133 430 US-Dollar auf die schwarze American Express Centurion buchen. Die teuerste Tasche des Hauses war bisher der Urban Satchel für 125 000 Euro. Mit ihrem Mix aus recycelten Gegenständen wie Wasserflaschen, Zigarettenschachteln und Kaugummipapier sieht sie aus, »als wäre der Inhalt eines überfüllten Mülleimers miteinander verklebt worden«, wie eine Mode-Webseite zugibt. Allerdings sei sie auch aus feinstem italienischem Leder gefertigt und Ashley Olsen, einstiger Kinderstar und heute Designerin, mit einem Millionenvertrag geködert, habe die Tasche beworben.25 LVMH profitiert davon, solche Statussymbole an die Mitglieder der UHNW-Nation zu verkaufen. Und das wiederum lockt diejenigen, die sich den Lebensstil der 1 Prozent zwar nicht leisten können, aber es zu gerne möchten. Tatsächlich verstärkt die wachsende Ungleichheit, an deren oberem Ende Arnault und seine Dynastie stehen, den Umsatz von Luxusgütern. Darauf weist zumindest eine Studie der Warwick Business School hin. Sie analysierten das Kaufverhalten von Mitarbeitern in einem Unternehmen. Ergebnis: Bei gleichem Gehalt und gleicher Kaufkraft ist der Anteil des Einkommens, der für Luxusgüter wie Antiquitäten, Champagner, Schmuck und Kunstwerke ausgegeben wird, umso größer, je größer die Ungleichheit am Arbeitsplatz ist.26

Damit machen die KOHLs richtig Kasse. Mit dieser Abkürzung bezeichnen die Franzosen ihre Luxus-Dynastien: K für Kering, wozu etwa Gucci, Saint Laurent, Bottega Veneta und Balenciaga gehören. O für L’Óréal, H für Hermès und eben L für LVMH. Arnaults Konzern scheffelte zuletzt viel Geld. Anfang 2023 war der Luxusartikler mehr als 500 Milliarden Dollar an der Börse wert, so viel wie noch kein europäisches Unternehmen vor ihm. Entsprechend stieg der Kurs der LVMH-Aktie. Der Kurs der Aktie lag 2010 bei 81 Euro, nach der Pandemie wurde sie mit 900 Euro gehandelt. Das wiederum machte LVMHs größten Aktionär Bernard Arnault noch reicher. Nachdem sich Elon Musk 2022 mit dem Kauf der Kurznachrichtenplattform Twitter verkalkuliert und sein Vermögen binnen weniger Monate halbiert hatte, nahm Arnault dessen Spitzenplatz ein. Geschätztes Vermögen im April 2023: über 220 Milliarden US-Dollar.27

Arnaults Vater war ebenfalls Unternehmer, aber eigentlich in der Industrie zu Hause. Doch sein Sohn überzeugte den Senior, stattdessen in Immobilien und in die Übernahme verschiedener Luxusartikelhersteller zu investieren. Erfunden oder aufgebaut haben die Arnaults selbst also nichts davon. Hilfreich ist jedoch die enge Verbindung des Geldadels zur politischen Elite des Landes. Zu Arnaults Kundinnen gehört Brigitte Macron, die Gattin von Präsident Emmanuel Macron. Die beiden Männer verbindet neben schnittigen Anzügen die Vorliebe für niedrige Steuern. Weil ihm die Wahl des Sozialisten François Mitterrand zum Präsidenten 1981 nicht passte, hatte Arnault seine Heimat einst verlassen. Er ging in die USA, wo just Ronald Reagan an die Macht gekommen war. Mitterrand hatte sich erdreistet, nicht nur die 39-Stunden-Woche und einen höheren Mindestlohn einzuführen, sondern er plante auch eine Vermögensteuer.28

KAVIAR-FRÜHSTÜCK BEI TIFFANY’S

Von Macrons Steuerreform dagegen profitierten die Arnaults und die anderen KOHLs. Arnault hat seinen Privatjet zugunsten gemieteter Flugzeuge aufgegeben – nachdem ein findiger Twitter-Nutzer aus öffentlichen Quellen Arnaults Flüge verfolgt hatte und sich herausstellte, dass der Konzernchef oft mehrmals täglich durch Europa jettete. An der miserablen Umweltbilanz des Handtaschen-Krösus ändert das allerdings wenig. Allein seine Yachten, darunter die 101 Meter lange und 150 Millionen US-Dollar teure Symphony, katapultieren den Franzosen mit ihrem Schadstoffausstoß in einem weniger schmeichelhaften Ranking nach oben.29

Laut einer Studie der Anthropologen Beatriz Barros und Richard Wilk ist er der viertgrößte Verschmutzer unter den Milliardären.30

Wie einst die Aristokraten vor der Revolution will der Geldadel seine Stellung für die Nachfahren sichern. Zwar ist der Konzern eine Aktiengesellschaft, aber durch eine geschickte Eigentümerstruktur ist etwa eine feindliche Übernahme durch ein anderes Unternehmen praktisch ausgeschlossen, so berichtete die Financial Times.31 Ähnliche Strukturen haben auch die Eignerfamilien von Michelin und Hermès eingeführt.

Arnault, geboren 1949, bereitet bereits umsichtig seine Nachfolge vor. Arnaults zweitältester Sohn durfte sich bei einem besonderen Projekt bewähren: dem Umbau des Haupthauses von Tiffany & Co. in New York. Das Gebäude an Fifth Avenue und 57th Street gehört zu den beliebtesten Stationen vieler Touristen: Es ist das Flaggschiff des Juweliergeschäfts, gegründet 1837 von Charles Lewis Tiffany. Populär gemacht hat es Audrey Hepburn in dem Klassiker Frühstück bei Tiffany’s, was irreführend war, bis 2017 in der sechsten Etage ein Café eingerichtet wurde. (Das Frühstück, ersonnen vom Sternekoch Daniel Boulud, umfasst Œufs à la coque, Kaviar, Croissant und einen Café au lait. Nichts für arme Singles wie die Protagonistin des Films.)

Einst der Inbegriff des amerikanischen Gilded Age, wurde Tiffany’s für 16 Milliarden Dollar 2021 an LVMH verkauft. Auf der Fläche, die der eines Walmart-Einkaufszentrums entspricht, wie der Finanznachrichtendienst Bloomberg bissig anmerkte, gibt es nun Uhren, Schmuck und Nippes in allen Arten von Edelmetall.32 Die Pariser Bauherren, die auch schon den Louvre als Kulisse nutzten, um ihre Herrenkollektion zu zeigen, haben auch an der 5th Avenue ihre radikale Vision von Luxus umgesetzt. Es ist die Verschmelzung von Musik, Kunst und Kommerz. Dazu gehört, dass für das neue Tiffany’s die bekanntesten zeitgenössischen Künstler arbeiteten. Darunter Jenny Holzer, Richard Prince, Rashid Johnson und Damien Hirst, der überraschenderweise nicht mit seinem diamantenverkleideten Schädel vertreten ist, sondern einen Raum mit seinen pointillistischen Cherry-Blossom-Motiven geschmückt hat. Julian Schnabel ist mit mehreren Werken vertreten und entwarf dazu ein exklusives Tafelservice auf der Grundlage des Robin Egg Blue, jener Schattierung Hellblau, auf die Tiffany ein Copyright besitzt.

Die Verwendung von Tiffany-Blau war die Maßgabe für die Künstler. Als Peter Marino, der verantwortliche Architekt des Projekts, vom Wall Street Journal gefragt wurde, ob die Künstler sich nicht an der Vorgabe gestört hätten, antwortete der: »Glauben Sie, Michelangelo störte sich daran, Jesus Christus zu malen, als er im Auftrag der Kirche die Sixtinische Kapelle ausmalen sollte? Ich glaube kaum.«33 Er und seine Pariser Auftraggeber haben es gut erkannt: Konsum ist unsere neue Religion, und der Kauf von Luxuswaren stellt die exklusivste Art dar, ihm zu huldigen. Da ist es nur konsequent, einen Tempel zu bauen, zu dem die Jünger pilgern können. Und wo könnte er besser passen als an der Fifth Avenue in New York?

Denn dort, in der Kapitale des Kapitalismus, leben mit 136 die meisten Milliardäre der Welt. Und in welchen Metropolen findet man sie sonst häufig? Wealth-X, die Marktforschungsfirma, die den Billionaire Census herausgibt, zählt in Hongkong 112 und in San Francisco, Hauptstadt des Silicon Valley, 84. Danach folgen Moskau und London. Und obwohl Deutschland bei der Anzahl der Milliardäre auf Platz drei hinter den USA und China liegt, findet sich keine deutsche Stadt unter den Top-16-Städten mit den meisten Milliardären.34

2 … UND DOCH SIND SIE ÜBERALL

Einführung