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Wie organisiert man das würdige Begräbnis eines ehemaligen Bürgermeisters, wenn zwei verfeindete Ortsvereine um Vorrechte beim Leichenbegängnis streiten? Was tun, wenn Angehörige schon in der Aufbahrungshalle ums Erbe schachern? Peter Wilhelm weiß Rat. Aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung im Bestattungsgewerbe hat er schon so ziemlich alles erlebt. Mit einem guten Schuss Humor erzählt Wilhelm aus dem Alltag seines Trauerhilfe-Instituts und bietet amüsante und anrührende Blicke hinter die Kulissen.
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2013
Peter Wilhelm
Wer zu uns kommt, hat das Gröbste hinter sich
Deutschlands bekanntester Bestatter erzählt
Knaur e-books
Für
Bernd und Käthi
und
Georg und Marianne
Wenn man fast dreißig Jahre mit der Bestattungsbranche zu tun hat, davon viele Jahre als Inhaber eines eigenen Bestattungshauses, dann hat man so ziemlich alles erlebt.
In meinen ersten beiden Büchern – Gestatten, Bestatter! und Darf ich meine Oma selbst verbrennen? – habe ich, teils besinnlich, teils humorvoll, schon so manchen Blick hinter die Kulissen gewährt. Nie hätte ich erwartet, dass diese Bücher einen so großen Erfolg haben und so viele Leser finden würden.
Nachdem ich in Darf ich meine Oma selbst verbrennen? meist auf humorvolle Weise zahlreiche Fragen rund um den Tod beantwortet hatte, wurden die Rufe der Leser nach einer weiteren Sammlung von erstaunlichen, heiteren und vor allem auch besinnlichen Geschichten lauter. Voilà, ich bin dem Ruf gefolgt, und hier ist nun der nächste Band!
Einige der handelnden Personen in den folgenden Geschichten dürften den Lesern von Gestatten, Bestatter! bereits vertraut sein.
Frau Büser, die stets diskrete, aber äußerst resolute Bürovorsteherin, ist schon jenseits der fünfzig und steht vor allem der Büroangestellten Antonia und der jungen Bestatterin Sandy vor.
Antonia ist herzensgut, fleißig, zuverlässig und zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Welt durch zwei süße Puddingkringel von Bäcker Schürzelmann betrachtet.
Sandy ist eine lebensfrohe junge Frau, die ihre Kindheit und Jugend in Amerika verbracht hat und dort zu einer erstklassigen Bestatterin ausgebildet wurde. Sie hat einen ausgeprägten Hang zum Ausgeflippten, Unkonventionellen und Außergewöhnlichen.
Fahrdienstleiter Manni ist die rechte Hand des Werkstattchefs Huber, dessen Aufgaben er dann später übernommen hat.
Diesen immer wiederkehrenden Personen stehen wechselnde Fahrer, Auszubildende und Praktikanten zur Seite.
Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, die kinderlose Besserwisserin, mischt sich vorwiegend in Angelegenheiten ein, die sie nichts angehen. Sie arbeitet nicht im Bestattungshaus, sondern stört als Vorsitzende des örtlichen Mütterkreises nur den Ablauf.
Die Gemüsefrau, die auch immer wieder einmal eine Rolle spielt, ist das Sprachrohr unseres Viertels. Sie verkauft nicht etwa so viele Feldfrüchte, weil sie die Ware gerne in Zeitungspapier einpackt, sondern weil sie selbst quasi die fleischgewordene Zeitung ist. Bei der fleißigen Weitergabe von Klatsch und Tratsch spart sie niemals mit eigenen Interpretationen und Dramatisierungen.
So, mehr muss man nicht wissen, um die folgenden Geschichten etwas besser verstehen zu können.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen!
Peter Wilhelm
September 2013
DIE FAMILIE des Verstorbenen sitzt im Beratungszimmer; Antonia bringt Kaffee und ein paar Plätzchen. Die Witwe ist anwesend, ihre zwei Söhne und eine der Schwiegertöchter. Ich komme aus einer anderen Beratung, werde auf dem Gang kurz von Frau Büser informiert und gehe dann zu diesen Leuten.
Alle sind sehr traurig und hängen erwartungsvoll an meinen Lippen. Sie wissen nicht, was auf sie zukommen wird. Sie haben Angst vor dem Unbekannten, und man merkt, sie sind froh, dass ich ihnen die Angst nehme, indem ich offen alle kommenden Handlungen und Schritte erkläre.
Das dauert der Schwiegertochter allerdings zu lange. Sie hat die ganze Zeit schon ungeduldig auf ihrem Handy herumgetippt und mit den Füßen gescharrt. Als wäre sie die Einzige im Raum, die des Lesens und Schreibens mächtig ist, unterbricht sie mich recht unhöflich und respektlos.
»Nun lassen wir mal dieses Geschwafel, kommen Sie mal zur Sache!«
»Aber Henriette!«, schimpft die Witwe vorwurfsvoll. »Der Mann erklärt uns doch alles so nett, und ich will doch wissen, was mit dem Papa jetzt gemacht wird.«
Henriette rollt vorwurfsvoll mit den Augen.
»Mein Gott! Lass doch endlich mal dieses ›Papa‹! Das war dein Mann, dein Ehemann und nicht ›der Papa‹. Wenn Manfred und Günther Papa sagen, dann passt das, aus deinem Mund klingt das nur lächerlich.«
Manfred, offensichtlich der Mann von Henriette, legt beschwichtigend seine Hand auf ihren Arm. Sie schüttelt aber die Hand ab, denn sie ist noch lange nicht fertig mit dem, was sie sagen will, und möchte auch gar nicht beschwichtigt werden.
»Jetzt mal Butter bei die Fische! Hier geht es um ein ganz klares Geschäft. Wir haben das Geld, und der da soll dafür eine anständige Beerdigung machen. Punkt.«
»Der da«, das bin ich, und mehr als einen gelangweilten Blick meinerseits bekommt Henriette nicht dafür. Ich habe zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht über Geschäftliches gesprochen, sondern nur die weitere Vorgehensweise erklärt. Die Menschen wissen doch im Allgemeinen nicht, was ein Bestatter überhaupt alles tut, und genau das lässt ihnen diesen Beruf oft unheimlich erscheinen. Sie haben keine klare Vorstellung, was da geschieht, und deshalb stellen sie sich alles Mögliche vor, und irgendwoher müssen ja diese ganzen Märchen kommen, dass den Toten die Augen ausgestochen, die Knochen gebrochen und sie ihres Zahngoldes beraubt werden. Deshalb scheint es mir besonders wichtig, die Angehörigen sozusagen an die Hand und behutsam mit auf die Reise zu nehmen, die ihr Verstorbener jetzt antreten wird. Nur dürfen sie, nach einem Stück des Weges, hierbleiben; der Tote wird gehen müssen. Ganz und für immer.
Was bleibt, das sind die Erinnerungen. Und wir sind dafür da, dass dieses Begleiten ein schönes, wenn auch trauriges Erlebnis werden kann.
»Also, was kost’ das jetzt alles so summa summarum, so alles in allem. Und kommen Sie jetzt nicht mit irgendwelchen Ausflüchten, und hinterher kost’ es das Doppelte. Kenn ich alles, habe ich alles schon gehört. Ich weiß, wie ihr das so macht.«
Ich erkläre ihr, nach einem weiteren gelangweilten Blick, dass ich keineswegs die Absicht habe, die Familie über den Tisch zu ziehen. Jeder, der zu uns kommt – das ist mir wichtig klarzustellen –, erfährt gleich, was an Kosten auf ihn zukommt und geht mit einer hieb- und stichfesten schriftlichen Auftragsbestätigung nach Hause.
»Damit brauchen Sie uns gar nicht erst kommen, wir sind da nicht so einfach zu beeindrucken. Ich habe mich nämlich vorher erkundigt. Ich habe im Internet gegoogelt und mich auf dieser Verbraucherplattform umgeschaut. Da hätte ich sowieso einen ganz anderen Bestatter rausgesucht, aber meine Schwiegermutter wollte ja unbedingt zu Ihnen.«
»Ja, der Herr hat doch schon den Opa damals so schön beerdigt; und billig war’s auch«, meldet sich die Witwe zu Wort und fügt hinzu: »Mir ist viel wichtiger, dass der Hugo seine Musik gespielt bekommt.«
Was für Musik das denn sei, erkundige ich mich. Die Witwe erklärt mir, dass ihr verstorbener Hugo zu Lebzeiten lange in einer kleinen Jazzband das Saxophon gespielt habe. Manfred zieht eine offensichtlich selbstgebrannte CD aus der Schreibmappe, die vor ihm liegt, und sein Bruder Günther zückt aus der Innentasche seines Jacketts ein etwas zerknittertes Foto.
»Hier auf der CD können Sie sich ja mal meinen Vater und seine Band anhören«, sagt Manfred. »Und da auf dem Foto, der in der Mitte, so halbrechts, das ist er.«
Ich betrachte das Foto, es zeigt fünf Männer mit ihren Instrumenten, und darunter steht »Free Note Jazzers«.
»Jaja, das hat der so gemacht, aber das interessiert hier nicht. Wir wollen eine ganz normale Beerdigung, also so eine mit der Urne, und der Pfarrer soll kommen, die Orgel soll spielen und fertig«, sagt Henriette und schiebt mir einen Zettel rüber, auf dem sie mit Kugelschreiber drei Lieder aus dem Kirchengesangbuch notiert hat. »Wenn der Orgelheini noch das Ave Maria draufhat, dann kann er das meinetwegen auch noch spielen, aber damit soll es dann bitte auch gut sein.«
Manfred atmet hörbar tief ein und will etwas sagen, doch Henriette reckt das Kinn vor, kneift die Augen zusammen, und ihr Mund verwandelt sich in einen lippenlosen, zusammengepressten Strich.
Manfreds Ambitionen, sich einzumischen, verebben sofort. Günther tippt über den Tisch auf das vor mir liegende Foto und hebt an: »Es wäre schön, wenn …«
Doch Henriette nimmt mir das Bild einfach weg, legt es zu ihren Notizen aus dem Internet und sagt: »Schluss jetzt mit der Gefühlsduselei! Passen Sie mal gut auf: Ich bezahle den Scheiß hier, und die haben alle kein Fett auf der Kette, ist das klar?«
Dabei macht sie eine ausladende Handbewegung, die alle Anwesenden umfasst, dann grinst sie triumphierend und fügt hinzu: »Wer die Musik bezahlt, der bestimmt auch, was gespielt wird – oder?«
Damit ist für sie alles gesagt, und weder die Witwe noch die beiden Söhne des Verstorbenen wagen es, noch irgendetwas zu äußern. Die Söhne sind förmlich in sich zusammengesunken, und die Witwe hebt und senkt nur schicksalsergeben ihre Schultern und schnieft in ein kleines weißes Taschentuch. Sie sagt nichts, aber ihre wasserblauen Augen sagen: »Ach, was soll ich machen, ich will jetzt auch keinen Streit.«
So geht das nicht, denke ich und wage einen erneuten Vorstoß: »Hatte der Verstorbene denn selbst besondere Wünsche bezüglich seiner Bestattung? Hat er jemals darüber gesprochen, was er für Vorstellungen hat?«
Die Witwe atmet erleichtert auf.
»Ja, er hat immer gesagt, dass alle auf seiner Beerdigung in bunter Straßenkleidung kommen sollen, dass Wein ausgeschenkt werden soll und dass seine Jungs spielen sollen. Ein fröhliches Fest …«
Henriette klatscht mit ihren beiden Handflächen auf den Tisch, das hört sich fast an wie ein Pistolenschuss. Die Witwe verstummt, und Henriette erhebt sich.
»Los, zeigen Sie uns mal, was Sie so an Zeug dahaben – Särge und so. Was die Beerdigung anbelangt, so wissen Sie ja Bescheid: Urne, kleines Grab, Pfarrer und Orgel – sonst nichts. Kommst du, Schwiegermama?«
Sie nimmt die alte Dame beim Ellenbogen, zieht sie vom Stuhl hoch und schiebt sie zur Tür hinaus.
Es ist alles gesagt; ich bekomme keine Chance mehr, auf die Leute einzuwirken. Die Söhne laufen uns hinterher wie vertrottelte Zirkuslamas. Die Witwe ist froh, sich auf ihren wackeligen Beinen halten zu können, und eigentlich, das wird mir immer mehr klar, sind auch alle froh, dass sich Henriette um alles kümmert.
Früher einmal hatten wir über vierzig Särge in der Ausstellung, und zwei große Ständer hingen voll mit Sargdecken und Talaren. Ich war stolz auf die große Auswahl, doch im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass die Menschen durch zu viel Auswahl eher verunsichert wurden. Die Entscheidungsprozesse zogen sich zu sehr in die Länge. Wir haben dann die Särge im Ausstellungsraum auf ein Dutzend reduziert und nur die gängigsten Decken und Talare dort präsentiert. Auch bei den Urnen sind wir von über sechzig Modellen auf gut ein Dutzend zurückgegangen. Wer da nicht das Passende findet, für den haben wir noch den umfangreichen Katalog mit zehnmal so vielen Modellen. Aber selbst bei zwölf Särgen fällt manch einem die Entscheidung schwer, und die Witwe kann sich partout nicht zwischen drei in Frage kommenden Modellen entscheiden – alles Särge der unteren Mittelklasse, sehr schön gearbeitet, nicht zu aufwendig und vor allem sehr günstig.
Henriette dauert auch das wieder zu lange, und sie unterbricht das Gespräch zwischen der Witwe und ihren Söhnen: »So, jetzt zeigen Sie uns mal die richtigen Särge. Man kennt das ja, in der Ausstellung habt ihr immer nur die teuren, und die Schnäppchen habt ihr irgendwo anders. Es gibt doch da so ganz einfache Särge, ich meine, der kommt doch sowieso ins Feuer … der Sarg, meine ich.«
Ich erkläre, dass es tatsächlich noch den klassischen »Verbrenner« gibt, einen schmucklosen, aber durchaus nicht hässlichen Sarg ohne Griffe und Deckelschrauben, ohne irgendwelche Verzierungen, ja sogar ohne Lack und Farbe; ein Sarg aus rohem Holz für die ganz günstige Einäscherung, den wir vorwiegend verwenden, wenn die Trauerfeier erst später mit der Urne stattfindet.
»Den nehmen wir«, beschließt Henriette, ohne den Sarg gesehen zu haben, und als sich bei ihrer Schwiegermutter, ihrem Mann und ihrem Schwager Widerspruch regt, holt sie tatsächlich ihr Portemonnaie heraus, zückt ein paar große Scheine und sagt: »Wer bezahlt das alles? Na?«
Die Witwe schaut mich an und sagt mit einem Unterton, der schon fast entschuldigend klingt: »Wissen Sie, mein Mann ist doch so lange krank gewesen am Ende. Da hat die Pflege so viel Geld verschlungen, dass jetzt nichts übrig ist für die Beerdigung. Mein älterer Sohn und meine Schwiegertochter erben aber doch mal das Haus, und deshalb wollen die beiden jetzt so freundlich sein und die Bestattung bezahlen.«
»Ja, aber man könnte doch ein wenig mehr auf die Wünsche der Witwe und des Verstorbenen eingehen«, versuche ich es erneut, und noch bevor Henriette sich wieder aufplustern kann, sage ich noch schnell: »Ich bin mir sicher, dass wir das so hinbekommen, dass man alles machen kann, was der Vater sich gewünscht hat und es trotzdem nicht mehr kostet …«
»Am Ende kommt dann noch diese durchgeknallte Fidelcombo. Nee, nee, das kommt gar nicht in Frage. Das Ave Maria ist das höchste der Gefühle und sonst alles Standard. Ich bin Sozialarbeiterin, beamtet, versteht sich, und kann mir keinen öffentlichen Aufruhr leisten. Wenn bei uns jemand stirbt, dann kommt der anständig unter die Erde, so wie es sich gehört. Wir machen keinen Negerzirkus mit Tanz und Trallala am Grab, wir sind doch nicht in New Orleans!«
Mir platzt bei so viel Ignoranz fast der Kragen, und gerade will ich mir die hochnäsige Zicke verbal vorknöpfen, da nickt die Witwe und sagt abschließend: »Vielleicht hat meine Schwiegertochter recht, wir machen es so, wie sie es sagt.«
Da lässt sich nichts mehr machen; ich muss den Auftrag im Büro so aufnehmen, wie Henriette ihn mir diktiert, und dann verlassen uns die vier.
Der restliche Ablauf ergibt sich aus der Routine. Der Verstorbene wird aus dem Krankenhaus abgeholt, in den einfachen Verbrennersarg gebettet, und Manni, unser Mann fürs Fahren und die Werkstatt, montiert auch noch vier schöne mattglänzende Griffe und Deckelschrauben. Er meint, das sehe doch besser aus, wenn die Familie schon den ganz einfachen Sarg für eine Trauerfeier nehme.
Der alte Jazzmusiker steht noch in seinem Sarg in unserem Kühlraum und wartet darauf, auf den Friedhof gebracht zu werden, da kommt die Witwe zu uns und hat ein kleines Sträußchen Blumen dabei.
»Darf ich ihn noch mal sehen?«, fragt sie schüchtern, und ich nicke nur. Ein kurzer Anruf genügt schon, und während ich mit der Frau in der Halle auf dem Sofa sitze, erledigen meine Männer lautlos im Hintergrund den Rest. Der Sarg wird aus der Kühlung geholt, in den Aufzug geschoben und eine Etage höher gefahren. Der Deckel wird abgenommen, das Kissen zurechtgezupft, und wenig später steht der Sarg zur Aufbahrung bereit.
Zwei kleine Öllämpchen flackern an den Wänden, zwei dicke Kerzen erzeugen einen zappelnden Lichtschein an der Decke und den Wänden, und die künstlichen Lorbeerbäumchen bringen etwas grüne Atmosphäre. Echte Pflanzen in den gekühlten Aufbahrungsräumen würden sich ja, auch wegen des fehlenden Tageslichts, nicht halten.
Die Witwe steht ergriffen neben dem Sarg. Bei uns gibt es keine Barrieren, keine Glasscheiben oder Absperrungen; die Angehörigen können so nah an den Verstorbenen heran, wie sie es möchten. Der Tod ist doch schon Trennendes genug, und hier ist es vielleicht das letzte Mal, dass sie diese körperliche Trennung noch einmal überwinden und etwas Nähe verspüren können. Deshalb geben wir uns auch so viel Mühe, dass eine solche Abschiednahme, trotz der Umstände, die nun mal nicht zu ändern sind, so angenehm wie möglich ist.
Ich bleibe in respektvoller Distanz und warte. Die Frau tut nichts anderes, als ihren Mann anzuschauen. Dann bewegt sie ihre rechte Hand langsam zu seinen gefalteten Händen – sie hält inne, dreht sich zu mir um, sucht meinen Blick und fragt mit zittriger Stimme: »Darf ich?«
Ich nicke ihr zu und hebe ermutigend die Augenbrauen: »Nur zu!«
Sie streichelt die Hände ihres Mannes, und dicke Tränen rinnen nun aus den vorher schon feuchten wasserblauen Augen. Leise trete ich hinzu, schiebe ihr einen der bequemen Sessel neben den Sarg und klopfe mit der Hand leicht auf die Lehne, sie nimmt dankbar Notiz, setzt sich und lässt die Hände ihres Mannes nicht mehr los.
Es ist Zeit, die Frau allein zu lassen. Vielleicht hat sie ihrem Mann, mit dem sie so viele Jahre geteilt hat, noch etwas zu sagen, und ich will nicht ungebetener Zuhörer sein. Gerade will ich gehen, da spricht die Frau mich an, ohne sich von ihrem Mann abzuwenden: »Wissen Sie, eigentlich ist mein Mann ja Werkzeugmacher gewesen, aber tief in seiner Seele war er nur Musiker. Es ist schade, dass meine Schwiegertochter so hartherzig ist, und es tut mir leid, dass sie so frech zu Ihnen war. Aber ich bin auch dankbar, dass sie das alles hier bezahlt, da will ich jetzt nicht widersprechen. Wenn ich bestimmen könnte, dann wäre mein Mann mit seinem Saxophon beerdigt und nicht eingeäschert worden. Und dann hätten seine Kollegen auf der Beerdigung gespielt. Aber Henriette geht es nur ums Geld, und da sie die Einzige ist, die Geld hat, muss ich mich fügen.«
Ich schlucke nur, mir fällt auch keine Lösung ein.
Am nächsten Tag bin ich mit Henriette auf dem Friedhof verabredet. Sie will sich dort die Gräber anschauen und bestimmen, welches Grab ihr Schwiegervater bekommen soll. Ich habe ihr bereits hundertmal erklärt, dass das so nicht geht. Reihengräber werden eben der Reihe nach vergeben, das ist bei Erdbestattungen so und auch bei Urnenbestattungen. Manchmal hat man die Wahl zwischen verschiedenen Feldern oder Abteilungen, aber auf diesem Friedhof hier ist das nicht der Fall; da bekommt man das nächste freie Grab, es sei denn, man kann sich ein teures Familiengrab leisten.
Der Friedhofswärter steht schon vor seinem kleinen Büro und hat sogar zu seinem grauen Kittel und den Gummistiefeln seine Dienstmütze aufgesetzt. Henriette weiß offenbar, dass manche Friedhofsbediensteten für kleine Gaben empfänglich sind, und geht gleich auf den Mützenträger zu.
»Hier haben Sie was, jetzt machen Sie aber dann auch mal zack, zack!«
Sie lacht viel zu hoch und viel zu aufgesetzt, und der Friedhofswärter betrachtet das Mitbringsel. Es ist ein Sparschwein aus Plastik mit dem Aufdruck einer Bausparkasse, so wie man es von Banken und Sparkassen geschenkt bekommt. Er schaut mich fragend an, hebt das Sparschwein hoch und schüttelt es. Es ist leer. Henriette sieht uns nicht, sie geht schon mit großen Schritten voraus. Ich hebe meinen Zeigefinger vor meine gespitzten Lippen und mache »Pscht«. Der Friedhofswärter setzt eine Verschwörermiene auf und verzieht sein Gesicht zu einem breiten Grinsen.
Was Henriette nämlich nicht weiß: Ich habe schon am Morgen mit dem Mann telefoniert und ihm, ohne dass Henriette das gesehen hat, einen Schein zugesteckt, der in Münzen die billige Plastiksau zweimal gefüllt hätte.
»Wo geht’s denn hier zu den Gräbern?«, fragt Henriette mit spitzer Stimme und stolziert auf ihren etwas zu hohen Absätzen weiter über den rutschigen Kies des Friedhofsweges.
»Tja, Gräber ham’wer hier überall«, sagt der mit der Schirmmütze und tut dann das, was er immer tut: Er kratzt sich am Hintern, und als er merkt, dass Henriette nicht mehr zurückschaut, wirft er die rote Plastiksau mit großem Schwung in einen doch recht weit entfernten Abfalleimer. Dann tanzt er, wegen des tollen Treffers, lautlos einmal im Kreis, grinst mich nochmals an und ruft ihr hinterher: »Sie, watt für’n Grab wolln’se denn?«
»Ein möglichst kleines. Mein Schwiegervater war ein einfacher Mann; und günstig soll es sein. Wie wäre es denn mit dem hier?«, fragt sie und deutet auf ein kleines Urnengrab.
»Da liegt schon einer drinne. Kommen’se, ich zeig Ihnen mal was«, sagt der Friedhofsmützenmann und kratzt sich nochmals am Hintern. Er stapft voraus, dann rechts ab, und Henriette und ich haben fast Schwierigkeiten, ihm zu folgen.
»So, da hätten’wer watt Passendes«, sagt der im grauen Kittel und deutet auf das wohl hässlichste Loch auf Gottes Erden. Ich weiß ja nicht, was der Pokratzer da eigentlich machen sollte. Vermutlich dient das Loch direkt am Wegesrand, unmittelbar neben einer Kompostkiste und direkt neben dem grünen Spender für Hundekotbeutel, lediglich als Loch für das Fundament eines Papierkorbs. Aber der Graukittel spitzt seine wulstigen Lippen, verschränkt die Arme hinterm Rücken und wippt von den Hacken auf die Zehenspitzen:
»So, datt wär jetzt so’n Loch, wie Sie datt haben wollen. Klein, billich und schon ausgehoben.«
»Ja, nee. Also nein, so habe ich mir das nun aber auch wieder nicht vorgestellt. Haben Sie denn da nichts Schöneres? Es soll schon günstig sein, aber doch nicht so.«
»Ja klar, ich hab hier ganz viele Löcher, watt meinen Sie denn? Kommen’se mit!«
Wieder hecheln wir dem Wärter hinterher, und dieses Mal treibt er es fast auf die Spitze. Am ganz anderen Ende des Friedhofs bleibt er unvermittelt stehen. An dieser Stelle, das weiß ich, wird in einem Jahr ein ganz neues Gräberfeld angelegt, und jetzt gibt es dort fast keine Gräber mehr. Die noch vorhandenen sind längst abgelaufen, und es stehen nur noch vereinzelt ein paar windschiefe Grabsteine da. Direkt dort hat irgendjemand, vermutlich ein Vermessungstrupp, ein kleines Loch mitten auf dem Weg ausgehoben und mit einem rot-weißen Warnhütchen gekennzeichnet. Das Loch ist kaum groß genug, als dass ein Joghurtbecher hineinpassen würde.
»So, da wär’n wir. Hier hätt’ ich also noch watt für Sie, is’ eines der schönsten von den billigen.«
Ich muss mich beherrschen, nicht laut loszuprusten. Und während Henriette fassungslos vor dem kaum zehn Zentimeter tiefen Löchlein steht, macht der Friedhofswärter hinter ihrem Rücken Faxen. Dann dreht er sich zu mir um, zieht mit dem rechten Zeigefinger sein rechtes unteres Lid herunter und grinst. Dann kratzt er sich wieder am Hintern und sagt zu Henriette: »Ist schön, ne?«
»Das soll schön sein? Meine Güte, das ist ja schrecklich! Haben Sie denn gar nichts Besseres?«
»Ja, wenn Sie unbedingt was für ’ne billige Urne suchen, dann ist datt im Moment immer so, wie datt da. Urnengräber sind knapp. Für ’ne Erdbestattung, da hätt’ ich was!«
»Ja, ehrlich? Zeigen Sie mir da mal was!«
Es folgt wieder eine wilde Hatz über den Friedhof. Mir wird klar, warum der sonst sehr behäbige Kittelträger so schnell unterwegs ist. Er will Henriette keine Zeit lassen, nach links oder rechts zu schauen.
Am Feld 13 bleibt er stehen. Es ist das schönste Feld mit Erdreihengräbern auf dem ganzen Friedhof, und vor einem frisch geöffneten Grab schlägt er militärisch seine Gummistiefelhacken zusammen, kratzt sich wieder und verbeugt sich galant: »Voilà!«
»Ja!«, schwärmt Henriette und freut sich: »Das nehme ich, das ist ja ganz was anderes. Ist das denn auch billig?«
»Na, ganz so billig wie die anderen Löcher ist so ein großes Loch natürlich nicht, aber von den großen Löchern ist das hier noch eines der billigeren. Sie müssen aber ’ne Erdbestattung machen!«
»Ja, ja, ja, ja, das ist auch klar. Mein Schwiegervater war ein einfacher Mann, das sagte ich ja schon. Ob der verbrannt wird oder so in die Erde kommt, das ist egal. Hier kommt der rein!«
Ich grinse hinter Henriettes Rücken.
Zwei Tage später ist die Beerdigung. Den einfachen Verbrennersarg haben wir gegen den günstigsten Erdsarg ausgetauscht, und da die Urne ja nun wegfällt, wird sich auch am Preis nichts ändern. Die Beerdigung läuft so, wie Henriette es bestimmt hat. Alle in Schwarz, der Pfarrer spricht über jemanden, den er nicht kannte, und sagt nur Nichtssagendes, der Organist spielt nicht einmal das Ave Maria, sondern nur den üblichen Beerdigungskram.
Die Trauergäste sitzen bei der von Henriette organisierten Trauerfeier bei Mettbrötchen und Kaffee, als die Witwe sich zurückzieht, wofür jeder Verständnis hat. Ihr Sohn Günther will sie nach Hause fahren, doch die Witwe winkt ab. Sie will die paar Schritte an der frischen Luft alleine zu Fuß gehen und sich dann zu Hause hinlegen, sagt sie, und alle verabschieden sich.
Zehn Minuten später steht sie, nun in einem geblümten Sommerkleid, bei mir im Bestattungshaus, und wir fahren mit der Limousine zum Friedhof und gehen zum Grab in Feld 13.
Hoch aufgetürmt liegt die helle, lehmgelbe frische Erde, und der Friedhofswärter ist gerade dabei, die Kränze und Gestecke auf dem Grab zurechtzulegen.
»Ach, ihr seid datt! Die andern sind auch schon da, aber ihr wisst ja … macht mir keinen Ärger!«
Was er meint, ist offensichtlich: Neben der Lebensbaumhecke hinter dem Grab stehen vier Männer. Einer von ihnen hält eine Posaune, ein anderer hat drei Trommeln vor sich aufgebaut, und der dritte Mann steht hinter einem kleinen, batteriebetriebenen Keyboard. Der vierte Mann hat einen großen Bass, hängt mehr am langen Hals des großen Instruments, als dass er steht. Er beginnt leise, tiefe Töne zu zupfen, als die Witwe und ich am Grab ankommen.
Ich kenne die Lieder nicht; es sind beschwingte, leise Melodien. Nach dem Bass setzt die Posaune ein, dann spielen auch das Schlagzeug und das Keyboard mit. Immer wieder greift eines der Instrumente die Melodie als Solo auf, und der etwas abseits stehende Friedhofswärter wiegt sich in den Hüften und wippt mit.
Die Witwe hat sich auf den bereitgestellten Klappstuhl gesetzt und weint und strahlt gleichzeitig. Dann endet das Spiel der Instrumente, nur der Schlagzeuger zischelt einen leisen Rhythmus mit den Drahtbesen auf dem Fell seiner Trommel.
»Hören Sie es?«, fragt mich die Witwe, und ich nicke, denn ich weiß, dass der Mann da unter der Erde, dem dieses einzigartige geheime Jazzkonzert gewidmet ist, sein Saxophon in den Händen hält.
»Ja«, sage ich, »ich höre ihn. Er spielt sehr schön.«
Die Frau ergreift meine Hand, und die anderen Männer setzen mit ihrem Spiel wieder ein.
ES WAR schon sehr spät, als es klingelte – so spät, dass selbst der dienstbeflissenste Bestatter entnervt auf die Uhr schaut und nur kopfschüttelnd die Treppe hinuntersteigt, um nachzusehen, wer da so spät noch Einlass begehrt. Ein weiteres Mal also, dass ich das spannende Ende eines Fernsehkrimis verpasste.
Ein Druck auf den Schalter neben der Tür, und schon war der Eingangsbereich mit der breiten Treppe und den beiden Säulen in helles Licht getaucht. Durch das kleine Fenster in der schweren Eichentür sah ich einen Mann, der gerade wieder auf den Klingelknopf drücken wollte. Um ihm zuvorzukommen, öffnete ich schnell die Tür, sagte nichts und schaute ihn nur fragend an. Wenn einer schon so spät bei mir klingelt, dann wird er seine Gründe dafür haben und sie mir sicherlich auch gleich erläutern, dachte ich. Doch der Mann fragte nur:
»Ist Nora hier?«
In meinem Kopf schlugen die Gedanken Purzelbaum, und ich durchforstete sowohl meine Ahnenreihe als auch die aktuellen Sterbefälle, ob da wohl eine Nora dabei sein könnte. Doch zu dem Namen wollte mir nichts einfallen. Ich hob nur kurz die Schultern und ließ sie wieder sinken, grunzte irgendetwas Unverständliches und schaute den Mann wieder fragend an.
Er war etwa Anfang dreißig, mittelgroß, hatte ein schmales, gutaussehendes Gesicht und dunkles, gewelltes Haar. Er trug eine dunkelbraune Cordhose, passende Wildlederschuhe und ein dunkelgrünes Polohemd. Ein leichter Duft nach einem sehr guten und vermutlich teuren Rasierwasser lag in der Luft.
»T’schuldigung«, stammelte er verlegen, schaute erst auf seine Fußspitzen und dann wieder mich an: »Eleonore Nottbusch meine ich.«
Hm, da hätte ich auch selbst drauf kommen können, dass Nora auch als Abkürzung für Eleonore stehen konnte. Klar, den Sterbefall hatten wir am Morgen angenommen. Jemand hatte angerufen, den Auftrag erteilt, und unsere Fahrer hatten die verstorbene Frau Nottbusch aus dem Krankenhaus abgeholt.
Später sollte jemand vorbeikommen, hieß es, das war aber nicht geschehen.
Gesehen hatte ich die Verstorbene nicht. Der Auftraggeber hatte gesagt, sie solle ein schönes Totenhemd bekommen und einen mittleren, hellen Sarg. Dann sollten wir die Verstorbene zum Friedhof bringen, es käme auch niemand mehr, der sie anschauen wolle.
»Ist Nora da?«, unterbrach der Mann meine Gedanken, und ich fragte ihn: »Sind Sie Herr Nottbusch?«
»Ja, Nora war meine Frau. Unfassbar, ich kann es gar nicht begreifen. Ich bin fix und fertig; ich komme mit der Situation nicht klar.«
»Kommen Sie doch herein«, sagte ich und ging einfach voraus in unser Kaminzimmer mit den dicken Teppichen. Dort bat ich Herrn Nottbusch, auf einem der englischen Ledersessel Platz zu nehmen, stellte ihm ein Glas und eine Flasche Wasser hin und nickte ihm kurz entschuldigend zu, als ich nach schräg gegenüber ging, um mir eben die Handakte des Sterbefalls Eleonore Nottbusch aus dem Büro zu holen. Auf dem Rückweg warf ich kurz einen Blick in die Akte und sah fast auf einen Blick zwei Informationen gleichzeitig: geboren 1981, gestorben an Bauchspeicheldrüsenkrebs.
»Sie lag ja zuletzt im Koma, wissen Sie«, empfing mich der Mann, als ich das Kaminzimmer wieder betrat, und erzählte dann ohne Pause weiter.
Es sei erst vier Monate her gewesen, dass man bei Nora den Krebs festgestellt hatte. Da hätte man nicht mehr viel machen können. Die Metastasen hatten sich schon im ganzen Körper ausgebreitet, hatten die Ärzte gesagt.
»Anfangs habe ich Nora jeden Tag besucht, habe stundenlang an ihrem Bett gesessen. Ich habe mir sogar eine digitale Videokamera gekauft und so manches von meinem Tagesablauf aufgenommen, nur um Nora das vorspielen zu können. Aber dann ist sie ins Koma gefallen, und von dem Tag an hat sich ihr Zustand auch drastisch verändert. Sie ist zusammengefallen und derart abgemagert … ich hatte manchmal den Eindruck, einen Totenschädel da liegen zu sehen. Das war doch nicht mehr meine Nora. Sie müssen wissen, dass Nora eine sehr schöne Frau war, die schönste Frau der ganzen Welt. Und jetzt auf einmal lag da eine abgemagerte Greisin, mit einer Haut wie zerfallendes Pergament …«
Herr Nottbusch war regelrecht in sich zusammengesunken, während er mir das erzählt hatte.
»Und dann?«, fragte ich.
»Dann? Ja, dann …«
Der Mann begann zu weinen, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und schluchzte wie ein kleines Kind. Ich zupfte ihm zwei, drei Papiertücher aus der Box mit den Kosmetiktüchern und reichte sie ihm hinüber. Dankbar nahm er sie an, schneuzte sich laut und ausgiebig, und mit immer noch bebender Stimme fuhr er fort:
»Ich bin einfach nicht mehr hingegangen. Ich konnte das nicht mehr. Den Verfall konnte ich einfach nicht mehr ertragen. Verstehen Sie? Können Sie mich verstehen?«
Ich nickte nur und beschloss, dass es Zeit war für einen richtig guten Cognac.
»Danke nein, ich trinke nicht«, sagte Herr Nottbusch, als ich ihm das Glas hinstellte. Eine halbe Stunde später hatte er aber drei Gläser getrunken, ich nur ein halbes.
In dieser halben Stunde hatte er mir erzählt, wie er Nora kennengelernt hatte, wie schön sie gewesen sei und dass er es einfach nicht habe verkraften können, sie so dem körperlichen Verfall preisgegeben zu sehen.
»Aber jetzt, jetzt muss ich Nora einfach noch mal sehen, das bin ich ihr schuldig. Schließlich haben wir uns einmal geschworen, in guten wie in schlechten Zeiten zueinanderzustehen. Und diesen Pakt habe ich gebrochen. Ich muss sie einfach sehen, jetzt, damit ich irgendwann mal wieder in den Spiegel schauen kann, ohne dass es mir vor mir selbst graust.«
»Nora ist schon auf dem Friedhof.«
»Und da ist jetzt zu?«
»Schon, aber ich habe einen Schlüssel.«
»Könnten wir …?«
Ich stand nur auf, bedeutete ihm mit einer Handbewegung, mir zu folgen, und nahm im großen Büro noch den Schlüsselbund und die kleine Taschenlampe vom Haken.
Den Weg zum Friedhof legten wir zu Fuß zurück. Es war nicht weit, doch je näher wir dem Friedhof kamen, umso schleppender wurden die Schritte des jungen Mannes. Ich bemerkte, wie er sich immer wieder zusammenriss, und auf ein paar zögerliche Schritte folgten wieder ein paar schnelle. Was für ein Kampf musste in ihm toben?
Ich schloss das schmiedeeiserne Friedhofstor auf. Ein schauriges Quietschen erklingt im Schein des Vollmondes – welch theatralische Szene!
Der Sarg mit Eleonore Nottbuschs Leichnam stand in der dritten Zelle. Bevor ich mich daranmachte, die sechs Deckelschrauben aufzudrehen, schaute ich Herrn Nottbusch nochmals fragend an; er atmete einmal tief und schwer durch, dann nickte er und half mir sogar bei den unteren beiden Schrauben. Ich hob den Deckel ab, stellte ihn beiseite. Als ich in den Sarg blickte, bemerkte ich, dass das fahle Mondlicht durch das schmale, hohe Fensterchen der Aufbahrungszelle genau auf die Verstorbene fiel. Neben mir entfuhr Herrn Nottbusch ein unterdrückter Seufzer, und er wich zwei Schritte zurück.
Mein Herz begann zu pochen, denn ich wusste ja bis zu diesem Augenblick auch nicht, was mich erwarten würde. Hatten meine Angestellten die Verstorbene ordentlich zurechtgemacht? Wie stark war sie wirklich von der Krankheit entstellt?
Vor uns lag die schönste Frau, die ich je in einem Sarg aufgebahrt gesehen habe. Langes blondes Haar, ein schönes Gesicht mit fast schon klassischen Zügen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie tot war, hätte ich fast erwartet, dass sie in der nächsten Sekunde die Augen öffnen und mit uns sprechen würde.
Herr Nottbusch trat wieder vor und berührte ganz vorsichtig mit einem Finger ihre kalten Hände. Dann ergriff er ihre rechte Hand und streichelte zärtlich über den Ehering.
»Für immer, Nora, für immer«, flüsterte er. Dann beugte er sich hinunter und küsste seine tote Frau.
Ich ließ die beiden alleine. Während ich draußen im Gang eine Zigarette rauchte, konnte ich hören, dass Herr Nottbusch seiner Frau noch einiges zu sagen hatte.
Etwa eine halbe Stunde mag es gedauert haben, dann kam er aus der Aufbahrungskammer wieder heraus, zog hinter sich die Tür zu und sagte zu mir: »So, jetzt ist es alles wieder gut.«
Schweigend verließen wir den Friedhof, und erst am Bestattungshaus wandte er sich mir wieder zu.
»So schön, wie sie im Sarg liegt, so schön, so wunderschön. Vielen Dank, dass Sie mir das ermöglicht haben. Jetzt habe ich meinen Frieden wiedergefunden.«
Ich schaute ihm noch eine Weile nach, wie er im Licht des Vollmondes unsere Straße hinunterging und irgendwann an einer Ecke im Dunkel einer Nebenstraße verschwand.
Am nächsten Morgen, ich war gerade mit meiner ersten Riesentasse Kaffee ins Büro gegangen, stürzte plötzlich unser Fahrdienstleiter Manni herein.
»Chef, der Dicke vom Friedhof hat angerufen. Da hat jemand den Sarg von der Frau Nottbusch aufgemacht.«
Mensch, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Die Szene gestern Nacht war so eindrucksvoll und ergreifend gewesen, dass ich nicht mehr an den offenen Sargdeckel gedacht hatte, als Herr Nottbusch die Aufbahrungskammer verlassen und hinter sich die Tür zugezogen hatte.
»Komm!«, forderte ich Manni auf und erklärte ihm auf der kurzen Fahrt zum Friedhof in wenigen Sätzen, was sich letzte Nacht zugetragen hatte. »Ich helfe dir schnell, den Deckel wieder draufzumachen.«
Den dicken Friedhofsverwalter hatte ich schnell beruhigt, und dann öffnete Manni die Tür zu Noras Zelle.
Ich weiß bis heute nicht, was sich damals in dieser Nacht zuvor zugetragen hat, ich kann es heute immer noch nicht verstehen, aber vielleicht gibt es ja manchmal doch kleine Wunder …
Jedenfalls hatte diese Nora, die da jetzt vor uns lag, nichts mit der schönen Frau gemeinsam, die ich letzte Nacht gesehen hatte. Ja, es war eindeutig dieselbe Frau, aber jetzt sah sie ausgemergelt, krebskrank und alles andere als schön aus.
Wer weiß, was der Vollmond sonst noch alles kann?
DIE ETWA siebzigjährige Frau, die mir in der Eingangshalle gegenüberstand, machte einen sehr gepflegten Eindruck; ihrer Kleidung sah ich an, dass sie bei der Auswahl nicht sparen musste. Fast schon nüchtern, kühl und sehr geschäftsmäßig gab sie in Form einer Firmenverlautbarung bekannt, ihr »Verlobter«, der bekannte Technikpionier Horst Vockenroth, sei im hohen Alter von 91 Jahren – »völlig unfassbar für alle, die ihn kannten« – an einem Herzinfarkt gestorben. Sie und ihre Tochter, die in wenigen Minuten noch eintreffen würde, wollten sich nun um die Bestattung von Herrn Vockenroth kümmern.
Der Name Vockenroth war mir natürlich sofort ein Begriff. Die bahnbrechenden Erfindungen dieses aus ganz bescheidenen Arbeiterverhältnissen stammenden Mannes hatten Bereiche der Technik und des Alltags entscheidend verändert, und seine Patente hatten ihm ein Milliardenvermögen eingebracht.
Als ich die Frau, die sich als Frau Bauer vorgestellt hatte, in eines der Beratungszimmer führte, rauschte ihre etwa fünfzigjährige Tochter in die Halle, blieb wie angewurzelt stehen und rief als Erstes: »Mama, du hast doch wohl noch nichts unterschrieben, oder? Du solltest doch auf mich warten!«
»Ich habe noch gar nichts gemacht, Ulrike«, antwortete Frau Bauer. Ich wandte mich der Tochter zu, streckte meine Hand zum Gruß aus, die sie aber ignorierte. Mit hochgerecktem Kopf stöckelte sie an uns vorbei.
»Hier geht’s rein, ja? Dann lassen Sie uns mal zur Sache kommen, wir haben nämlich noch einen Termin beim Notar.«
Ich stand immer noch mit ausgestreckter Hand ziemlich verdutzt da, und Frau Bauer war das Verhalten ihrer Tochter sichtlich peinlich.
»Na, kommen Sie vielleicht heute noch?«, fragte die Tochter hinter mir.
Mit einer fast schon balletttänzerischen Grazie drehte ich mich trotz meiner körperlichen Größe um, erwischte die Frau noch am Zipfel ihres Mantels und hielt sie fest.
»Was soll das denn?«, keifte sie.
Ich schaute nur ganz unschuldig, hielt ihr wieder die Hand zum Gruß hin und sagte nur: »Tach!«
Etwas widerwillig ergriff die Tochter daraufhin meine Hand. »Maternas, Ulrike Maternas, guten Tag.«
»Na, geht doch! Bitte sehr, meine Damen, treten Sie ein!«
Als wir uns setzten, fing Frau Maternas wieder an: »Und was sollte das da gerade eben? Was denken Sie eigentlich, wer Sie sind?«
»Ich denke da gar nicht, ich BIN hier der Hausherr. Ich pflege meine Gäste zu begrüßen und erwarte, so wie es allgemein üblich ist, dass sie wenigstens ansatzweise so viel Höflichkeit aufbringen, meinen Gruß zu erwidern.«
»Alles nur Floskeln, die unnötig Zeit kosten, und Zeit ist kostbar. Wir haben noch einen Termin beim Notar, also lassen Sie uns bitte zur Sache kommen.« Und sich an ihre Mutter wendend fuhr sie fort: »Oder sollen wir jetzt lieber zu einem anderen Bestatter gehen? Was meinst du, Mama?«
Mama verzog nur das Gesicht und sagte mit einem Blick auf ihre kleine diamantenbesetzte Armbanduhr: »Wenn wir noch zum Notar wollen …«
»Du hast recht, Mama!«, entgegnete sie, legte ihre schmalen, sehr gepflegten Hände auf die Unterarme ihrer Mutter und wandte sich wieder mit betont hochgerecktem Kinn zu mir:
»Na, dann aber jetzt mal los! Wir haben schon so viel unnötige Zeit verplempert.«
Während ich die Mappe mit den erforderlichen Unterlagen aufschlug und die passenden Formulare herauszog, hatte ich kurz weitere Gelegenheit, die beiden Frauen zu betrachten.
Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen und hätten, wäre da nicht der Altersunterschied gewesen, durchaus Zwillinge sein können: schmales, gutgeschnittenes Gesicht, blonde Haare, strahlende blaue Augen und eine etwas spitze, aber durchaus schöne Nase. Beide trugen offenbar den gleichen leuchtend roten Lippenstift. Man kann durchaus sagen, dass sie sehr gut aussahen.
»Können wir den albernen Papierkram nicht hinterher machen?«, fragte die Tochter mit einem hektischen Blick auf ihre Uhr. »Lassen Sie uns doch erst die notwendigen Sachen aussuchen.«
»Wir sind hier schnell durch«, sagte ich und begann die persönlichen Daten des Verstorbenen abzufragen.
Als Auftraggeberin ließ sich Frau Bauer eintragen und unterzeichnete mit schwungvoller, sehr großer Schrift, ohne eines der Formulare auch nur kurz zu überfliegen.
Herr Vockenroth sollte auf dem Zentralfriedhof in Reihe 2 beigesetzt werden; dort hatte die Familie schon vor dreißig Jahren ein großes Vierergrab gekauft, direkt neben dem Erfinder Soundso und dem berühmten Psychologen Professor Doktor Soundso.
»Mein Mann war ja doch sehr bekannt, und da wollen wir ihm ein bleibendes Denkmal setzen. Das ist ein uraltes Grab, der Stein mit dem großen trauernden Engel ist bestimmt sechs Meter hoch. Sie werden das Grab sicher kennen. Auf den Sockel kommt dann der Name drauf«, erklärte mir Frau Bauer.
Ich kannte das Grab tatsächlich. Es hatte früher einer bekannten Kaufmannsfamilie in der Stadt gehört, von der allerdings seit zwei oder drei Generationen niemand mehr lebte. Solche Prominentengräber kann man dann übernehmen, muss stets für die Instandhaltung von Grab und Grabmal sorgen und darf sich dann eines Tages selbst dort bestatten lassen. So bleiben besonders schöne Gräber, ohne Kosten für die Stadt, auf dem Friedhof erhalten.
Mir war aufgefallen, dass Frau Bauer »mein Mann« gesagt hatte, was ich sogleich hinterfragte.