Wettstreit der purpurnen Raben - Florian Rattinger - E-Book

Wettstreit der purpurnen Raben E-Book

Florian Rattinger

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Beschreibung

Ein Wettbewerb verändert alles. Die 17-jährige Hexe Gan Priori ist Inhaberin des Fais De Beaux Rêves in Eskala. In ihrem Laden bietet sie ihren Kunden nur das vorzüglichste Gebäck. Was niemand ahnt: Gan besorgt die Zutaten für ihre Kreationen in unterschiedlichen Dimensionen. Das Geschäft läuft gut, als ihr aus heiterem Himmel plötzlich Derrick Schuster – Gans Erzrivale ihrer Schulzeit – Konkurrenz macht. Als die Hexe wenig später erfährt, dass Derrick sich auf den Lehrstuhl ihrer ehemaligen Mentorin bewirbt, bricht für Gan eine Welt zusammen. Kurz darauf erhält Gan jedoch eine Einladung von eben jener Professorin. Gan soll an ihre alte Schule zurückkehren, die sie seit ihrer vermasselten Abschlussprüfung nicht mehr betreten hat. Auch Gan zählt sich bald zu den Teilnehmern im Wettbewerb um die Nachfolge von Adelheid Grandeur-Finesse. Mit jeder neuen Austragung verhärtet sich Gans Verdacht, dass es bei den Wettstreiten nicht mit rechten Dingen zugeht. Gan bekommt es mit Mächten zu tun, gegen die sie sich nicht alleine behaupten kann. Hilfe erhält sie von Noita – einem seltsamen Vogel aus dem Raum zwischen den Welten. Doch auch ihn scheint ein dunkles Geheimnis zu umgeben.

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Teil I
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Teil II
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8
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Teil III
1
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Teil IV
1
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Teil V
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Teil VI
1
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Teil VII
1
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Teil VIII
1
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5
6
7

Alle Rechte an der Geschichte liegen beim Autor.

2. Auflage 2023

Copyright © 2022 Florian Rattinger

Cover Gestaltung » Ahmed Sahil

Illustrationen » Ana Povedano

Verlag (Self-Publishing) » Florian Rattinger

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

Lektorat » Magdalena Rattinger

Vertrieb » epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Sämtliche Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Buchbeschreibung:

„Wettstreit der purpurnen Raben" vereint die Welten von „Hilfe, mein Haar ist ein Monster!“ und „Schule für Kinder mit besonderen Begabungen“ zu einem großen Kosmos. Das Buch erzählt die Geschichte von Gan Priori, einer Bäckerin und mächtigen Hexe. Sie ist Inhaberin des Fais De Beaux Rêves – einem Laden, in dem Gan feinstes Gebäck anbietet und den sie ebenfalls in anderen Welten betreibt. Um mit ihrer Vergangenheit abzuschließen, stellt sie sich ihrem ehemaligen Rivalen Derrick Schuster in einem Wettbewerb. Dabei kommt die Hexe einem großen Geheimnis und der Wahrheit über ihre Schule auf die Spur.

Über den Autor:

Florian Rattinger kam 1989 im schönen Deggendorf, am Rande des Bayerischen Walds, zur Welt. Seit er schreiben kann, werkelt er an Geschichten. Bevor er sich daran machte, Kinder- und Jugendbücher zu verfassen, studierte er das Lehramt für Grundschule an der Universität Passau. Er war Lehrer im Landkreis Landshut und in München. Seit fünf Jahren lebt und arbeitet der Autor mit seiner Familie im beschaulichen Ostalbkreis. Florian Rattinger ist verheiratet und Vater einer Tochter.

Florian Rattinger

Wettstreit der purpurnen Raben

Roman

Für meine Mutter und Schwester.

Teil I

1

Der heiße Backofen bringt die Luft zum Flimmern. Der süße Duft von Orangencreme und Karamell verteilt sich in alle Räume. Das gefällt auch Katze Claudette. Sie hat es sich auf dem Fensterbrett gemütlich gemacht und lässt sich die Morgensonne auf den Rücken scheinen. Es ist kurz vor halb 8.

Claudettes Besitzerin Gan sitzt auf einem Hocker in ihrer Küche. Sie ist in den letzten Zügen für die Vorbereitungen des heutigen Tages. Gan trägt ein ledernes Visier mit dicken roten Gläsern, das ihre pinken Haare in alle Richtungen abstehen lässt.

„Gaaaaanz vorsichtig!“, sagt sie zu sich selbst. Ihre Zungenspitze ragt aus dem Mund hervor. Gans Hände zittern. Sie ist dabei, die Blüten einer Zuckerkorntrompete mit der Pinzette zu öffnen. Erst vor einem Monat hatte sie den Fehler gemacht und einen der Kelche zu hastig geöffnet. Das giftige Gas, das die Pflanze daraufhin versprüht hat, hat Gan im ganzen Gesicht tiefrote juckende Pickel beschert. Nach einer Woche und einer Reihe schlafloser Nächte waren sie endlich abgeheilt.

Für Gan war es allerdings viel schlimmer, jedem ihrer Kunden das schlechte Hautbild erklären zu müssen.

„Oooookay!“

Während ihrer Ausbildung hat sie gelernt, in welcher Reihenfolge die Kelchblätter geöffnet werden müssen. Oben-rechts, unten-links, oben-links, unten-rechts. Das Problem ist, dass dafür jede Blüte exakt nach Norden ausgerichtet werden muss. Gan wirft einen Blick auf den Kompass neben sich und schält dann ein weißes Blütenblatt nach dem anderen zurück.

Zum Vorschein kommt ein kleiner goldener würfelförmiger Kristall – das namensgebende Zuckerkorn. Gan pickt den Kristall vorsichtig mit der Pinzette auf und setzt ihn auf die Mascarpone-Haube eines Orangen-Cupcakes.

„Soooo, das war der letzte!“

Dieser besonderen Kreation hat Gan den Namen „Lava Blast“ gegeben. Der Cupcake ist im Innern mit Orangenelixier gefüllt, das die Zähne beim Hineinbeißen warm werden lässt, während das Zuckerkorn die Geschmacksknospen auf der Zunge zum Explodieren bringt.

Das war der zehnte Cupcake – genug für heute. Zum Schluss garniert Gan die essbaren Vulkane noch mit Geröll aus Karamell-Krokant und feinen Strömen Vanillesoße.

„Die Leutchen werden sich darum reißen!“, meint Gan zu ihrer Katze.

Gan legt das Visier ab und trägt das Blech mit den Cupcakes singend in den Verkaufsraum.

Just in diesem Moment wird die Ladentüre aufgestoßen. Die Glocke über dem Eingang bimmelt.

„Huh?“, schrickt Gan hoch. Etwas fliegt in ihren Laden. Es ist ein kleines Tier, etwa faustgroß mit großen Ohren, einem pinken Schwanz und Taubenflügeln. „EINE FLEDERMAUS?“

Es ist keine Fledermaus im herkömmlichen Sinne, sondern eine echte Maus (das Nagetier) mit Flügeln. Gejagt wird sie von Gans goldenem Rüden Sheriff. Die Fledermaus macht wilde Pirouetten und stößt dabei eine Reihe Gefäße mit Mehl, Zucker und verschiedenen Körnern um.

„Mist, ich hab‘ die Tür nicht richtig zugemacht!“, zischt Gan, stellt das Blech ab und schnappt sich schnellstmöglich den Besen, der in der Ecke steht.

Währenddessen hüpft Sheriff auf die Theke und verfehlt nur um Haaresbreite Gans Blech mit den fertigen Cupcakes.

„MENSCH, SHERIFF, PASS DOCH AUF!“, kreischt Gan.

Sie versucht, die Fledermaus mit dem Besen durch die offene Tür zu scheuchen. Zurück in die Tundra, in der Gan die Zuckerkorntrompeten gepflückt hat. Fledermäuse versammeln sich in der Nähe von Zuckerkorntrompetenfeldern, weil die magischen Blumen nachts Lichts spenden. Die Fledermaus weicht Gans Besenhieben mühelos aus. Mit einem ihrer Mäusefinger zieht sie sich das ein Augenlid nach unten und zeigt Gan die schwarze Zunge.

„DUUUU!“, knurrt Gan. Eine Ader tritt auf ihrer Stirn hervor. Da zieht selbst Sheriff den Schwanz ein.

Plötzlich ändert die Fledermaus ihren Kurs. Sie schießt direkt auf Gans Cupcakes zu, oder genauer gesagt: auf die Zuckerkörner, die ihre Hauben schmücken. Gan verhindert mit einem Besenhieb, dass sich die Fledermaus ein Zuckerkorn stibitzt.

„HAU AB! WEISST DU EIGENTLICH WIE VIEL MÜHE ES GEMACHT HAT, SO VIELE ZUCKERKORNTROMPETEN ZU ÖFFNEN? SUCH DIR SELBST WELCHE!“, brüllt Gan. Sheriff unterstützt sein Frauchen und schlägt mit den Pfoten nach dem Eindringling.

Die Fledermaus keckert.

Auf einem Stuhl neben der Ladentüre steht ein Korb, in dem sich weitere Zuckerkorntrompeten befinden. Gan wollte sie einfrieren, um sie später für eine ihrer Kreationen nutzen zu können.

Die Fledermaus fliegt einen Looping und schnappt sich eine der Blumen. Mit der Zuckerkorntrompete in den Händen zieht sie an der Decke Kreise.

Sheriff versucht, bellend zu ihr hochzuspringen. Der Krach im Verkaufsraum ruft nun auch Claudette auf den Plan. Sie springt anmutig auf den Tresen und schaut Gan und Sheriff gespannt dabei zu, wie sie beide immer mehr aus ihrer Haut fahren.

Die Fledermaus schießt in einer Spirale nach unten und landet mittig auf dem Blech mit Gans Cupcakes.

Gan sieht dunkelrot. Sie schlägt mit dem Besen auf das Blech. Im gleichen Moment beißt Sheriff nach der Fledermaus. Gans Besen verfehlt Sheriffs Schnauze um Haaresbreite. Die Fledermaus flattert einmal mit den Flügeln und lässt die Zuckerkorntrompete geschickt in Sheriffs Maul fallen. Der Hund schnappt zu. Rotes glitzerndes Giftgas verteilt sich in Gans Laden. Die Fledermaus hält sich die Nase zu und ergattert einen der goldenen Zuckerkorn-Kristalle von den zu Matsch zerschlagenen Cupcakes. Sie schleudert den Cupcake in die Luft und verschlingt ihn mit einem Happs. Die Fledermaus dreht eine Siegerrunde durch Gans Laden und entkommt dann durch die offene Tür zurück in ihre Welt.

Gan hält sich den Ärmel vor das Gesicht und schlägt die Ladentür zu. In Windeseile öffnet sie alle Fenster. Schon jetzt spürt sie, wie sich die ersten Pickel wie Maulwurfshügel aus ihrer Stirn drücken. Sheriff hat es noch schlimmer erwischt. Seine Nase ist dick angeschwollen und leuchtet wie das Hinterteil eines Glühwürmchens in einem stechenden Rot-Ton.

„So ein Mist aber auch!“, schnaubt Gan, während sie sich um die Nase ihres Hundes kümmert. Claudette zieht sich in die Küche zurück und macht es sich wieder auf der Fensterbank gemütlich.

„Da hilft nur noch warmer Cleomagna-Auszug! Der macht es zwar auch nicht wieder gut, aber zumindest dürfte die Schwellung etwas zurückgehen.“

Sheriff wimmert.

„Es tut mir leid!“, sagt Gan. „Ich hätte nicht vergessen dürfen, die Tür richtig zuzumachen.“

Gan eilt in ihre Küche und setzt Wasser auf. Getrockneten Cleomagna-Klee hat sie im Vorratsraum. Auf den Weg in ihr Lager vermeidet sie tunlichst, einen Blick auf das Blech auf ihrem Tresen zu werfen.

Von den zehn Cupcakes hat Gan neun zu Brei geschlagen. Und auf dem Letzten fehlt das Zuckerkorn.

2

„Hier sind dein Pistazien-Schoko-Cookie, deine rote Gummibrezel und dein Diamant-Glitzer-Baisser“, sagt Gan und reicht ihrer Kundin eine bis zum Rand befüllte Papiertüte. Das Mädchen – Henna – nimmt die Tüte dankend entgegen. „Und hier ist auch noch dein Lava-Blast!“ Den Letzten ihrer Zuckerkorn-Cupcakes hat Gan in eine stabile Pappschachtel verpackt. Die Mascarpone-Haube hat sie mit Bröseln der übrigen Zuckerkörner bestreut. „Macht insgesamt fünfundzwanzig Aurum dreißig.“

Henna legt Gan ein paar Gold- und Silbermünzen auf den Tresen. Gan zählt die Münzen ab und wirft sie in ihre Kasse. Gan seufzt.

„Heute mit dem falschen Fuß aufgestanden?“, will das Mädchen wissen. „Ist es wegen Sheriff? Hat ihn eine Meff-Biene gestochen?“

Im Gegensatz zum Leuchten ist die Schwellung schon deutlich zurückgegangen. Allerdings winselt Sheriff dennoch, um das Mitleid des Mädchens einzuheimsen.

„Im Dorf Schwend machen Meff-Bienen den Leuten schon seit Wochen zu schaffen“, sagt das Mädchen. „Sind sie in Eskala jetzt auch aufgetaucht?“

„Meff-Bienen sind es nicht gewesen!“, antwortet Gan und pustet sie eine Strähne aus dem Gesicht. Mit ihrer Magie hat sich Gan die Haare verlängert und sie zu einem Pony wachsen lassen, der die Pickel auf ihrer Stirn bedeckt. Besser als wieder ständig ihre schlechte Haut mit fadenscheinigen Ausreden erklären zu müssen.

„Was dann?“, hakt Henna nach.

„Lange Geschichte“, antwortet Gan. „Die kurze Version ist: Sheriff ist beim Spielen mit einem giftigen Gewächs in Kontakt gekommen.“

„In Eskala etwa?“

„Nein, das war weiter weg. Beim Spazierengehen.“

„Achso. Okay. Armer Sheriff!“

Dass Gans Ladentür in andere Welten führt, ist Gans bestgehütetes Betriebsgeheimnis.

Der Mechanismus hinter dieser Tür hat Gan an der Akademie entwickelt. Er hätte der krönende Abschluss ihrer Ausbildung an der Purpura Effodiant Corvi, Akademie für Zauberkunst und Hexenhandwerk (oder kurz PEC) sein sollen. Nach ihrer vergeigten Abschlussprüfung und dem daraus resultierenden Abbruch ihrer Ausbildung, konnte Gan ihre Pläne erst verwirklichen, als sie sich an die Eröffnung ihres Ladens gemacht hat.

„Gut, ich komm dann morgen wieder!“, sagt Henna und tätschelt Sheriff noch einmal den Kopf. „Schon eine Idee, was du kredenzen wirst?“

„Das überlege ich mir erst nachmittags.“

Gans Geschäftsmodell setzt auf ein täglich wechselndes Sortiment. Dazu backt sie jeden Tag zusätzlich eine Besonderheit mit den Zutaten, die sie in anderen Welten sammelt. Über das heutige Ziel ihrer Reise hat sie sich noch keine Gedanken gemacht.

„Mensch, schade!“, schnaubt Henna. „Ach, übrigens. Weißt du schon, dass Derrick Schuster nun auch eine Pâttisserie in der Bolthold-Gasse eröffnet? Ihr seid doch zusammen auf die Schule gegangen, oder? Heute war dazu ein großer Artikel im Großstädter Murmler.“

„WAS?! DIESER SCHNÖSEL?“

Gans Haare verfärben sich violett. Ihr Pony reicht plötzlich bis zu den Nasenlöchern. Aus ihren Ohren kommt Dampf. Das ist zumindest zum Teil auf den Cleomagna-Auszug zurückzuführen. Gan hat selbst eine Tasse getrunken.

Derrick Schuster hat Gan den Vorfall zu verdanken, der ihre Abschlussprüfung ruiniert und ihre Ausbildung beendet hat.

Sheriff schlägt die Pfoten über die Augen.

„Okay, ich wusste nicht, dass du so schlecht auf Derrick zu sprechen bist“, sagt Henna. Beim Verlassen des Ladens wagt Henna es nicht, Gan den Rücken zuzudrehen. „Trotzdem danke für die Leckereien!“

Henna zieht die Tür hastig hinter sich zu.

„DIESER TU-NICHT-GUT! JETZT WILL ER MIR AUCH NOCH DIE KUNDSCHAFT STREITIG MACHEN!“

Gan sinkt unter ihrem Tresen zusammen. Ihre Haare bleichen aus und wachsen wieder auf ihre ursprüngliche Länge zurück. Diese Nachricht hat heute noch gefehlt.

„Es gibt Tage, an denen geht alles schief“, seufzt sie.

Gan erhebt sich mit einem Ruck. Ihr schwarzer Hexenhut macht einen Hüpfer. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und setzt ein Lächeln auf.

„Wenn mich meine Kunden so sehen, gefährdet das den Umsatz!“

Sheriff guckt sein Frauchen besorgt an.

„Alles gut!“, versichert Gan ihrem Hund. Dann sagt sie: „Vielleicht statte ich Derrick später noch einen Besuch ab!“ Als sie das sagt, werden ihre Wangen glühend heiß.

3

Mit den Einnahmen des Vormittags ist Gan zufrieden. Sie hat ein Dutzend Schokoladen, gut fünfzig Stück Zucker- und Gummi-Gebäck und eine Orangencreme-Torte verkauft, die sie mit den zerbröselten Überresten der kaputtgeschlagenen Zuckerkörner garniert hat.

Gan dreht das Schild in ihrem Schaufenster von „GEÖFFNET“ auf „GESCHLOSSEN“. Es ist 10 vor 12. Zehn Minuten vor Ladenschluss. Gan wirft einen letzten Blick auf die Straße, um sich zu versichern, dass kein Kunde mehr herangeeilt kommt. Da sie niemanden sieht, schließt Gan die Türe ab.

Schwer atmend wirft sich Gan ihren Mantel über und sagt zu ihren Haustieren: „Ich bin nur kurz weg, versprochen! Stellt mir in der Zwischenzeit bloß nichts an, okay?“, Sheriff wälzt sich in seinem Hundekorb und Claudette putzt ihr Fell. Gan geht durch die Hintertür.

„Die Bolthold-Gasse, also.“

Gan steckt die Hände in ihre Manteltaschen und marschiert los. Benannt wurde die Bolthold-Gasse nach dem Gründer der Purpura Effodiant Corvi Akademie für Zauberkunst und Hexenhandwerk. Gan meidet es nach Möglichkeit, durch diese Gasse zu schlendern.

Nachdem sie die zweite Straße überquert hat, merkt Gan, dass Claudette ihr folgt. Claudette sitzt auf einer Mülltonne und sieht ihr Frauchen mit eisblauen Augen an.

„Kein Grund zur Sorge“, sagt Gan. „Ich bringe mich schon nicht in Schwierigkeiten!“

Gans getigerte Katze springt von der blechernen Tonne und verschwindet hinter einem Stapel Kisten.

Als Gan zum Schild der Bolthold-Gasse kommt, zieht sich ihr Magen zu einem winzigen Klumpen zusammen. Sie geht die gesamte Straße ab, nach Derricks Laden sucht Gan jedoch vergebens. Am Ende der Straße entdeckt Gan eine freistehende rote Tür, die die Hälfte des Gehwegs blockiert. An der Tür ist ein Schild mit der Gravur „Dulce Sueños“ angebracht. Obwohl Gan die Sprachen der verschiedenen Welten nur im Nebenfach studiert hat, gelingt Gan die Übersetzung. Die Gravur bedeutet „süße Träume“.

„HAT ER MIR SOGAR DEN NAMEN MEINES LADENS GESTOHLEN?!“

„Fais De Beaux Rêves“ – so der Name von Gans Geschäft – steht für „Träum schön“.

Gan klopft an die Tür. Genauer gesagt: Sie hämmert.

Die Tür öffnet sich wie von Zauberhand. Gan blickt in einen kreisrunden Raum mit mehreren Glasvitrinen voller süßer Backwaren. Der Durchgang ist magisch, keine Frage. Das Werk eines gelernten Hexentechnikers. Aber schon auf dem ersten Blick fallen Gan Fehler in der Konstruktion auf. Auch der Geruch, der ihr in die Nase strömt, verrät ihr Einiges.

„Derrick?“, ruft sie in den Laden, der sich in definitiv in einer anderen Welt befindet. Niemand antwortet.

„Da kann ja das Geschäft gar nicht gut laufen“, denkt Gan und reibt sich die Hände.

Sie schreitet durch die rote Tür.

Just in diesem Moment knarzt das Holz und der Türrahmen zieht sich zusammen. Gan wird wie ein feuchter Lappen ausgequetscht.

„HEY, WAS ZUM KUCKUCK?!“, brüllt sie, während sie mit voller Gewalt gegen die Tür ankämpft.

Plötzlich dröhnt ihr schallendes Gelächter in den Ohren.

„Gan Priori!“, tönt eine hohe Männerstimme. Sie gehört zu einem Spargeltarzan mit wildem blonden Haar und orangen funkelnden Augen. Das Grinsen des Kerls ist schief, aber schön anzusehen. Stimme und Erscheinung des Mannes sind für Menschen, die ihn zum ersten Mal sehen, schwer in Einklang zu bringen. Derrick Schuster macht einen charismatischen Eindruck. Von der wahren Natur seines Charakters könnte das nicht weiter entfernt sein.

„Schön, dich zu sehen!“

„Derrick Schuster!“, knurrt Gan. „Lass diesen Mist!“

Statt etwas zu unternehmen, ergötzt sich Derrick am Anblick seiner ehemaligen Kommilitonin.

Gan reicht es. Sie verstärkt ihre Muskeln mit Magie und bricht das obere Teil des Türrahmens einfach weg. Das Brett wirft sie vor Derricks Füße. Es raucht.

Da macht selbst Derrick Schuster Augen. Gan lacht beinahe laut los.

„Weißt du eigentlich, wie viel es kostet, das reparieren zu lassen?“, faucht Derrick.

„Hallo, du wolltest mich mit der Tür zerquetschen!“, brüllt Gan zurück.

„Das war doch nur ein Spaß!“

„Ist es auch Spaß, wenn ich dir als Nächstes dieses dumme Brett über die Rübe ziehe?“, brüllt Gan.

Derrick gibt sich entrüstet. Dann legt er im Kopf einen Schalter um und Derrick schenkt Gan ein geschäftsmäßiges Lächeln.

„Willkommen im Dulce Sueños!“, sagt Derrick mir zuckersüßer Stimme.

„Spar dir dein Geschleime! Ich bin nur hier, um zu sehen, was du jetzt schon wieder ausheckst.“

„Woher dieses Misstrauen?“, beginnt Derrick, aber da interessiert sich Gan schon nicht mehr für ihn. Sie begutachtet das Interieur. Die Wände sind in dreifarbigen Streifen gestrichen: rostbraun, minzgrün und arktisblau. Auf Gan wirkt diese Farbkombination altbacken. Wieder ein Beweis mehr dafür, dass ihr ehemaliger Studiengenosse über keinerlei Geschmack verfügt.

Dann sind da die Süßigkeiten in den Vitrinen. Derrick fährt mit beeindruckenden Mengen auf. Zuckerbrezen sind gut 200 vorhanden, dazu 100 Karamell-Cupcakes und gut zwei Dutzend Kuchen. Würde Gan dieselbe Menge backen, würde sie drei Tage brauchen. Gan bietet dafür täglich um die 25 unterschiedlichen Produkte an, Derrick kommt auf knapp zehn.

Allen seinen Waren hängt jedoch ein seltsam metallischer Geruch an.

„Das sind Industrieprodukte“, schlussfolgert Gan. „Du stellst kein einziges deiner Produkte selbst her.“

Derrick zieht die Augenbrauen zusammen. „Mitnichten, Gan Priori!“, gibt er zurück. „Mein gesamtes Sortiment stammt aus eigener Produktion. Soll ich es dir zeigen?“

„Du bist und bleibst ein Scharlatan“, antwortet Gan. Die Gelegenheit, einen Blick in die Backstube eines Kontrahenten zu werfen, will sich Gan allerdings nicht entgehen lassen.

Die Hand, die Derrick ihr beim Näherkommen entgegenstreckt, schlägt Gan beiseite. Stattdessen gibt sie ihm den Ellbogen in die Rippen.

„AU!“, schreit Derrick auf und hält sich die Seite. Als Gan sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen kann, sagt er: „Das habe ich wahrscheinlich verdient.“

„Darf ich?“, fragt Gan und deutet auf eine Vitrine voller Zuckerbrezen.

„Nur zu!“, antwortet Derrick.

Gan nimmt sich ein Stück, hält es sich vor die Nase, schnuppert daran und beißt schließlich hinein.

Gan stellen sich vor künstlicher Süße die Nackenhaare auf.

„Wie viel Gramm Zucker enthält dieses... Ding?“, fragt Gan.

„Einhundertfünfundzwanzig.“

„Bei einem Gewicht von was? 250 Gramm?“

„Das ist korrekt.“

„Das sind 50% Zucker!“

„Zucker fördert die Kaufkraft!“, sagt Derrick.

„Pft!“, macht Gan. „Das ist einfach nur ungesund!“

Sie sieht sich Derricks Waren genauer an. In jeder vermutetet sie eine ebenso große Menge Zucker wie in der Zuckerbreze.

„Hast du für deinen Laden diesen Schmalspur-Raum-Zeit-Zauber gewählt, um Miete zu sparen?“ Gan spielt darauf an, dass Derricks Ladentür ganz ohne Fassade oder Haus auskommt, in die sie verankert ist.

„Gut erkannt!“, antwortet Derrick. „Ich versuche, meine Ausgaben gering zu halten, um meine Einnahme zu maximieren.“

„Klar, verkaufst du deswegen auch billigen Industriemüll?“

Für Gan stellt sich die Frage, wieso überhaupt über die Eröffnung des Dulce Sueños berichtet worden war. Sie ist sich sicher: Derrick muss jemandem beim Großstädter Murmler bestochen haben.

„Ich stelle alle meine Waren selbst her. Folge mir bitte.“

Derrick spaziert in den hinteren Teil seines Ladens. Gan folgt ihm zögerlich durch die in rostbraun lackierte doppelseitige Flügeltür.

Während Derricks Verkaufsraum staubig und veraltet wirkt, könnte seine Küche nicht moderner sein. Die Wände sind aus glänzendem Chrom. Das Herzstück des Raumes bildet eine Maschine, die die gesamte hintere Wand einnimmt. Sie verfügt über einen großen Trichter, hunderte blinkender Lichter und ein Förderband, das im stetigen Tempo süßes Gebäck ausspuckt.

Die Maschine spuckt purpurne Funken.

„Meine Erfindung!“, sagt Derrick stolz. „Der Super-Baker-9000!“ Er tänzelt vor den großen Trichter der Maschine. Am Boden steht ein Sack Mehl und eine Kiste Zucker. Beides schüttet Derrick in die extrabreite Öffnung. Die Maschine spuckt daraufhin noch mehr Funken. Das Förderband läuft schneller. „Damit kann ich bis zu 2500 Zuckerbrezen am Tag produzieren!“

„Daher also der seltsame Geruch...“, denkt Gan. Sie sagt: „Deinen Waren fehlt die Seele. Und nicht nur denen.“ Gan geht nicht davon aus, dass Derrick ihr ernsthafte Konkurrenz machen wird. Ihren Kunden kann Gan ja erzählen, was sie in Derricks Laden gesehen hat.

Derrick dreht eine Pirouette, schnappt sich einen Karamell-Cupcake vom Förderband und drückt ihn Gan in die Hand.

„Überzeug dich selbst. Die Qualität ist 1a!“

Von der Zuckerbreze ist Gan noch immer übel. Dennoch nimmt sie einen Bissen von dem hellbraunen Cupcake. Und beißt sich beinahe ein Stück Zahn aus.

„Au!“, schreit Gan auf und spuckt eine Mutter aus.

Derrick macht große Augen.

„Wie ist denn die da rein gekommen?“, sagt er und schnappt das Metallteil schnell von Gans Handfläche.

Den Cupcake schmeißt Gan postwendend in den Müll. Das künstliche Aroma des Cupcakes zieht sich wie eine Beschichtung über Gans Geschmacksknospen.

„Der ist einfach nur scheußlich!“, lautet Gans Urteil.

Dann passiert etwas Seltsames.

Aus Gans Magen steigt ein elektrisches Kribbeln auf. Ihre Haare ziehen sich in ihre Kopfhaut zurück und bringen ihre rot leuchtenden Pickel zum Vorschein. Die Farbe ihrer Haare verändert sich von einem knalligen Pink zu einem dunklen Braun.

„WAS HAST DU MIT MIR ANGESTELLT?“

Derrick lacht.

„Das war ein besonderer Muffin, den ich extra für dich gemacht habe. Die Rezeptur annulliert magische Kräfte“, versucht Derrick durch bellendes Lachen hindurch zu sagen. „Hast du zu viel Schokolade gegessen oder wieso ist deine Stirn voller Pickel?“

„DAS WAR EIN CUPCAKE, KEIN MUFFIN, DU IDIOT!“, bellt Gan und holt zu einem Schlag aus. Derrick fängt Gans Fäuste, bevor sie ihn treffen. „LERN DEN UNTERSCHIED!“, setzt sie nach.

„HA HA, DEINE STIRN LEUCHTET WIE EINE NEONREKLAME!“

Gan reißt sich los und stürmt zurück in den Verkaufsraum. Derrick eilt ihr hinterher. Die kaputte Tür steht weit offen.

„DEIN LADEN WIRD EIN FLOPP! DAS KANN ICH GARANTIEREN!“, brüllt Gan. Derrick kullert sich vor Lachen.

Plötzlich schmiegt sich Claudette an Gans Knöchel. Sie trägt eine verschlossene Zuckerkorntrompete im Maul. Bevor sich Gan versieht, hat sich Claudette durch Derricks Beine geschlichen und ihm die Zuckerkorntrompete auf den Stuhl gelegt. Auf leisen Pfoten schleicht Gans Katze zurück zu ihrem Frauchen.

„TSCHÜSS, DU IDIOT!“, schreit Gan Derrick an, macht dann auf den Hacken kehrt und stürmt durch die kaputte Tür zu. Auf der Schwelle hält sie ein.

„Tschüss, Priori!“, sagt Derrick. „Auf ein gutes Miteinander!“ Derrick breitet die Arme aus und lässt sich dann selbstgefällig auf seinen Stuhl fallen. Sein Hintern zerreibt die Zuckerkorntrompete und setzt so ihr giftiges rotes Gas frei. Bevor Gan das Gas erreicht, schlägt sie die demolierte Tür des Dulce Sueños zu.

Gan krault Claudette die Ohren.

Dieser Tag ist doch nicht nur für die Katz.

4

Claudette begleitet ihr Frauchen auf ihrem Weg zurück zum Fais De Beaux Rêves. Schwarze Wolken hängen am Himmel. Gan beeilt sich. Sie will nicht nass werden. Außerdem kommt sie sich mit den Pickeln auf der Stirn und ihrer natürlichen Haarfarbe vor wie eine Jahrmarktsattraktion.

„Wieso will er mir jetzt mein Geschäft streitig machen?“, fragt sich Gan leise. „Wieso muss er jetzt nach zwei Jahren wieder auftauchen?“

Direkt nach dem Abbruch ihrer Ausbildung hat Gan sich mit ihrem Laden selbstständig gemacht. Das ist nun die besagten zwei Jahre her. Gan betreibt das Fais De Beaux Rêves in mehr als 150 Welten und stellt jedes ihrer Stücke in Handarbeit her. Ihre Kunden wissen das zu schätzen. Gan glaubt, dass ihre Kundschaft ihr trotz Derricks Konkurrenz überwiegend die Treue halten wird.

Andererseits kann Gan es nicht immer jedem Recht machen. Am Ende eines Tages sind die meisten ihrer Waren bereits vor Ladenschluss ausverkauft. Schon oft hat Gan Kunden um halb 12 ohne eines ihrer Gebäcke nach Hause schicken müssen.

Mit seinem „Super-Baker-9000“ kann Derrick im Sekundentakt produzieren, auch, wenn die Qualität unter aller Kanone ist. Gan ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass es manchen Kunden einzig und allein auf den Preis ankommt. Und Derrick verkauft seine Produkte im Schnitt 40% billiger als sie.

Das ist nicht gut.

Der erste Tropfen fällt. Begleitet wird er von einem heftigen Paukenschlag aus dem Himmel. Gan nimmt die Beine in die Hand.

Sie hat drei Straßen vor sich. Claudette schlüpft durch ein Zaunloch und ist verschwunden. Gan ist in einem Tunnel. Sie sieht nur noch das Fais De Beaux Rêves vor sich.

Dann kommt Gan an einem Zeitungskasten vorbei.

Henna hatte ihr erzählt, dass über die Eröffnung von Derricks Laden berichtet worden war. Gan wirft drei Cuprum-Münzen in den Münzschlitz, entnimmt ein Exemplar, verstaut es unter ihrem Pullover und düst mit Vollgas zurück zu ihrem Laden.

Sie braucht eine Minute, bis sie wieder bei Atem ist. Claudette kommt wenig später durch die Katzenklappe herein. Sie hat es irgendwie geschafft, trocken zu bleiben. Sheriff begrüßt Gan mit einem lauten „WUFF, WUFF!“. Seine Nase leuchtet nur noch schwach.

„So ein Mist aber auch!“, sagt sie und legt die Zeitung auf ihren Tresen. Im Anschluss föhnt sich Gan erst einmal die Haare und zieht sich trockene Klamotten über. Drei Garnituren Ersatzkleidung hat Gan im Laden. Anschließend macht sie sich einen extra starken Espresso aus roten Cowboy-Kaffeebohnen und peppt ihn mit einer Schuss Tempig-Milch auf. Am Tisch in der Küche widmet sich Gan dem Artikel über ihren Widersacher. Sie muss nicht lange suchen. Das Foto von der Eröffnungszeremonie nimmt die halbe Seite ein.

Bürgermeister Felsbeißer hat es sich nicht nehmen lassen, das rote Band vor der Pforte des Dulce Sueños zu durchschneiden. Gan bildet es sich sicher ein, aber sie glaubt, auf dem Bild Aurum-Zeichen in Felsenbeißers Augen zu erkennen.

„Der würde seine eigene Mutter verkaufen, ohne auch nur einen Gewissensbiss zu haben. Hauptsache, der Preis stimmt“, zischt Gan. Letztes Jahr hatte Felsenbeißer ihr die Gewerbesteuer erhöht, mit der Begründung, dass das Fais De Beaux Rêves zu den fünf erfolgreichsten Läden in Eskala zählt. Wie viele „zusätzliche Steuereinnahmen“ Derrick Felsenbeißer wohl versprochen hat?

Mit jedem Satz, den Gan liest, werden die Falten auf ihrer Stirn tiefer. Nachdem sie den Bericht zu Ende gelesen hat, knallt sie die Zeitung auf den Tisch.

„Dieser Schuft!“, schimpft Gan. Ihr stehen Tränen in den Augen. Claudette hüpft Gan auf den Schoß. Gan krault ihr den Kopf. Das beruhigt sie zumindest ein wenig. Der Artikel handelt nicht nur von Derricks Laden.

Professorin Adelheid Grandeur-Finesse der Purpura Effodiant Corvi Akademie für Zauberkunst und Hexenhandwerk plant, nach Ablauf des aktuellen Semesters in den Ruhestand zu gehen. Damit verliert die PEC eine ihrer erfahrensten Professorinnen. 75 Jahre lang hatte Prof. Grandeur-Finesse gelehrt. Mit 99 Jahren geht sie nun in Pension. Im Laufe ihrer Karriere hatte sie den Lehrstuhl für angewandtes Hexenhandwerk zu einem der besten in allen 1344 Welten ausgebaut. Ihre Nachfolge soll – Dekan Sean Polidori zufolge – mithilfe eines Wettbewerbs bestimmt werden.

„Deswegen hat Derrick das Dulce Sueños eröffnet. Weil er sich damit im Auswahlverfahren um den Lehrstuhl bessere Chancen ausrechnet“, flüstert Gan.

Mit seinen 17 Jahren wäre Derrick Schuster damit der jüngste Professor, der jemals an der Purpura Effodiant Corvi Akademie für Zauberkunst und Hexenhandwerk unterrichtet hätte. Über ausreichend Talent und Fachwissen – und dessen ist sich Gan schmerzhaft bewusst – verfügt der Scharlatan unglücklicherweise. Tatsächlich gehört Derrick Schuster zu den besten Absolventen der Akademie.

„Das wäre eine Katastrophe!“, sagt Gan. „Er würde alles, wofür Prof. Grandeur-Finesse steht, durch den Dreck ziehen.“

Prof. Grandeur-Finesse hatte Gan stets als eine ihrer talentiertesten Schülerinnen bezeichnet. Der Tag ihrer Abschlussprüfung hätte eigentlich den Gipfel ihrer Ausbildung darstellen sollen. Gan hatte sich vorgenommen, ihr Können der gesamten Schule unter Beweis zu stellen. Als großen Streich hatte Gan ihre feinsten Waren für alle 2500 Schülerinnen und Schüler sowie das gesamte Personal der PEC gebacken. Die Zutaten hatte sie alle über einen transdimensionalen Versandhandel bestellt (daher die Idee mit ihrer Weltentür; um die Sache zu vereinfachen).

Doch der Tag, an dem Gan vor der vollversammelten Schulgemeinschaft brillieren sollte, endete im Desaster. 99% der Schülerinnen und Schüler, der Lehrerinnen und Lehrer, der Professorinnen und Professoren, die Gans Köstlichkeiten probierten, bekamen Durchfall und Brechreiz. Schon nach dem ersten Bissen verfärbten sich Gans Kunstwerke schwarz, wurden schmierig wie Öl und dadurch ungenießbar.

Da Dekan Polidori um jeden Preis negative Schlagzeilen verhindern wollte, wurde Gan vor die Wahl gestellt: Sie konnte die PEC freiwillig verlassen und so schlechter Presse entgehen oder sie müsste sich für die Konsequenzen ihrer vergeigten Abschlussprüfung verantworten und so ihre Karriere gegen die Wand fahren, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Gan verließ die Schule ohne Abschluss und hat sich im Anschluss daran (mit ein bisschen Hilfe durch ihre Eltern) mit dem Fais De Beaux Rêves ein berufliches Standbein gesucht.

Durch Gans Entschluss kam es nie zu einer richtigen Untersuchung des Vorfalls. Erst ein halbes Jahr später hatte Gan herausgefunden, wer für die verdorbenen Waren verantwortlich gewesen ist. Kein geringerer als Derrick Schuster. Er hatte den Grundteig, den sie für all ihre Kreationen verwendet hatte, mit einem Tropfen Monster-Essenz versetzt. Einer von Professor Grandeur-Finesses wissenschaftlichen Mitarbeitern war ihm schließlich auf die Schliche gekommen. Prof. Grandeur-Finesse selbst hatte Dekan Polidori über diese Erkenntnis informiert (und Gan dazu einen ausführlichen Brief geschrieben). Da Gan die Schule aber längst verlassen hatte und Derrick Schuster mittlerweile als neuer Star am Hexer-Himmel gefeiert wurde, hatte Polidori die Sache auf sich beruhen lassen.

Und jetzt soll Derrick Schuster Professor Grandeur-Finesses Lehrstuhl übernehmen?

Dieser verflixte Betrüger.

Dieser Möchte-Gern-Hexer.

Gan wirft die Zeitung in die Luft. Mit ihrem letzten Fünkchen Magie setzt Gan sie mit einem Feuerwerkszauber in Brand. Bunte Asche regnet auf den Boden. Claudette stampft die letzten brennenden Reste mit ihren Pfoten aus. Gan achtet gar nicht darauf. Sie geht in den ersten Stock. Dort steht ihr Bett. Sie nutzt es eigentlich nur, wenn sie ein besonders aufwendiges Rezept backt und dazu eine Nachtschicht in ihrem Laden einlegen muss.

Doch jetzt braucht sie erst mal Schlaf.

Eine Stunde kann sie sich leisten, glaubt sie.

5

Gan erwacht mit einem Schreck. Sofort fällt ihr Blick auf die Uhr. Es ist 17 Uhr. Sie hat vier Stunden geschlafen.

„Grundgütiger!“, ruft sie. Das weckt auch Claudette, die es sich bei Gans Füßen gemütlich gemacht hat. Die goldbraun getigerte Katze springt im hohen Bogen in die Luft. Aufgrund des Schlafsands in den Augen hält Gan Claudette für die Fledermaus, mit der ihre Misere begonnen hat. Gan schnappt sich ihr Kissen und schlägt damit nach der fliegenden Katze. Claudette macht eine Reihe Salti und landet zum Schluss anmutig auf allen vier Pfoten. Sie raunzt ihr Frauchen an, faucht und rennt aus dem Zimmer.

„Oh, Mist!“, schreit Gan und eilt ihrer Katze sofort hinterher. An der Türschwelle bleibt sie stehen. Sie ruft: „Es tut mir leid, Claudette. Ich hab‘ dich für eine Fledermaus gehalten!“

Vom schnellen Aufstehen sieht Gan Sterne. Gan setzt sich auf ihre Matratze und umarmt ihr Kissen.

Am liebsten würde Gan zurück ins Bett fallen und einen Haken hinter diesen Tag setzen.

Doch dann hat sie keine Spezialzutat für ihre morgigen Kreationen. Und wenn Gan nur mit ihren herkömmlichen Sachen auffährt, könnte es sein, dass ihr Kunden abspringen. Kunden, die dann bei Derrick einkaufen.

Das muss Gan um jeden Preis verhindern.

Gan erhebt sich mit einem Ruck. Als sie dieses Mal Sterne sieht, reibt sie sich solange die Augen, bis sie alle verschwinden. Auf dem Weg ins Erdgeschoss fällt ihr Blick in den Spiegel an der Wand. Ihre Haare haben ihre natürliche schokoladenbraune Farbe. Die Pickel auf ihrer Stirn leuchten stärker denn je. Gan fletscht die Zähne.

„Das werde ich ihm alles heimzahlen!“

Gan stürmt durch ihre Küche in den Verkaufsraum. Ihr Stampfen weckt Sheriff, der in seinem Korb ein Nickerchen gemacht hat.

„So!“, verkündet sie und wirft einen zweiten Blick auf die Uhr. Es ist 5 nach 5. „Ich gehe!“

Sie kämmt sich die Haare mit den Fingern und setzt ihren Hexenhut auf. Anschließend drückt Gan einen geheimen Knopf unter dem Lichtschalter. Dadurch öffnet sich der Boden und ein langer Hebel kommt zum Vorschein. Einer wie die, mit denen man Weichen stellt. Momentan ist er auf ganz links eingestellt. Auf Welt 1. Ihre eigene Welt. Je weiter Gan den Hebel nach rechts stellt, umso weiter entfernt ist die Welt, in die sie reist. Neben dem Schalter an der Wand ist eine Plakette angebracht. Auf ihr hat Gan die erkundete Welten vermerkt und dazu, welche Spezialzutaten sich dort auftreiben lassen. In etwa einem Viertel der 1344 Welten ist sie schon gewesen.

Gan schnappt sich ihren Korb und fährt mit dem Zeigefinger über die Plakette.

„Heute ist keine Zeit für Spielchen...“, sagt sie. „Hm, die 525. Welt hört sich doch gut an.“ Welt 525 ist ein Ort, der über und über mit riesigen Pilzen bewachsen ist. Die einzigen Bewohner sind kleine Männchen mit langen Bärten und Feenflügeln. Sie nennen sich selbst Halapukki. Sie haben Gan bei ihrem ersten Besuch eine Sorte leuchtender Pilze gezeigt. Eine blaue Morchelart, die auf sandigem Boden wächst und süß-sauer-scharf schmeckt. Frisch geschnitten, in der Pfanne angebraten und dann zerkleinert eignen sie sich hervorragend als Garnitur für Vanille-Tartelettes.

Gans Entschluss ist gefasst.

Sie stellt den Hebel auf 70,31 Grad ein.

Gans Ladentür leuchtet auf. Erst blau, dann rot, schließlich gelb. Seltsame Geräusche sind auf der anderen Seite zu hören. Rauch dringt aus dem Türspalt. Knapp eine Minute dauert das Spektakel, dann ist die Weltentür arretiert.

„Will jemand mitkommen?“, fragt Gan ihren Hund und ihre Katze. Beide scheinen vom Angebot ihres Frauchens nicht sonderlich begeistert zu sein. Sheriff legt die Pfote über die Schnauze, Claudette, die auf den Tresen gesprungen ist, hüpft auf den Boden und läuft zurück in Gans Bett.

„Ok, dann eben nicht!“, sagt Gan und zuckt mit den Schultern.

Sie öffnet die Tür. Auf der anderen Seite ist nichts als Schwärze zu sehen. Durch die Tür zu gehen, hat Gan am Anfang einiges an Überwindung gekostet. Nun ist es zur Routine geworden.

Gan schreitet in das schwarze Loch.

Just in diesem Moment tritt Derrick aus dem Schatten. Als Sheriff nach ihm schnappen will, wirft er ihm eine Kugel in den Rachen. Sheriff beißt zu und schläft augenblicklich ein. Um Sheriffs Bellen schert sich Claudette wenig. Sie sieht es nicht ein, ihren gemütlichen Platz unter Gans Decke wegen des Hundes aufzugeben.

Derrick wartet einen Moment. Dann schleicht er sich zum Hebel von Gans Tür und rückt ihn so lange nach rechts, bis es Click macht.

Derrick grinst schelmisch. Mit seinem Cupcake hat er auch Gans Fähigkeit gelöscht, fremde Magie zu spüren. Zumindest für eine Weile. Lange genug, um sich einer Rivalin zu entledigen.

6

An Gan ziehen tausende bunter Farben vorbei. Sie geht weiterhin geradeaus, bis zum grellen Licht am Ende des Tunnels.

Gan freut sich darauf, den Ältesten der Halapukki zu treffen. Das erste Mal als Gan diese Welt betreten hat, sind die Halapukki aus Angst vor Claudette reihenweise in Ohnmacht gefallen. Erst als Claudette den zehn Zentimeter großen Bergtroll gefressen hat, der die Tochter des Ältesten entführt hatte, hatte sich die Situation entspannt. Seither sind Gan und Claudette gern gesehene Gäste in der 525. Welt. Das letzte Mal ist Gan vor sechs Monaten hier gewesen. Der Älteste wird sicher bedauern, dass Claudette heute nicht mitgekommen ist.

Aus dem weißen Rechteck am Ende des Tunnels kommt warmes Licht. Gan sonnt sich einen Moment darin, dann tritt sie ein.

Gan weiß sofort, dass etwas nicht stimmt. Statt einen Schritt auf festem Boden zu machen, finden ihre Füße nichts als Leere.Gan verpasst den Moment, in dem sie sich noch hätte retten können. Ein unsichtbarer Sog ergreift von ihr Besitz und zieht sie hinein in einen fremden Raum. Sie fällt in ein Meer aus Finsternis. Nach einer Weile färbt sich die Schwärze. Bunte Schlieren und Punkte erscheinen. Gan ist in Sternenmilch gefangen.

„Was ist hier los?“, blinkt es in roten Buchstaben vor Gans geistigem Auge. Ihr Hexenhut hebt ab und schwebt davon. Gan versucht zu schwimmen, doch kommt nicht vom Fleck. Stattdessen driftet sie immer weiter von ihrer rettenden Ladentür weg.

Gan tritt unsichtbare Wellen los, die runde Kreise durch die Schwärze ziehen. Sterne bewegen sich aufeinander zu, stoßen zusammen und explodieren in gleißendem Licht. Violette Staubfontänen schießen in alle Richtungen. Die Explosionen lassen schwarze Löcher entstehen, die wiederum mehr leuchtende Punkte anziehen und fressen.

Warme Funken kitzeln auf Gans Haut. Die bebenden Sterne haben kaum Einfluss auf sie. Sie ist eine Gigantin im endlosen Kosmos.

„Habe ich die Tür etwa falsch eingestellt?“, fragt sie sich. „Oder hatte sie eine Fehlfunktion? Bin ich etwa im Raum zwischen den Welten gelandet?“

Um das zu verhindern, hat Gan in den Mechanismus ihrer Tür eigentlich eine spezielle Feder eingebaut, die kein fragwürdiges Winkelmaß zulässt. Über den Raum zwischen den Dimensionen ist nur wenig bekannt. Die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist nicht zu unterschätzen. Noch kann Gan atmen, aber das kann sich jederzeit ändern.

„Ich muss zurück – und zwar schnell!“

Gan versucht es weiter mit schwimmen, doch damit erreicht sie nur, dass sich die Sternenexplosionen beschleunigen. Immer mehr schwarze Löcher entstehen.

„Das ist nicht gut!“

Dann hat Gan einen Geistesblitz!

Sie zückt ihren Zauberstab.

„Wenn ich einen mächtigen Zauber hexe, kann mich der Rückstoß vielleicht zurück zur Tür katapultieren!“

Gan stellt sich vor, eine Rakete zu sein, als sie ihren Stab ausstreckt und ruft: „Hokus Krokus!“

Lila Funken schießen aus der Spitze des Stabs. Gan hat mit einem Blitz gerechnet.

Statt sich in einer geraden Linie auf ihre Tür zuzubewegen, beginnt Gan sich zu drehen. Oben, unten, rechts und links verschmelzen zu einer Richtung. Gan bekommt einen Drehwurm.

„PLARGH!“

Gans Magie reicht nicht aus, um anständig zu zaubern.

Plötzlich schwebt eine kleine rechteckige Karte aus ihrer Hosentasche. Gan wirbelt so schnell um die eigene Achse, dass sie Schwierigkeiten hat, den Text auf der Karte zu lesen. In einer Ecke des Kärtchens ist allerdings ein Logo gedruckt, das Gan eindeutig jemandem zuordnen kann.

Das Symbol besteht aus zwei ineinander verschlungenen Buchstaben. Einem D und einem S. Dulce Sueños. Derricks Laden.

„ER WAR DAS!“, knurrt Gan.

Gan ist schleierhaft, wie Derrick es angestellt hat, seine Visitenkarte in ihre Hosentasche zu schmuggeln. Geschweige denn, wie er sich an ihrer Tür zu schaffen gemacht hat. Die Visitenkarte ist ein deutlicher Gruß von Gans Erzrivalen, der sagt: „Ällerbätsch. Bin gespannt, wie du aus der Patsche wieder herauskommst.“

„Wenn ich Derrick in die Finger bekomme, werde ich ihm den Kopf an den Hintern hexen!“

Momentan hat Gan jedoch andere Sorgen. Sie treibt immer mehr von ihrer Weltentür weg.

Gan versucht es ein weiteres Mal mit einem Zauber, aber damit ändert sie nur die Richtung, in die sie sich dreht.

„Verflixt, verflixt, verflixt!“

Sie feuert fünf Zauber ab, bevor sie aufgibt. Mittlerweile dreht sich Gan der Magen um. Sie schließt ihre Augen. Auf diese Weise ist der Schwindel nicht mehr ganz so schlimm.

„Okay, was machen?“

Heiße Funken von der Explosion Hunderter Sterne kitzeln an ihrer Wange.

Plötzlich surrt etwas an ihrem Ihr Ohr vorbei.

Gan fällt es schwer, die Quelle des Geräusches auszumachen. Dann aber sieht sie es.

„Was ist das?“, fragt sich Gan.

Leuchtende Kugeln düsen durch die Schwärze. Die Kugeln scheinen, miteinander zu spielen. Sie machen Schleifen, umkreisen sich, fliegen Zickzack.

„HEY, HEY, HEY!“, ruft Gan. Sie versucht, die Aufmerksamkeit der surrenden Kugeln auf sich zu lenken. Eine bleibt plötzlich stehen. Sie hüpft einen Moment auf der Stelle, doch dann schließt sie wieder zu ihren Freunden auf.

„Mist!“, denkt Gan. Der Abstand zum Portal nach Hause vergrößert sich immer mehr.

Sie versucht es erneut mit Schwimmen, da erscheint plötzlich eine weitere dieser leuchtenden Kugeln. Im Gegensatz zu den anderen, ist sie viel kleiner. Sie leuchtet in einem freundlichen Pink.

„HEY, DU DA! KOMM HER!“

Gan brüllt sich die Seele aus dem Leib.

Die pinke Kugel fliegt nach rechts, dann nach links. Sie scheint Gans Rufe nicht zu bemerken.

„Die darf mir nicht entkommen!“, denkt Gan und zückt ihren Stab. Sie versucht, den mickrigen Rest ihrer Magie auf einen letzten Zauber zu konzentrieren. Gan bekommt dadurch heftige Kopfschmerzen.

„HOKUS KRÖSUS!“, ruft Gan und verschießt einen dunkelpurpurnen Blitzball aus der Spitze ihres Zauberstabs. Gans Zauber verwandelt sich sofort in dunklen Rauch.

Die leuchtende Kugel hüpft aufgeregt hin und her. Sie macht eine Spirale, dann ändert sie ihre Richtung und fliegt direkt auf Gan zu.

„Hat das funktioniert?“, fragt sie sich.

Hunderte Sterne um sie herum prallen zusammen und bedecken Gans Haut mit wärmenden Funken. Die leuchtende Kugel kommt näher. Dabei wird sie auch immer größer. Ohne einen Schimmer zu haben, was sie machen soll, öffnet Gan ihre Arme, um die Kugel zu fangen.