Werte im Unterricht - Eva Steinherr - E-Book

Werte im Unterricht E-Book

Eva Steinherr

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Beschreibung

Gemeinsame Werte bilden die Grundlage unserer Gesellschaft. Große Bedeutung kommt dabei der Institution Schule zu. Die zentrale Frage, mit der sich Lehrerinnen und Lehrer konfrontiert sehen, ist: Wie kann Werteerziehung in den Unterricht integriert werden? Hier setzt das Buch an. Es vermittelt zunächst Lehrpersonen das nötige Hintergrundwissen über Werte und verknüpft es mit konkreten Ideen für die Praxis. An realen Unterrichtsdialogen und zahlreichen Unterrichtsvorschlägen zeigt es exemplarisch Möglichkeiten auf zu Klassendiskussionen über Werte wie Liebe, Freundschaft, Empathie und Gerechtigkeit. Das Buch bietet so praktisches Handlungswissen für Lehrende, wie Werteerziehung in der Schule gelingen kann.

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Why love matters for justice.(Martha Nussbaum)

Ethische Reflexion macht nicht gut; ethische Reflexion macht besser.(Otfried Höffe)

Eva Steinherr

Werte im Unterricht

Empathie, Gerechtigkeit und Toleranz leben

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031777-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031778-9

epub:    ISBN 978-3-17-031779-6

mobi:    ISBN 978-3-17-031780-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Inhalt

 

 

Einleitung

Was Sie in diesem Buch erwartet

Zum Aufbau dieses Buches

Gliederung der Einleitung

Gliederung des Hauptteils

1 Ist eine Wertebildung nur Ausdruck des relativen Kontextes, innerhalb dessen sie stattfindet?

1.1 Autoritäre und antiautoritäre (= laissez-faire) Erziehung als zwei Varianten des Wertrelativismus in der Pädagogik

1.1.1 Zur Verbreitung eines Wertrelativismus in unserer Gesellschaft

1.1.2 Reicht gesellschaftlicher Konsens zur Begründung der Mündigkeitserziehung aus?

1.1.3 Inwiefern führt Wertrelativismus zu autoritären bzw. antiautoritären Erziehungspraktiken?

1.2 Mündigkeitserziehung auf der Grundlage allgemeingültiger Werte

1.2.1 Was versteht man unter allgemeingültigen Werten?

1.2.2 Wie kann eine Wertebildung durch allgemeingültige Werte begründet werden?

1.2.3 Die Unterscheidung von (Grund-)Werten und Normen als Ziel der Werteerziehung

1.2.4 Leistet die Annahme allgemeingültiger Werte einem Kulturimperialismus Vorschub?

1.2.5 Die Unterscheidung von (Grund-)Werten und Normen als Ziel der interkulturellen Werteerziehung

2 Führt Werteerziehung zu verantwortungsvollem Handeln?

2.1 Der Mensch als Einheit von Wissen, ethischer Urteilsfähigkeit und Verantwortungsübernahme

2.1.1 Infragestellung des Zusammenhangs zwischen ethischen Urteilen und Handlungen

2.1.2 Entdeckt die Kompetenzorientierung die Werteerziehung neu?

2.2 Die Stärkung des ethischen Reflexionsvermögens durch das Unterrichtsgespräch

2.2.1 Das sokratische Gespräch

2.2.2 Die Dilemma-Diskussion Kohlbergs

3 Liebe als Grundlage aller Werte

3.1 Was versteht man unter Liebe?

3.1.1 Liebe als Verstehen

3.1.2 Liebe als Leidenschaft

3.1.3 Wie aber kommt Empathie und Vernunft in die erotische Liebe?

3.1.4 Lieben und Geliebt-Werden

3.2 Beispiele

3.2.1 Literarische Texte über die Liebe

3.2.2 Zitate zum gemeinsamen Nachdenken über die Liebe

3.2.3 Ausgeführtes Unterrichtsbeispiel

4 Freundschaft

4.1 Was versteht man unter Freundschaft?

4.1.1 Freunde erkennen wechselseitig den Wert des anderen und tun sich gegenseitig Gutes

4.1.2 Freunde lassen sich nicht von egoistischen Affekten hinreißen, sondern handeln uneigennützig und freundlich

4.1.3 Freunde sind vertrauenerweckende Menschen und erfahren soziale Wertschätzung

4.1.4 Freunde finden die Balance zwischen Nähe und Distanz, Geben und Nehmen

4.2 Beispiele

4.2.1 Unterrichtsvorschläge zum Thema Freundschaft

4.2.2 Ein literarischer Text über die Freundschaft

4.2.3 Zitate zum gemeinsamen Nachdenken über die Freundschaft

4.2.4 Ausgeführtes Unterrichtsbeispiel

5 Empathie

5.1 Was versteht man unter Empathie?

5.1.1 Ein empathiefähiger Mensch versetzt sich in die (Not-)Lage anderer und geht gegen ihr Leid ebenso vor wie gegen sein eigenes

5.1.2 Ein empathiefähiger Mensch lässt sich emotional ansprechen

5.1.3 Ein empathiefähiger Mensch erfährt soziale Wertschätzung

5.1.4 Ein empathiefähiger Mensch findet die Balance zwischen Nähe und Distanz, und ihm ist sowohl Egoismus als auch Verzicht um des Verzichtes willen fremd

5.2 Beispiele

5.2.1 Unterrichtsvorschläge zum Thema Empathie

5.2.2 Literarische Texte über die Empathie

5.2.3 Zitate zum gemeinsamen Nachdenken über die Empathie

5.2.4 Ausgeführtes Unterrichtsbeispiel

6 Gerechtigkeit

6.1 Was versteht man unter Gerechtigkeit?

6.1.1 Ein gerechter Mensch bemüht sich um die Kenntnis und Umsetzung gerechter Maßnahmen

6.1.2 Ein gerechter Mensch bleibt sachlich und handelt nicht aus dem Affekt heraus

6.1.3 Ein gerechter Mensch wird geliebt

6.1.4 Gerechtigkeit ist die Bezeichnung für das rechte Maß

6.2 Beispiele

6.2.1 Unterrichtsvorschläge zum Thema Gerechtigkeit

6.2.2 Literarische Texte über die Gerechtigkeit

6.2.3 Zitate zum gemeinsamen Nachdenken über die Gerechtigkeit

6.2.4 Ausgeführtes Unterrichtsbeispiel

7 Toleranz

7.1 Was versteht man unter Toleranz?

7.1.1 Ein toleranter Mensch achtet andere und setzt sich ohne Gewaltanwendung mit ihnen auseinander

7.1.2 Ein toleranter Mensch bleibt sachlich und handelt nicht aus dem Affekt heraus

7.1.3 Offenes Zugehen auf andere Menschen und Frustrationstoleranz sind Eigenschaften, die soziale Wertschätzung erfahren

7.1.4 Ein toleranter Mensch meidet die Extreme Fanatismus und Gleichgültigkeit

7.2 Beispiele

7.2.1 Unterrichtsvorschläge zum Thema Toleranz

7.2.2 Ein literarischer Text über die Toleranz

7.2.3 Zitate zum gemeinsamen Nachdenken über die Toleranz

8 Dankbarkeit

8.1 Was versteht man unter Dankbarkeit?

8.1.1 Ein dankbarer Mensch erkennt, dass es nicht selbstverständlich ist, dass andere ihm etwas Gutes tun

8.1.2 Ein dankbarer Mensch schätzt das Wohlwollen anderer richtig ein und überwindet egozentrische Affekte

8.1.3 Ein dankbarer Mensch erfährt soziale Wertschätzung

8.1.4 Ein dankbarer Mensch zeigt weder übertriebenes noch mangelndes Eigenständigkeitsstreben

8.2 Beispiele

8.2.1 Unterrichtsvorschläge zum Thema Dankbarkeit

8.2.2 Literarische Texte über die Dankbarkeit

8.2.3 Zitate zum gemeinsamen Nachdenken über die Dankbarkeit

9 Heiterkeit und Humor

9.1 Was versteht man unter Heiterkeit und Humor?

9.1.1 Für einen heiteren oder humorvollen Menschen ist die traurige Realität nicht unbedingt unabänderlich

9.1.2 Ein heiterer oder humorvoller Mensch widersteht Anflügen von Traurigkeit, weil er glaubt, dass der Optimismus letztlich Recht behält

9.1.3 Ein heiterer oder humorvoller Mensch ist beliebt

9.1.4 Ein heiterer oder humorvoller Mensch ist weder humorlos noch albern, er vermeidet die Lüge aus Höflichkeit und die offene Brüskierung

9.2 Beispiele

9.2.1 Unterrichtsvorschläge zum Thema Heiterkeit und Humor

9.2.2 Literarische Texte über die Heiterkeit und den Humor

Literatur

 

Einleitung

 

Was Sie in diesem Buch erwartet

Im Unterricht wird über die Flüchtlingsströme nach Europa gesprochen. Sophia erzählt, dass sie am vergangenen Wochenende beim Empfang der Flüchtlinge am Bahnhof dabei gewesen sei, um Essen und Kleidung zu verteilen. Anja meldet sich zu Wort: »Meiner Meinung nach zeigt sich bei Sophia halt ein Helfersyndrom.«

Sophia ist gekränkt über Anjas skeptische Bemerkung, weil sie merkt, dass diese damit ausdrücken will: »Dir geht es letztlich gar nicht um die Flüchtlinge, sondern nur um das eigene Wohlbefinden. Du fühlst dich eben nur glücklich, wenn du für andere da bist.«

Generalisiert man Anjas Aussage, heißt das: Menschen kann es nur um Befriedigung ihrer eigenen Vorlieben, Bedürfnisse und Interessen gehen. Altruismus ist Schein, denn er kann (immer) auf egozentrische Motive zurückgeführt werden.

Da menschliches Tun vieldeutig ist, kann eine solche Interpretation wie diejenige Anjas manchmal ein Körnchen Wahrheit enthalten, sie lässt sich aber auch in Frage stellen: Verwechselt Anja bei Sophias Handlungsmotiv vielleicht Ursache und Wirkung? Ist Sophias Zufriedenheit mit sich nicht eher Folge statt Antrieb des Handelns? Und finden wir Einsatz für andere nicht auch dann gut, wenn das Glückserleben danach ausbleibt? Allgemeiner lässt sich mit der Klasse reflektieren: Was meint ihr? Handeln wir eher nach persönlichem Geschmack, Bedürfnissen oder Interessen – d. h. aus dem Zwang der Notwendigkeit – oder aus der Einsicht, was gut ist, aus Freiheit?

Wertebildung im Unterricht meint vor allem die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen bei der Herausbildung eigenverantwortlichen Handelns auf der Grundlage einer ethischen1 Denkschulung. Das Fallbeispiel zeigt, dass in der Schule immer wieder Problemfragen auftauchen, die Anlass für eine Wertediskussion bieten. Ich werde daher dieses Beispiel zu Beginn des ersten Kapitels noch eingehender betrachten und einen Bezug zu philosophischen Theorien herstellen. So bietet dieses Buch nicht nur Unterrichtsanlässe, sondern zugleich die Möglichkeit für Lehrende, sich Standpunkte zu erarbeiten und sich ihrer eigenen ethischen Haltung bewusster zu werden.

Anjas Reaktion scheint exemplarisch für eine allgemein verbreitete Haltung, die Symptome diagnostiziert, dabei aber Gefahr läuft, sich selbst nicht mehr von einem Problem betreffen zu lassen. Die analytischen Fähigkeiten werden nicht mehr zur Entwicklung einer Lösung herangezogen, was auf Dauer lähmend wirken kann.

»Die Aufklärung scheint als letztes Resultat einen Typ von Intellektuellen hervorgebracht zu haben, der alles zu durchschauen und endlich verstanden zu haben glaubt, dass Erkenntnis der Wirklichkeit ebenso wenig möglich sei wie die normative Auszeichnung einer Handlungsalternative vor einer anderen.« (Hösle 1997, S. 14)

Was hier von einem führenden Philosophen unserer Zeit mit beunruhigend heftigen Worten kritisiert wird, ist ein modernes wertrelativistisches Wissenschaftsideal, das unsere Gesellschaft – und somit auch die Schule – weltanschaulich geprägt hat.

Die weite Teile der Gesellschaft beherrschende Meinung, in einem Pluralismus an Werten und Normen, der in demokratischen Gesellschaften gegeben ist, müsse man sich jeglicher ethischer Stellungnahme enthalten, da diese von vornherein egozentrischer oder ethnozentrischer Natur und somit Dogmatismus sei, möchte ich in diesem Buch in Frage stellen. Die Vielfalt an Positionen, die höchstwahrscheinlich durch die anschwellende Migration in noch ungeahnter Weise zunehmen wird, soll als Chance für eine fruchtbare Auseinandersetzung über Werte und Normen, die zu einem sensibleren ethischen Bewusstsein führen, begriffen werden – und gerade die Schule erweist sich als wichtiger Ort einer solchen Diskussion. Die Irritation, die durch die Konfrontation mit dem Fremden entsteht, kann ein konstruktives Nachdenken auslösen und der Wertklärung dienen. Das Gespräch, auch das Streitgespräch über Werte sollte deshalb als ein Zuwachs an Freiheit betrachtet werden gegenüber einer nicht hinterfragten Weitergabe von Traditionen. Freiheitsgewinn bedeutet zugleich größere Humanität für alle am gemeinsamen Gespräch Beteiligten.

Uneinigkeit bis Pessimismus herrscht allerdings darüber, ob das Theoretisieren den innerstaatlichen Zusammenhalt einer pluralistischen Gesellschaft stärken, ja mehr noch, gegen die ungerechten Verhältnisse auf der Welt etwas ausrichten kann. Dieses Ohnmachtsgefühl wird verstärkt durch die Komplexität und scheinbare Unbeherrschbarkeit vieler aktueller Krisen – man denke an das globale Auseinandergehen der Schere zwischen Arm und Reich, Umweltzerstörung, ungehinderten Banken-Kapitalismus, religiösen Fanatismus und Terrorismus, Rassismus, ethnische Unterdrückung, Kriege und die daraus resultierenden Flüchtlingswellen.

In diesem Buch wird für einen Optimismus der ethischen Vernunft plädiert – für einen Optimismus bezüglich der Wirksamkeit von Argumenten. Zwar können diese nicht fundamentale Erfahrungen ersetzen, die sich uns »in Akten der Freude und Trauer, der Verehrung, der Verachtung, der Liebe, des Hasses, der Furcht oder der Hoffnung [erschließen]« (Spaemann 2009, S. 38), doch sie können uns sicherer in der Klärung und Beurteilung des Erlebten machen. In diesem Sinne gilt hoffentlich:

»Ethische Reflexion macht nicht gut; ethische Reflexion macht besser.« (Höffe 1996, S. 90)

Ich knüpfe damit an eine Grundüberzeugung des klassischen philosophischen Denkens an, das seit den Anfängen der griechischen Philosophie den argumentativen Dialog hochschätzt und Theorie und Praxis in einer Einheit sieht.

»Wenn jemand beispielsweise aufgrund einer falschen Auffassung über die Gerechtigkeit bestimmte Handlungen für gerecht hält, die gar nicht gerecht sind, dann wird er dementsprechend falsch handeln und dadurch sein eigenes Glück unmöglich machen.« (Bordt 1999, S. 58)

Zu zeigen, dass die Schule als Subsystem der Gesellschaft bei der Beseitigung theoretischer Defizite eine in ihrer Wichtigkeit kaum abzusehende Aufgabe hat und dass dadurch auch in praktischer Hinsicht die Verantwortungsbereitschaft und ethische Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler gestärkt werden kann, ist das Anliegen dieses Buches. Da eine Wertebildung weder als reine Wissensvermittlung noch als bloß äußerliche Einübung von Gewohnheiten gut gelingen kann, möchte ich zeigen, dass sie am besten im Unterrichtsgespräch erfolgt. Abgesehen davon, dass es besonders wichtig ist, die Werthaltungen heranwachsender Menschen zu fördern, damit sie später ihr Leben verantwortungsvoll gestalten und kompetent und selbstständig an demokratischen Prozessen teilnehmen können, ist die Schule für eine argumentative Auseinandersetzung besonders gut geeignet, weil hier unterschiedliche Wertvorstellungen, die für eine Gesellschaft repräsentativ sind, aufeinandertreffen. Die Schule ist aufgrund der Heterogenität der beteiligten Personen eine embryonic society (Dewey 1899).

Die Kompetenzorientierung der neuen Lehrpläne verlagert den Schwerpunkt auf die verantwortungsvolle Nutzung von Fähigkeiten und Fertigkeiten unter Vermeidung nur abfragbaren, träge bleibenden Wissens. Nach der Phase der Wissenschaftsorientierung des Unterrichts, die ihren Höhepunkt in den 1970er-Jahren hatte, bietet diese Neuorientierung die Chance einer Wiederanknüpfung an die klassische Bildungstheorie, die den Menschen als Einheit von Wissen, ethischer Urteilsfähigkeit und Verantwortungsübernahme ansieht (vgl. Kap. 2.1). Dabei steht eine schulische Wertebildung nicht nur in Übereinstimmung mit der abendländischen Freiheits- oder Mündigkeitserziehung mindestens seit der Aufklärung, sondern es ergeben sich auch Anknüpfungspunkte an die auf Einsicht bedachten Tugendlehren der Antike, die miteinander in Zusammenhang stehen: Sokrates (470–399 v. Chr.) war Lehrer Platons (428/427–348/347 v. Chr.), dieser Lehrer des Aristoteles (384–322 v. Chr.). Von Sokrates wissen wir nur, weil Platon, erschüttert durch das Todesurteil, das seinen Lehrer traf, ihm ein Denkmal setzte, indem er ihn zur Hauptfigur in seinen Dialogen machte. Sokrates fungiert hier als Mentor, der die Erkenntnis des rechten Handelns bei seinen Schülern vorantreibt, indem er verschiedene Ansichten gegeneinander abwägen und so auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen lässt. Viele platonische Tugenddialoge enden aporetisch und fordern dadurch zum selbstständigen Weiterdenken auf, also eigentlich zur Teilnahme der Zuhörenden oder Lesenden an der Unterhaltung. Ich greife zur Anregung des Lesers für eigene Denkwege die sokratische Tradition einer Werteerziehung, die als Gespräch stattfindet, auf, indem ich zum Einstieg in das Buch Auszüge aus Platons Dialog Gorgias gekürzt und in moderner Sprache darstelle und interpretiere (Kap. 1) sowie in den Anhängen zu den ersten Kapiteln des Hauptteils beispielhaft protokollierte Unterrichtsgespräche unter Kindern und Jugendlichen wiedergebe.

Aristoteles bezeichnete das tugendhafte Handeln als ein vernünftiges Mittleres zwischen zwei emotional geprägten Lastern (vgl. das vierte Merkmal eines (Grund-)Wertes im Kasten S. 15). Bei der Wertebildung ist ein Abwägen des Für und Wider gefragt, das im Dialog besonders gut gelingen kann.

Zum Aufbau dieses Buches

Das Buch besteht aus zwei Teilen, einer Einleitung und einem Hauptteil:

•  Die Einleitung besteht aus zwei Kapiteln, in denen jeweils ein zentraler kritischer Einwand, der das Vorhaben einer schulischen Wertebildung grundsätzlich in Frage stellen könnte, diskutiert und geklärt wird, nämlich der wertrelativistische Einwand und der Einwand einer fehlenden Theorie-Praxis-Verbindung.

•  Der Hauptteil besteht aus sieben Kapiteln, in denen jeweils ein Grundwert, der den Schulalltag prägt, anhand eines strukturierten Vorgehens reflektiert wird. In jedem Kapitel folgt auf einen Theorieteil ein Praxisteil mit Unterrichtsanregungen.

Gliederung der Einleitung

•  In Kapitel 1 wird unter Bezugnahme auf platonische Dialoge der wertrelativistische Einwand diskutiert, interessebedingtes Handeln sei nicht vom guten Handeln zu unterscheiden. Wäre dem so, erwiese sich eine Freiheits- oder Mündigkeitserziehung (= autoritative Erziehung) als hinfällig, denn diese kann nicht an relativen Kontexten wie persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen und Interessen, dem eigenen sozialen Milieu oder dem historisch-gesellschaftlichen Kulturkreis ausgerichtet werden, sondern nur an zeitüberdauernder und kulturübergreifender Humanität. In Kapitel 1.1 wird gezeigt, dass eine wertrelativistische Position entweder autoritären oder antiautoritären Erziehungspraktiken Vorschub leistet. Beides führt zu inhumanen Konsequenzen, ersteres zu Appellen, sich bestehenden Rechts- und Gesetzesvorschriften diskussionslos zu beugen, letzteres zur Ausbreitung einer allgemeinen Gleichgültigkeit in der Gesellschaft. Beides ist mit Mündigkeitserziehung unvereinbar. Nachdem der Einwand des Wertrelativismus entschärft wurde, wird in Kapitel 1.2 Freiheits- oder Mündigkeits- bzw. autoritative Erziehung auf der Grundlage allgemeingültiger Werte dargestellt. Die berechtigte Kritik des Relativismus, der auf die Gefahr einer Ideologisierung hinweist, wird dabei aufgenommen. Auf sie wird mit der Unterscheidung zeitüberdauernder und kulturübergreifender (Grund-) Werte und historisch-gesellschaftlich bedingter bzw. individueller Normen reagiert (vgl. Kap. 1.2.3).

•  In Kapitel 2 wird der Theorie-Praxis-Zusammenhang zwischen ethischen Urteilen und Handlungen und damit die außerschulische Relevanz einer unterrichtlichen Thematisierung von Werten in Frage gestellt. Ethische Diskussionen haben nur dann einen Sinn, wenn sie auch zu verantwortlichem Handeln in der Gesellschaft führen. In Kapitel 2.1. werden die Chancen der Wirksamkeit in Pro und Contra dargestellt. In Kapitel 2.2 wird ein Konzept zu einer möglichst gut gelingenden Theorie-Praxis-Verknüpfung entworfen, das den berechtigten kritischen Punkten des Einwands Rechnung zu tragen versucht. Thematisiert wird das offene Unterrichtsgespräch als zentrale Methode einer Erziehung zur Mündigkeit.

Gliederung des Hauptteils

Gliederung in Einzelkapitel

Sieben Grundwerte, die den Schulalltag prägen, werden im Hauptteil (Kap. 3–9) dargestellt. Ihre Verwirklichung fordern auch die Lehrpläne, oft werden sie aber nur schlagwortartig genannt und nicht genauer reflektiert. Das Buch soll hier Abhilfe schaffen, indem Lehrenden Texte als Anregung zur eigenen Wertklärung und als Hintergrundwissen für den Unterricht bereitgestellt werden.

Der Liebe als Grundlage aller Werte (Kap. 3) folgen die Freundschaft (Kap. 4) und die Empathie (Mitleid; Kap. 5) als Facetten der Liebe. Die Gliederung richtet sich nach Kant, der in seinem Alterswerk Die Metaphysik der Sitten die Pflichten gegen andere in Liebespflichten und Pflichten der Achtung unterteilte. Als letztere wird die Gerechtigkeit (Kap. 6) gedeutet, die um eine modernere Pflicht der Achtung, nämlich die Toleranz (Kap. 7) ergänzt wird. Die Kardinaltugend der Gerechtigkeit wird umfangreich dargestellt, weil viele einzelne Werte, wie z. B. ökologisch sinnvolles Verhalten (= Gerechtigkeit gegenüber der nachkommenden Generation) unter sie subsumiert werden können. Den Schluss des Buches bilden die ›kleineren‹ Tugenden der Dankbarkeit (Kap. 8) sowie der Heiterkeit und des Humors (Kap. 9).

Die Kapitel können unabhängig voneinander gelesen werden, denn keines hat die vorhergehenden zur Voraussetzung. Weil die alles durchdringende Liebe nicht als einzelne Bestrebung gelten kann, wird das Kapitel Liebe als Grundlage aller Werte (Kap. 3) wie ein Vorwort vorangestellt. Auf die Gliederung nach den vier Merkmalen der Tugend wird bei der Liebe verzichtet (vgl. folgendes Kapitel). Liebe ist ein so umfassender Wert, dass die Einzelwerte sich aus ihr ergeben und Zusammenhänge zwischen ihnen und der Liebe sowie untereinander immer wieder zu Sprache kommen. So kann z. B. Gerechtigkeit auf Liebebzw. Freundschaft als deren Vervollkommnung bezogen werden, aber auch z. B. auf Toleranz.

Gliederung jedes Kapitels in einen Theorie- und Praxisteil

»Unsern Schulen fehlet fast durchgängig etwas, was doch sehr die Bildung der Kinder zur Rechtschaffenheit befördern würde, nämlich ein Katechismus des Rechts. Er müsste Fälle enthalten, die populär wären, sich im gemeinen Leben zutragen, und bei denen immer die Frage ungesucht einträte: ob etwas recht sei oder nicht?« (Kant 1803/1995, S. 751)

Das pädagogische Anliegen, das Kant in diesem knappen Ausspruch fast nebenbei äußert, lässt sich als Zielrichtung einer schulischen Wertebildung deuten. Demgemäß gliedern sich die Kapitel zu den (Grund-)Werten in einen Theorie- und Praxisteil. Der Theorieteil entspricht der Forderung Kants nach einem Katechismus, der Praxisteil beinhaltet die Fälle.

•  Im Theorieteil erfolgt nach einer Einleitung anhand eines schulischen Fallbeispiels die Darstellung des jeweiligen (Grund-)Wertes (Was versteht man unter …?). Die Klärung erfolgt nach einem gleichbleibend viergliedrigen, an Aristoteles angelehnten Raster (außer bei der Liebe) und unter Bezugnahme auf klassische und moderne Autoren. Manches Zitat aus dem Theorieteil eignet sich sicher auch als Grundlage für eine unterrichtliche Diskussion.

•  Im Praxisteil (Beispiele) folgen Unterrichtsvorschläge, literarische Texte und Zitate zum gemeinsamen Nachdenken als Anregung für eigene unterrichtliche Umsetzungsideen. Die Praxisteile der ersten vier Kapitel (Liebe, Freundschaft, Gerechtigkeit, Empathie) beinhalten jeweils ein ausgeführtes Unterrichtsbeispiel.

Theorieteil (Was versteht man unter …?): Die Darstellung von (Grund-)Werten nach vier Merkmalen

Aristoteles führt in der Nikomachischen Ethik, insbesondere im zweiten Buch, die Hauptmerkmale von Tugend aus (Aristoteles, Nik. Eth. II, 1–9, 1103a–1109b). In folgender Definition werden sie zusammengefasst:

Eine »Tugend ist eine erworbene Haltung, die soziale Wertschätzung erfährt; sie bezieht sich auf die Art und Weise, wie wir uns zu unseren Emotionen und Affekten verhalten, und liegt ungefähr in der Mitte zwischen zwei Extremen. Selbstbeherrschung bzw. Willenskraft und klarer Verstand sind für den Aufbau von Tugenden die wichtigsten Voraussetzungen.« (Kesselring 2012, S. 54)

Ordnet man die Aussagen in dieser Definition ein wenig um, so lassen sich Aristoteles zufolge vier Merkmale einer Tugend (= eines Wertes) identifizieren, die einen guten Menschen auszeichnen:

1.  Ein guter Mensch erkennt das Gute und setzt es in die Tat um.

2.  Ein guter Mensch lässt sich nicht von Emotionen hinreißen, sondern handelt besonnen.

3.  Ein guter Mensch erfährt soziale Wertschätzung.

4.  Ein guter Mensch findet die vernünftige Mitte zwischen zwei Extremen.

Die vier Merkmale sollen hier noch kurz erläutert werden:

1.  Ein guter Mensch erkennt das Gute und setzt es in die Tat um. Dieses erste zentrale Merkmal wird jeweils mit einem sichtlich größeren Textumfang dargestellt als die drei anderen Merkmale, die ja aus ihm folgen.    Eine ethische Haltung ist tief im Charakter verwurzelt; sie beinhaltet sowohl Kenntnis als auch Handeln, d. h., sie hat sowohl einen kognitiven als auch einen motivational-volitiven Aspekt und entspricht damit der modernen Kompetenz-Definition (vgl. Weinert 2001, S. 27–28; vgl. auch S. 67, Anm. 10). Der Mensch muss also ganzheitlich gesehen werden, sowohl seine Urteils- als auch seine Willenskraft gilt es zu entwickeln. Untugenden beruhen entweder auf Unkenntnis oder auf Entschlussschwäche.    Das Wort éthos wird bei Aristoteles im Sinne von »Gewohnheit« gebraucht (vgl. Aristoteles, Nik. Eth. II, 1, 1103a). Entsprechend definiert Aristoteles Tugend als eine erlernte Handlungsgewohnheit. Sein Learning-by-Doing-Ansatz ist hochaktuell, indem er der eher intellektualistischen Idee widerspricht, die Einsicht, was gut und böse ist, reiche aus, um gut zu handeln (diese wird eher Platon bzw. Sokrates zugeschrieben, vgl. Platon, Menon, 77d/e). Andererseits kann man Aristoteles vorwerfen, er vernachlässige etwas die kognitive Komponente ethischen Tuns zugunsten einer praktischen Einübung. Doch stehen das überlegte Streben, die guten Absichten durchaus auch im Fokus der aristotelischen Tugend-Definition: Durch sie werden angemessene Entscheidungen ermöglicht. (Der gute Wille wird auch durch Irrtum oder Erfolglosigkeit aufgrund widriger Umstände nicht in Frage gestellt.) Damit ethisches Handeln jedoch nicht einseitig als Einübung von Gewohnheiten ausgelegt werden kann, findet die Anknüpfung an die antike Denktradition in diesem Buch häufig nicht nur durch Aristoteles, sondern vor allem auch durch Sokrates/Platon statt.

2.  Ein guter Mensch lässt sich nicht von Emotionen hinreißen, sondern handelt besonnen.Nicht der seine Leidenschaften ›authentisch‹ Auslebende, nicht der Fanatiker ist nach Aristoteles besonders tugendhaft, sondern der überlegt Handelnde. Reiz-Reaktions-Automatismen können durchbrochen werden, wenn der Stimme der Vernunft Gehör geschenkt wird.

3.  Ein guter Mensch erfährt soziale Wertschätzung.Das griechische Denken geht hier vom Regelfall aus, dass wahrheitsliebende und gerechte Menschen beliebter und in der Polis anerkannter sind. (Wie das Beispiel des Sokrates zeigt, steht allerdings oft auch alleine da, wer Recht hat. Dennoch hält Platon Sokrates in seiner Souveränität für glücklicher als den nicht tugendhaft Handelnden.)    In gerechten, demokratischen Gemeinschaften sollten Menschen mit Charakter anerkannt und z. B. gegen Mobbing verteidigt werden. Eine gute Klassengemeinschaft kann mit einer wohlgeordneten Polis durchaus verglichen werden. Indikator der wertschätzenden Atmosphäre, der ›herrschenden Vernunft‹ könnte der Beliebtheitsgrad verantwortungsbewusster, freundlicher, empathiefähiger, gerecht urteilender, toleranter, dankbarer und humorvoller Schülerinnen und Schüler durchaus sein.

4.  Ein guter Mensch findet die vernünftige Mitte zwischen zwei Extremen.Dieses letzte Kennzeichen des rechten Maßes zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel hat Aristoteles am breitesten ausgeführt. Er bringt viele Beispiele, u. a. das des Mutigen, der weder feige noch tollkühn, oder das des Freigebigen, der weder geizig noch verschwenderisch ist (vgl. Aristoteles, Nik. Eth. II, 7, 1107b). Diese lassen sich um moderne erweitern: So ist z. B. der Hilfsbereite weder rücksichtslos noch aufdringlich, der Respektvolle weder unterwürfig noch herrschsüchtig, der Versöhnliche weder nachtragend noch harmoniesüchtig (vgl. diese und weitere Beispiele bei Kesselring 2012, S. 59). Häufig steht die »Mitte« für Überlegtheit, Besonnenheit, Impulskontrolle, während die Extreme affektiv geprägt sind (vgl. das zweite Merkmal) oder auch mit dem autoritären bzw. Laissez-faire-Erziehungsstil korrespondieren. So wird z. B. eine tolerante Haltung durch eine freiheitliche Erziehung mit vernünftigen Grenzsetzungen gefördert, während ein autoritärer Stil Intoleranz verkörpert, ein Laissez-faire-Stil dagegen eine übertriebene Bereitschaft zur Akzeptanz aller möglichen Handlungsweisen bzw. eine zu Konformismus neigende Gleichgültigkeit ihnen gegenüber (vgl. Kap. 7 über Toleranz).

Der Gedanke des Aristoteles, dass Extremisten dazu neigen, den Vertreter der Mitte in Richtung des gegnerischen Extrems zu denunzieren – den Mutigen greift der Feige als tollkühn an, der Tollkühne hält den mutig, aber überlegt Handelnden dagegen für feige (vgl. Aristoteles, Nik. Eth. II, 8, 1108b) – kann weiter in dem Sinne ausgeführt werden, dass das Zentrum der Ausgeglichenheit als situations- und personenvariabel gedacht werden sollte, ohne damit ›rein subjektiv‹ zu werden.

»So liegt z. B. zwischen Geiz und Verschwendung nicht schlicht die Mitte, sondern die Mitten Sparsamkeit und Großzügigkeit. Das wird hier angeführt […], weil die Gefahr besteht, dass der Großzügige den Sparsamen für geizig, der Sparsame umgekehrt ihn für verschwenderisch zu halten geneigt ist. In beiden Fällen würde die Gerechtigkeit verletzt.« (Splett 2009, S. 48)

In der konkreten Situation gibt es oft aufgrund der ›doppelten Mitte‹ kein einfaches Rezept, welche Handlung die ethisch angemessene ist. Verlangt ist ein Oszillieren zwischen zwei Ansprüchen:

»So, als müsstest du sterben, gib aus das Erworbene, so als lebtest du noch lang, geh sparsam mit ihm um. Weise ist, wer beide Möglichkeiten bedenkend, Sparsamkeit und Verschwendung [gemeint ist Großzügigkeit, Anm. E. St.] übet im richtigen Maß.« (Thomas Morus)

Die ethische Beurteilung fremder Handlungen verlangt Kontextsensitivität und Empathievermögen. Gerade im Zusammenhang einer schulischen Wertebildung ist dieser Hinweis wichtig, denn er enthält die Aufforderung zur Toleranz. Die Situation des Aufeinanderpralls unterschiedlicher, aber vertretbarer Meinungen bietet eine Lernchance für die unvoreingenommene Wahrnehmung von Multiperspektivität. Dogmatisches Verharren auf der eigenen Position oder Vorwürfe an den Gegner, er habe ›fundamentalistische‹ Ansichten bzw. eine Position, die von mangelnder Integrität zeuge, werden vermieden, wenn eine faire Gesprächsführung dem anderen nicht schlechtere Motive und Argumente für seine Position unterstellt, als er hat und selbst äußert. In der Tradition des philosophischen Gesprächs kennt man den Einschub der zusammenfassenden Wiederholung der gegnerischen Position, deren Richtigkeit der Gegner erst bestätigen muss, bevor zu widerlegenden Argumenten ausgeholt werden darf. Dies erscheint mir als eine sinnvolle Gesprächspraxis, die auch in der Schule wiederaufleben könnte. Gleichzeitig wird im Diskurs klarer, welches die wirklich inhumanen Positionen sind, die nicht toleriert werden sollten.

Wie schon beim ersten Merkmal erwähnt, ist die Tugendlehre des Aristoteles nicht intellektualistisch geprägt. Sie hat einen kognitiven wie auch einen motivational-volitiven Aspekt. Aristoteles lehnt also nicht die Leidenschaften ab, sondern das unbedachte Handeln aus Leidenschaft. Das Hinzukommen der Reflexion bleibt bis heute ein guter Ratschlag für eine konstruktive Konfliktbewältigung.

»Leidenschaft erschließt Wertqualitäten, aber nicht deren Rangordnung. Das ist der Grund des Rates, nicht unmittelbar im Zorn zu handeln. Der Zorn kann gerecht sein, er kann notwendig sein und mich aus der Stumpfheit gegen über einem Unrecht reißen. Aber der Zorn belehrt mich nicht, was zu tun ist. Er verführt deshalb zu neuem Unrecht […]. Das gleiche gilt für Mitleid. Auch das Mitleid macht sehend für fremdes Leid; aber es belehrt nicht über das, was zu tun ist. Aus Mitleid kann jemand etwas ganz Unvernünftiges tun, etwas, was dem Leidenden in Wirklichkeit gar nicht gut tut.« (Spaemann 2009, S. 44)

Praxisteil: Beispiele (Unterrichtvorschläge, literarische Texte, Zitate zum gemeinsamen Nachdenken)

Im Praxisteil werden Beispiele unterrichtlicher Anlässe für die mündliche, schriftliche und kreative Auseinandersetzung aller Art vorgestellt, durch die Schülerinnen und Schüler aller Schulformen angeregt werden, ihren Erfahrungen Ausdruck zu verleihen, über diese zu reflektieren und für ihre Meinungen Argumente zu finden. Natürlich sollten auch konkrete Erfahrungen und Situationen der Kinder und Jugendlichen als ›Aufhänger‹ für Gespräche genutzt werden, über die dieses Buch nicht Auskunft geben kann.

Die Darstellung der Beispiele in diesem Buch erfolgt in drei Schritten:

1.  UnterrichtsvorschlägeSchülerinnen und Schüler sollen sich ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen bewusstmachen, ihnen Ausdruck verleihen und über sie reflektieren. Die Beispiele sind Vorschläge, wie Lehrende selbstständiges Nachdenken mit anschließendem Austausch im Gespräch initiieren können.

2.  Ein oder mehrere literarische TexteEin literarischer Text bietet ebenfalls einen guten Gesprächsanlass, denn er enthält häufig konkrete Vorstellungen oder Bilder, die auf allgemeiner Ebene reflektiert werden. So werden Schülerinnen und Schüler dazu geführt, sich nicht nur über die dargestellte Situation, sondern auch über (eigene) ähnliche oder gegenteilige Erlebnisse und Erfahrungen Gedanken zu machen. Ein literarischer Text ist ein Vorbild dafür, dass Erkenntnisse nicht nur abstrakt, sondern auch metaphorisch ausgedrückt werden können. Das Denken in Bildern kommt der kindlichen Reflexion entgegen. Zur Anregung werden ab und zu Leitfragen zum Text vorgeschlagen.

3.  Zitate zum gemeinsamen NachdenkenJe nachdem, welche Interessen Schülerinnen und Schüler am Thema äußern, können Zitate zum gemeinsamen Nachdenken wie auch Textstellen aus dem Theorieteil, in dem der Grundwert nach vier Merkmalen dargestellt wird, als Anlässe für freiere Gespräche im Klassenplenum oder in Kleingruppen dienen. Ebenso können eigene Gedanken von Lehrpersonen wie auch Schülerinnen und Schülern als Diskussionsgrundlage dienen. Für Lehrpersonen bietet die Lektüre des Theorieteils dafür eine Hilfestellung, sie können jedoch auch Äußerungen von Schülerinnen und Schülern für die Weiterführung des Themas in einer Folgestunde aufgreifen. Es ist beabsichtigt, dass Parallelen zwischen den Wertklärungen im Theorieteil und den Fragen und Antworten junger Menschen entdeckt werden.

Die Abfolge der Beispiele nach Unterrichtvorschlägen, literarischen Texten und Zitaten zum gemeinsamen Nachdenken lässt – ganz im Sinne des Fadings des Cognitive-Apprenticeship-Ansatzes (vgl. Collins, Brown & Newman 1989, S. 453-494) – Lehrenden und Lernenden zunehmend Gedankenfreiheit. Die Unterrichtsvorschläge bieten Vorgehensweisen zur Sammlung persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen an. Literarische Texte werden ab und zu um Leitfragen ergänzt, die sowohl eigene Erlebnisse und Erfahrungen in Erinnerung bringen als auch zu allgemeinen Reflexionen über das Thema anregen sollen. Der Einsatz von Zitaten zum gemeinsamen Nachdenken schließlich richtet sich nach dem von den Lernenden mitbestimmten Verlauf der Unterrichtseinheit. Diese erlauben freie Gedankenassoziationen, der methodische Umgang damit wird den Lehrenden freigestellt. Das kann dazu führen, dass Lehrende und Lernende zunehmend Selbstvertrauen gewinnen und selbstständiger arbeiten. Lehrende tragen diesem Gedanken Rechnung, indem sie ihre Hilfestellungen allmählich ausblenden. Welcher der vorgeschlagenen Gesprächsanlässe gewählt wird, ist sicherlich nicht nur von Erfahrungen der Teilnehmenden mit der Methodik, sondern auch vom Alter der Schülerinnen und Schüler und der jeweiligen Schulart abhängig.

Beim Dreischritt Unterrichtsvorschläge – literarische Texte – Zitate zum gemeinsamen Nachdenken wird außerdem der Ansatz des erfahrungsbasierten Lernens John Deweys (1859–1952) verfolgt, dass nur reflektierte Erlebnisse und Erfahrungen einen Lernfortschritt darstellen (1916/2000). Die Unterrichtsvorschläge konzentrieren sich auf das Sammeln von Erlebnissen und Erfahrungen, wobei der Begriff Erfahrung bereits mehr mit Reflexion verbunden erscheint als der Begriff des Erlebnisses. Literarische Texte verbinden Situationsschilderungen, Erlebnisse und Erfahrungen mit Reflexionen darüber. Die Zitate zum gemeinsamen Nachdenken erlauben allgemein gehaltene Gedankengänge, schließen aber nicht aus, dass auch persönliche Beispiele angeführt werden.

Im Sinne des Fadings wird am Ende der ersten vier Kapitel des Hauptteils (Liebe – Freundschaft – Empathie – Gerechtigkeit) jeweils ein Unterrichtsbeispiel ausgeführt. Es beweist, dass junge Menschen sich in Wertebildungs-Gesprächen ernsthaft und sachadäquat, manchmal auch mit geradezu frappierend ›tiefen‹ Gedanken äußern können. In den späteren Kapiteln wird auf exemplarische Gesprächsdarstellungen verzichtet.

1     Die Begriffe ethisch und moralisch werden in diesem Buch als Synonyme verwendet.

 

1          Ist eine Wertebildung nur Ausdruck des relativen Kontextes, innerhalb dessen sie stattfindet?

 

 

Anjas Einwand gegen das Phänomen des Altruismus zu Beginn dieses Buches ist so grundlegend, dass wir uns noch einmal mit ihm beschäftigen sollten. Verallgemeinert besagt er nämlich: Gutes Handeln an sich gibt es nicht. Unsere Wertungen sind immer auf einen relativen Kontext bezogen – auf den der persönlichen Vorlieben, Bedürfnisse und Interessen, des eigenen sozialen Milieus oder des historisch-gesellschaftlichen Kulturkreises. Denn, wenn wir zwischen objektiv und subjektiv Gutem, d. h. einem guten Handeln an sich oder nur für mich nicht unterscheiden können, wie das Wort Helfersyndrom nahelegt, dann erübrigt sich das Unternehmen einer Werteerziehung. Diese würde allenfalls der Anpassung an den Zeitgeist oder sogar, wie das Beispiel zeigt, der Heuchelei dienen.

Die Diskussion, ob Menschen nur subjektiv oder auch objektiv Gutes erkennen können, ist nicht neu. Schon Sokrates führte sie mit den Sophisten, Lehrern im Athener Stadtstaat (Polis), die ihre Schüler über gelingendes Leben unterrichteten. Dabei wirft er ihnen Unkenntnis der eigentlichen Ziele von Erziehung vor, da sie z. B. gar keinen Unterschied zwischen dem Angenehmen und dem Guten machten.

»Tu Gutes« – ein Anspruch an mich oder nur Geschmacksache? Der ›Schlagabtausch‹ im Dialog Gorgias2 zwischen Sokrates und den beiden Sophisten Polos und Kallikles

(1) Sokrates: Die Mächtigen tun zwar, was ihnen beliebt, aber nicht, was sie wirklich wollen! Denn eigentlich wollen wir Menschen Gutes tun. Die nicht tun, was sie in Wahrheit wollen, sind zu bemitleiden, denn sie sind unglücklich.

Polos: Unglücklich und bemitleidenswert ist doch wohl eher, wer zu Unrecht den Tod erleidet (also das ohnmächtige Opfer, nicht der mächtige Täter).

Sokrates: Nein, Polos, nicht so sehr wie der Täter!

Polos: Wieso?

Sokrates: Weil es etwas Schlimmeres als Unrecht tun nicht gibt!

Polos: Ist es aber nicht noch schlimmer, Unrecht zu erleiden?

Sokrates: Nein, ganz sicher nicht!

Polos: Und du selber – du würdest lieber Unrecht leiden wollen als Unrecht tun?

Sokrates: Wollen würde ich keines von beiden. Müsste ich aber wählen, dann würde ich lieber Unrecht leiden als Unrecht tun!

(2) Kallikles: Nach der Natur ist es schändlicher und schlechter, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun; nach der Menschensatzung ist es – angeblich – umgekehrt. Wer aber wirklich ein Mann ist, der duldet es nicht, dass ihm Unrecht geschieht! Das ist eher etwas für den Sklaven, der ohnehin besser tot wäre als lebendig. Die Schwächlinge sind es, die sich die Gesetze ausdenken.

Sokrates: Was heißt denn stärker? Meinst du mit den Stärkeren vielleicht die Intelligenteren?

Kallikles: Ja, so meine ich es.

Sokrates: Und … müssen sie auch über sich selbst herrschen – oder nur über andere?

Kallikles: Über sich selber herrschen? Was meinst du damit?

Sokrates: Oh, gar nichts Ungewöhnliches, dass der Mensch sich selbst in der Gewalt hat – indem er ›herrscht‹ über seine Launen und über sein Begehren.

Kallikles: Meinst du diese Schwachköpfe, die ›Maß halten‹?

Sokrates: Natürlich, die meine ich!

Kallikles: Ungehindert genießen können – das heißt »gut« und ›glücklich‹ sein!

Sokrates: Dann stimmt es also gar nicht, dass glücklich sei, wer vollkommen bedürfnislos ist?

Kallikles: Da wären ja die Steine und die Toten am glücklichsten!

Sokrates: Und dein Glück wäre eher das Leben einer Ente!

(3) Sokrates: Wenn im Kriege der Feind sich zurückzieht – wer freut sich mehr darüber, die Tapferen (Guten) oder die Feigen (Schlechten) ?

Kallikles: Beide gleich viel.

Sokrates (damit gibst du indirekt zu): Es gibt das Gute und es gibt das Angenehme; und das eine ist nicht dasselbe wie das andere. Dann muss man das Angenehme um des Guten willen wählen – nicht aber das Gute um des Angenehmen willen?

Kallikles: Freilich.

Sokrates: Wenn aber ein Unterschied zwischen dem Guten und Angenehmen besteht, dann gilt auch: Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun. Und nicht den Tod sollen wir fürchten, sondern, Unrecht zu tun.

1.  Allgemeine Interpretation des Dialogausschnittes Sokrates meint, dass der Mensch gar nicht umhin kann, zwischen gutem Handeln und der Befriedigung eigener Bedürfnisse und Interessen zu unterscheiden (z. B. macht er die Erfahrung, dass gut zu handeln nicht unbedingt angenehm ist). Grundwerte sind im Prinzip nicht von einem wandelbaren kulturellen Kontext abhängig, sie werden nicht nur ›von außen‹ mitgeteilt, denn auf die Erkenntnis, dass Gutes und Angenehmes nicht dasselbe sind, kommt der Mensch von selbst, kraft seiner Vernunft, die die eigenen Erfahrungen reflektiert, oder, wie Immanuel Kant (1724–1804)3 später sagen wird, kraft des Gewissens. Ein Dialog mit anderen, wie Sokrates ihn vorführt, kann dieses selbstständige Nachdenken allerdings anregen (vgl. dazu den Dialog zum Lernen als Wieder-Erinnerung in Kap. 6.1.1). Es wäre ein Verstoß gegen die eigene geistige Natur, gegen die Selbsterkenntnis, nur zu tun, was einem angenehm ist, und darüber das Gute zu vernachlässigen. Deshalb würde der Mensch nach Sokrates dadurch letztlich unglücklich (über sich selbst).

2.  Interpretation des Dialogausschnittes nach Abschnitten Im ersten Abschnitt widerspricht Sokrates Polos, der Unrecht-Leiden für schlimmer hält als Unrecht-Tun. Das ergibt sich aus dem Vernunftgebot, dass das Gute dem Angenehmen vorzuziehen ist. Polos glaubt, Sokrates unterschätze das Leiden, und erinnert ihn daran, dass er ja konsequenterweise mit seinem eigenen Leben für eine solch heroische Ansicht einstehen müsse. Doch dass es Polos ist, der Sokrates unterschätzt, wird aus Sokrates’ Antwort deutlich, natürlich wolle niemand leiden, tatsächlich müsse man es aber manchmal, und zwar, wenn Gutes und Angenehmes einander entgegenstehen. Das Gute sei hochwertiger als das Angenehme. Besser der Körper erleide Schaden als die Seele. Sokrates nimmt hier den kategorischen Imperativ Kants – das Handeln nach eigenem Gewissensentscheid – vorweg (vgl. Kap. 1.2.1).    Im zweiten Abschnitt vertritt Kallikles als härtere Spielart der Skepsis eine frühe Form des Sozialdarwinismus. Naturgesetz sei das Recht des Stärkeren, alle anderen staatlichen Gesetze dagegen nur von Menschen ›gesetzt‹, d. h. Spiegel ihrer Machtverhältnisse, nicht einer (illusionären) Gutheits- oder Gerechtigkeitsidee. Zwischen dem Angenehmen und dem Guten gebe es keinen Unterschied, d. h., das Ziel des Lebens könne nur Genuss sein.    Sokrates zerpflückt zunächst den eher auf individuelle Körperkraft bezogenen und deshalb zu simplen Stärke-Begriff des Skeptikers, indem er Kallikles fragt, ob Schwache, die sich gegen Mächtige zusammentun, um Gesetze gegen sie durchzusetzen, nicht stärker als diese sind, da intelligenter? D. h., des Menschen Natur ist geistig. Dies ist seine eigentliche Stärke. Die sokratische Hinterfragung der Ansicht Kallikles’ (es gibt Sklaven und Freie – Ziel des Lebens ist, zu den Herrschern zu gehören, weil diese ihre Bedürfnisseund Interessen befriedigen können) lässt sich aus moderner Perspektive kühn als Kritik an der antiken Klassengesellschaft interpretieren. Heute würden wir sagen, mehr als Konkurrenz und Einzelkämpfertum entspreche Kooperation und Absprache der menschlichen Natur. Außerdem gibt Sokrates Kallikles einfach mal den Hinweis, dass nicht alle Menschen so denken wie er. Eine Gruppe von Philosophen vertrete eine ganz gegenteilige Glücksauffassung. Deren Ziel sei möglichste Bedürfnislosigkeit, die ›Beherrschung‹ der Triebe. Zweimal spielt Sokrates also darauf an, dass Kallikles den Unterschied zwischen Mensch und Tier vernachlässigt, einmal beim Stärke-Begriff der ›Kraftnatur‹, außerdem beim Glücks-Begriff der Triebbefriedigung: Das sei das Leben einer Ente.    Im dritten Abschnitt versucht Sokrates Kallikles noch einmal an einem Kriegs-Beispiel klarzumachen, dass Menschen ganz spontan einen Unterschied zwischen dem Guten und dem Angenehmen machen (und mit ihrer Intuition richtig liegen). Hier muss man wissen, dass nach antiker Vorstellung der tapfer Kämpfende als der gute Mensch, der feige Fliehende als der schlechte gilt. Auf Sokrates’ (Fang-)Frage antwortet Kallikles, dass beide wohl gleichermaßen erleichtert sind, wenn der Feind sich zurückzieht. (D. h., beiden ist es gleich ›angenehm‹.) Sokrates übertölpelt ihn hier ein wenig, indem er ihn ›im Nachhinein‹ darauf hinweist, dass er seine, Sokrates’ Unterscheidung zwischen den Tapferen und den Feigen spontan nicht in Frage gestellt habe. Indirekt wisse er also um den Unterschied zwischen Guten und Schlechten und, da beide die gleiche Erleichterung bei Situationsentspannung empfänden, auch um den Unterschied zwischen dem Guten und dem Angenehmen. Sokrates macht Kallikles also auf eine Inkohärenz in seinem Denken aufmerksam.

Dieser Dialogausschnitt vermittelt außerdem einen Eindruck, warum die sehr von sich selbst überzeugten Ratsherren der Stadt Athen Sokrates’ Gesprächsführung so provozierend fanden, dass sie ihn schließlich zum Tode verurteilten. Sokrates entlarvt Scheinwissen, indem er seine Gesprächspartner in Widersprüche verwickelt. Wem es um Ansehen und Macht statt um Wahrheit geht, der fühlt sich dadurch bloßgestellt.

Bezüglich des eingangs erwähnten Fallbeispiels ist noch darauf hinzuweisen, dass die Skepsis Anjas gegenüber gutem Handeln zu würdigen und nicht nur zu kritisieren ist. Sie erkennt nämlich, dass Handlungsmotive vielfältig sein können und Menschen sich über ihre wahren Absichten Illusionen machen können bzw. sie manchmal auch bewusst vor anderen verschleiern. Damit ist sie einen Schritt weiter auf dem Weg zu Freiheit oder Mündigkeit. Teilt man nach dem Höhlengleichnis Platons (vgl. Politeia [Der Staat] VII, 514–520) Freiheits- oder Mündigkeitserziehung in drei Stufen ein, befindet Anja sich immerhin schon auf der zweiten. Anzumerken ist, dass die moralische Entwicklung nach Lawrence Kohlberg (1927–1987) als ähnlich befreiender Aufbruch angesehen werden kann: Die drei Niveaus Kohlbergs – das präkonventionelle, das konventionelle und das postkonventionelle – können in manchen Zügen mit denjenigen des Höhlengleichnisses parallelisiert werden (vgl. Kap. 2.2.2).

Das Höhlengleichnis Platons in Kurzform: der befreiende Aufbruch vom Dunkel der Ignoranz zum Licht der Erkenntnis (vgl. Politeia [Der Staat] VII, 514–520)

Zu Anfang ihres Lebens sind Menschen in einer Höhle gefangen, so fest gekettet, dass sie immer nur nach vorn auf eine Felswand blicken können. Sie wissen nicht, dass die Höhle einen Ausgang in ihrem Rücken hat, von woher ein Licht scheint, das Abbilder von Gegenständen, die sich ebenfalls hinter den Menschen, aber näher an ihnen befinden, auf die Felswand wirft. Sie können nur diese Projektionen, nicht aber die Dinge selbst und das Licht sehen, und halten die Abbilder deshalb fälschlich für die Realität. Die Schattenwelt irriger Anschauungen könnte jeder Einzelne jedoch prinzipiell verlassen, indem er sich losmacht und auf den steilen und einsamen Weg der Umkehr zum Licht am Höhleneingang begibt. Beim ersten Blick auf das Licht ist er zunächst geblendet und verwirrt. Das Bedürfnis entsteht, die weniger schmerzhafte Position gemeinschaftlicher Gefangenschaft wieder einzunehmen. Widersteht er diesem Hang zu Bequemlichkeit, (falscher) Sicherheit und Vertrautheit jedoch, gewöhnen sich seine Augen allmählich an die Schau des wirklich Wahren, Guten und Schönen. Der das Licht Erkennende fühlt als Gerechter die Verpflichtung, zu den Höhlenbewohnern zurückzukehren, um sie über die glücklichen Aussichten zu informieren; von diesen droht ihm aufgrund ihrer Ignoranz jedoch die Gefahr, für seine neue, bessere Existenzweise nur Verständnislosigkeit zu ernten, ausgelacht, schlimmstenfalls sogar umgebracht zu werden (eine Anspielung Platons auf das Ende des Sokrates).

Drei Stufen der Freiheits- oder Mündigkeitserziehung am Beispiel der Gerechtigkeitserkenntnis – abgeleitet aus dem Höhlengleichnis Platons

Erste Stufe (Kindheit): Die Illusion, die ›Schattenwelt‹ sei die Realität

•  Naiver Autoritätsglaube – der Ist-Zustand ist zugleich der Soll-Zustand; gut und gerecht ist, was die Autorität vorgibt (Stufe der Heteronomie);

•  z. B.: hier und jetzt geltende Gesetze sind gerecht und deshalb zu befolgen; Erwachsene sagen die Wahrheit und haben recht; sie sagen, was sie denken, und handeln auch danach; oder: So wie ich denke und handle, machen es alle, denn das ist natürlich.

Zweite Stufe (Pubertät): Das schmerzhafte Wagnis der Umkehr zum Licht, ohne wegen des ›Strahlenfunkelns‹ etwas erkennen zu können

•  Infragestellung einzelner Autoritäten – Vertreten der Meinung, es gebe keine Erkenntnis der Gerechtigkeit, nur viele subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen; zwischen dem subjektiv Angenehmen und dem Guten gebe es keinen Unterschied;

•  z. B.: Gesetze sind relativ zur jeweiligen Kultur und deshalb Ausdruck der Herrschaftsansprüche der jeweils Mächtigen; Sprechen und Handeln dient der persönlichen Interessendurchsetzung.

Dritte Stufe (Erwachsenenalter): Gewöhnung der Augen an das ›Licht‹ und Erkennen der wahren Gegenstände

•  Autoritätsunabhängiges ethisches Bewusstsein – Erkenntnis, dass Gerechtigkeit (= das Gute an sich) ein orientierendes Ideal ist, das besser oder schlechter erkannt und verwirklicht werden kann (Stufe der Autonomie);

•  z. B.: Gesetze müssen auf ihren Gerechtigkeitsgehalt hin überprüft werden und sind nur zu befolgen, wenn sie als gerecht beurteilt werden; es gibt Kulturen, die die Menschenwürde mehr oder weniger achten; Sprechen sollte wahr, Handeln gerecht sein.

Freiheits- oder Mündigkeitserziehung zielt auf die Entwicklung einer autonomen ethischen Urteilsfähigkeit, die der dritten Stufe entspricht. Die zweite Stufe, die wertrelativistische Position, erscheint dabei als ein notwendiges, aber letztlich zu überwindendes Durchgangsstadium.

Was sind (Grund-)Werte und Normen?

Ganz allgemein bezeichnen Werte die gute Qualität von etwas. »Wert heißt ursprünglich (im gotischen wairths) ›wohin gewendet‹, was noch in der Nachsilbe -wärts nachklingt« (Gerl 1993, S. 38). Werte charakterisieren demnach eine Leitvorstellung, etwas Attraktives (= Wahres, Gutes und Schönes), auf das der Mensch sein Denken und Handeln ausrichten kann oder sollte.

Wie Sokrates, der zwischen dem Guten für mich und dem Guten an sich unterscheidet, trennt Kant relative (= unverbindliche) und absolute (= universell verbindliche, ethische) (Grund-)Werte (vgl. Kap. 1.2.1), d. h., Werte können einer subjektiven Präferenz entsprechen (z. B. »Spargel ist mein Leibgericht!«) oder einen objektiven Anspruch darstellen (z. B. »Gute Lehrer haben keine Lieblingskinder, sondern behandeln alle gerecht!« – So kann einem egal sein, ob andere Menschen Spargel ebenfalls mögen oder nicht. Beobachtet man aber, dass ein Lehrer einen Schüler ungerecht behandelt, sollte man dagegen einschreiten.)

Unter Normen versteht man Regeln oder Vorschriften, Gebote oder Verbote, also konkrete Verhaltensanforderungen. Sie legen häufig ihnen zugrundeliegende Werte aus und verleihen ihnen dadurch Geltung. So lassen sich z. B. aus den (Grund-)Werten Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit Regeln (= Normen) für die Schulgemeinschaft ableiten, z. B. Achte das Eigentum des anderen! oder Versuche nicht, bei Prüfungen zu schummeln! Werte können miteinander konkurrieren, z. B. steht Aufrichtigkeit manchmal gegen Solidarität: Soll man sagen, dass der Banknachbar permanent abschreibt, oder ist das Petzen? Hier müssen Lehrpersonen erkennen, dass Schülerinnen und Schüler in Wertkonflikte geraten können und nicht vorschnell über deren Verhalten urteilen.

Normen sind viel enger als Werte formuliert und unterliegen deshalb oft dem historisch-kulturellen Wandel, gelten z. B. nur innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, in einer bestimmten Kultur, sind also häufig relativ (zu Zeit und Raum). Es gibt auch individuelle Normen, die man sich selbst setzt und die nur für die eigene Lebensplanung und -gestaltung Bedeutung haben.

Der Grad der Verbindlichkeit von Normen richtet sich danach, inwiefern sie (Grund-)Werte oder nur relative Werte widerspiegeln. Ihre Gültigkeit muss deshalb immer wieder durch kritische Reflexion überprüft werden, auch in der Schule. Die Unterscheidung von absoluten und relativen Werten sowie Normen soll »zu rationalen ethischen Abwägungen, begründeten Handlungsentscheidungen und zum ethischen Dialog anleiten« (Kürzinger 2011, S. 39).

Was versteht man unter Erziehung bzw. Werteerziehung (Wertebildung)?

Die Begriffe Erziehung und Werteerziehung sind im Grunde Synonyme. Wenn ein Unterschied gemacht wird, so fokussiert die Werteerziehung bzw. - bildung die Entwicklung von Reflexions- oder Urteilsfähigkeit.

Erziehung ist »die notwendige, absichtsvolle und integrative Hilfe bei der Entwicklung des Heranwachsenden zu seiner Mündigkeit« (Wiater 2010, S. 12).

Werteerziehung beschreibt die »Aufgabe von Erziehungs- und Bildungsinstitutionen (Familie, Schule, Berufsausbildung), den stattgefundenen Wertbildungsprozess zu reflektieren« (Funiok 2007, S. 46). Dabei geht es vor allem um die »individuelle Übernahme, Ablehnung, Neuaneignung von vorgefundenen, aber dann persönlich bejahten Werten« (ebd.). Werteerziehung »zielt insbesondere auf die Mündigkeit und Selbstständigkeit« (Kürzinger 2011, S. 43), speziell durch Gespräche oder Diskussionen.

»Das Wesen des Dialogs heißt Begründung […]: Begründung, die fordert, sich von Zwängen und angemaßten Autoritäten freizumachen.« (Heitger 2004, S. 116)

Mit Wolfgang Brezinka (1993, S. 221) lässt sich auch zwischen einer indirekten und direkten Werteerziehung unterscheiden. Je jünger das Kind ist, umso mehr findet eine eher indirekte, beeinflussende Werteerziehung statt, etwa über die Nachahmung von Vorbildern oder die Aufstellung von Regeln. Wichtig ist deren Begründung, auch wenn das Kind die Erklärungen manchmal noch nicht verstehen kann. Indirekt erfährt es dennoch die Bedeutung von Rechtfertigung und Diskussion (vgl. Kap. 1.2.2, S. 49). Je älter es wird, umso mehr ist es einer direkten Werteerziehung zugänglich, d. h. einer bewussten Reflexion von Werten. Die höhere Stufe hat die niedrigere zur Voraussetzung, was bedeutet, dass eine Wertreflexion ohne die vorhergehende Übernahme von Traditionen nicht möglich ist. Selbst Fritz Oser, der einen Diskurs-Ansatz der Werteerziehung vertritt, stimmt dieser Ansicht zu. Er meint, »dass eine auf Interaktion basierende Moralerziehung ohne eine Wertimmersion [= -eintauchung, -einbettung, Anm. E. St.] genau so problematisch ist wie eine Wertvermittlung ohne Wertreflexion« (Oser 2001, S. 72). Tradition hat eine Abkürzungs- oder Entlastungsfunktion,

»durch die Festlegung von gut und böse, nützlich und schädlich. Der individuelle Erfahrungsablauf wird durch Gebot und Verbot beschleunigt […], um nicht jedes Kind wieder am Punkt Null im Lebenskampf anfangen zu lassen.« (Gerl 1993, S. 45)

Die kognitive Auseinandersetzung mit Werten baut demnach auf individuellen, emotional geprägten Erfahrungen auf. Ohne diese oft unbewusst bleibende, nie ganz thematisierbare Grundlage erübrigt sich jede diskursive Auseinandersetzung.

»Einem Menschen […], der […] gar keine Wertunterschiede wahrzunehmen vermag, fehlen gewisse fundamentale Erfahrungen und Erfahrungsmöglichkeiten, die durch Argumente nicht ersetzbar sind.« (Spaemann 2009, S. 19)

»Der Wertgehalt der Wirklichkeit erschließt sich uns in Akten der Freude und Trauer, der Verehrung, der Verachtung, der Liebe, des Hasses, der Furcht oder der Hoffnung.« (Ebd., S. 38)

Werteerziehung bzw. -bildung ist somit ein ganzheitlicher, leib-geistig geprägter Unterricht. Die Schule selbst muss ein Erfahrungsraum gelebter Werte sein. Junge Menschen sollen von ihren persönlichen Erfahrungen erzählen dürfen und Gelegenheit bekommen, diese zu reflektieren. So dient z. B. die Methode des Rollenspiels dazu, persönliche Erfahrungen einzubringen, aber auch, sich in die Erlebenswelt anderer hineinzuversetzen.

Letztlich hat Erziehung nicht die Funktion der Anpassung an bestehende Normen (indirekte Werteerziehung), sondern das Ziel der Reflexion des Überkommenen, der Ausbildung der Fähigkeit zur Normenbegründung und -kritik zur humanisierenden Fortentwicklung der Gesellschaft (direkte Werteerziehung). Die Vernunft soll den Willen leiten. Das ist auch das Anliegen des Modells zur Entwicklung ethischer Argumentationsfähigkeit von Lawrence Kohlberg, das eine Stufenabfolge zunehmend gerechteren Urteilens darstellt. Im Diskurs soll die moralische Kompetenz Einzelner vorangetrieben werden, mit dem Ziel, das präkonventionelle und das konventionelle Niveau zugunsten des postkonventionellen, autonomen Niveaus zu erreichen (vgl. in Kap. 2.2.2 den ersten Abschnitt).

In dem Maße, in dem Kinder und Jugendliche eigene ethische Urteilsfähigkeit entwickeln, macht Erziehung sich überflüssig.

Was versteht man unter Wertrelativismus?

Wertrelativismus besagt, dass Qualitätsurteile subjektiv sind. Das, was Menschen für attraktiv halten und zu ihrem Handlungsziel machen, sei eine Frage subjektiver Präferenz. Werturteile wie »Das ist gut!«, »Das ist wahr!« oder »Das ist gerecht!« beruhten immer auf der äußeren Vor-Prägung eines Menschen, seinen persönlichen Vorlieben, Bedürfnissen und Interessen, dem eigenen sozialen Milieu oder historisch-gesellschaftlichen Kulturkreis, seien letztlich also beliebig und irrational.

»Die Entstehung des Relativismus wurde kulturell dadurch begünstigt, dass die Griechen durch die Kolonisation in den gesamten Mittelmeerraum hinein in engen Kontakt mit anderen Sitten und Bräuchen, anderen Götter- und Lebensvorstellungen kamen. Man entdeckte, dass eigene Sitten, Gesetze und Lebensformen, die man bisher für so selbstverständlich gehalten hatte, dass man sie beinahe als naturgegeben sah, in anderen Kulturen keine Geltung hatten. Aus dieser Erfahrung der Andersartigkeit einer fremden Kultur zogen einige Sophisten den radikalen Schluss, dass alles, d. h. auch das, was gut und gerecht ist, immer nur relativ sei. Aus der Auffassung, dass sämtliche Wertvorstellungen der eigenen Polis relativ seien, folgt auch deren Beliebigkeit. Es erscheint nämlich fraglich, ob es sinnvoll ist, sich in seinem Leben an dem zu orientieren, was konventionellerweise gerade in der eigenen Kultur ›gerecht‹ und ›gut‹ genannt wird, denn das, was gut und richtig genannt wird, ist für den Relativisten kein objektiver Maßstab mehr, sondern von Kultur zu Kultur verschieden. Manche Sophisten behaupten, dass man sich im eigenen Interesse über die Gesetze einer Polis hinwegsetzen sollte (natürlich so, dass man klug dabei vorgeht und nicht erwischt wird) und nur derjenige wirklich glücklich werden kann, der nicht mehr bereit ist, dem zu entsprechen, was gerade in der eigenen Kultur ›gerecht‹ genannt wird.« (Bordt 1999, S. 29–30)

Der Schluss der Sophisten ist jedoch nicht zwingend. Robert Spaemann weist darauf hin, dass die Herausbildung eines universalistischen Ethikansatzes in der Antike und damit die Initialzündung der griechischen Philosophie im 5. Jahrhundert v. Chr. das Zusammentreffen der Griechen mit fremden Kulturen wie etwa den Skythen war (vgl. Kap. 1.2.4):

»Die Griechen […] begnügten sich nun nicht einfach damit, diese Sitten schlicht absurd, verächtlich oder primitiv zu finden, sondern einige von ihnen, die Philosophen, begannen nach einem Maßstab zu suchen, an dem man […] verschiedene Normensysteme messen kann. […] [So lässt sich feststellen], dass die Suche nach einem allgemeingültigen Maßstab […] aus der Beobachtung der Verschiedenheit moralischer Normensysteme hervorgeht.« (Spaemann 2009, S. 14)

Das von Max Weber (1864–1920) propagierten Ideal der Wertfreiheit der Wissenschaften führte in der Moderne zum Anspruch der Enthaltung von Werturteilen. Man müsse bei Aussagen zwischen der Seins- und der Sollens-Ebene trennen. Die Wissenschaft dürfe lediglich Aussagen auf der Seins-Ebene treffen, dagegen seien Aussagen auf der Sollens-Ebene als subjektiveWerturteile aus der Wissenschaft auszuklammern oder bewusst hypothetisch zu formulieren. Übersehen wurden dabei die zeitüberhobenen und kulturübergreifenden Grundwerte, die mit der Achtung der Menschenwürde verbunden sind, und deren allgemeine Gültigkeit begründet werden kann.

»An dieser [Max Webers, Anm. E. St.] Forderung ist berechtigt, dass die Wissenschaft von Vorurteilen und partikulären Interessen frei sein soll. Aber auch die Wissenschaft ist den ethischen Normen unterworfen, und die Setzung von Prioritäten bei der Forschung sowie der Vermittlung und der Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse stellt immer auch eine Wertung dar. Ferner ist es vor allem bei den Geisteswissenschaften unmöglich, ohne Wertungen auszukommen, da hier die empirische Feststellung von Gesetzmäßigkeiten nicht ausreicht, sondern eine Interpretation nötig ist.« (Schöndorf, in Brugger & Schöndorf (Hrsg.) 2010, S. 571)

Im Zuge der Wissenschaftsorientierung der 1970er Jahre bekam die Wissensvermittlung des Fachunterrichts einen höheren Stellenwert als die Werteerziehung. Letztere war dem Vorwurf ausgesetzt, ideologieanfällig zu sein und einer (unkritischen) Anpassung an gesellschaftliche Normen Vorschub zu leisten. Für den Primat des Unterrichtens bezog z. B. Hermann Giesecke später noch einmal Position (vgl. Giesecke 1995, S. 93–104). Das Werte-Problem blieb für die praktische Pädagogik