Wert und Würde - Eva Maria Bachinger - E-Book

Wert und Würde E-Book

Eva Maria Bachinger

4,9

Beschreibung

Seit Eva Maria Bachinger und Martin Schenk ihr Buch "Die Integrationslüge. Antworten in einer hysterisch geführten Auseinandersetzung" publiziert haben, ist viel passiert. Durch die Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten ist die Diskussion hysterischer denn je. Der "Notstand" wird ausgerufen, die Internetforen gehen schier über vor Hetze und Hass, ein autoritärer Nationalismus rückt ein soziales und demokratisches Europa in die Ferne. Und je mehr über "unsere" Werte gesprochen wird, desto weniger spielen Menschenrechte eine Rolle. Grund genug für die Autoren, ihrem Buch einen aktuellen Zwischenruf hinzuzufügen!

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Eva Maria Bachinger, Martin Schenk

Wert und Würde

Ein Zwischenruf

Vorwort

Vor vier Jahren haben wir das Buch »Die Integrationslüge. Antworten in einer hysterischen Auseinandersetzung« verfasst. Wir wollten in einer Debatte, die privat und öffentlich so verwirrt und unsachlich geführt wird, auf Halbwahrheiten und Irrtümer hinweisen, die die Probleme weiter verfestigen und vertiefen: die Verwechslung von Relativismus mit Toleranz, die Politisierung von Identität und Religionszugehörigkeit, die Kulturalisierung sozioökonomischer Fragen und die Ignoranz gegenüber den (Status-)Kränkungen und Ohnmachtsgefühlen der Bevölkerung. Thematisch hatten wir uns bewusst der bis dahin wenig diskutierten Aspekte angenommen: altern in der Migration, Gesundheit, Geburt, Pflege, Bildungsverwertung, die konkrete Arbeitswelt mit ihren prekären Jobs. Wir waren auf der Geburtenstation, bei Abwäschern im Restaurant, in den Schulen und unterwegs mit »harten Jungs«, in der U-Bahn bei Straßenzeitungsverkäufern, auf Spurensuche von Berlin über die Schweiz nach Österreich.

Über den Wert der Grund- und Menschenrechte in Zeiten ihrer Relativierung

Die Auseinandersetzung ist heute durch die Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten hysterischer denn je. Der »Notstand« wird ausgerufen, die Internetforen gehen schier über vor Hetze und Hass, ein autoritärer Nationalismus rückt ein soziales und demokratisches Europa in die Ferne, die politische Debatte findet sich an der Identitätsfront wieder.

Ein Widerspruch fällt besonders auf: Während Menschenrechte im Kontext von Asyl zunehmend ausgehebelt werden und soziale Grundrechte bei den ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung unter Druck kommen, wird in fast jeder Diskussion, in beinahe jeder Rede, sowie in jedem zweiten Zeitungsartikel auf »unsere Werte« gepocht. Gleichzeitig werden ethische und moralische Haltungen diskreditiert, aber »Werte« eingefordert und hochgehalten. Eine irritierende Entwicklung: Je mehr über Werte gesprochen wird, desto weniger spielen Menschenrechte eine Rolle. Unsere verfassungsrechtlich verankerten Grundwerte umfassen auch die Menschenrechtskonvention, etwa das Recht einen Asylantrag zu stellen, das Recht auf ein Familienleben, das Recht auf soziale Grundsicherung oder das Recht auf Gleichbehandlung. Diese Menschenrechte, die für alle gelten sollten, werden aber auch in Europa zunehmend mit Füßen getreten.

Wird über Werte gesprochen, um über Menschenechte zu schweigen? Hier drängt sich ein Zwischenruf auf. Der Begriff der Werte kommt nicht aus der Ethik, sondern aus der Ökonomie. Der Wert gibt das Gewicht an, das wir einem Gegenstand zuerkennen, wie wir ihn bewerten, mit wie viel Geld wir ihn aufwiegen. Das übliche Maß für Werte ist der Preis. »Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde«, formulierte Immanuel Kant. Und Konrad Paul Liessmann ergänzt: »Die Suche nach Werten, die Frage, wo sich Werte bilden, die Behauptung, es müsse eine Werterziehung geben, die Interpretation der Menschenrechte als Werte, die ideologische Rede von Wertgemeinschaften: All das deutet an, dass man an der Würde des Menschen kein Interesse mehr hat, sondern im Begriff ist, seine Präferenzen und die zugrundeliegenden zweckorientierten Wertmaßstäbe durchzusetzen«. Der Wertebegriff mache die Würde des Menschen zu einem Spekulationsobjekt.

Die Fluchtbewegung von außen nach Europa wird innen zur sozialen Desintegration genützt und missbraucht

Das Land Niederösterreich erließ ein Gesetz zur Streichung der Mindestsicherung bei Flüchtlingen, versteckte aber darin die Kürzung des Wohnens bei Menschen mit Behinderungen. »Flüchtlinge« wird gesagt, aber gestrichen wird dann beim Wohnen für alle, auch für alle ÖsterreicherInnen. So funktioniert das. Oder die sogenannte Deckelung bei Familien. Asyl wird gerufen, dann aber die Mindestsicherung für alle Kinder gestrichen.

Es wird daran gearbeitet, die Republik unattraktiver zu machen, nicht bloß für Flüchtlinge, sondern auch für Mindestsicherungsbezieher, Menschen mit Behinderung oder chronisch Kranken. Die sozialen Probleme steigen, obwohl die Gesellschaft insgesamt immer reicher wird, besonders ganz oben. Schuld sind aber immer die da unten. »Die Arbeitslosen«, »die Mindestsicherungsbezieher« und »die Asylanten«. Das ist eine Methode, um die Verteilungs- und Gerechtigkeitsdebatte nur »ganz unten« zu führen. Die zehn Prozent der Bevölkerung mit den geringsten Einkommen und Chancen dürfen einander die Augen auskratzen. Seit hundert Jahren drohen diese Diskurse in einem sich stets wiederholenden Prozess abzulaufen, bei dem die jeweilige Verlierergruppe eines grundlegenden sozialen Wandels für ihre verschlechterte soziale Lage selbst verantwortlich gemacht, beschimpft und herabgewürdigt wird.

Was ist von einer Wertedebatte zu halten, die soziale Grundrechte missachtet und Armut erhöht? Das Europaparlament analysierte die Auswirkungen der Austeritätspolitik auf die Grundrechte in der Europäischen Union: In allen sieben Ländern kam es zur Reduktion von Lehrern an den Schulen, obwohl die Schülerzahlen gestiegen sind. In Griechenland wurden Schulen nicht mehr beheizt und Schulstandorte wurden geschlossen, was den Zugang zur Bildung für bestimmte Bevölkerungsgruppen erschwerte. In Spanien sparte man bei der Schulausstattung, sogar bei den Schulbüchern. In Griechenland kam es zu gravierenden Einschnitten zusätzlich im Gesundheitssystem. Dabei wurde die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung derart aufs Spiel gesetzt, dass sogar die Kindersterblichkeit anstieg. Das Europaparlament legt in seinem Bericht den Finger in eine der größten Wunden: Den Programmen fehlt die Bindung an die europäischen Grundrechte. Mehrere Reformempfehlungen der Troika stehen in klarem Konflikt mit dem Europäischen Recht, insbesondere der Europäischen Sozialcharta. Dazu gehören die durch unausgeglichene Sparpolitik verschlechterte medizinische Versorgung und der durch Arbeitsmarktreformen verursachte starke Rückbau des Tarifsystems. Aber wer spricht jetzt eigentlich noch davon? Die Fluchtbewegung von außen nach Europa wird innen zum Vergessen und Verdrängen einer fragwürdigen Politik genützt und missbraucht.

Wer »unsere Werte« verteidigen will, ist kritisch bei identitärem Denken

Alles ist »Kultur«. Du bist Kultur, alles, was du sagst, ist Kultur, alles, was dich ausmacht, ist Kultur, alles, was du tust, erklärt Kultur. Sonst hast du keine Gründe. Welches Konzept von Gesellschaft steckt hinter der Inflation des Begriffs »Kultur« in der aktuellen Debatte? Den Zwang zur Alles- oder Nichts-Identität hat Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen als »pluralen Monokulturalismus« bezeichnet. Damit weist er auf die neue Form des alten Rassismus hin, deren Anhänger sich auch gerne die »Identitären« nennen. Das meint, dass ganze Bevölkerungsgruppen einer einzigen Kultur und einer einzigen Identität zugeordnet werden, in die sich alle einzufügen haben. Sie kann durch Blut, Herkunft oder Religion bestimmt sein. Das identitäre Entweder-Oder trägt auch in seiner harmlosesten Ausprägung den Keim des Krieges in sich. »Man könne wissen, wann der Krieg beginnt«, lässt Christa Wolf die trojanische Königstochter und Seherin Kassandra in ihrer gleichnamigen Erzählung sagen. »Aber wann beginnt der Vorkrieg?« Der »plurale Monokulturalismus« verbindet völkische Abendlandkämpfer mit islamischen Fundamentalisten. Denn beide sind miteinander verfreundete Feinde.

Von der Suche nach Selbstwirksamkeit und Respektabilität

Nicht wahrgenommen werden bedeutet ausgeschlossen zu sein. Deshalb ist heute die Sehnsucht nach einer gerechten Gesellschaft so stark verbunden mit dem Wunsch nach Anerkennung. Die Antwort sitzt im Spalt zwischen »Was habe ich?« und »Wer bin ich?«. Zum Abschluß widmen wir uns den Gefühlen, den Bedürfnissen, den Affekten, die hinter der aktuellen Debatte wirken. Es geht nicht nur um Angst, sondern auch um Ohnmacht, um Scham, um Neid. Anerkennung erfahren und gestalten können, gehören zu unseren zentralen Bedürfnissen. Netzwerkforscher Harald Katzmair: »Jene, die Teilhabe anbieten, werden beim Einsamen Resonanz erzeugen. Jene, die sagen: So wie Du bist, bist du ein wertvoller Mensch, werden bei denen, die nie im Licht der Anerkennung stehen, Anklang finden. Die in Hierarchien eingepferchten werden jene, die neue Spielräume ermöglichen, als Befreier sehen.« Wer diese Grundbedürfnisse nicht mehr auf dem Radar hat, wird auch nichts ausrichten gegen Ideologien der sozialen Ausgrenzung. Vor allem das Bedürfnis nach Wertschätzung, Würde und Integrität von all jenen, die sich nicht täglich im Lichte des Erfolgs sonnen können, ist aus dem Blick geraten. Wo wir gestalten können, Anerkennung erfahren und sozialen Ausgleich erleben, dort wächst Vertrauen – und sinkt der Hass.

Teil 1

Eva Maria Bachinger

Wir haben Grundwerte, ihr nicht

»Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.«

Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, 1948

Europa heute: An der so symbolischen Grenze zwischen Österreich und Italien holen Soldaten alle Personen, die fremd aussehen, aus dem Zug. Sie müssen sich am Bahnsteig in Reih und Glied aufstellen und werden überprüft. Die Balkanroute wird im Frühjahr 2016 für Flüchtlinge geschlossen. Tausende Menschen stranden daraufhin an der mazedonisch-griechischen Grenze bei Idomeni. Nach tagelangen Regenfällen versinkt das provisorische Lager in Schmutz und Schlamm. Rund 2000 Flüchtlinge, Frauen, Männer, Kinder, versuchen über einen reißenden Fluss die Grenze zu passieren, Menschen sterben. In Deutschland muss sich der Fußballer Jérôme Boateng von einem ehemaligen CDU und jetzt AfD-Politiker anhören, dass ihn die meisten Deutschen zwar als Fußballer schätzen würden, aber ihn keinesfalls als Nachbar haben möchten. Im Mittelmeer ertrinken seit Jahren Tausende Flüchtlinge. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen beschließt, keine EU-Gelder mehr entgegenzunehmen – aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik. In Dänemark werden ankommende Flüchtlinge auf Wertgegenstände und Bargeld hin durchsucht. Alles über einem Wert von 400 Euro wird konfisziert. Die Asylwerber sollen so einen Beitrag zu den Kosten ihres Aufenthalts leisten. In der Schweiz wird mit Plakaten wie »Das neue Asylgesetz ist ein Enteignungsgesetz« und »Wollen Sie aus Ihrer Wohnung fliegen?« Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht. Auf einem Flugblatt heißt es: »Betroffen sind Sie als Hausbesitzer, Wohneigentümer und Mieter. Sie müssen ausziehen, damit junge Männer aus Gambia, Sri Lanka, Eritrea usw. einziehen können.« Minderjährige Asylwerber halten sich nachts am Innsbrucker Bahnhof auf, werden von bulligen Sicherheitsleuten mit ebenso bulligen Hunden aufgescheucht und vertrieben. Sie steigen ohne Ticket in Nachtzüge und bringen die Schaffner an die Grenzen ihrer Nerven, weil sie den Zug nicht verlassen wollen. Das Internet ist voll von schlimmster Hetze gegen Flüchtlinge. Die Worte werden zu Taten: Asylheime brennen. Rechtspopulistische Parteien schüren Ängste und legen bei Wahlen enorm zu. In Frankreich, dem Land der Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, wird der Ausnahmezustand zum Zustand, der Sicherheit zuliebe. Europa heute, es ist düster geworden.

In diese Atmosphäre werden »unsere Grundwerte« eingemahnt, so häufig in öffentlichen Reden und Debatten, in Medien und auf Wahlplakaten wie selten zuvor. Wir hätten sie gegen Feinde zu verteidigen und die Fremden müssten sie übernehmen. Dafür werden neben Deutschkursen eigene Werteschulungen verpflichtend. Der Druck auf Europa ist jedenfalls größer geworden: Laut UNCHR waren 2015 mehr als sechzig Millionen weltweit auf der Flucht, über Landesgrenzen hinweg und Binnenflüchtlinge. Das sind seit der Gründung der UNO mehr Flüchtlinge als je zuvor. Die International Organisation of Migration (IOM) spricht von der größten Wanderbewegung nach Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. 2015 waren es laut UNO eine Million, davon 500.000 allein aus Syrien, die nach Europa flüchteten. Was häufig in den hitzigen Debatten in reicheren Ländern unterschlagen wird: Die meisten Flüchtlinge (achtzig Prozent) nehmen aber ärmere Länder auf. Millionen von Flüchtlingen stranden in Lagern in Afrika und im Nahen Osten. Viele halten sich in Staaten auf, wo das Pro-Kopf-Einkommen unter 3000 Dollar im Jahr liegt. Die Flüchtlingspopulationen haben in diesen Ländern auch wirtschaftlich gravierendere Auswirkungen als in wohlhabenden Industrieländern.