Westfälische Provence - Adele Stein - E-Book

Westfälische Provence E-Book

Adele Stein

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Beschreibung

"Westfälische Provence und andere Geschichten" handelt von Menschen, die man anfängt zu schätzen und zu lieben, obwohl sie so ganz anders sind als man selbst. Natürlich wird es um die Weite und die Farben des Himmels gehen, aber auch um den ohrenbetäubenden Lärm, den Trecker, Aufsitzrasenmäher und Kettensägen produzieren. Und darüber, wie man angesichts der vom Wind bewegten Gerstenähren schon mal eine Ehekrise überwindet. Man erfährt auch, dass man auf dem Dorf nie heimlich im engsten Kreis seinen Geburtstag feiern kann, Bier im Prinzip kein Alkohol ist und Löwenzahn manchmal über Nacht einen halben Meter zu wachsen scheint.

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Jacques Brel, Le plat pays...

… hier sehr frei ins Westfälische übersetzt von der Autorin

„Da ist der Wind, der gackert sich einen ab inner Triticale*

Da ist der Wind aus'm Süden, hört sein Rauschen

Da ist das platte Land, wo ich von weg bin“

*Kreuzung aus Weizen und Roggen

Alle Figuren in meinen Geschichten sind frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten sind unbeabsichtigt und zufällig.

INHALT

---------------------------

Westfälische Provence

Gott und ich fahren Fahrrad

Mit Mustafa beim Zahnarzt

Hundert Gramm Salami oder time keeps on slippin'

Eine Frage der Einstellungen

Pablo und die Spiegelneurone

Krähen vertreiben mit WDR 4

Aus meinem Leben vor dem Landleben, vor langer, langer Zeit und nach wahren Begebenheiten

Wie Reinhard 1,2,3 einen Trecker kaufte

Aufs Land gekommen

Kulturschock, welcher Kulturschock?

Als die Musik noch mit Hanf gemacht wurde

Die Medikamentenmaus

Alltagswunder(n)

Meine letzten Worte, zumindest in diesem Buch

Westfälische Provence

Als wir Studenten waren, sind mein Mann und ich mal im Herbst nach Südfrankreich in die Provence gereist. In den Alpen, die wir mit unserem betagten orangefarbenen Käfer durchquerten, war es schon bitterkalt. Nie vergesse ich, wie wir dann Sisteron erreichten und auf einmal alles anders war: Die Luft war mild und duftete nach Süden, die Sonne wärmte noch, und Menschen saßen bis spät abends draußen auf den Plätzen vor den Bars und Cafes.

Wir fuhren weiter und landeten schließlich in einem verschlafenen Dorf am Lac d'Esparron, wo es einen Campingplatz gab. Glückliche Tage folgten, in die wir hineinlebten, ohne daran zu denken, was war und was werden würde. Eigentlich habe ich mich danach nicht mehr oft so leicht gefühlt und so frei auch nicht. Am Abend vor unserer Rückreise standen wir Hand in Hand vor der Dorfkirche und wollten eigentlich gar nicht mehr weg. Ach, vielleicht..., dachte ich und kämpfte gegen die Tränen an. Vielleicht würde ich irgendwann zurückkehren und hier, wo mir alles besser zu sein schien, bleiben und für immer leben dürfen. Vielleicht konnte ich für diesen winzigen französischen Ort endlich einmal empfinden, was ich Zeit meines bisherigen Lebens noch nicht empfunden hatte: das Gefühl, genau hierhin zu gehören.

Es kam anders. Berufliche und damit verbundene geographische Irrungen und Wirrungen wehten uns hierhin und dorthin. Bis wir uns, vor nun fast 17 Jahren, endgültig nicht im südlichen Frankreich niederließen (was vermutlich angesichts unserer eher bescheidenen Sprachkenntnisse ohnehin keine Erfolgsstory geworden wäre), sondern... nun ja... eben hier, mitten in Westfalen. Genau gesagt strandeten wir in einer von ihren Einwohnern liebevoll die Börde genannten Region rund um die Stadt S. .

Das 700-Seelen-Dorf, in dem wir seither wohnen, ist ebenso unspektakulär wie weit weg von jenem Ort am Lac d'Esparron. Ähnlichkeiten mit Landschaft, Klima und Architektur gibt es auch eher nicht. Und doch: Es ist Unerhörtes mit mir geschehen! Ich beginne mittlerweile nämlich zu ahnen, dass ich es vermissen würde, lebte ich hier eines Tages nicht mehr. (Zum Beispiel, weil auf der bucket-list steht, im Alter in südlichere Gefilde umzuziehen.)

Das Empfinden von ... nun ja ... nenne ich es ruhig einmal Heimat ist relativ neu für mich. Wenn ich näher darüber nachdenke, was mir fehlen würde, zöge ich tatsächlich einst wieder weg, fällt mir ein: der Himmel hier auf dem Land, der so viel größer zu sein scheint als der über der nahegelegenen Stadt, in der ich arbeite. Jeden Tag, wenn ich nach Hause fahre, fällt mir das auf und zu jeder Jahreszeit. Ich sehe beim Nachdenken auch die Rapsfelder vor mir und die blühenden Obstbäume im Mai und meine Kinder, die - als sie klein waren - mal im Sommerregen durch unseren Garten getanzt sind. Dann ist da noch der Weg durchs Feld mit dem Hund der Nachbarn an meiner Seite, den sie mir großzügig ausleihen, wann immer ich Bedarf nach einem ausgedehnten Spaziergang mit Begleitung habe. So ein Hund ersetzt einem ja glatt den Gesprächstherapeuten...

Überhaupt unsere Nachbarn. Prompt erinnere ich mich jetzt an die erste Begegnung mit Reinhard, unserem Nachbarn von links gegenüber, am Gartenzaun. Offenbar war ihm Folgendes vorher zugetragen worden: Mein Mann hatte kurz nach unserem Einzug einige Schulkinder, die eine Abkürzung zur Bushaltestelle nutzten und über unser Grundstück liefen, angesprochen und sie sehr bestimmt, wie es manchmal seine Art ist, gebeten, das doch zukünftig zu unterlassen, da es ihn und den frisch gesäten Rasen nun einmal störe. Ich stand dann einige Tage danach am Gartenzaun und zupfte das erste Unkraut, als mir plötzlich auf der anderen Seite des Zauns ein kräftiger Mann mit Vollbart in einem karierten Hemd gegenüber stand.

„Hallo“, sagte ich.

Der Mann machte sich keinerlei Umstände, meine Begrüßung zu erwidern.

„Seid ihr die tautrockenen* Idioten, die den Blagen neuerdings verbieten, hier her zu gehen?“, fragte er stattdessen.

„Was heißt denn ihr?“, fragte ich kühl zurück und beschloss, auf die gesammelten Provokationen des Herrn im Sinne einer Deeskalation gar nicht erst einzugehen. „Außer Ihnen sehe ich hier nur noch einen weiteren Menschen, nämlich mich.“

Ich kam mir sehr schlagfertig vor, bereit, mich nicht an meinem Gartenzaun von so einer westfälischen Ausgabe eines Hill-Billies einschüchtern zu lassen.

„Kommst dir wohl ziemlich schlau vor?“, fragte Mr. Kariertes -Hemd-und-Vollbart.

„Du dir selber nicht?“, entgegnete ich und notierte mir auf meinem inneren Notizblock ein 2:0 für mich.

„Hömma“, kam es jetzt von der anderen Seite des Zauns. „Hier gehen seit Menschen Gedenken die I-Dötzkes her. Da können nicht so Leute wie ihr plötzlich mir nix dir nix mit umme Ecke kommen, das so was nicht mehr geht. Es gibt nämlich Geh-wohn-heits-Recht hier bei uns!“

„Hm“, sagte ich. „Und wir haben hier bei uns grad' frisch Rasen gesät, oder genauer gesagt, hat mein Mann das gemacht. Da haben wir ja vielleicht ein Recht darauf, dass der dann auch mal wachsen kann, zumal auf unserem eigenen Grundstück.“

Ich fand mich sachlich und argumentativ voll auf der Höhe. Dieses Landei könnte jetzt wirklich mal klein geben.

Tat es aber nicht.

„Früscher Raaaasen“, imitierte er mich. „Grass ist das! Bist du etwa so 'ne ganz Arrogante aus der Stadt?“

„Hömma! Jetzt ist hier aber mal Schluß mit dem Generve, verzieh' dich und lass' mich in Ruhe, ja!“

Allmählich kam auch bei mir einiges in Bewegung, was immer gleich unmittelbare Auswirkungen auf meine Sprache hat.

„Stadtzicke!“

„Bauer!“

Das sagte jetzt ich. Oder eher: Ich hörte es mich sagen. Dabei stemmte ich meine Hände in die Hüften. Am liebsten hätte ich auch noch eine Mistgabel zur Hand gehabt.

Zum ersten Mal blickte ich nun aber auch genauer in das Gesicht meines Gegenübers, um es zu fixieren, und... registrierte... einen gar nicht mal so unfreundlichen Blick aus sehr blauen Augen, die von Lachfältchen umgeben waren und einen fast amüsierten Ausdruck um die Mundwinkel. Insgesamt wirkte der Mann, der hier vor mir stand, eher gutmütig als aggressiv. Seine Mundwinkel zuckten bald immer verdächtiger. Schließlich grinste er breit.

„Nee, Landmaschinenmechaniker“, erwiderte er mit tiefer Stimme und begann, ich traute meinen Ohren kaum, donnernd zu lachen.

Wenige Sekunden später streckte er mir seine Hand über den Gartenzaun entgegen. Ich zögerte etwas, bevor ich ihm meine gab, die in seiner nahezu verschwand. Er drückte sie fest, aber erstaunlich gefühlvoll. Jetzt konnte ich irgendwie auch nicht mehr anders, als ihn anzulachen.

„Reinhard“, sagte er. „Für Freunde und gute Nachbarn auch Hart, weil kürzer. Und jetzt bleibste mal hier, und ich hol' uns eben wacker 'n Bier und 'n Schnaps, und wir bereden auf eurer schönen Bank da in euerm Gatten alles weitere.“

Es endete feuchtfröhlich. Irgendwann kam Harts Frau Ingrid dazu und später auch noch mein Mann mit unseren gesamten Weinvorräten, die gegen unsere trinkfesten neuen Nachbarn keine Chance hatten, obwohl sie immer wieder erklärten, dass sie ja eigentlich eingefleischte Biertrinker seien. Es war der Beginn einer wirklich wunderbaren Nachbarschaft. Zu der gehören neben Hart und Ingrid auch Ella und Jo samt Jos Mutter Liesel vom Hof von rechts, schließlich noch Ulla vom Hof von direkt gegenüber.

Sie alle werden mir fehlen, wenn ich mit 68 oder so am Lac d'Esparron, am Mittelmeer oder wo auch immer im Süden lebe. Obwohl ich mir eigentlich sicher bin, dass es nicht lange dauert, bis sie auf Besuch anrücken. Mit Veltins-Kisten und Northoffs Korn im Kofferraum ihrer Autos und mit sehr viel guter Laune. Zurückkehren werden sie vermutlich mit einigen Flaschen Rotwein aus der Gegend, den sie später im Dorf den anderen Nachbarn anbieten: zum Beweis, dass sie tatsächlich bei uns gewesen sind. Um dann schnell doch wieder mit Bier und Schnaps anzustoßen und das Hohelied anzustimmen auf die einzig wahre Provence der Welt, die westfälische.

*westf. Platt für: „zugezogen“

***

Gott und ich fahren Fahrrad

Als der wunderbare Maarten t'Hart über seinen Fahrrad fahrenden Vater schrieb, dabei auch über die Vergänglichkeit des Lebens philosophierte und darüber, wie einen die Erkenntnis jäh treffen kann, dass wir nach dem Tod der Eltern die nächsten sind, die gehen werden..., also, als ich diesen kleinen Roman mit dem zauberhaften Titel Gott fährt Fahrrad zum ersten Mal las, gab es noch keine E-Bikes!

Ehrlich gesagt: Ich hasse die Dinger, und da ich mir, ganz kindlich, Gott immer noch als alten Mann mit weißem, langen Bart vorstelle, hätte ich sonst wohl möglich sofort die Assoziation gehabt, dass es so ein motorbetriebenes Unding ist, auf dem er sitzt. Auf so einem, wie - gefühlt - alle Menschen über 50 sitzen, denen ich auf meiner täglichen Tour mit dem Fahrrad im Feld neuerdings begegne.

Meine Motive aufs Rad zu steigen und jeden Morgen zu meiner vier Kilometer entfernten Arbeitsstelle und wieder zurück zu radeln (wohlgemerkt auf einem anständigen Fahrrad), waren weniger ökologische als ökonomische. Aufgrund eines Jobwechsels war der Firmenwagen futsch, und die Anschaffung und Unterhaltung eines Zweitwagens hätte zwar nicht den wirtschaftlichen Ruin der Familie, wohl aber den Verzicht auf den Jahresurlaub bedeutet, der mit schulpflichtigen Kindern ja bekanntermaßen am teuersten ist.

Ich wurde also vor nunmehr 14 Jahren zur Radfahrerin, und ein bisschen passierte wohl das, was auch - so hat es mir einmal ein Freund erzählt, der es wissen muss - in arrangierten Ehen passiert. Mein Freund gebrauchte ein Bild, um es mir klar zu machen: Man stellt einen Topf mit kaltem Inhalt auf den kalten Herd und führt dann die Temperatur zu... . Übertragen auf mich und das Fahrradfahren: Wir erwärmten uns allmählich füreinander und lernten uns langsam lieben. Krisen gab es wie in jeder guten Beziehung immer mal wieder, aber schließlich wurden wir immer inniger miteinander.

Und leidenschaftlicher! Ich kann mir ein Leben ohne mein Fahrrad gar nicht mehr vorstellen. Wenn ich im Winter (zum Glück nur selten) kapitulieren muss vor schneeglatten oder vereisten Wegen und nicht fahren kann, bekomme ich spätestens am zweiten Tag richtig schlechte Laune. Im Winter 2009/10 konnte ich mal fast zwei Wochen nicht fahren, da war ich kurz davor, meinen Arzt zu bitten, mir ein Antidepressivum zu verschreiben. Ich bin sicher, er hätte es getan. Ich zeigte alle Symptome einer leichten Depression, die allerdings genauso schnell verschwanden wie der Schnee, nachdem endlich Tauwetter eingesetzt hatte und mein Feldweg wieder befahrbar war.

Anfangs konnte ich die Begegnungen, die ich mit E-Bike fahrenden Menschen hatte, nur denen der dritten Art zuordnen. Da wusste ich auch noch gar nicht, dass es eine solche Erfindung überhaupt gab. Als Jugendliche bin ich mal ein Mofa gefahren, aber das unterschied sich rein äußerlich so sehr, das man es nie hätte mit einem Fahrrad verwechseln können. Bei diesen E-Dingern hingegen muss man schon recht genau hinschauen, um zu erkennen, dass sie ein fake sind. Zumal der verräterische Motor häufig unter einer Satteltasche verborgen ist.