Westerwälder Köpfe - Heiner Feldhoff - E-Book

Westerwälder Köpfe E-Book

Heiner Feldhoff

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Beschreibung

Die Sammlung enthält 33 bemerkenswerte Porträts folgender berühmter Westerwälder: Édouard Baldus, Andreas Balzar, Wilhelm Boden, Carmen Sylva, Paul Deussen, Karl Wilhelm Diefenbach, Margaretha Flesch, Ika Freudenberg, Karl Otto Götz, Johannes Gross, Albertine von Grün, Sophie von Hatzfeldt, Annegret Held, Lothar Hermann, Joseph Höffner, Peter Hussing, Katharina Kasper, Hermann Kempf, Willy Korf, Hermine Körner, Maximilian Prinz zu Wied, Mechthild von Sayn, Hanns-Josef Ortheil, Fritz Philippi, Erwin Piscator, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, August Sander, Gisela Schmidt-Reuther, Ewald Schnug, Leo Sternberg, Thomas Stum, Clemens Wilmenrod, Erwin Wortelkamp.

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Gefördert von den Landkreisen Altenkirchen, Neuwied und Westerwaldkreis. © 2014 E-Book Ausgabe Rhein-Mosel-Verlag Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542-5151 Fax 06542-61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-830-2 Satz und Gestaltung: Marina Follmann Umschlagentwurf: Heiner Feldhoff

Heiner Feldhoff/Carl Gneist

Westerwälder Köpfe

33 Porträts herausragender Persönlichkeiten

Rhein-Mosel-Verlag

***

Inhalt

Vorwort (Heiner Feldhoff)Vorwort (Carl Gneist)Édouard BaldusAndreas BalzarWilhelm BodenCarmen SylvaPaul DeussenKarl Wilhelm DiefenbachMargaretha FleschIka FreudenbergKarl Otto GötzJohannes GrossAlbertine von GrünSophie von HatzfeldtAnnegret HeldLothar HermannJoseph HöffnerPeter HussingKatharina KasperHermann KempfWilly KorfHermine KörnerMaximilian Prinz zu WiedMechthild von SaynHanns-Josef OrtheilFritz PhilippiErwin PiscatorFriedrich Wilhelm RaiffeisenAugust SanderGisela Schmidt-ReutherEwald SchnugLeo SternbergThomas StumClemens WilmenrodErwin WortelkampAnhang

***

Der Westerwald und seine Menschen (I)

Heiner Feldhoff

Der alle verbindende Volksgruß, ein Dialog in knappster Form, der die Westerwälder Zusammengehörigkeit auf der Stelle erkennen lässt, ist seit hundert Jahren das Losungswort: »Hui! Wäller? – Allemol!«, die 1913 vom Westerwaldverein preisgekrönte, für Außenstehende unverständliche Parole aus einem Sechszeiler des Heimatdichters Adolf Weiß. Den Menschen des Westerwalds kurz Wäller zu nennen, hat sich durchgesetzt, so lautstark der verdiente Kulturhistoriker Hermann Josef Roth auch dagegen polemisiert: das sei albern, geschmacklos, eine Verstümmelung, ein Un-Wort, eine Erfindung eben. Aber ich meine, nach so vielen Jahren hat sich seine identitätsstiftende Berechtigung nun wahrlich erwiesen, und im Übrigen ist die Kurzform Wäller für Westerwälder z. B. schon bei dem von mir hochverehrten, literarisch bedeutsamen Dichter Fritz Philippi, also lange vor Adolf Weiß, anzutreffen, beide vom Hohen Westerwald. Auf dieses Westerwälder Kerngebiet trifft all das zu, was sich die Welt draußen so erzählt von der Wäller Rauheit, dem grollend Mundharten strengstirniger »Basaltköpp«, der Kargheit der Landschaft, dem berüchtigten Wind (Hui!), jenen Höhen, wo »zahllose Basaltblöcke zerstreut liegen, als habe der Himmel in seinem Zorn Felsen gehagelt«, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl beschrieben hat. Arno Schmidt, der selbst als Dichter zurückgezogen auf dem Land lebte, zitiert das weltweit bekannte Westerwaldlied »Ü berDei neHö henfeift der-Winnt. Sokallt« auf seine Weise. Pfarrer, Richter, Lehrer sind hierhin abgeordnet worden und recht bald, wenn es unstete Geistesmenschen, Stadtmenschen waren, wieder fortgezogen. Und sind dann berühmt geworden, haben aber oft lebenslang das Westerwäldische in ihrem Herzen bewahrt. Die sogenannten einfachen Leute wie auch die kommunalen Politiker verbinden mit dem Begriff Kultur meist die Forst- und Landwirtschaft, zu deren Geschichte Hans-Joachim Häbel ein vorzügliches Buch geschrieben hat: Die Kulturlandschaft auf der Basalthochfläche des Westerwaldes vom 16. bis 19. Jahrhundert.

Das Arno-Schmidt-Zitat begegnete mir vor Jahren, als ich für einen rheinland-pfälzischen Reiseführer den Westerwald als literarische Landschaft untersuchte, und auf einmal entdeckte ich überall zwischen Dill, Lahn, Rhein und Sieg, an Wied und Nister bedeutende Geistesspuren, ja gleich vor der Haustür: Nietzsches Freund Paul Deussen, Pfarrerssohn aus Oberdreis, weltberühmter übersetzer der Upanishaden, hatte hier gelebt, und schon bald wurde er für mich, neben Raiffeisen und Sander, zum Dritten im Bunde Westerwälder Kulturgrößen von Weltrang. Anfangs, das gebe ich gerne zu, war es eher die Tatsache, dass Deussens Freund, der große Friedrich Nietzsche, zwei Wochen lang hier bei uns im Westerwald, bei den Deussens in Oberdreis, zu Besuch gewesen war.

Dann schrieb ich für ein Sonderheft der Kultur-Initiative »Pro AK« von Ulrich Schmalz eine erste Serie von sieben Porträts berühmter Westerwälder, und am Ende war es u.a. der Künstler Erwin Wortelkamp, bereits der erlauchten Siebenzahl zugehörig, der anregte, diese Galerie zu erweitern und in Buchform dauerhaft bereitzuhalten. Die Landräte der Kreise Altenkirchen, Neuwied und Westerwald, selber an einem stärkeren regionalen Zusammenhalt interessiert, waren von der Idee einer solchen »Pro AK-NRWW «-Publikation allemol angetan. Aber auch aus dem hessischen Westerwald galt es kulturhistorisch bedeutsame Persönlichkeiten aufzunehmen. War tatsächlich anfangs eine gewisse Verlegenheit spürbar gewesen, wenn man nach wirklich großen Westerwäldern fragte, so tauchten auf einmal, besann man sich recht, immer mehr Namen auf, so dass mir das Projekt der Westerwälder Köpfe beinahe über den Kopf wuchs und unbedingt ein kompetenter Co-Autor hinzuzugewinnen war. Wir kamen dann aus dem Staunen nicht mehr heraus, die Zahl diskutabler großer Westerwälder wuchs ständig, so dass sich der Dreierbund Raiffeisen-Sander-Deussen wundersam um dreißig weitere Prominente vermehrte, – und damit nicht genug, am Ende noch einmal um das Doppelte, so dass wir hier eine alternative Liste beifügen (s. u.), für all jene, die in unserer subjektiven Auswahl vielleicht zu Recht den einen oder anderen eigenen Favoriten vermissen, dessen Aufnahme den Rahmen unseres Buches freilich gesprengt hätte. Vorläufer unseres Projekts waren im Übrigen die Lebensbilder aus dem Kreis Altenkirchen von 1979, Frauengeschichten, 2008 vom Kreis Neuwied herausgegeben, sowie diverse Heimatbücher, u.a. die Ausgabe der Wäller Heimat 2012 des Westerwaldkreises.

In unserer Sammlung bedeutender Westerwälder kommen selbstredend auch berühmte Westerwälderinnen vor – nicht nur zeitgemäße correctness lässt dies sogleich ergänzen, tatsächlich kann sich der Frauenanteil von 30 Prozent durchaus sehen lassen. Birgt aber der geschlechtsneutrale Buchtitel nicht die Gefahr, eine allzu intellektuelle Sortierung anzukündigen? Keine Sorge, hier werden nicht nur Hochkultivierte, durch kulturelle Glanzleistungen Aufgefallene vorgestellt, nicht nur Künstler, Schriftsteller, Adlige, Kirchengrößen, sondern auch Boxer, Schäfer und Koch. Umgekehrt war es August Sander, der zum Ausdruck gebracht hat, dass es nicht den geringsten Grund dafür gibt, auf »nur« volksschulisch Gebildete hochmütig herabzublicken, wenn er einfache, lebenserfahrene Bauersleute fotografiert und mit dem Titel versieht: »Der Philosoph«, »Die Philosophin«; ein alter Hirte wird ihm zum »Weisen«, Menschen, die offenkundig, mehr als mancher Studierter, etwas verstanden haben vom Werden und Vergehen, von der Mühsal tagaus, tagein, geprägt auch von der Gottesfurcht, vom Immergleichen im Wandel der Zeiten, von der Stille des Landes.

für die Abfolge entschieden wir uns gegen die Chronologie; die Anordnung nach dem Alphabet schafft neue überraschende Begegnungen, so stellt sie den Gewerkschafter neben den Unternehmer, den Koch neben den Wirtshaussohn, den ausschweifenden Maler neben die keusche Selige, Raiffeisen und Sander, die beiden Berühmtesten, stehen beieinander, mittendrin Mechthild von Sayn, unsere Älteste, aus dem 13. Jahrhundert.

Das Verfassen dieser Kurzbiographien war stets begleitet von einem gewissen Schuldbewusstsein, so viele Menschenleben in jeweils kaum mehr als tausend Worten einzufangen und möglicherweise, auch wenn das jeweilige Leben geglückt schien, es posthum doch noch zu verpfuschen, so lückenhaft, so verknappt, so fragmentarisch, wie es hier nur dargestellt werden konnte, bei aller Sorgfalt der Recherche. Aber unsere Lebensbilder verstehen sich als Einladungen an den Leser, den Spuren jener verehrten Westerwälder weiter nachzugehen, deren Lebensleistung bis heute Früchte trägt und die Nachgeborenen berührt, animiert, aufregt.

Bisweilen, so erging es mir nach langer Beschäftigung mit diesen ganz Anderen, schienen einige von ihnen auf einmal ihr Anderssein zu verlieren und wurden mir zeitweilig zum Bruder, zur Schwester, andere blieben fremd und fern und rätselhaft. Jedenfalls mag ein solches Festhalten in Bild und Wort ein wenig dazu beitragen, dass, umtost von der schönen neuen, immer erreichbaren medialen Präsenz, die Erinnerungsfähigkeit des wachsamen Einzelnen gestärkt wird, konkret im Blick auf unsere Westerwälder Köpfe in Geschichte und Gegenwart, und nicht nur auf Köpfe, denn auch die Hände sind beteiligt, die Fäuste gar, die Beine, nicht zu vergessen das Herz. Was sie alle, fast alle eint: sie wollen ins Öffentliche, sie wollen wirken, verändern, wollen Erfolg, gänzlich selbstlos die wenigsten, auch die Frömmsten nicht, denen es zumindest um einen Schatz im Himmel geht; Ika, Erwin, Annegret, Johannes, Carmen, Paul, sie alle tragen das, was sie befähigt und beseelt, zu Markte: ihre Kunst, ihr Denken, ihren Witz, ihre Mission.

Hervorragende Westerwälder Köpfe gibt es, wir sagten es, nicht wenige. Ein besonderer sei hier noch zum Schluss erwähnt: der Beulskopf bei Altenkirchen. Wer dort auf den Raiffeisenturm hinaufsteigt und sich ganz oben, weit ins Land hinausblickend, in den Wäller Wind stellt, den ergreift vielleicht jener Schwindel, bei welchem er nicht mehr recht zu entscheiden vermag, ob das, was ihn da umweht, noch Naturgeräusch ist oder schon Geisteshauch. Immer muss man sich erst um ein weniges aus dem Alltag erheben und den eigenen Kopf hinhalten. Um den überblick zu gewinnen. Sei es auch zwischen zwei Buchdeckeln.

HF

Wer wohl auch in diese Sammlung gepasst hätte: Johann Peter Altgeld, der Gouverneur von Illinois; die Maler Karl Bruchhäuser, Robert Schuppner und Alois Stettner; der virtuose Bratschist Wolfram Christ, der Pianist Martin Stadtfeld und die Akkordeonistin Eva Zöllner, natürlich der Kabarettist Matthias Deutschmann; die historische Unternehmerpersönlichkeit Carl Johann Freudenberg und aus der Jetztzeit Ralph Dommermuth, Internet-Unternehmer, der Top-Manager Thomas Enders oder Joachim Fuhrländer, Apostel der Windräder: welche Karrieren! Dazu der »Holzpellet-Mann« Markus Mann und Willi H. Grün, Finanzjournalist – und Heimaterzähler. Aus der Welt des Sports ein Rudi Gutendorf oder Jutta Heine, Silbermedaillengewinnerin von Rom, Peter Hermann, Fußballprofi und Trainer bei Spitzenvereinen, Artur Knautz, Feldhandball-Nationalspieler. Dazu gehören auch: Hermann Graf Hatzfeldt, Schlossbesitzer und Hüter des Waldes, der Widerstandskämpfer Franz Leuninger, der Evangelist Anton Schulte, Friedrich Muck-Lamberty, furioser Lebensreformer. Dann die Schriftsteller Karl Ramseger-Mühle und Wilhelm Reuter, Hans-Christian Kirsch, der Erzähler für junge Menschen, der Bestseller-Autor Klaus-Peter Wolf und die Dichterin Maria Homscheid. Zudem Barbara Rudnik, die herbschöne Schauspielerin, oder Heinrich Roth, Landrat und Gegner des Hitler-Regimes, Hermann Josef Roth, der Kulturhistoriker der Region. Gewiss auch Wilhelm von Nassau-Dillenburg, hochadliger Kämpfer für die Freiheit der Oranjes, sowie die Verleger-Legende Klaus Wagenbach. Und nicht zuletzt der preußische Staatsreformer Karl Freiherr vom Stein.Der Westerwald – immer wieder bewirkt er biografische Wunder …

Édouard Baldus, 1813-1885, Photograph, Grünebach

Vom Geldfälscher zum Photographen der Grande Nation

Wie eigentümlich! Demselben unscheinbaren Landschaftswinkel entstammen gleich zwei geniale Künstler, beide Weltmeister ihres Faches, der Photographie! Neben August Sander ist nun endlich auch der große Andere zu nennen: Édouard Baldus, der allerdings nicht so ohne weiteres von den Westerwäldern zu vereinnahmen ist. Die Franzosen sehen ihn nämlich als einen der Ihren an, zu Recht, denn er hat später nicht nur ihre Nationalität angenommen, sondern ist buchstäblich zu einem der bedeutendsten Repräsentanten seines neuen Vaterlandes aufgestiegen.

In Grünebach, einem Weiler im Hellertal im Kirchspiel Siegen, kommt als zweites Kind von Johann Peter und Elisabeth Baldus am 5. Juni 1813 ihr Sohn Eduard zur Welt. Zunächst noch zu Nassau gehörig, gelangt seine von Landwirtschaft und Eisenverhüttung geprägte Heimat zwei Jahre später an Preußen. Der Junge wächst in schlichten katholischen Verhältnissen auf und dient schon früh als Soldat bei der preußischen Artillerie in Köln. Doch dann nimmt er seinen Abschied vom Militär, offensichtlich hat er sein besonderes Talent bei der Handhabung neuester Drucktechniken entdeckt. Die nächste urkundlich überlieferte Erwähnung ist eine höchst unrühmliche, erst in jüngster Zeit von Peter Lindlein aus Betzdorf aufgedeckt: 1835 wird der »vormalige Bombardier Eduard Baldus« steckbrieflich in der Rheinprovinz gesucht, als Krimineller, der vom Staat ausgegebene Kassenanweisungen gefälscht hat. Ein lebensgefährliches Risiko, schlimmstenfalls droht ihm nach damaligem Recht die Todesstrafe.

Steckbrief in der preußischen Rheinprovinz, 1835

Der 21-jährige Grünebacher verduftet ins Ausland. 1838 taucht er als Kunststudent in Paris auf, mit einem fingierten Lebenslauf als Maler amerikanischer Herkunft, er ändert sein Geburtsdatum und schreibt sich gemäß französischer Aussprache Édouard. Zehn Jahre lang reicht er beim Pariser Kunstsalon seine Gemälde ein, letztlich ohne Resonanz. Privat ist er erfolgreicher: er heiratet die begüterte Elisabeth-Caroline Étienne und hat mit ihr drei Kinder. Da kommt ihm im Zweiten Kaiserreich unter Napoleon III. der zivilisatorische und technische Fortschritt zu Hilfe: Paris wird nach Plänen des Barons Haussmann zur modernen Metropole umgestaltet. Die engen Viertel der einfachen Leute werden abgerissen, neue breite Boulevards ermöglichen einen zügigeren Straßenverkehr, bieten dem Second Empire mehr Schutz vor revolutionären Barrikadenkämpfen, aber auch, stadtästhetisch im wahrsten Sinne weitsichtig, imposante Durchblicke, z.B. auf den Arc de Triomphe oder die Oper. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich in Frankreich über Hippolyte Bayard, Louis Daguerre und andere Pioniere die neue Kunst der photographischen Ablichtung entwickelt, welcher sich der wendige und erfinderische Baldus nun mit aller Energie widmet: Er experimentiert, inzwischen Steckbrief in der preußischen Rheinprovinz, 1835 Gründungsmitglied der Pariser »Héliographischen Gesellschaft«, mit Salzpapier- bzw. Glasnegativen, später dann mit Kollodium-Nassplatten, seinem eigenen Heliogravüre-Verfahren, er weiß zu retuschieren und mehrere Negative zu einem Panoramabild zusammenzufügen. 1851 beauftragt ihn die Kommission für Denkmalspflege, historische Baudenkmäler zu photographieren, nicht nur in der Hauptstadt und Fontainebleau, sondern in ganz Frankreich, so in Burgund, in der Auvergne und im Midi. Seine Schwarz-Weiß-Bilder mit ihrer klassisch-ausgewogenen Sichtweise zeichnen sich durch eine ungewöhnliche Klarheit und Präzision aus, so dass sich sein Auftrag schon bald über das dokumentarische Festhalten der alten Bauwerke erweitert auf die Monumente des Fortschritts, wie Aquädukte, Bahnhöfe, Hafenanlagen.

Pont du Gard, 1861

Auf der Weltausstellung 1855 finden die Bilder seiner »Mission Héliographique « viele Bewunderer. Der Bankier James de Rothschild, Eigentümer der französischen Nordbahn, beauftragt ihn, ein Photoalbum von der Eisenbahnstrecke Paris-Boulogne zusammenzustellen, 50 Aufnahmen in einem Prachtexemplar, das Rothschild der Queen Victoria bei ihrem Besuch Pont du Gard, 1861 der Weltausstellung überreicht. Ein weiterer, ungleich umfänglicher Staatsauftrag wird ihm zuteil: Baldus dokumentiert mit mehr als 2000 Photographien den Neubau des Louvre.

Arc de Triomphe du Carrousel, nach 1850

Die große Nachfrage bei gleichzeitiger chemischer Fortentwicklung seines Druckverfahrens lässt ihn ein eigenes Unternehmen gründen; zeitweilig beschäftigt er ein Dutzend Mitarbeiter. 1861 beauftragen ihn die »Chemins de fer de Paris«, nunmehr Motive der südlichen Eisenbahnstrecke Lyon-Mittelmeer in einem Photowerk zu versammeln. Baldus ist aber nicht nur der dokumentarische Photograph nationaler Architektur, der modernen wie der aus der Römerzeit überkommenen – es gibt von ihm nicht minder imposante Landschaftsbilder aus der armen Auvergne oder von der schönen Côte d’Azur, von den überschwemmungen im Rhône-Tal sowie erst in unseren Tagen veröffentlichte Photographien einer eleganten Gesellschaft im Park des Schlosses La Faloise.

Im allgemeinen sind die Baldus-Aufnahmen menschenleer: es mag auch an den langen Belichtungszeiten damals gelegen haben, aber aus dieser technischen Not machte er die Tugend einer künstlerisch perfekten Komposition.

Thésée et le Minotaure - Jardin des Tuileries, 1858

In seiner Abwesenheit erscheint das Bild des Menschen bei Édouard Baldus nicht weniger nachhaltig als bei August Sander. Bereits in der Frühzeit des Lichtbilds wirft er einen modernen Blick auf die Dinge, wenn er zum Beispiel im Jardin des Tuileries unterhalb einer klassischen Skulptur die leeren Stühle aufnimmt. Heute werden die Werke des deutsch-französischen Meisters in Kunstausstellungen neben denen der bedeutendsten Impressionisten präsentiert, auf Auktionen erzielen die Originale Höchstpreise. In unserer Zeit werden sie in Verbindung gesehen mit den Schwarz-Weiß-Aufnahmen etwa von Bernd und Hilla Becher. Baldus selbst hat zum Thésée et le Minotaure - Jardin des Tuileries, 1858 Ende seines Lebens finanziellen Schiffbruch erlitten, geschäftlich hatte der Meisterphotograph keine glückliche Hand. Er stirbt am 22. Dezember 1889 in Arcueil-Cachan bei Paris. Auf dem dortigen Friedhof ist er im jüngst renovierten Familiengrab beigesetzt. Leicht ließe sich die Monumentalarchitektur der Herrschenden seines Jahrhunderts als imperialistische Selbsterhöhung kritisieren - und damit auch eine Photographie in deren Diensten. Doch liegt es nicht im Wesen großer Kunst, dass sie über die irdische Dauer von Auftraggebern und Zeitgenossen hinweg ihre Werke in einen melancholischen zeitlosen Zauber hüllt? Beide, ob Baldus oder auch Sander, sind eben keine Kopierer der Realität, sondern als geniale »Fälscher« bewundernswerte Erfinder eigener Bildkreationen.

HF

Andreas Balzar, 1769 - 1797, Räuberhauptmann, Höchstenbach

Ein Räuberhauptmann sieht rot

Wann und wo er geboren wurde, ist dokumentiert: am 28. Januar 1769 in Höchstenbach. Ebenso urkundlich belegt ist der Ort, das Datum und die Art seines Todes: Er wurde von Soldaten der napoleonischen Besatzungsarmee in Westerburg am 3. Oktober 1797 füsiliert. Dazwischen aber verliert sich das wildbewegte Leben dieses legendenumwobenen Mannes immer wieder im Dunkeln und fordert zu Spekulationen heraus. Doch sein Name ist im kollektiven Gedächtnis der Gegend zwischen Wied und Sieg dick unterstrichen. Nicht nur deshalb gehört er in diese Reihe von Westerwälder Köpfen, sondern auch, weil seine Biografie die revolutionäre »Sattelzeit« um 1800 spiegelt.

Seine Lebenszeit fällt in die kurze Blüte der großen Räuberbanden zwischen 1750 und 1820. Nach dem 30-jährigen Krieg war die Welt des mittelalterlichen Kaiserreichs ins Wanken geraten. Viele Landschaften waren gründlich geplündert und verarmt. Die Selbstverständlichkeit des einen christlichen Glaubens war zerstört, der Katholizismus und der Protestantismus hatten sich bis aufs Blut bekämpft. Und überall in Deutschland, das in viele Kleinstaaten zerfleddert war, über deren Grenzen man schnell fliehen konnte, bildeten sich Banden aus den Parias der damaligen Zeit: verarmte Bauernsöhne, Abkömmlinge der sogenannten unehrlichen Berufe wie Abdecker, Henker und Prostituierte, zu denen dann auch noch die überall verfolgten »Zigeuner« stießen, und viele elende Betteljuden. Unter ihnen Andreas Balzar 1769-1797 Räuberhauptmann Höchstenbach entwickelte sich ein besonderer Gauner-Jargon, das Rotwelsch, aus dem viele Ausdrücke in die Umgangssprache einwanderten wie: Bulle für Polizist, Bock haben für Lust, Model für Mädchen, Kohldampf für Hunger. Am Ende des 18. Jahrhunderts erschienen »Actenmäßige Nachrichten« an Stelle der heutigen Krimis, in denen den schaudernden Bürgern der Städte von den großen Räubern und ihren Banden erzählt wurde: »Schinderhannes« Bückler im Hunsrück, »Hiesl« Klostermeyer in Oberbayern, im Rheinland wüteten Damian Hessel, das »Studentchen« und Matthias Weber, genannt der »Fetzer«. Oft verklärte das Volk die Verfemten zu Sozialrebellen mit dem Flair eines Robin Hood. Der Schwager Goethes, Christian Vulpius, schrieb einen Bestseller über den edlen Banditen »Rinaldo Rinaldini«, und »Räuber und Gendarm« hieß von da an bis in unsere Zeit ein beliebtes Kinderspiel. Aber über den Räuberhauptmann Andreas Balzar findet sich in diesen Kriminalreports nichts. Er stammt nicht aus der deklassierten Gesellschaftsschicht wie die abgerissenen Desperados, die ihre Beute mit Lustnymphen in verrufenen Freudenhäusern versaufen und verhuren, weshalb viele von ihnen geschlechtskrank sind. Dagegen wächst Balzar als Sohn des Pfarrers von Flammersfeld auf. Und ebenso wie sein Vater soll er auf der »Hohen Schule« in Herborn, eine der wichtigsten Bildungsstätten der Calvinisten in Europa, Theologie studieren. Aber in seinen Adern rollt offensichtlich das Blut seiner Vorfahren, die jahrhundertelang als Förster und Soldaten gelebt hatten. Der fürstliche Wildpark um Herborn reizt seine Jagdlust allzu sehr, und der Lateinschüler wird nebenberuflich Wilddieb. Als Andreas Balzar enttarnt wird, kann er gerade noch aus dem Sayn-Wittgensteinschen Hoheitsgebiet nach Flammersfeld fliehen. Aus ist es mit der Theologen-Laufbahn, und sein empörter Pfarrervater verstößt ihn aus dem Elternhaus. Dabei war der Jagd- und Holzfrevel in jenen unruhigen Zeiten, als sich die alte Ständeordnung aufzulösen begann, auf dem Land eine übliche Praxis als Zeichen der Not wie der Revolte gegen das Unrecht. Denn allzu dreist nutzten die Adligen ihr Jagdprivileg aus. Sie verboten den Bauern, die Wildtiere zu töten, die ihre Feldfrüchte fraßen, und wenn den »Herren « danach war, betrieben sie rücksichtslos quer durch die Felder ihre Hetzjagden und zerstörten die Ernte. Da halfen sich die Dörfler eben selbst und besorgten sich Wildbret und Holz in den Wäldern. Das war noch nicht ehrenrührig. für den Sohn eines Pfarrers galten allerdings andere Regeln als für die Unterdrückten.

Nun ist er ein Outlaw.

Schiller hat in seiner Novelle »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« am Beispiel des »Sonnenwirts« Friedrich Schwahn die Karriere eines solchen Ausgestoßenen nachgezeichnet: Vom Wilddieb über das Zuchthaus in eine Räuberbande. Die Erzählung wirkt wie eine Blaupause für die Biografie von Andreas Balzar, nur dass dieser den Kerker überspringt. Er zieht nach Russland als Fremdenlegionär und bringt es dort bis zum Kapitän in der Leibwache des Zaren. Auch diese Lebensphase war beispielhaft für seine Zeit. Oft gingen damals abenteuerlustige Deutsche als Soldaten, Handwerker, Ingenieure und Kaufleute nach Russland, dort waren sie als Spezialisten gesucht und angesehen. In den russischen Romanen des 19. Jahrhunderts tauchten immer wieder Deutsche auf als Vorbilder an Tüchtigkeit und Können.

Warum Andreas Balzar aus Sankt Petersburg in den Westerwald zurückkehrt, wissen wir nicht. Aber plötzlich ist er wieder da. Er schließt sich einer Horde von Wilddieben und Räubern an und macht sich bald zu ihrem Anführer. Damit gehört er nun zu der sich epidemisch ausbreitenden Subkultur der Banden.

In jener Zeit wurde das ganze Rheinland unsicher gemacht von der weit verzweigten Niederländischen Bande. Zu ihr gehörte auch die Neuwieder