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Michael Panser war sein Geburtsname. Aber auch unter den späteren Namen Xelîl Viyan und Bager Nûjiyan kämpfte er für seine Träume und Ideen. Die Fragen ›Wie leben?‹, ›Was tun?‹ und ›Wo anfangen?‹ leiteten seinen Weg. Als Student bereiste er, anfangs von Berlin aus, Europa und Lateinamerika und folgte den Spuren von Kämpfen für ein freies und würdevolles Leben. Seine erste Reise nach Kurdistan sollte ihn so stark prägen, dass er immer wieder für längere Zeit nach Rojava und in die freien Berge Kurdistans ging. Als Revolutionär in Kurdistan angekommen lernte er von der dortigen Freiheitsbewegung. Mit seinen Erfahrungen knüpft er an das Leben in Deutschland an und verbindet diese mit der Frage, wie ein alternatives Gesellschaftsprojekt auch dort aussehen kann. In eindrucksvollen Tagebucheinträgen, Gedichten, politischen und gesellschaftlichen Analysen sowie Briefen und E-Mails erfahren wir von den Realitäten, in denen er lebte und kämpfte. Das Buch erlaubt uns, seine Suche nach dem richtigen Leben zu begleiten. Es erzählt in seinen eigenen Worten von verschiedenen Reisen, Internationalismus und der Suche nach Freiheit und Wahrheit entgegen der Macht des Patriarchats. Seine Geschichte ist die Suche nach einem gemeinsamen Weg hin zu einer freieren Welt und eine Aufforderung, im Hier und Jetzt daran anzuknüpfen.
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Seitenzahl: 703
Veröffentlichungsjahr: 2024
Michael Panser (1988–2018) war Revolutionär und Internationalist. Er studierte Geschichte an der Freien Universität Berlin und setzte sich intensiv mit Philosophie und politischer Theorie auseinander. Sein Leben widmete er den weltweiten Kämpfen von unten. Die Freiheitsbewegung Kurdistans sowie die Ideen Abdullah Öcalans inspirierten ihn sehr. In den freien Bergen Kurdistans wurde er, unter dem Namen Bager Nûjiyan, durch einen türkischen Luftangriff ermordet. Über viele Jahre seines Lebens schrieb er Tagebuch mit seinen persönlichen Eindrücken und politisch-philosophischen Gedanken.
Das Herausgeber_innenkollektiv besteht aus Genoss_innen und Angehörigen Michael Pansers. Sie eint, dass sie seine Tagebücher als wichtiges Zeitdokument verstehen, das Einblicke in die Gedanken eines jungen Mannes gibt, der aus dem kapitalistischen Patriarchat auszubrechen versucht.
Michael Panser – Xelîl Viyan – Bager Nûjiyan
»Werde, der du bist«
Tagebücher, Briefe und Notizen eines Internationalisten
hg. von einem Herausgeber_innenkollektiv
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Michael Panser – Xelîl Viyan – Bager Nûjiyan:
»Werde, der du bist«
Tagebücher, Briefe und Notizen eines Internationalisten
hg. von einem Herausgeber_innenkollektiv
1. Auflage, März 2024
eBook UNRAST Verlag, April 2024
ISBN 978-3-95405-195-3
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Die erste Hälfte des Buches erfuhr ein erstes Lektorat durch das Laikakorrekturkollektiv.
Illustrationen: aemjot (S. 14, 26, 32, 37, 43, 93, 106, 118, 129, 137, 180, 189, 194, 200, 209, 221, 228, 234, 242, 248; Instagram: @3mjot) und L.M.W. (S. 56, 61, 72, 85, 145, 158, 169, 215, 258, 275, 283, 298, 305, 312, 348, 354, 365, 381, 399, 401, 408, 413)
Karten: Minaekin
Umschlag: Selma Uhlisch
Satz: UNRAST Verlag, Münster
Einleitung (Herausgeber_innenkollektiv)
Erzählen als Widerstand (Ute Ruß & Thomas Gedig)
Prolog (Herausgeber_innenkollektiv)
Hoffnungssuche / November 2011 bis Dezember 2013Deutschland – Marokko – Andalusien – Deutschland – Schottland –Deutschland – Nordkurdistan – Deutschland – Nordkurdistan – Südkurdistan – Nordkurdistan – Griechenland – Deutschland – Frankreich – Katalonien – Deutschland – Qandîl
Und hier fängt die Geschichte nicht an
Es gilt, eine eigene Zeitlichkeit zu finden
Zwei Welten
Sein wie der Fluss
Die Revolution erfordert Geduld
Wir brauchen einen Plan
Von der kurdischen Freiheitsbewegung lernen
Es heißt weiblich werden
Wie ein Fluss läuft mein Weg
Leben als Kunstwerk
Gedanken einer neuen Gesellschaft
Es ist die Zeit des Zuhörens
Was tun?
Nomadisieren – sich eine Form geben / August 2013 bis Juni 2015Deutschland – Rojava – Deutschland
Das Chaos organisieren
Euer Freund ist der Wandel
Lass uns aneinander wachsen, bis wir Riesen sind
Zeit, die Seite zu wechseln
Fragmente der Selbstbefreiung
Eine andere Realität
Ihr Held_innen
Wir müssen alles neu lernen: Sprechen, Sehen, Denken
Erster Brief aus den Ruinen des Ostens
Geschichte bedeutet vor allem die Gewordenheit des Seins
Neues Paradigma des Geistes
Xwebûn – Selbtsein / Herbst 2015 bis Dezember 2018Rojava – Şengal – Rojava – Freie Berge Kurdistans
Aufbau und Verteidigung
Erkenne deine Aufgabe
Es wird eine Zeit kommen
Einen lachenden Kampf
Internationalistische Kommune
Erster Brief an die Familie
Brief an Heval Sara
Tagebuch
Brief an eine Freundin
Brief an die geliebten Maulwürfe
Tagebuch
Zweiter Brief an die Familie
Letzte Tagebucheinträge
Epilog (Herausgeber_innenkollektiv)
Ein sozialistischer Kämpfer: Bager Nûjiyan (Qasim Engîn)
Glossar
Anmerkungen
Herausgeber_innenkollektiv
Wir haben Micha–Xelîl–Bager in verschiedenen Phasen seines Lebens kennengelernt und begleitet. Nach seinem Tod war es für uns selbstverständlich, die vielen schriftlichen Teile seines Vermächtnisses zusammenzusuchen. Uns war es wichtig, dafür zu sorgen, dass sein Werk nicht verloren und sein Wirken nicht in Vergessenheit gerät. Schon kurz nach seinem Tod haben wir bereits veröffentlichte Texte in Form einer Broschüre gesammelt veröffentlicht. Er sortierte seine Gedankenwelt durch das Schreiben und auch wir hatten schon seine Briefe und E-Mails erhalten und wussten daher um die prägende Rolle, die das Schreiben in seinem Leben einnahm. Micha–Xelîl–Bager hatte eine Fähigkeit zur Analyse der gesellschaftlichen und politischen Umstände und Zustände seiner Zeit. Wir sind davon überzeugt, dass seine Gedankenwelt in seinen Texten eine Gestalt annimmt, die vielen Menschen etwas mitgeben kann – hoffentlich sogar die Überzeugung, dass eine Welt voller Hoffnung möglich ist.
Also machten wir uns auf die Suche nach den Verstecken seiner Tagebücher: in Gärten auf dem Lande, auf Dachböden in der Stadt und in der Obhut von Freund_innen. Einige Tagebücher wurden direkt nach seinem Tod nach Europa geschickt, weitere Teile sind erst viel später zu uns gelangt, sodass wir sie nachträglich eingearbeitet haben. Wir haben unzählige Weggefährt_innen aus den verschiedenen Phasen seines Lebens kontaktiert und gefragt, ob sie noch E-Mails oder Briefe von ihm hätten. Wir sprachen außerdem mit seiner Familie, Freund_innen und Weggefährt_innen aus den Bergen Kurdistans. Gemeinsam wir haben über die damalige Zeit diskutiert, überlegt, was sie besonders geprägt hat, und Erzählungen und persönliche Erinnerungen gesammelt. Über die Zeit kam so eine Fülle an Material – Tagebucheinträge, E-Mails, Briefe, Notizen und Berichte – zusammen, die den Umfang des vorliegenden Buches um ein Vielfaches übersteigt.
Die Tagebücher umfassen nicht nur zusammenhängende Einträge, sondern auch Gedichte, Notizen, Zitate, Skizzen, Vokabellisten, To-do-Listen und »Karten«, die in Form von Mindmaps philosophische und politische Gedankengängen sowie Analysen abbilden. An wenigen Stellen finden sich im Buch auch Texte, die er im Namen eines Kollektivs (mit-)formulierte. Jedes Tagebuch beginnt mit Zitaten, die für ihn eine wichtige Rolle einnahmen, von Zitaten von Şehîd Viyan Soran bis zu Bruce Lee und Zitaten aus der daoistischen Philosophie. Micha–Xelîl–Bager las viel, schaute Filme und konnte sich vor allem viele Zitate daraus merken und in sein Leben einbauen. So haben wir in seinen Tagebüchern immer wieder Rückbezüge zu seiner Lektüre gefunden, wo er mal mehr und mal weniger frei Zitate aufgreift oder in seinen Worten wiedergibt. Es kann durchaus sein, dass auch viele weitere Zitate und Bezüge auftauchen, die uns nicht aufgefallen sind. Eines seiner Tagebücher endet auch mit dem schlicht, aber künstlerisch gestalteten Wort »ENDE«, als handele es sich um das Ende eines klassischen Theaterstückes.
Für die Arbeit an diesem Buch brauchte es dann eine gute Portion an Intuition, Assoziation und eine gute Kenntnis seines Denkens und Lebens, um in einem der ersten Schritte seine handschriftlich verfassten Tagebücher und Briefe zu entziffern. Die Zeit war an der Tinte und dem Bleistiftstrich nicht spurlos vorbeigegangen. Auch benötigt seine Schrift dann und wann eine gute Kombinationsgabe, um sie zu entziffern. Anschließend haben wir das handschriftliche Material für die Archivierung gescannt und sortiert. Zu entscheiden, welche Teile tatsächlich veröffentlicht werden sollen, hat neben der Transkription vermutlich die meiste Zeit in Anspruch genommen. Dafür brauchte es mehrere Runden des Kürzens. Dieses Buch enthält schließlich eine Auswahl des Materials und nicht das vollständige Werk. Wir haben einen Schwerpunkt auf die letzten sieben Jahre von Micha–Xelîl–Bagers gelegt, in denen er sich in Europa, in Kurdistan und dazwischen bewegte. Diese Auswahl bildet seine persönliche Entwicklung und die seiner Perspektiven und Gedanken ab, sie erhebt aber nicht den Anspruch eine zusammenhängende philosophisch-politische Abhandlung zu sein. Die Freiheitsbewegung Kurdistans, die Kämpfe, die er führte, und die Orte und Situationen, an und in denen er lebte, werden durch die subjektive Perspektive seiner Tagebücher dargestellt. Seine Sicht hat sich über die Zeit zudem stark verändert, was im Verlauf des Buches auch spürbar wird.
Im Arbeitsprozess standen wir vor der Herausforderung, seine Texte dem Format des Buches anzupassen und ein angemessenes Maß für unsere Eingriffe zu finden. An zahlreichen Stellen hat er ganze Abschnitte, einzelne Sätze oder Wörter in spanischer, englischer oder kurdischer Sprache geschrieben. Wir haben uns entschieden Spanisches und Englisches übersetzt wiederzugeben. Insbesondere kurdische Begriffe aus der Philosophie der Freiheitsbewegung haben wir aber im Original belassen und in Fußnoten erläutert übersetzt. Wir haben uns auch dazu entschieden, an einigen Stellen das kurdische Original mit aufzunehmen. Wir möchten damit diese von Kolonialismus und Assimilation betroffenen Sprache deutlicher sichtbar machen. Die jeweiligen Übersetzungen sind durch graue Schrift erkenntlich gemacht.
Er hat zudem verschiedene Schreibstile gewählt. Mal schrieb er durchgehend klein, das »ß« als »sz« und die Umlaute ausgeschrieben als »ae«, »ue« und »oe«. Einerseits geht dies auf die Nutzung des verschlüsselten Computer-Betriebssystems »Tails« zurück, andererseits ist es Produkt seiner Aufsässigkeit gegenüber Regeln und als Versuch zu verstehen, auch durch Sprache Herangehens- und Denkweisen zu verändern. Später hat er wieder in der uns gewohnten Rechtschreibung geschrieben. Auch seine Form des Genderns veränderte sich mit der Zeit. Aus Gründen der Leserlichkeit haben wir uns entschlossen, die Texte an die deutsche Rechtschreibung anzugleichen. In unseren Texte nutzen wir eine einheitliche Form des Genderns mit dem Gender_gap. In den Texten Micha–Xelîl–Bagers sind wir in der Form des Genderns verblieben, wie er sie genutzt hat und haben es der Leserlichkeit halber teilweise leicht angepasst. Die Worte, die er nutzte, wandelten sich ebenso mit der Zeit wie den Konzepten und Ideen, mit denen er sich beschäftigte. Feststehende Begriffe und Konzepte haben wir bei der ersten Nennung kursiv gesetzt. In vielen Fällen gibt es an diesen Stellen auch erklärende Fußnoten. Des Weiteren haben wir Abschnitte hinzugefügt, in denen wir als Herausgeber_innenkollektiv die politische Situation, den Kontext oder konkrete Inhalte rahmen und versuchen verständlich zu machen. Teilweise sind diese von uns geschriebenen Abschnitte für ein besseres Verständnis auch innerhalb längerer Sinnabschnitte seiner Texte platziert.
Um allen Menschen, die ihn kannten und die namentlich in seinen Tagebüchern vorkommen, an die Mails gerichtet oder Briefe gerichtet sind, selbst die Entscheidung zu überlassen, wie viel sie mit wem teilen – und auch aus Sicherheitsgründen in Angesicht eines repressiv gegen die Befreiungsbewegungen vorgehenden deutschen Bundesregierung – haben wir uns dazu entschlossen, alle genauen Ortsangaben und Namen, bis auf einige wenige, die schon öffentlich bekannt sind, aus dem Buch herauszunehmen.
Neben den Texten enthält jedes Kapitel zu Beginn eine Illustration, über die wir uns sehr freuen und wodurch die verschiedenen Phasen und Orte seines Lebens bildlich dargestellt werden können. An passenden Stellen ermöglichen geografische Karten einen Überblick zu seinen Reisen und den Regionen in denen er sich aufgehalten hat. Wir hoffen, dass dadurch eine leichtere Orientierung im Buch möglich ist. Wir danken den beiden Illustratoren für ihre Kreativität und Mühe. Eine große Ehre war es, dass die Eltern von Konstantin Gedig (Şehîd Andok Cotkar) ein Vorwort zu diesem Buch beitragen wollten. Der Epilog aus Erzählungen von Weggefährt_innen Micha–Xelîl–Bagers aus den freien Bergen Kurdistans sowie der Nachruf von Şehîd Qasim Engîn erscheinen uns als würdiger und angemessener Abschluss.
Nach mehr als vier Jahren Arbeit liegt jetzt dieses Buch in euren und unseren Händen – es ist ganz anders geworden, als wir zu Beginn erwartet hätten. Wenn wir gekonnt hätten – und vielleicht wird es in ganz weit entfernter Zukunft einmal möglich sein –, hätten wir die Gedanken aus diesem Buch in viel mehr Dimensionen dargestellt als es das bedruckte Papiers erlaubt. Wir hätten uns durch Raum und Zeit geschlängelt, gedehnt, Schleifen gezogen, wären Zickzack gelaufen, mal nach vorne und mal zurück gesprungen. Denn eines war Micha–Xelîl–Bager nämlich in seinem Leben: ein Nomade und Anhänger der Nomadologie, die sich nicht nur auf eine Ebene beschränkt, sondern auf tausend Plateaus – wie es Deleuze und Guattari philosophisch ausdrücken – dachte und lebte. Dass wir zum Schluss nun doch ein recht chronologisches und gradliniges Buch vor uns haben, hätten wir nicht unbedingt gedacht und dies sei durch alle Lesenden mitgedacht, gefühlt, gerochen und miterlebt. Es ist ein Buch, das uns dazu anhalten soll, unsere eigenen Vorstellungswelten mit Träumen, Entschlossenheit und Zukunftswillen zu bereichern.
* * *
Während des Entstehungsprozesses dieses Buches wurden wir als Herausgeber_innenkollektiv durch das politische Geschehen und viele andere Umstände beeinflusst. So ist das Kollektiv in seiner Zusammensetzung nicht konstant geblieben. 2019 griff der türkische Staat mit Unterstützung islamistischer Gruppierungen und der Duldung zahlreicher Staaten Nordsyrien an, was in der Besetzung der Regionen Serêkaniye und Girê Spî endete. Über die gesamten letzten Jahre intensivierten sich die Angriffe des türkischen Staates auf verschiedene Regionen ganz Kurdistans, die unter anderem in Angriffen mittels Chemiewaffen auf die Medya-Verteidigungsgebiete gipfelte. Am 4. Oktober 2022 wurde die kurdische Aktivistin und Akademikerin Nagihan Akarsel auf offener Straße in Suleymaniya erschossen. Am 23. Dezember 2022 wurden Emine Kara (Evîn Goyî), Mehmet Şirin Aydın (Mîr Perwer) and Abdurrahman Kızıl in Paris im kurdischen Kulturzentrum in Paris erschossen. Diese Ereignisse haben uns als Herausgeber_innen berührt und beeinflusst, weshalb wir mit vielen anderen auf den Straßen gegangen sind und Veranstaltungen organisiert haben. Gleichzeitig hat die »Gira Zapatista« der Compañeroas aus Chiapas stattgefunden und es gab dabei wunderbare Begegnungen. Zum 500. Jahrestag der kolonialen Unterwerfung Abya Yalas besuchte eine zapatistische Delegation Europa. Ihr Ziel: grenzüberschreitende Vernetzung und die Kämpfe für ein würdevolles Leben verbinden. Wir haben das zehnjährige Bestehen der Rojava-Revolution gefeiert, an verschiedenen politisch-gesellschaftlichen Aufbauprozessen teilgehabt, an der zweiten Weltfrauenkonferenz teilgenommen und waren anlässlich der anhaltenden Aufstände in Rojhilat und dem Iran auf den Straßen. 2023 hat die vierte Konferenz des »Network for an Alternative Quest« zu Herausforderung der kapitalistischen Moderne stattgefunden. Auf der zweiten Konferenz 2015 sprach Micha–Xelîl–Bager zum Thema Macht und Wahrheit. Als Herausgebende sind wir Teil der Kämpfe und werden es weiter sein. Dieses Buch gehört ebenfalls dazu und ist in den Fluss der Zeit eingewoben. Deshalb wurde es manchmal hinten angestellt, manchmal intensiver bearbeitet.
Viele Menschen haben an dem Buch mitgewirkt und wir danken ihnen allen: den Lektor_innen das Laika-Verlages, die mit uns gemeinsam das Buch im Laika-Verlag veröffentlicht hätten, wenn der Verlag nicht aufgelöst worden wäre, der Gestalterin unseres wunderbaren Covers, den beiden Illustratoren, der Zeichnerin der Karten, den Probeleser_innen, die uns hilfreiches Feedback gegeben haben, der Familie von Micha–Xelîl–Bager, seinen Freund_innen und Weggefährt_innen. Wir danken ihnen und vielen Weiteren, die hier nicht alle einzeln genannt werden, für ihre Unterstützung und dass sie uns das Vertrauen entgegengebracht haben, um dieses Buch entstehen zu lassen.
Wir hoffen, durch dieses Buch einer »Internationalen der Hoffnung« wieder einige Schritte näher zu kommen. Wir alle können dazu beitragen.
Ute Ruß & Thomas Gedig
Gemeinsamkeiten von Şehîd Bager Nûjiyan und Şehîd Andok Cotkar führten zu der Bitte an uns Eltern von Andok (Konstantin Gedig), einleitende Sätze anlässlich der Veröffentlichung von Şehîd Bagers Briefen zu schreiben.
In den Regalen der Buchhandlungen stapeln sich kritische Publikationen mit Titeln wie Small is Beautiful, Die Klimakämpfer, Vom Ende der Landwirtschaft, Klasse und Kampf oder Die konkrete Utopie der Menschenrechte. Mit isolierten Bewegungen wie Fridays for Future, #MeToo und Black Lives Matter füllen sich die Medien, Straßen und Gespräche. Sie werden von großen Teilen der Gesellschaft anerkannt, solange sie etwas frech, aber nicht zu radikal auftreten.
Gleichzeitig gehen notwendige Diskussionen in Deutschland, Europa und der Welt sträflich langsam voran. Unsere politischen Vertreter_innen trauen sich und der Bevölkerung zu wenig zu, schielen auf Umfragewerte, reden den (Menschen-)Rechten zwar das Wort, aber schließen mit Autokraten und Diktatoren millionenschwere Geschäfte ab, damit diese weiter ihre Kritiker_innen einschüchtern, vertreiben oder ›beseitigen‹. Orientierung? Glaubwürdigkeit? Perspektiven?
Werden die richtigen Fragen ernsthaft gestellt und bearbeitet? Wie ist ein gutes, faires, ein menschenwürdiges Leben für alle möglich, nicht nur für uns Privilegierte in den Industriestaaten? Wie können sich Gesellschaften gegen die gnadenlose Ausbeutung von Menschen und Natur durch den Menschen und das Kapital und gegen Rassismus, Sexismus und Unterdrückung aufstellen?
Michael und Konstantin sind sich in Rojava begegnet. Michael unterrichtete politische Bildung für neue Internationalisten in der Akademie. Konstantin, im September 2019, frisch in der Akademie angekommen, nahm daran teil. Beide stimmten in ihrer Verurteilung der Gleichgültigkeit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen, gegenüber Unrecht, Unfreiheit, Ungerechtigkeiten, Gewalt und den Brüchen des universellen Völker- und Menschenrechts, überein.
Beide sahen, dass viel Gutes bewirkt und Schutz gegeben werden könnte, wo Missstände herrschen. Die jungen Männer wollten sich nicht auf Deutschland und Europa verlassen, die kein Interesse an Veränderung haben. Sie wollten und mussten selbst aktiv werden. So beschritten sie konsequent und konstant ihre Wege. Obwohl klug und eloquent, entschieden sie sich gegen den politischen Weg in Deutschland. Sie wählten ihre Wirkungsorte bei den Menschen in Kurdistan. Dies entschieden Şehîd Bager Nûjiyan und Şehîd Andok Cotkar, obwohl sie um die mannigfaltigen Gefahren vor Ort wussten. Die Menschen kennenzulernen, sich zu vergewissern, dass die eigene Entscheidung richtig war, gemeinsam mit ihnen eine Zukunft zu entwickeln, eine freiheitliche, selbstbestimmte Gesellschaft in Sicherheit zu gestalten: das war ihr Ziel. Sie wurden mit offenen Herzen aufgenommen. Ihre neue Heimat wurde Kurdistan.
Michael stellte sich schon in seiner frühen Jugend grundsätzliche Fragen nach der Sinnhaftigkeit unseres sogenannten way of life: wie kam es zur Vereinzelung des Individuums, zur Entfremdung mit der Natur, der Rollenverteilung von Frau und Mann und deren gesellschaftlicher Bewertung, der Ökonomisierung der Arbeitskraft und vielem mehr.
Seine autobiographischen Briefe geben uns einen Einblick in seine von Sozialismus und Wende geprägten Jugendjahre und ihren desillusionierenden Folgen auch für seine Familie im Osten. Er überlegte, warum er studieren sollte und wie sinnhaft es sei, »in dieser bunten Konsum-Karriere-Metropole« zu leben. Wie viele junge Leute befasste er sich mit der Weichenstellung für sein Leben: »Was ist die angemessene Form zu leben, in einer Situation, in der im Grunde die ganze Jugend vor die Wahl gestellt ist, sich gegen die eigene Generation im Karriere-Konkurrenz-Kampf durchzusetzen oder sich dem Heer der Abgehängten anzuschließen, sich vom Job-Center drangsalieren zu lassen und individuell nach dem Glück zu suchen, eine Nische zu finden« (S. 326 in diesem Buch).
Der junge Mann nahm sich bewusst die Zeit »sich mit dem eigenen Leben auseinanderzusetzen, mit der Welt wie sie war, als wir hineingeboren worden sind und, noch wichtiger, wie sie sein wird, wenn wir sie verlassen werden. Was wird besser sein und warum ist es ›besser‹? Was haben wir dazu beigetragen?« Mit diesen leitenden Fragen an sich selbst und die Gesellschaften beschäftigte er sich viele Jahre und war ein Lernender auch während seiner Zeit in den Bergen.
Der von Şehîd Bager Nûjiyan zitierte Zarathustra sagte: »Richtig denken, wahr sprechen, gut ausführen«. Könnte dies das übergeordnete Motto seines Lebensweges gewesen sein? Macht euch selbst ein Bild und begleitet ihn auf seiner Reise.
Şehîd Namirin!
Herausgeber_innenkollektiv
In einem Dörfchen im flachen ostdeutschen Brandenburg begann die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird. Von hier aus startete die Reise unseres Freundes Micha, der in seinem Kampf zu Xelîl und später zu Bager wurde. Hier nahmen seine Reise, seine Suche und sein Kampf ihren Anfang, welche ihn auf verschlungenen Pfaden in die unterschiedlichsten Territorien der Welt führten. Sein Weg wird uns an vielen Punkten an uns selbst erinnern und für uns ein Spiegel sein. Die Zeit und die politischen Geschehnisse hinterlassen ihre Spuren in unseren Biografien. Sie prägen uns und unsere Gedanken, unsere Sicht, unsere Leben und unsere Wahrnehmungen der Welt.
Unser Freund wurde im September 1988 geboren. Er wuchs auf in einer Zeit voller Umbrüche, die in Deutschland – Ostdeutschland – vor allem durch den Realsozialismus der DDR und dessen Zusammenbruch, der sich im Mauerfall und der sogenannten Wende manifestierte, geprägt war. Micha dagegen fand vorerst in dem gediegenen Saarmund, umgeben von Kiefernwald und in einem der sandigen Teile Brandenburgs gelegen, Orte für großartige Kinderabenteuer in der Natur. Auf diese Weise also sollten seine Reisen und Auseinandersetzungen mit der Welt beginnen.
In jener Zeit, welche die Gesellschaft tief erschütterte, war Michas Familie ein Ort der Geborgenheit und Sicherheit. Vor allem seine Mutter mit ihrem starken Gerechtigkeitssinn nahm eine zentrale Rolle innerhalb der Familie ein. Gemeinsam mit dem Vater vermittelte sie den Kindern sozialistischen Werte und schuf einen vertrauten Ort zum Großwerden. Später war es Michas großer Bruder, der ihm, neben seiner Mutter, gerade in seiner Politisierung ein Vorbild sein würde. Mit der kleineren Schwester verbrachte er die schönsten Stunden beim Buddeln im Sandkasten. Als sie älter wurden, waren die beiden mit ihren Cousins als Jugendgang unterwegs. Es verband sie vor allem die Musik und die gemeinsamen Auftritte bei Familienfeiern. Während Micha in Kindertagen bisweilen als ›aufmüpfige Quasselstrippe‹ bezeichnet wurde, wuchs er zu einem impulsiven, rebellischen jungen Mann heran, der sich gegen seinen Vater auflehnte und nach Formen der Aushandlung in der Familie suchte.
Micha war ein sehr wissbegieriger Mensch, ein Geschichtensammler und -schreiber, der die Grenzen des starren Systems der Schule nicht ohne Widerstand hinnahm. Mit steter Protesthaltung wehrte er sich gegen den Druck jener Institution, die die jüngeren Menschen vor allem darauf vorbereiten soll, ›etwas zu werden‹, schon im Kindesalter an der eigenen ›Karriere‹ zu arbeiten, anstatt sich auf den Weg der Selbstwerdung zu begeben. Dabei waren für Micha seit seiner Kindheit neben der Verbundenheit zur Natur auch die Musik und Literatur wichtige Formen, das gesetzte Leben herauszufordern und neue Wege sowie Inspiration zu finden.
Das wichtigste Möbelstück in Michas Kindheits- und Jugendzimmer war zweifellos sein Schreibtisch. Bei Kerzenschein hat er dort viele Nächte lang gelesen, später für die Schule und das Leben gelernt und seine Tagebücher abgetippt. Seine Bücherregale waren bis auf den letzten Zentimeter mit vielfältiger Lektüre gefüllt. Lehrbücher mehrerer Sprachen sind darin genauso zu finden wie Bücher über Kampfkünste, Geschichte, Kinderbücher, verschiedenste Romane und Fantasy-Klassiker. Die tiefen und verschlungenen Welten der Bücher waren für ihn aus seinem Leben nicht wegzudenken. So traf man ihn, nahezu egal in welcher Situation, immer mit einem Buch in der Hand an. Oder man entdeckte in einer seiner vielen Erzählungen hier und dort ein wichtiges Zitat, das er sich zur Lebensweisheit genommen hatte. Auch in seinen Tagebüchern stößt man häufig auf – aus einer seiner Lektüre oder aus Filmen – entliehene Sätze und Phrasen.
Am Kleiderschrank in seinem Zimmer lehnte die Gitarre, direkt dahinter stand der Bass. Auf dem Schrank ruhte die Geige, die schon viele Jahre gezählt hat und für Micha ein sehr besonderes Instrument war. Er hatte sie gemeinsam mit seinem Vater bei einem Geigenbauer in der Region gekauft. Gerne erzählte er von jenem Erlebnis in der verwunschen wirkenden Werkstatt des alten Handwerkers. Michas Begeisterung für die Musik spiegelte sich in seinem Gemüt wieder. Stets hatte er eine Melodie im Ohr oder auf den Lippen; das Musizieren und auch die Musik an sich sorgten für Momente, mit denen er Menschen zusammenbrachte und auf lebendige Art und Weise politisierte.
All dies zog sich durch sein Leben und ermöglichte ihm, in seinem Denken und Handeln flexibel zu bleiben und mit anderen Blickwinkeln auf das Hier und Jetzt zu schauen. Bereits in seinen frühen Jahren war es nicht zuletzt diese Vielfalt an Interessen, die ihm so zahlreiche unterschiedliche Perspektiven eröffnete: Bücher über politische Theorien; metaphysische Abhandlungen und Geschichten von weit entfernten Galaxien oder anderen Sphären und Kreaturen; die lustige Punkband, in der er an der Gitarre, am Bass und mit seinem Gesang dem Gefühl der Notwendigkeit eines Aufbruchs Ausdruck verlieh.
Auch als Schüler zeigte er sich, nicht zuletzt dank seiner offenen Art, diskussionsfreudig, trat in Aushandlung mit seinem Gegenüber, ob Schüler_in oder Lehrkraft, und argumentierte seine politische Sicht auf die Dinge. Vor allem seine antifaschistische Haltung verteidigte er vehement gegen die wieder lauter werdenden faschistischen Positionen und vermehrten Angriffe. Vor dem Hintergrund des Mauerfalls, den in Verknüpfung damit geschürten nationalstaatlichen Wiedervereinigungsparolen der weiß-deutschen Bevölkerung, sowie der nicht ausreichend aufgearbeiteten nationalsozialistischen Geschichte Deutschlands traten faschistische Positionen in Ostdeutschland wieder stärker und sichtbarer hervor. Dieses politische Klima spitzte sich in den 1990ern in rassistisch-faschistischen Anschlägen und Pogromen gegen Unterkünfte von Migrant_innen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen zu. Auch in Brandenburg stieg vor allem Anfang der 2000er die Zahl gewalttätiger faschistischer Angriffe an: gegen Migrant_innen, aber auch gegen links-alternative Menschen, die sich klar gegen die zunehmende rechte Stimmungsmache positionierten. Sowohl in der Stadt Potsdam als auch in den umliegenden Dörfern kam es zu zahlreichen verbalen und physischen Übergriffen durch Neonazis. In linken Kreisen bildeten sich antifaschistische Gruppen, um sich und ihre Projekte zu verteidigen und organisierten Widerstand zu leisten. Mit dem Vorbild seines älteren Bruders und der eigenen sozialistischen Weltanschauung, die er von klein auf von seinen Eltern mitbekommen hatte, organisierte sich Micha in einer dieser Gruppen. Im Fokus standen in erster Linie die eigene Selbstverteidigung und der Kampf gegen faschistische Akteur_innen in der Region, beispielsweise durch direkte Blockaden faschistischer Aufmärsche. Doch auch die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und ihrer faschistischen Kontinuität spielte eine Rolle. Die sogenannte Wende und veränderten Realitäten der ostdeutschen Bevölkerung waren noch frisch spürbar. Dadurch waren die direkten Auswirkungen des Kapitalismus auf die Leben der Menschen, vor allem der Jugend, ein alltägliches Thema. Geschichte, Zukunft und Gegenwart des Kapitalismus in Deutschland, aber auch weltweit, spielten alle eine wichtige Rolle in seiner damaligen Politgruppe.
Nicht nur weil er ihn durch die faschistische Bedrohung als Notwendigkeit erlebte, interessierte sich Micha für Kampfsport. Seine Annäherung an Kampfkunst beinhaltete vielmehr auch sehr philosophische und ideelle Aspekte. Das bedeutete für ihn beispielsweise, Selbstverteidigung auf jeden Moment bezogen zu leben, als Teil des Lebens zu begreifen. Auf alles vorbereitet und nichts dem Zufall überlassend traf man Micha immer auf seinem Fahrrad an, mit dem er tagtäglich, von der Wetterlage völlig unabhängig, zwischen Dorf und Stadt hin- und herfuhr. Sport und Bewegung waren für ihn ein wichtiger Ausgleich: einerseits physisch, allein schon wegen seines seit Kindheitsalter anhaltenden Asthmas, das ihn vor allem im Frühling mit den Pollen oder in dunstigen alten Häuserecken einholte; andererseits gedanklich, um gegen verstaubte und verkrustete Denkweisen vorzugehen, mit denen er mindestens genauso sehr kämpfte. Auch der Sport an sich wirkte sich auf Michas mentale Welt aus. So legten erste selbstorganisierte Selbstverteidigungstrainings in Potsdam die Grundlage, um sich später in die Philosophie Bruce Lees zu vertiefen und sie für sich als eine Philosophie des Lebens anzunehmen.
»Be water, my friend« – dieses zentrale Motto inspirierte Michas Streben, starre Formen zu überwinden und sich auf den Weg des xwebûn – wie es die Freiheitsbewegung Kurdistans nennt –, des Selbstseins, und auf die Suche nach Freiheit zu begeben. In diesem Spannungsfeld zwischen Selbsterkenntnis im Ist-Zustand und ständigem Wandel zugunsten einer freiheitlicheren Persönlichkeit war er berühmt für seine stundenlangen Spaziergänge. Er liebte diese Momente, ob mit oder ohne Begleitung, und hielt sich physisch als auch geistig immer in Bewegung. Auf seinen Streifzügen spürte er so nicht nur die Kraft der Natur, sondern erschuf auch neue Räume für Gedankenspiele sowie tiefgründige Gespräche.
Stundenlang und bis in die Nacht hinein konnte man sich mit ihm über alles Mögliche austauschen, sich mit ihm streiten und an einer anderen, freieren Zukunft spinnen. Er liebte es zu diskutieren, gemeinsam den Träumen durch Worte einen Platz zu geben und die Vielfältigkeit der kämpfenden Realitäten kennen und verstehen zu lernen. Michas offenes Gemüt und seine Fähigkeit, mit verschiedensten Menschen ins Gespräch zu kommen, schufen beständige und oftmals enge Verbindungen und Freundschaften, die ihm sehr am Herzen lagen. Vor allem in seiner Jugend war er Teil verschiedenster Freundeskreise, sei es an der Schule, in der Politgruppe oder der Punkband.
Die in ihm heranwachsende Ungeduld in zwischenmenschlichen Beziehungen und Aushandlungen war vor allem ein Ausdruck der Sehnsucht danach, freundschaftliche Beziehungen zu vertiefen und sich nicht mit leeren, maskierten Hülsen von Freundschaft zufriedenzugeben. In linkspolitischen Kreisen stieß er nach einiger Zeit auf starre Strukturen im Umgang miteinander und war zusätzlich selbst in seiner eigenen erlernten männlichen Rolle gefangen. In sich und seine Gedanken gekehrt suchte er die Verbindung mit anderen Menschen eher über das Politische. In klassischer Prägung eines Mannes der kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft stand er sich damit manchmal selbst im Weg, indem er seine Emotionen in sein Inneres verbannte und auf der analytischen Ebene verharrte. Oft nahm er sich darin zurück, seine Bedürfnisse, Sorgen, Hindernisse und Ängste zu teilen. Er suchte nach kollektiven Verbindungen auf der Grundlage ehrlichen Vertrauens, ohne zunächst selbst zu wissen, was genau das heißen könnte. Er kämpfte mit den individualisierenden, vereinzelnden und patriarchalen Formen von denen soziale Bindungen in kapitalistisch-patriarchalen und neoliberalen Gesellschaften geprägt sind, und versuchte zu verstehen, wie man sich Menschen öffnen und ehrliche Verbindungen aufbauen kann. Ein Kanal für sein Inneres wurden in dieser Zeit seine Notizen, Texte und Gedichte, die in diesem Buch in Ausschnitten vorliegen.
Auf der Suche nach wahren und tiefen Beziehungen, die die Schranken der patriarchalen Männlichkeit sprengen, ergründete er die Liebe. Auch hier stieß er in sich und in seinen Liebesbeziehungen auf jene Grenzen, die sich über das 5.000 Jahre andauernde Patriarchat in uns eingeschrieben haben. Zugleich konnte allein sein wachsendes Bewusstsein darüber diese Strukturen nicht aufbrechen. Um dem zu trotzen und Wege zur Überwindung dieser ansozialisierten Einschränkungen zu finden, versuchte er, die Begrenzungen klassischer Formen der Liebe innerhalb romantischer Beziehungen auszudehnen und zu verändern. Dies bedeutete Schmerz und viele Aushandlungen mit allen Beteiligten, führte ihn aber dazu, Liebe tiefer zu begreifen, in den belastenden wie schönen Aspekten. Sie als einen Ausgangspunkt des gemeinsamen Kampfes zu verstehen, sie im Kampf und der Veränderung selbst zu entdecken, sie im nicht immer einfachen Prozess der Zerstörung der eigenen dominanten Männlichkeit zu finden. Micha wollte Liebe in der Verbindung zum Leben, zu der Natur und den Menschen, der eigenen Gesellschaft finden. Denn jene Liebe ist es, die uns Brücken über jegliche Hindernisse und Schwierigkeiten bauen lässt, die uns unsere Entschlossenheit und Willen gibt, wirklich etwas zu verändern. Sein Ergründen der richtigen Form der Liebe zu Menschen, zum revolutionären Kampf, zur Natur, letztlich zum Leben selbst führte ihn auf den Weg, welchen wir in diesem Buch nachlesen können und der ihn schlussendlich in die Berge Kurdistans bringen sollte.
Doch zuvor noch durchlief er zahlreiche Entwicklungen, die die späteren erst ermöglichten. In einer Zeit, in der die Linke, nach dem Ende des Realsozialismus im Osten und dem Niedergang der antiimperialistischen und nationalen Befreiungsbewegungen, geschwächt war und vielerorts in eine Art Ohnmacht fiel, fand sich auch der damals jugendliche Micha in einem Zustand mangelnder Orientierung wieder. Der antifaschistische Widerstand und die autonomen Selbstverteidigungsgruppen boten nicht die notwendigen und ausreichenden Antworten auf die gesellschaftlichen Probleme, die er wahrnahm und in seinem eigenen Leben spürte. Er blieb auf der Suche.
In diesen Jahren erhoben sich aufgrund der rapiden Globalisierung der Welt und der damit einhergehenden Ausweitung des Kolonialismus und Kapitalismus auf jegliche Bereiche des Lebens und der Erde zahlreiche und lautstarke Proteste. Die sogenannten Gipfelproteste in den Anfängen der 2000er-Jahre wurden daher zu einem wichtigen Bezugs- und Ausgangspunkt antisystemischer Bewegungen von unten und links. Hunderttausende Menschen protestierten weltweit gegen die hinter verschlossenen Türen stattfindenden Treffen der Regierenden der großen kapitalistischen Mächte. Es entstand eine Antiglobalisierungsbewegung von unten, die nicht nur linke, sondern auch weitere zivilgesellschaftliche Akteur_innen mobilisierte. Sie waren Teil des Beginns eines neuen Zeitalters zur Wende des 21. Jahrhunderts und führten zum Aufbruch eines neuen Internationalismus. Mit den neuen digitalen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, aber auch mit der steigenden globalen Mobilität, veränderten sich und erstarkten der internationale Austausch und die Vernetzung von Kämpfen. Doch der parallel stattfindende Aufschwung faschistischer Tendenzen und die weit verbreitete Perspektivlosigkeit der Linken prägten diese Phase im gleichen Maße.
Zur gleichen Zeit beteiligte sich Deutschland an Angriffskriegen. Die Diskursverschiebung rund um Terrorismus und auf Terrorismus als omnipräsente Bedrohung nach den Angriffen auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York veränderten die Herangehensweise der imperialistischen Staaten. Die imperialen Kriege des Westens in Afghanistan und dem Irak wurden zu einem entscheidenden Wendepunkt dieser Phase, welcher jedoch keine geschlossene Antwort der Linken zur Folge hatte, sondern in manchen Teilen sogar die Ohnmacht verschärfte. Gleichzeitig war auch damals schon klar, dass es eine Alternative geben muss.
Die Gipfelproteste und die sich international ausweitende antikapitalistische Bewegung schlugen auch in Lateinamerika ihre Wellen. Der Widerstand richtete sich gegen das gesamte politisch-wirtschaftliche Establishment, die Hunderte an Jahren anhaltende Kolonialisierung des Kontinents und die damit einhergehende Unterdrückung der indigenen Bevölkerung. Der Slogan ›Que se vayan todos‹ ›Sie sollen alle abhauen‹ hallte in zahlreichen Regionen Argentiniens wider. In Ländern wie Bolivien oder Ecuador standen Persönlichkeiten wie Evo Morales und Rafael Correa für den Aufbruch und eine Alternative in Form von neuen, linken Regierungen entgegen der aufkommenden Neoliberalisierung durch kapitalistische Mächte, allen voran die USA, und deren Ideologie.
Weltweit waren soziale Bewegungen auf der Suche nach Auswegen und Alternativen zur kapitalistischen Moderne und den illusionären Verheißungen der Nationalstaaten. In dieser Phase entschieden sich die Zapatistas, eine Bewegung im Süden Mexikos, nach ihrem jahrelangem Kampf gegen die ›schlechte Regierung‹, wie sie die staatliche Regierung nennen, für einen wichtigen und neuen strategischen Schritt. Als Antwort auf die Ignoranz der kolonialen offiziellen Politik des mexikanischen Staates gegenüber der indigenen Bevölkerung begannen die Zapatistas, ihre eigenen Autonomiestrukturen auszubauen. Neben ihrem militärischem Arm, der EZLN[1], erschufen sie eigene demokratische Strukturen – die Juntas Räte der Guten Regierung, die im August 2003 ihre Arbeit aufnahmen. Gleichzeitig mit dem Präsidentschaftswahlkampf 2005 in Mexiko begannen die Zapatistas eine offene und breite Kampagne aller linken Basisorganisationen, die sogenannte ›andere Kampagne‹. Grundlage dazu bot ihre »Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald«, in der sie sich, ihre Praxis, Ziele und Sicht auf die Welt darstellten. Ziel der Kampagne war, die außerparlamentarischen Bewegungen und Gruppen zu vernetzen, zu stärken und so nicht nur dem bestehenden mexikanischen Parteiensystem und dessen kolonialer Politik eine Absage zu erteilen, sondern sich als Bewegungen von unten selbst zu organisieren. Mit einer landesweiten Rundreise, bestehend aus einer Delegation unter Beteiligung der Zapatistas sowie aller an der ›anderen Kampagne‹ beteiligten Organisationen, sollte ein ziviles landesweites Programm des Widerstandes und des Kampfes gegen das kapitalistische politische System entwickelt werden. In diese Zeit fällt auch die Rebellion der APPO, der Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (Gesellschaftliche Versammlung der Gemeinschaften von Oaxaca). Diese war ein Bündnis aus etwa 350 Organisationen, indigenen Gemeinden, Gewerkschaften und bürgerlichen Zusammenschlüssen, die zu Tausenden im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca auf die Straße gingen und sich organisierten, um für ihre Rechte einzustehen und sich gegen die korrupte Staatsregierung zu stellen. Auch der Aufstand der Straßenhändler in Atenco war ein Ausdruck des Widerstands gegen die unterdrückerische Regierungspolitik und zunehmende Militarisierung des Staates. Eine zentrale und repräsentative Rolle spielte in dieser Phase und insbesondere im Austausch zwischen den verschiedenen Bewegungen Subcomandante Marcos[2] als Sprecher der EZLN.
Die entstandenen Risse im System, die immer stärker werdenden Widersprüche und die aufkeimenden, real sichtbaren Alternativen gaben der Linken auch in Europa, in Deutschland, im wie ein Museum anmutenden Potsdam und in Michas beschaulichen Kindheitsdorf neue Hoffnung und Inspiration. Gegen die gesellschaftliche Atmosphäre des ›There is no alternative‹ ›Es gibt keine Alternative‹ setzte sich das aufblühende und Feuer entfachende Gefühl des ›Eine andere Welt ist möglich‹ durch. Die Kämpfenden in Lateinamerika, allen voran die Zapatistas, mit den poetischen Geschichten und Kommuniqués des Subcomandante Marcos, fanden eine Sprache, die die Herzen der Menschen, auch Michas, berührte. Sie zeigten neue Wege auf.
Diese Geschehnisse, die er über verschiedene Medien und Erzählungen mitbekam, weckten großes Interesse in Micha; er versuchte, die Kämpfe auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans besser zu verstehen und kennenzulernen. Sein Streben, die Zusammenhänge, die Situation und Realität der Ausbeutung und des Widerstands dort zu begreifen, war nie ein Selbstzweck. Er wollte die ungerechte Situation weltweit verändern. Das bedeutete für ihn auch, Verknüpfungen herzustellen: Das Leben und die Kämpfe in Lateinamerika selbst zu spüren und näher zu erfahren, verband er stets mit der Frage, was wir für den Kontext in Deutschland und die eigenen Kämpfe daraus lernen und mitnehmen können. Er verkörperte den Geist des neuen Internationalismus, die Verbindung des gemeinsamen globalen Kampfes im Zusammenhang mit den jeweiligen Kämpfen und Realitäten in den lokalen Zusammenhängen. Schnell lernte er Spanisch, weil direkter Austausch für ihn immer wichtig war und er die Welten sehen konnte, die sich hinter den Sprachen verbergen. Denn ein Wort in der eigenen Muttersprache von einer fremden Person zu hören, die mit dem aufrechten Wunsch gekommen ist, die verschiedenen Realitäten zu verstehen und dir zuzuhören, ist wie eine Hand, die von einer Freund_in gereicht wird, die zum gemeinsamen Kampf auffordert. Diese Haltung spiegelte sich in Michas Begierde wider, sich zahlreiche Sprachen anzueignen, um mit den Menschen selbst sprechen zu können.
So machte sich Micha 2009 schließlich zum ersten Mal auf den Weg nach Mexiko und in die zapatistischen Gebiete, gemeinsam mit weiteren Freunden und Weggefährten, die die gleiche Sehnsucht und die gleichen Fragen nach Freiheit und einer gesellschaftlichen Alternative teilten. Sie überquerten den Ozean, um die sozialen Bewegungen und Kämpfe vor Ort kennenzulernen. Gleichzeitig war diese Reise auch Teil einer Suche nach der eigenen Rolle im internationalen antikapitalistischen Kampf, aber auch in den eigenen Kämpfen mit ihren lokal variierenden Zielen in Deutschland. Beständig diskutierten sie, wie die Widerstandserfahrungen Lateinamerikas in den eigenen Kontext einzubetten sind, inwiefern Teile davon auch übertragbar sein könnten. Als Menschenrechtsbeobachter in Chiapas lernten sie die dortige Lebensrealität der zapatistischen Gemeinden kennen und erhielten Einblick in die bis heute andauernde koloniale Geschichte und die anhaltenden paramilitärischen Angriffe[3]. Diese Erkenntnisse wurden beispielsweise durch die Lektüre von Eduardo Galeanos Werk Die offenen Adern Lateinamerikas ergänzt, in dem der Autor die jahrhundertelange ökonomische Ausbeutung und politische Dominierung Lateinamerikas durch Europa und später die USA analysiert. Bei Micha hinterließen vor allem die Offenheit der Menschen, ihre kommunale Lebensweise und die gesellschaftliche Breite des sozialen Widerstands großen Eindruck.
Diese Reise warf viele neue Fragen auf. Mit seinem 2009 begonnenen Studium der Geschichte und Lateinamerikastudien an der Freien Universität Berlin ging es Micha vor allem auch darum, die Entwicklungen sowohl in Lateinamerika als auch in Deutschland besser nachvollziehen zu können, die Widerstandshistoriegeschichte der unterschiedlichen Kontexte zu ergründen und darin Wegweiser für das Hier und Jetzt aufzuspüren.
2009 war zugleich das Jahr der großen Bildungsstreiks und europaweiten Universitätsbesetzungen, die sich gegen den neoliberalen Umbau der Universitäten richteten. Über ein halbes Jahr lang war der größte Hörsaal der Freien Universität Berlin besetzt. Dort fanden in dieser Zeit selbstorganisierte Bildungsveranstaltungen statt, Diskussionen wurden geführt und viele politisierten sich durch diese gemeinsamen Erfahrungen mit anderen jungen Menschen. Micha engagierte sich in selbstverwalteten Studierendencafés, brachte sich in der Fachschaftsinitiative Geschichte ein und wurde Referent für Hochschulpolitik des AStA, des Allgemeinen Studierendenausschusses. Vorlesungen und Seminare zu Themen revolutionärer Umbrüche, antikolonialen Widerstandes und der Geschichte von Befreiungsbewegungen interessierten ihn besonders. Als Teil der Fachschaft organisierte er das ›Histokino‹ mit, einen monatlichen Kinoabend zu geschichtlichen Hintergründen und Ereignissen. Bei einer von engagierten Geschichtsstudierenden organisierten Fahrt nach Kärnten in Südösterreich lernte er den Widerstand der slowenischen Partisan_innen gegen den Nationalsozialismus an den Orten des Geschehens selbst kennen und hörte die Erzählungen von Augenzeug_innen. In Berlin besuchte Micha viele Veranstaltungen und Proteste von antikapitalistischen, antifaschistischen und antikolonialen Initiativen. Er fuhr ins Wendland, um den Castortransport 2010 zu blockieren, und nahm regelmäßig an Kundgebungen und anderen Aktionen gegen nationalistische Aufmärsche in Brandenburg teil. Die Bewegung in Michas Umfeld und Leben bettete sich in den Geist der Zeit ein: Der damalige Finanzkollaps in Irland, Griechenland und Spanien wurde von der jungen Generation als Zusammenbruch jeglicher ›sozialer Sicherheit‹ wahrgenommen, die Notwendigkeit von Veränderung war offenkundig. Überall in Europa blühten Widerstand und Proteste auf.
Micha verfügte inzwischen über vertieftes Wissen über die Kämpfe Lateinamerikas. Er hatte Kontakte zu Freund_innen dort aufgebaut. Dies zusammen mit seinen in verschiedensten Kontexten geführten Diskussionen über die Vernetzung der politischen Arbeiten und Herausforderungen in Deutschland und Lateinamerika sowie mit seinen bereits bestehenden Verbindungen zum Leben dort motivierten ihn 2011 zu einer weiteren Lateinamerikafahrt. Er machte weitere Erfahrungen und gewann neue Kenntnisse über die Realitäten der Widerstände und des Lebens in den unterschiedlichen Teilen Lateinamerikas. Bewegungen und Organisierung in Kolumbien genauso wie in Nicaragua waren für ihn wichtige Aspekte eines großen Ganzen, das von den aktuellen emanzipatorischen Bestrebungen bis in ihre Geschichte reichte, die er besser kennenlernen wollte.
Nach dieser Reise, zurück in Berlin, zwang das Leben Micha dazu, alltäglich Zeit und Raum durchzustrukturieren: Der Weg zur Uni bedeutete eine Stunde U-Bahn-Fahrt, jeder Besuch bei Freund_innen oder von Veranstaltungen ebenso; jeden Tag begegnete er Tausenden von Menschen, doch die allermeisten blieben anonym hinter einem Schleier der fehlenden Verbindung. Diese Beziehungslosigkeit und Fremdheit von Menschen, die sich eigentlich in ihren Leben so nah sind, beschäftigte ihn sehr. Er beschloss, gemeinsam mit einer Studienfreundin, einen Ausbruch aus dem Alltagstrott der Metropole und des von gesellschaftlichen Normen geprägten Lebens zu wagen.
Die beiden reisten vom Rasthof Michendorf bei Potsdam per Anhalter Richtung Südwesten. Der Weg führte sie bis nach Nordmarokko, wo sie von Ort zu Ort wanderten, im Freien übernachteten und mit Dorfbewohner_innen ins Gespräch kamen. Der Weg durch die Atlasausläufer um Chefchaouen schockierte sie wegen der endlosen Monokultur des Marihuana-Anbaus für den zentraleuropäischen Konsum. Wie bei anderen Reisen zuvor wurde ihm auch hier die Verwobenheit von Drogen mit kolonialer Politik deutlich. Das Hinterfragen der Ausbeutung durch die kapitalistischen Metropolen und der weltweite Widerstand, der sich dagegen auf verschiedene Weise formiert, beschäftigen und bestätigten ihn immer weiter auf seiner Suche nach Freiheit und dem wahren Leben.
Was Micha ab diesem Punkt geprägt hat, wie der Fluss weiter fließt, was unseren Freund bewegte und vor Herausforderungen gestellt hat, davon sollen die folgenden Tagebücher, Briefe, E-Mails und Notizen selbst berichten. Lasst euch mitnehmen auf seine Reise. Er kann uns vieles lehren und wird uns einen Teil seiner Welt und dessen, wie er geworden ist, selbst zeigen.
Es ist enorm schwierig für mich von einem strikten, schematischen, rationalen Denken wegzukommen. Natürlich kann die Selbstbefreiung keine Flucht vor allem sein. Es gilt, was Jane formulierte: emotional ehrliche Komplizenschaften zu schaffen, und sich gleichzeitig unabhängig zu machen von den Warenströmen.
In Berlin scheint mir das nur schwer möglich. Die ehrlichsten Gespräche hatte ich nie im Alltag, sondern immer in einer Situation des Umbruchs.
Wie wird diese, unsere Zeit in ein paar Jahrzehnten gesehen werden? Ich will mein Bewusstsein über diese Zeit niederschreiben und niemals vergessen, was ich überall sehe: wie kaputt die Menschen, die Landschaft sind. Vielleicht ist mein Bild auch getragen von dem ständigen Beschwören von Krisen, doch vielleicht sind diese real?
»Wenn ihr so die Ketten der Ideen in den Köpfen eurer Mitbürger gespannt habt, könnt ihr euch rühmen, sie zu führen und ihre Herren zu sein. Ein schwachsinniger Despot kann Sklaven mit eisernen Ketten zwingen, ein wahrer Politiker jedoch bindet sie viel fester durch die Kette ihrer eigenen Ideen; dessen erstes Ende macht er an der unveränderlichen Ordnung der Vernunft fest. Dieses Band ist um so stärker, als wir seine Zusammensetzung nicht kennen und es für unser eigenes Werk halten.«[4]
Ich habe immer wieder eine Vision von Endzeitbildern, in der ich eine dunkle Straße oder eher noch eine widerlich erleuchtete, zivilisierte, ausgestorbene Straße entlanglaufe. Ich hatte lange die Vorstellung: Ich in einer Endzeitlandschaft als Reisender, Überlebender.
Ich durchstreife tote Landschaften voller toter Architektur, Zivilisationsmüll (aus älteren Tagen oder gerade erst gebaut) und Autobahnen (dem Sinnbild der Entfremdung, Zerstörung und Vernetzung, Mobilisierung schlechthin) oder ich empfinde die befreiende Abwesenheit all dessen, unberührte Natur, Einsamkeit.
Mein romantisiertes Bild des reisenden Fremdlings, überschneidet sich mehr und mehr mit dem, wie ich mich sehe und dem, was ich gerade tun will: frei reisen, lernen den Zwängen auszuweichen, die mich an einem festen Ort umzingeln. Autonom werden und das nicht im Finden eines Chefs. Ich glaube, dass der Krieg, der schon angefangen hat, oder nie aufgehört hatte, sich noch ausbreiten wird. Vielleicht leben wir wirklich in einer Zeit, der noch einige Brüche bevorstehen. Alles ist besser als die totale Verwaltung.
Je mehr ich lese und je mehr ich für mich dekonstruiere, desto mehr merke ich, dass mir eine Philosophie zu eigen wird, die immer weiter von der Norm der momentanen Welt abweicht.
ich
wer könnte ich sein außer mir?
mit meinen erfahrungen meinen träumen bleibe ich doch immer ich
ich bin mein maß aller dinge
welchen anderen maßes könnte ich mich bedienen? ich kenne nur mich,
und das nicht sehr gut.
und was bleibt von mir, wenn ich den Mann und den Weißen fortschicke, als nur ich? all die Kolonisatoren, die in meinem Kopf wohnen und immer noch den Koffer dort haben.
Es ist seltsam, ich habe zum ersten Mal das Gefühl, machen zu können, was ich will, das heißt bewusst meine Entscheidung zu treffen und zu verteidigen. Wahrscheinlich habe ich zumindest zum ersten Mal diese Stufe von Bewusstsein gefunden. Gestern Abend haben wir über uns gesprochen, über Nähe, was zwischen uns ist, und mit den anderen Menschen, mit denen wir Ähnliches teilen. Ich habe gemerkt, dass das, was meine Intuition ist, bisher von Scham oder Ängsten, zum Teil aus dem Unterbewusstsein, verschleiert war. Jedes Mal, wenn ich intuitiv bei einer Entscheidung war, konnte ich sie nicht umsetzen, weil mir abstruse Moralvorstellungen, Verhaltenskodizes und ansozialisierte Lösungen davorsprangen.
Ich habe ein unglaublich gutes Gefühl mit der ganzen Sache: mit uns, mit der Reise, mit mir. Ich verlerne jeden Tag ein wenig meiner Unsicherheit, einfach indem es den Raum gibt, darüber zu reflektieren. Jane ist mir eine unglaubliche Hilfe, einfach den ›Mut‹ aufzubringen, mich mit Gedanken auseinanderzusetzen. Ich hatte mir mal vorgenommen, ehrlich und ein ›wahrer Mensch‹ zu sein. Allerdings ist mir gestern erst bewusst geworden, in welchem Maße dies eine Selbstkritik und Reflexion voraussetzt und sich auch gegen eine ›gedankliche Faulheit‹ richtet, das heißt dem Verdrängen von ›unangenehmen‹ Gedanken, die vielleicht Tiefgreifendes nach sich ziehen. Also, um zusammenzufassen: Ich muss eine Ebene finden, um selbst Schlüsse zu ziehen: Was sind meine Bedürfnisse? Was will ich gerade? Was will ich in bestimmten Situationen? Wie geht es mir mit Entscheidungen und mit Verhaltensweisen? Wie geht es anderen damit? Wie kann ich kommunizieren? Im Zweifel heißt das wohl immer, möglichst viel zu kommunizieren, generell gegen den Zweifel und das Monster der Sorge. Jede_r ist nur so allein und verzweifelt, weil er_sie sich nicht mitteilt und austauscht.
Wir sind mitten in der Wüste, Zombieland. Ein Hotel, Restaurant am anderen, direkt dahinter Parkplätze, Supermärkte, Automechanikerei und reihenweise Ruinen der Gegenwart, Betonklötze von Farbenhäusern, Wohnungen, alles ordentlich in Reih und Glied, der architektonische Tod in Ankündigung. Nichts hier ist lebendig. All das wird nur noch durchquert, weil es unbewohnbar, lebensfeindlich ist. Die Verwaltung der Menschheit in ihrem Reproduktionsprozess der wohlverdienten ›freien‹ Tage im Jahr. Dazu die Einflug- und Abflugschneise des nächsten Großflughafens und die gesamte Stadt selbst versprüht den Charme von asphaltierten Startbahnen. Ohne uneingeschränkte Mobilität wäre ein Ort wie dieser nicht zu ertragen. Das einzig Tröstliche ist der letzte Rest Natürlichkeit, nicht in materieller Form, sondern in klanglicher. Die Brandung des Meeres auf den künstlich aufgeschütteten Strand überdeckt wenigstens bei geschlossenen Augen die kakophone Komposition. Wahrscheinlich ist all das nur in dem lethargischen Grundzustand zu ertragen, in dem sich die verwaltete Masse über die Promenade schiebt. Und dabei soll das hier noch ein schöner Ort der Zivilisation sein, ein Ort der Entspannung, der Regeneration. Dabei ist Natur nicht an einen Zweck gebunden, oder einer Verwaltung unterworfen. Vögel, die auf den Strommästen der Großstädte nisten, sind ferne Boten einer Natürlichkeit, die von vielen nicht mehr wahrgenommen werden kann in all der Entfremdung.
Und trotzdem bleibt eine Grundunzufriedenheit, unterbewusst, denn wahre Freude kann in einem Wohnblock mit Blick auf die Vernichtung kaum entstehen. Selbst der aufgeschüttete Strand ist eine Ware, angepriesen in Katalogen. Lieber sterben als hier ›leben‹[5]. Im Grunde ist all das tatsächlich einer absurden Matrix entsprungen, doch keiner fantastischen, nur der zeitgenössischen, der totalen Entfremdung und Entmenschlichung, die bereits an anderer Stelle formatiert wurde: Alles gilt es zu zerstören.
Mir ist gestern schlagartig klar geworden, dass mein ›Zuhause‹ immer ein bisschen ferner rückt und dessen Bedeutung schwindet. Ich muss hier wieder weg, das habe ich gemerkt, egal wie, ob allein oder mit Jane.
Es geht mir nicht darum, andere Menschen und ihr Leben zu verdammen, sie zu bewerten oder infrage zu stellen. Ich muss mir nur eingestehen, dass ihre nicht meine Leben, nicht meine Welt sind. Andere Menschen können für sich ein gutes Leben führen, und ich hoffe, sie haben sie frei gewählt. Ich gehe mit denen, die eine andere Welt suchen und aufbauen wollen. Jeder Eingriff in ein fremdes Leben, in eine andere Welt, die dies nicht wünscht, ist ein kolonialer Akt. Es gilt die anzugreifen und in Frage zu stellen, die anderen die Möglichkeit nehmen frei und selbstbestimmt zu leben.
Mir ist klargeworden, dass, so wie die Zapatistas zwei Ebenen der Zeit mit ihrer Revolution berühren, auch meine persönliche Auseinandersetzung zwei Zeiten hat. Die eine ist der Moment, der gerade existiert, in dem ich losgehe. Denn im Grunde bleibt nichts anderes, als jeden Moment wieder neu loszugehen.
Die andere Zeit ist entweder verborgen und kann nicht erreicht werden, oder ist der Weg selbst, der Dō[6]. Damit ist mir auch erst aufgefallen, was im Buddhismus damit gemeint ist, dass der Dō nie zu Ende ist. Es kann nicht der Anspruch sein, irgendwann ›fertig‹ zu sein. Man kann nur immer weiter fortschreiten.
Jeder Akt der Emanzipation enthält notwendigerweise einen Anteil Unsicherheit. Wie die Freiheit des Verlustes immer Bestandteil der Freiheit ist, muss zuallererst jene Unsicherheit gewagt werden, um letztlich die Loslösung, die Emanzipation, zur Wahrheit werden zu lassen. Wer die Unsicherheit nicht anerkennt, leugnet, vernachlässigt oder übergeht, bleibt notwendigerweise verhaftet im Status Quo, in Sicherheit. Und bekanntermaßen kann auch Sicherheit tödlich sein. Was es braucht, ist die Zuversicht auf dem eigenen Weg und Überzeugung. Und letztlich Mut zu eigenen Fähigkeiten. Die allerdings konsequenzlos bleibt, wenn sie nur als theoretisches Konstrukt, als Idealbild vor sich hergetragen wird, als Label. Letztlich ist jede Theorie, die kein Handeln nach sich zieht, nur ein Symbol – und zwar das der Ohnmacht.
Ich habe gerade einen der Gründe entschlüsseln können, warum ich die ganze Zeit so fertig bin. Im Moment habe ich die ganze Zeit die Welt um mich, von der ich so viele Neurosen gelernt habe, die mir immer mehr verlogen erscheint. Deshalb bin ich so nervös und ungeduldig, weil es alles um mich herum auch ist. Es gab in meiner Vergangenheit nie den Akt der Emanzipation von meiner bürgerlichen Herkunft, deren Verhalten ich so perfekt übernommen habe: schweigen, sich anpassen, allein klarkommen. Deshalb wollte ich immer lieber allein spielen: es umgeht die Auseinandersetzung. Nicht umsonst ist der bürgerlichste Zeitvertreib die PC-Sucht. Es geht allein, und alles, was kollektiv zu sein scheint, ist entweder einem Zweck, einem fantastischeren ›Höheren‹ unterworfen, oder, sofern das nicht der Fall ist, rettet immer noch die letzte Verfremdung vor sich selbst: jemand anderes sein zu können. Aus dieser Singularisierung jedenfalls entspringt für mich eine Menge: meine Verschwiegenheit, Schüchternheit, Minderwertigkeitskomplexe gegenüber Menschen, die nicht an einer internalisierten unsozialen Erziehung kranken. Meine Verlustängste bei Reibungen mit Freund_innen: mein Geltungsbedürfnis.
Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass all das Grundkrankheiten der generalisierten Vereinzelung sind. Wie loswerden? Systemische Veränderung drängt sich mir auf: den Ablauf ändern. Mein Bedürfnis, allein zu sein, drückt wohl genau diese Schwierigkeit aus, mit Menschen umzugehen. Schottland könnte eine Art Nach-Vorne darstellen. Also spazieren gehen. Alle die keine ›Problemkinder‹ waren, haben Codes und Regeln verinnerlicht, bis diese nicht mehr als solche erkennbar waren. Vielleicht haben sie einen anderen Weg durchzumachen. Letztlich ist die Abschottung gegenüber der Welt, wie auch immer sie aussehen mag (PC, Drogen, Süchte, schon die Neigung, lieber allein zu Hause zu bleiben), immer der gleiche Ausdruck der unterschwelligen Angst vor den Anderen, der Unsicherheit im Umgang mit der Realität. Und das Ausblenden als der bürgerlichste Reflex, der vorstellbar ist.
Damit hängt meine Nervosität und meine Konzentrationsschwäche zusammen: einerseits ist es die Reizüberflutung, der Überfluss an Möglichkeiten. Andererseits ist es das Gefühl oder die Befürchtung, etwas falsch zu machen, was natürlich dazu führt, dass alles falsch ist oder Ablenkung.
Eine Sache beschäftigt mich: Jane meinte, Autonomie wäre für sie nur kollektiv denkbar. Die Grundlage für wahre Komplizenschaft kann nur Autonomie sein, die kollektiv gelebt an Stärke gewinnt, weil sie sich gegenseitig vervielfacht. Was nicht heißt, dass es falsch wäre, auf andere angewiesen zu sein. Aber die Komplizenschaft beruht auf der freien Assoziation, dem freien Willen und nicht auf Sachzwängen oder realpolitischen Notwendigkeiten. Deshalb bleibt der Kern immer relativ klein, eng verflochten, kann auf Vertrauen bauen. Jede ›Koalition‹, die Notwendigkeit zur Allianz, kann die Zerstörung der Autonomie bedeuten. Auf diesem Weg scheint mir meine Revolution weiterzuführen als durch den Bezug auf Identitäten, die zwar zu zahlenmäßig größeren Zusammenschlüssen führen können, aber immer Gefahr laufen, sich der eigenen Identität zu opfern, zur Szene zu verkommen, offen zu sein für Misstrauen und Lethargie, Expert_innentum und Avantgardismus.
Ich lese diese Berichte über Traumatisierungen und frage mich, warum ich so gefesselt davon bin. (→Profit des Sprechenden?) Vielleicht bin ich wirklich sehr früh mit ›fiktionaler‹ Gewalt sozialisiert worden, und nun fällt es mir schwer, mehr zu fühlen als Täter-Opfer-Umkehrungen, oder besser/anders: mein Verständnis ist zu großen Teilen rein rational. Vielleicht kann ich aus meiner privilegierten Position gar kein emotionales Verständnis dieser Gewalttätigkeiten und Betroffenheiten entwickeln? Meine durchaus realen Gewalterfahrungen erscheinen gering gegen die Bilder, die mir bei Syrien, Kurdistan, Chiapas durch den Kopf gehen. Die Gewalt, die ich erfahren habe, kommt von Weißen und richtet sich gegen Weiße. Es ist nicht die widerwärtige rassifizierte Gewalt, die gegenüber Indigenas verübt oder im ›völkisierten‹ Krieg gegen die Kurden angewandt wird.
Das scheint hier die Perspektive zu sein, aus der ich lernen kann. Der Ansatz mit dem ich mein Handeln reflektieren kann, um eben nicht wieder patriarchale, kolonialistische und klassistische Macht zu reproduzieren. Die Macht wirkt auch auf die Privilegierten und unterwirft sie Zwängen, ebendiese Machtdiskurse fortzusetzen und ihre Rolle zu spielen. Aus diesem Rollenbild gilt es auszubrechen.
Ich möchte lieber Banken ausrauben, als meine Nische finden. Lieber ausgestoßen, als Teil dieser Norm, dieser unsichtbaren Zellenwand zu sein.
Flucht? Ich denke Flucht ist immer Ausdruck von zwei Erkenntnissen: auf der einen Seite Ausdruck der Zuversicht in die Existenz des Möglichen; auf der anderen Seite die Gewissheit, dass der Status quo uns bedroht, unsere Fähigkeit frei zu denken tötet, selbst Emotionen. Bis wir zu Geistern in einer Welt werden, die nur noch relativ erscheint und doch konkretes Leid erzeugt. Dabei gaukelt uns unsere ›Aufgeklärtheit‹ noch vor besser zu sein, die eigentlichen letzten potentiellen Retter dieser Welt.
Ich habe gerade bemerkt, dass ich meine eigene Zeitlichkeit finden muss, meinen Weg. Wenn ich keine Perspektive sehe, sehen sie andere und ich kann davon lernen. Vielleicht ist es gar nicht falsch, einige Jahre zu studieren, damit ein Privileg zu nutzen, aber seinen Weg zu gehen. Solange es der eigene Weg ist, der einen fragen lässt, und der ständige Selbstkritik erfordert. Andererseits weiß ich, welche Gefahren der ›einfache‹ Weg birgt, wie Bequemlichkeit den Blick ablenkt und Opportunismus fördert, oder verkommen lässt zur reinen Selbstbeweihräucherung. Wo sehe ich eine emanzipatorische Perspektive?
Reisen ist auf Dauer zu anstrengend, auslaugend, obwohl ich es wohl eine Weile aushielte. Das Wichtige ist, etwas zu finden, was mich selbst erfüllt, eine Wahrheit, die mich trägt: ein Gefühl der Ausgeglichenheit, Zuversicht, Freiheit letztendlich. Wie lässt sich all das verbinden mit den Zwängen des Alltags? Geld, Wohnen … Vielleicht sollte ich wirklich meine Fähigkeiten als Meisterdieb ausbauen, aber auch das erfüllt mich nicht und droht letztendlich mich aufzureiben.
Es gilt eine eigene Zeitlichkeit zu finden. Mich von Sachzwängen zu befreien und der scheinbaren Notwendigkeit zu entgehen, sofort Antworten zu finden. Sonst geht der eigene Horizont verloren oder wird beschränkt vom nicht selbst definierten Gedankenhorizont. Daher kann meine Biographie nicht an Normen orientiert sein, die mein Denken beschränken. Gleichzeitig wirken diese Normen natürlich die ganze Zeit und es erfordert innere Ruhe und Überzeugung, in Auseinandersetzungen zu wachsen.
Gleichzeitig ist wohl jedes ziellose Davonpreschen aus reinem Trotz gegen die Norm, ebenso aus Zwang erwachsen und damit nicht meine Wahl. Momentan möchte ich lernen für mich, vielleicht sogar noch einmal im Rahmen eines Studiums. Aber es darf um mein Bedürfnis, meinen Weg, meine freie Entscheidung gehen.
Ich habe Verrücktheiten im Kopf, die weitergedacht werden müssen, Geschriebenes und Gesagtes, was ich verstehen will, weil ich glaube, davon lernen zu können. Ich will Komplizenschaften suchen, wo Menschen eigene Wege gehen und sich für den Kampf um eigene Wahrheiten entscheiden. Gerade die Auseinandersetzung mit den freien und sich befreienden Kräften an den Rändern der Metropole hat mich enorm weitergebracht, weiterdenken lassen. Sie bieten mir Zuversicht, nicht allein zu sein und dass eine andere Welt denk- und machbar ist. Dass die Utopie Realität sein kann und die freien und sich befreienden Kräfte einen Weg gehen, der vieles von dem beinhaltet, was eine andere Welt nötig hat: den Mut zur Selbstkritik, die Gewissheit, die Wahrheit konkret und kollektiv leben zu können.
Vielleicht, nein, wahrscheinlich ist alles, was die herrschende Geschichtsschreibung umfasst, verkürzt und zurechtgebogen zur Legitimation des Status quo. Allein die Tatsache, dass die Frage nach der konkreten gesellschaftlichen Alternative nicht mehr als ›wissenschaftlich‹ gilt, zeigt die Zensur. Die Beschneidung der Realität ist, in dem die Denkbarkeit des Anderen aufgehoben wird, das wirkungsvollste Machtmittel. Was nicht gedacht werden kann, kann nicht in Handlungen umgesetzt werden, wenn sie nicht innerhalb der Diskurse der Herrschenden verlaufen.
Wenn ein Denken der politischen Situation ausgeblendet wird, wird verhindert alternative Konzepte zu Staat, Nationalität und institutionalisierter Religion zu finden. Dabei versucht die These des herrschenden Diskurses gleichzeitig die Denkbarkeit ihrer Antithese aufzuheben. Ist es möglich, die Alternative aus den Köpfen zu löschen, indem die Sprache verstümmelt wird?
Wichtig ist es den Determinismus aus der Analyse zu streichen. Nichts ist gewiss … So detailliert eine Analyse auch sein mag, allein die Beschränktheit der Sprache verhindert, dass ein Modell die Realität als solche wiedergibt. Dazu kommen noch viele andere Einschränkungen: Ungenauigkeit in der Analyse, Subjektivität, Wertung von ›Fakten‹.
Wahre Dinge, ausgesprochen, klar gedacht, sind nicht schwer zu verstehen. Ich glaube, gerade die Klarheit in der Sprache von Öcalan bringt mich dazu, zu glauben, dass es einen Weg gibt, weil es den immer gibt. Wie Öcalan sagt: Der Wahnsinn dieser Welt ist nicht so absolut, wie es manchmal scheint. Keine Herrschaft ist total, sie beinhaltet notwendigerweise den Gegenpol. So klein und schwer zu finden er auch sein mag. Ich habe Ideen, wie ich ihn finden kann oder zum Gegenpol werden kann.
Tatsächlich, das ist ein und dasselbe Bild, mit anderer Belichtung. Bezüglich Freiburg, Karl-Marx-Stadt, dem ganzen Theater, das sich hier als Realität präsentiert. Ich war gerade in Potsdam, und »Hey!«, es reiht sich wunderbar ein: glattgeleckte renovierte Renaissance-Innenstadt, das Disneyland der lokal-regionalen Bohème, die natürlich Fahrrad fährt mit ihren schwurbeligen Kindern im Anhänger und noch schnell beim Biobäcker ein Fitness-Mehl-Erlebnis-Produkt holt. Ich musste gerade vorhin wieder an Guy Debord denken: Alles ist völlig und bis in die letzte Konsequenz entfremdet, oder geht es noch weiter? Dein kleines auf dich persönlich zugeschnittenes Warenparadies. Such dir deine Nische. Ich habe die ganze Zeit noch andere Welten im Kopf, Bilder, Klischees. Bilder, die ich, wie ich glaube, aus Lateinamerika im Kopf habe, von Menschen, die klarkommen und kämpfen müssen und ihrer Welt ein Stück Veränderung abtrotzen. Die in einer Gegenwart leben, weil sie es sich nicht leisten können, an die Zukunft zu denken. Jedenfalls nicht so wie hier.
Den ganzen Vormittag waren hier abwechselnd böige Regenschauer und strahlender Sonnenschein, aber durch die dunklen Wolken dahinter schien alles völlig surreal, das perfekte Spiegelbild zu der Welt, die mir die Menschen in der Stadt vorgaukeln wollten, an das sie vielleicht selbst glauben: winzige Augenblicke von Fröhlichkeit und Heiterkeit, du musst nur ganz einfach die gigantische Sturmwolke dahinter ignorieren, dann ist das Bild wunderbar harmonisch. Wenn das Glitzern die Norm ist, oder zumindest so verkauft wird, ist es nicht mehr schwer alles andere als Störung zu verwalten.
Meinst du, es ist falsch, wegzulaufen? Das ging mir vorhin durch den Kopf. Weglaufen besteht denke ich ja immer aus zwei Grundwahrheiten: Einerseits aus der Erkenntnis, dass es hier zu wenig gibt, um in dieser Realität zu bleiben. Und außerdem die Zuversicht, dass es andere Welten gibt, in denen Lernen und Leben möglich ist. Im Moment habe ich diese Zuversicht, ich zweifle nur gerade, mit welchem Fuß ich zuerst auftreten soll, obwohl ich weiß, dass ich einfach nur loszugehen brauche. Irgendetwas hält mich hier noch fest. Angst, weil ich nicht weiß, wo ich lande oder landen will. Aber sollte nicht eigentlich die Erkenntnis reichen, dass ich es will? Diese Angst vor dem Unbestimmten entspringt der Vereinzelung, die so typisch für die soziale Schicht unserer Eltern ist. Deshalb stecke ich ein bisschen in einer Klemme, weil ich weiß, was zu tun ist, aber mich emotional nicht von der Bequemlichkeit und der Angst lösen kann.
Schwierig, in dieser Scheinwelt meine Bedürfnisse zu formulieren. Nun ja, ich will weg von so vielen Menschen, die verwalten und sich verwalten lassen. Ich will einen Raum, in dem ich lesen und denken kann. Schon mal ’nen Magneten auf ’ne Bildröhre gelegt? In etwa so klar sehe ich meine konkreten Vorstellungen vor mir. Wandern, immer geradeaus.