White Frost - Nellys Traum - Gaby von Döllen - E-Book

White Frost - Nellys Traum E-Book

Gaby von Döllen

4,8

Beschreibung

White Frost hat alle Hürden der Zuchtzulassung genommen. Sein erster Wurf wird von seiner Besitzerin Nelly mit Spannung erwartet. Die Geburt verläuft dramatisch. Sämtliche Welpen sind nicht lebensfähig und alle Hoffnungen, die nicht nur Nelly auf White Frost gesetzt hat, lösen sich auf. Nelly flüchtet mit ihrem Hund vor Vorwürfen und Anschuldigungen nach Dänemark. In der Einsamkeit findet sie Ruhe und lernt den Schweden Lasse kennen. Er überredet sie zu einem Wurf mit seiner eigenen Hündin Freya. Zur Geburt der Welpen reist Nelly nach Schweden. Der geheime Wurf wirft Fragen auf, ein unglaublicher Verdacht erscheint die einzige Erklärung für White Frosts tote Welpen. Wird Nelly in Schweden bleiben oder wird sie handeln, obwohl sie damit White Frost, Lasse und sich selber in Lebensgefahr bringt? In ‘Nellys Traum’ geht es um Zucht und Intrigen, aber auch um Nelly selber. Ihre Vergangenheit und ihre Zukunft werden durch einen Traum verbunden, den sie noch nicht aufgegeben hat: Atlantis.

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Die Autorin Gaby von Döllen hat gemeinsam mit ihrem Mann bereits mehrere Sachbücher über die Rasse Weißer Schweizer Schäferhund veröffentlicht. Durch aktive Vereinsarbeit und intensive Kontakte zu Züchtern ist ihr das Milieu, in dem sie ihren Roman ansiedelt, gut bekannt. Sie arbeitet hauptberuflich als Finanzbuchhalterin und lebt mit ihrem Mann Peter, ihren beiden Töchtern Malin und Lilja in Worpswede bei Bremen. Zur Familie gehörten die Weißen Schäferhunde Fiala (28.06.94-02.04.2009), Lumihiutale (05.05.00-Januar 2002) und Snuffs-White „Karhu“ (06.05.2002).

Ein tiefer Fall führt oft zu höherem Glück

William Shakespeare (1564 - 1616)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Nachwort

Wie alles begann

Eine neue Herausforderung

Prolog

Der Schnee fiel dichter. Der Mann runzelte die Stirn und beschleunigte seine Schritte. Er nahm die vorweihnachtliche Stimmung kaum wahr, sondern hastete die große Einkaufsstraße entlang und blickte an jeder Querstraße suchend auf die Straßenschilder. Hoffentlich würden diese Wetterverhältnisse seine Rückkehr nicht verzögern. Er bog in eine kleine, unscheinbare Seitengasse ab und blinzelte. Seine Augen mussten sich erst an die schummrige Beleuchtung gewöhnen. Unentschlossen blieb er stehen. Die alten Straßenlaternen gaben nur wenig Licht ab. Er ging weiter und befand sich bald in einer Gegend, in der nichts mehr an die helle, fröhliche Vorweihnachtszeit erinnerte. Ein Straßenköter wühlte im Abfall, der neben den überfüllten Mülltonnen lag. Der Mann verzog angewidert das Gesicht, als eine fette Ratte kurz im Müllberg auftauchte und sofort wieder verschwand. Der Hund lief auf ihn zu und beschnüffelte ihn ausgiebig. Der Mann fluchte und trat dem Hund heftig in die Seite. Der kleine Streuner jaulte auf und verschwand winselnd im nächsten Hauseingang.

Im dichten Schneetreiben bemerkte er zwei Gestalten, die ihm entgegen kamen. Nervös tastete er nach seinem Messer. Nicht, dass er davon Gebrauch machen wollte. Aber in dieser Gegend musste er auf alles vorbereitet sein. Rasch versteckte er sich in einem Hauseingang und wartete, bis die beiden Männer verschwunden waren. Er musste unerkannt bleiben. Nur deshalb hatte er zugestimmt, sich in diesem Viertel von Amsterdam zu treffen, einige hundert Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Angewidert betrachtete er die beschmierten Hauswände: Namen, Telefonnummern und eindeutige Zeichnungen. Er unterdrückte ein Würgen. Der intensive Uringestank war kaum zu ertragen. Der Mann zog seine Kapuze tiefer in das Gesicht und trat zögernd auf die Straße. Die Männer waren verschwunden. Er blickte auf die Uhr und lief die Gasse entlang. Am Ende blieb er unschlüssig stehen und sah sich um. Er musste am Treffpunkt vorbei gelaufen sein. Langsam ging er zurück.

Da! In einem Hinterhof erblickte er die schummrige Beleuchtung des ‚Flying Dutchman’. Das aufgemalte Schiff und die Schrift waren kaum noch zu erkennen. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete, zog die Mütze unter seiner Kapuze tiefer in das Gesicht und betrat die Kneipe. Der Raum war klein. Die Schiffslampen warfen gedämpftes Licht an die Wände. Die verqualmte Luft roch nach einer Mischung aus Rauch und Alkohol, aber das war weitaus angenehmer als der Gestank draußen im Hinterhof. Die massiven Holztische waren durch unzählige Schnitzereien verunstaltet. Der Boden aus Schiffplanken war nicht mehr holzfarben, sondern bereits schwarz und ausgetreten. ‚Hier werden Geschäfte gemacht, von denen keiner erfahren darf’, dachte er. Genau deshalb war er hier.

Die vier Männer im Raum hatten sich zu ihm umgedreht und musterten ihn gelangweilt. An der Theke saß ein alter Mann mit dichtem, ungepflegtem Bart. Auf seinen Armen waren kaum freie Hautstellen zu erkennen: Sie waren über und über tätowiert. Der Mann daneben blinzelte ihm aus glasigen Augen entgegen. Das Bier, das er gerade in einem Zug leerte, war mit Sicherheit nicht das erste an diesem Abend.

An einem der Tische las jemand eine Zeitung. Man sah nur eine blaue Wollmütze. In diesem Moment blickte der Leser über den Rand der Zeitung hinweg und wies mit einem Nicken auf den leeren Platz neben sich.

„Karl Meyer“, nuschelte der Neuankömmling und setzte sich. Das Gesicht hinter der Zeitung verzog sich zu einem Grinsen.

„Soso, Karl“, entgegnete er auf Deutsch, „nenn mich Sascha.“ Der Mann, der sich als Karl Meyer vorgestellt hatte, musterte sein Gegenüber. Die Freundlichkeit war ebenso falsch wie der Name. Die wasserblauen Augen hinter den Brillengläsern verrieten, dass er keinen Spaß verstand.

Mit einem kurzen Handzeichen orderte ‚Karl’ ein Bier, das ihm sofort gebracht wurde. ‚Sascha’ griff in seine Jackentasche und stellte eine kleine Flasche auf den Tisch. Sie war mit einer Pipette verschlossen und hatte einen Inhalt von exakt 30 ml. Durch das Glas schimmerte eine hellgelbe Flüssigkeit. Als ‚Karl’ danach greifen wollte, legte ‚Sascha’ schnell seine linke Hand auf die Flasche und schüttelte missbilligend den Kopf. Mit einer lässigen Bewegung warf er seine Zeitung auf den Tisch. ‚Karl’ verstand, zog einen dicken Umschlag aus der Tasche und schob ihn darunter. Er warf einen Blick zur Theke. Keiner der Männer nahm von ihnen Notiz.

„Die Hälfte jetzt, die andere Hälfte, wenn es funktioniert“, murmelte er. Sein Gegenüber ließ die Flasche zurück in seine Jackentasche gleiten.

„Nein. 100 % sofort, wie abgemacht.“ Er machte Anstalten, aufzustehen, wurde jedoch wie erwartet zurückgehalten.

„Nicht so schnell. Woher weiß ich, dass du nicht nur ins Fläschchen gepinkelt hast?“

Die Augen hinter den Brillengläsern verzogen sich amüsiert.

„Kein Vertrauen? Dieses Zeug ist sein Geld wert. Es war schwer zu beschaffen. Fast alles vernichtet. Die nächste Lieferung kostet ein Vielfaches!“

‚Karl’ merkte, dass weitere Verhandlungen wenig Sinn machten. Er legte den zweiten Umschlag unter die Zeitung. Sein Gegenüber nickte, warf einen kurzen, zufriedenen Blick auf das Geldbündel und schob die Flasche über den Tisch.

Die beiden Männer grinsten sich vielsagend an. ‚Sascha’ stand auf und verabschiedete sich.

„Weitere Aufträge erledigen wir gern, Partner. “

„Aufträge welcher Art?“ Sascha sah ihn kalt an.

„Alles, ohne Ausnahme. Gewisse ... Dinge leiten wir gegen eine kleine Provision weiter.“

Dem Mann lief es kalt über den Rücken. ‚Sascha’ sprach eindeutig von Mord! In welche Szene war er bloß hereingeraten?!

‚Sascha’ bemerkte sein Unbehagen und sagte: „Manche Zeitgenossen sind unangenehm. Wenn man sie risikolos beseitigen lassen kann ...“, murmelte er undeutlich, drehte sich um und ging. ‚Karl’ stellte sich an die Theke und stürzte kurz nacheinander vier Genever hinunter. Danach fühlte er sich etwas besser.

Plötzlich hatte er es eilig, die dubiose Gegend zu verlassen. Erleichtert atmete er auf, als er die hell erleuchtete Hauptstraße erreichte. Der Geruch von Nüssen und Mandeln hing in der Luft und vermischte sich mit dem Duft von Glühwein. Straßenmusikanten spielten ‚Jingle Bells’ und im dicht fallenden Schnee wirkte die Stadt wie ein Traum. Mit einem lauten ‚Ho Ho Ho’ wedelte ihm ein Weihnachtsmann mit einer Rute vor der Nase herum. Verärgert fegte er sie mit einer Handbewegung zur Seite. ‚Weihnachtsgeschenke’, dachte er, während er die Auslagen des Kaufhauses betrachtete. Einige Passanten drehten sich erstaunt um, als er in schadenfrohes Lachen ausbrach. Seine Hand schloss sich fest um die kleine Flasche in seiner Jackentasche.

Im Auto nahm er das Fläschchen in die Hand und betrachtete es lange. Lächelnd hielt er es gegen das Licht und betrachtete die gelbliche Flüssigkeit. Ein paar Tropfen nur. Niemand würde etwas merken. Niemand würde Verdacht schöpfen. Es war ein einfacher Plan. Verblüffend einfach. Und genial.

1

Die Musik dröhnte laut durch das Treppenhaus. Nellys Wohnungstür war mit Luftschlangen und Luftballons geschmückt. Ein buntes Willkommensschild mit einer großen „30“ wies auf den runden Geburtstag hin, der hier fröhlich gefeiert wurde. In der kleinen Wohnung drängten sich Nellys Freunde und Kollegen. Obwohl die ersten Gäste die Party bereits wieder verlassen hatten, waren Sitzplätze noch rar. Die Tür war nur angelehnt, da ein Klingeln sowieso nicht gehört würde.

Das Geburtstagskind Nelly Sommer lebte allein in der kleinen Wohnung. Sie stand umringt von einigen Gästen mit einem Glas Sekt in der Hand im Wohnzimmer. Sie trug ein enges, figurbetontes Jeanskleid und hatte ihre langen, schwarzen Haare mit einem hellblauen Haarband zurückgehalten. Fröhlich lachend strich sie eine Strähne zurück, die ihr ins Gesicht fiel. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und blickte erstaunt zur Tür.

Dort stand ihr Nachbar Tim, bekleidet mit einem modischen, bunten Hemd und einer neuen Jeans. Die Wandlung war unglaublich: Nelly kannte Tim als Chaoten, der sich wenig bis gar nichts aus seinem Äußeren machte. In seiner Wohnung, die sie nur mit größtem Widerwillen betrat, herrschte ein Durcheinander, für das die Umschreibung „Unordnung“ noch untertrieben war. Überquellende Aschenbecher, unzählige halb leere Kaffeetassen, Joghurtbecher, deren Inhalt bereits zum Leben erwacht war, vermischten sich mit herumliegenden Computerausdrucken, ausgebauten PC-Teilen, Büchern und anderen Materialien, die Tim als Programmierer zum Arbeiten brauchte. Ihn selber kannte sie nur mit fettigen Haaren und viel zu großer, dafür aber anscheinend bequemer Kleidung, mit deren Flecken jedes Waschmittel überfordert war. Nelly ging Tim nach ihrem Einzug lange Zeit aus dem Weg. Erst nach einiger Zeit kamen sie immer häufiger ins Gespräch. Nelly merkte, dass es ein Fehler war, Tim nach seinem Äußeren zu beurteilen. Bei ihm konnte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit auf Hilfe hoffen. Aus einer lockeren Nachbarschaft entwickelte sich schnell eine Freundschaft. Nelly half Tim mit der Wäsche und im Haushalt. Die Abende verbrachten sie oft gemeinsam. Eben dieser chaotische und weltfremde Tim hatte sich anlässlich ihres Geburtstages zu einem normalen Mann entwickelt, der sich sichtlich über ihre Sprachlosigkeit amüsierte.

„Herzlichen Glückwunsch“, sagte er und umarmte sie freundschaftlich. White Frost, Nellys weißer Schäferhund, ließ ein leichtes Knurren hören. Nelly wies ihn scharf zurecht. Seit sie hier wohnte, wachte Frost eifersüchtig über Nelly. Männer ließ er ungern in ihre Nähe.

„Danke. Du siehst ... irgendwie anders ... aus“, stotterte Nelly.

Tim lächelte. „Besondere Gelegenheiten erfordern manchmal besondere Anstrengungen.“

Nelly öffnete ihr Geschenk, das nur eine CD enthielt. Darauf befanden sich ein ausgedrucktes Foto von Frost und eine handschriftliche Notiz von Tim: „Frosts neue Homepage“.

Nelly fiel Tim spontan um den Hals: „Du hast die komplette Homepage fertig?“

„Du brauchst dringend etwas Aufmunterung, oder etwa nicht?“, sagte er. Nelly kannte nur einen kleinen Entwurf der Homepage, aber Tims ungewöhnliche Ideen und die gekonnte Umsetzung begeisterten sie restlos. Sie blickte sich um. „Kann ich mir die nicht irgendwo anschauen?“

„Wir können ja zu mir rüber gehen. Das fällt doch gar nicht auf“, sagte Tim mit leicht anzüglichem Unterton.

Nelly mochte Tim, aber eine Beziehung zwischen ihnen beiden konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Die gemütlichen Abende mit ihm waren inzwischen selbstverständlich geworden. Nelly tat Tims Gesellschaft gerade nach dem Scheitern ihrer langjährigen Partnerschaft mit Dirk gut. Er hörte ihr geduldig zu, wenn sie von ihrer Arbeit berichtete und half ihr mit seiner ruhigen, besonnenen Art, berufliche Dinge zu meistern und mit dem Alleinsein fertig zu werden. Die Initiative zu diesen Abenden war von Nelly ausgegangen. Tim reagierte zu Anfang eher verhalten auf ihre Einladungen. Inzwischen war er es, der einkaufen ging und immer neue Rezepte mitbrachte. Wenn Nelly sich unvorhergesehen verspätete, war das Essen oft bereits fertig. Manchmal allerdings ungenießbar, da Tim sehr flexibel in der Auslegung von Mengen und Zutaten war. Für Nelly war Tim ein guter Freund und sie wusste, dass er ebenso empfand. Er konnte seine Bemerkung unmöglich ernst gemeint haben. Daher ging sie gut gelaunt darauf ein und antwortete übertrieben verführerisch:

„Wenn ich jetzt keine Gäste hätte, sofort.“ Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: „Aber wir können das ja nachholen.“

Tim griff lachend nach seinem Sektglas und prostete ihr zu.

Nelly wandte sich wieder ihren Gästen zu, unterbrach ihr Gespräch aber, als White Frost aufsprang. Er stürzte mit lautem Gebell zur Tür. Keinem der Gäste hatte er eine solche Aufmerksamkeit geschenkt. Nach einer ruhigen Begrüßung war er immer auf seine Decke zurückgekehrt.

„Frost, komm her“, brüllte Nelly. Im Türrahmen stand Nellys Ex-Freund Dirk mit einem riesigen Blumenstrauß. Frost knurrte ihn wütend an. Sein Nackenfell war gesträubt.

„Du alter Ganove, auf mich macht das keinen Eindruck“, begrüßte Dirk ihn freundlich und hielt ihm ein Leckerchen hin. Frost ignorierte es und fixierte Dirk weiterhin mit leisem, drohendem Brummen.

„Frost“, sagte Nelly, „ist okay“. Sie nahm Dirk das Leckerli aus der Hand und gab es ihrem Hund, der es nun gierig verschlang.

Dirk umarmte Nelly und überreichte ihr die Blumen. Aus dem Hintergrund drängelte sich Nellys Schwester nach vorne und fiel ihrem Ex-Fast-Schwager um den Hals. „Dirk! DAS ist ja eine Überraschung!“ Nelly verdrehte genervt die Augen. Sie versuchte gerade, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken. Jedes Auftauchen von Dirk riss alte Wunden auf. Sie musste sich zusammenreißen, um sich unter Kontrolle zu halten. Der Alkohol, den sie zu dieser fortgeschrittenen Stunde bereits getrunken hatte, trug viel dazu bei, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Ihre jüngere Schwester, inzwischen verheiratet und mehrfache Mutter, machte aus ihrer Bewunderung für Dirk kein Geheimnis.

Dirk und Atlantis. Während Nelly die begeisterte Begrüßung beobachtete, wanderten ihre Gedanken zurück zum letzten Sommer. Sie hatte die Beziehung zu Dirk endgültig beenden wollen. Es war ihr bis heute nicht gelungen. Ihre Gefühle für ihren Sandkastenfreund und späteren Partner Dirk blieben nach ihrer Trennung stark und intensiv. Sie beide hatten 12 Jahre lang in einem alten Fachwerkhaus mit einem großen Grundstück zusammengelebt. ‚Atlantis’ nannten sie ihre Zuchtstätte, aber auch ihr Zuhause. Nellys Interesse für die versunkene Stadt war heute so lebendig wie in ihrer frühen Jugendzeit, als sie alles darüber las, was sie bekommen konnte. Zu Anfang passte der Name – sie verbrachten dort viele glückliche Jahre.

Snow Queen hieß der Grund, weshalb Dirk und sie ihren Elternhäusern den Rücken gekehrt hatten. Snow Queen, eine schneeweiße Hündin aus der Zucht von Dirks Eltern. Die Farbe allein bedeutete das Todesurteil in diesem Wurf farbiger Schäferhunde. Dirk rettete die Hündin, indem er sie Nelly schenkte. Doch weder Nellys Vater noch der Vermieter ihrer Wohnung duldeten einen Hund. Guter Rat war teuer und ‚Atlantis’ die Lösung. Gemeinsam zogen Nelly und Dirk die weiße Hündin auf und begannen, mit ihr und später mit ihren Nachkommen zu züchten. 15 Würfe waren inzwischen in über zehn Jahren in Atlantis gefallen. Die Zuchtstätte erwarb schnell einen fantiastischen Ruf, die Nachkommen von Snow Queen platzierten sich auf Ausstellungen und im Hundesport häufig unter den Ersten. Während Dirk die Würfe plante, schaffte Nelly es mit ihrer offenen, ehrlichen Art in kürzester Zeit, die Welpen zu verkaufen. Dann traten erste Probleme in den Würfen auf. Es gab Anrufe von Besitzern, deren Hunde erkrankten. Einige starben bereits im Jugendalter. Nelly war überzeugt, dass ihre Zuchtweise der Auslöser war. Sie hatten ihre Hündin Snow Queen und die Rüden ihres Zuchtwartes Karsten als Stammhunde gewählt und deren Nachkommen untereinander verpaart, um die guten Eigenschaften zu festigen. Zunächst gab der Erfolg ihnen recht, doch nun forderte die Inzucht ihren Preis. Dirk teilte Nellys Ansicht nicht. Seine Freundin, die es nicht gewohnt war, zu schweigen, stritt sich immer öfter mit Dirk.

Ihre Beziehung zerbrach schließlich an White Frost. Nelly kaufte diesen Welpen und stellte sich damit gegen die bewährte Atlantiszucht. Dirk boykottierte alles, was mit dem Rüden zusammenhing. Als er gemeinsam mit seinem Freund Karsten White Frost auf den Hundeplatz brachte und schwer quälte, um ein Versagen in der Wesensprüfung zu provozieren und so die Zulassung zur Zucht zu vermeiden, zog Nelly wütend aus. Langsam und mit viel Verständnis baute sie den verängstigten, unsicheren Hund wieder auf. Vor einigen Wochen absolvierte Frost die Zuchtzulassungsprüfung. Karsten ließ nichts unversucht, um ihre Pläne zu durchkreuzen, aber letztlich musste er die Zulassung zur Zucht unterschreiben. Morgen würde White Frost zum ersten Mal eine Hündin decken.

Seit dem Vorfall auf dem Hundeplatz hasste Frost Dirk. Nelly griff schnell in das Halsband, als er Dirk erneut anbellte. Sie zog den sich hartnäckig sträubenden Hund weg zu seiner Decke.

„Ich kann ja verstehen, dass du ihn nicht magst“, flüsterte sie. „Aber heute ist Geburtstag, da müssen wir das akzeptieren.“ Gleichzeitig dachte sie: ‘Wie gut, wenn Gefühle so eindeutig sind’, und blickte unauffällig zu Dirk. Er unterhielt sich mit ihrer Schwester, die ihn sichtlich anhimmelte. Eine Reaktion, die Dirk oft bei Frauen erzielte. Trotzdem konnte Nelly sich seiner Treue sicher sein. Dirk wirkte sehr südländisch mit seinen braunen, gewellten, fast schulterlangen Haaren. Sein Blick konnte Eis zum Schmelzen bringen. Abenteurerhaft und in vielen Dingen sehr unbeschwert, schaffte er es spielend, Menschen für sich einzunehmen. Das Arbeiten hingegen hatte er nicht erfunden. Nelly war es, die in den letzten Jahren für ihren Unterhalt sorgte. Dirks Zuständigkeit beschränkte sich auf die Zucht. Er lebte in den Tag hinein und beendete Auseinandersetzungen mit einem Kompliment, einem Lächeln oder einer Aufmerksamkeit. Nelly konnte ihm nie lange böse sein.

‚Selbst heute könnte ich noch schwach werden’, dachte sie. Dirk bemerkte ihren Blick und lächelte sie an. Selbst bei dieser Entfernung spürte Nelly ein Kribbeln im Magen.

Sie drehte sich abrupt um und lief in die Küche. ‚Gefühle!’, dachte sie gereizt. ‚Ich bin damit durch! Endgültig!’ Wütend über sich selber griff sie nach der Flasche mit Bacardi-Lemon und füllte ihre Cola damit auf. Sie nahm einen großen Schluck und schüttelte sich. Normalerweise mied sie Alkohol. Heute, wo sie mit jedem Gast anstoßen musste, hatte sie schon viel zu viel getrunken. Dirk war ihr gefolgt. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es zurück auf den Tisch.

„Das ist keine Lösung“, murmelte er und strahlte sie an. Er stand direkt vor ihr und der leichte Moschusgeruch seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Erinnerungen. Seine Nähe verwirrte sie. Unzählige Male hatten sie sich bereits in der Küche ihres Hauses so gegenübergestanden. Ein altes Spiel, das ihnen beiden vertraut war. Entgegen aller Vernunft sehnte Nelly sich in diesem Moment nur nach einer Berührung von ihm.

Sie fragte flüsternd: „Weißt du eine bessere?“

Dirk nickte, zog sie an sich und küsste sie. Nelly legte ihre Arme um seinen Hals, schloss die Augen und erwiderte seine Küsse. Die Gäste, die durch die Küchentür schauten, zogen sich beim Anblick der beiden diskret zurück.

„Komm zurück, Nelly“, flüsterte Dirk und ließ seine Hand in den Ausschnitt ihres Kleides wandern.

Nelly zitterte und murmelte: „Die Gäste.“

„Ich sage ihnen, dass die Party zu Ende ist“, antwortete er und fuhr fort, Nelly zu küssen.

Ein Räuspern aus Richtung Küchentür unterbrach sie. Dirk drehte sich langsam um. Nelly blickte über Dirks Schulter und erkannte Tim, der am Türrahmen lehnte.

„Entschuldigung“, sagte er mit unbewegter Miene. „Ich wollte nicht stören.“ Sein Tonfall war herausfordernd.

„Tim!“ Nelly war plötzlich in die Realität zurückgekehrt.

„Es ist nicht so, wie du denkst?“, erwiderte Tim mit beißendem Spott.

Dirk musterte ihn interessiert: „Nelly, sag nicht, dass du was mit diesem Kasper hast.“

„Ich werde hier wohl nicht mehr gebraucht“, sagte Tim, ohne auf Dirks Tonfall einzugehen. Nelly glaubte, Enttäuschung in seiner Stimme zu hören. Hatte sie ihn doch falsch eingeschätzt? Dirks blaue Augen blitzten amüsiert. Auffällig langsam zog er seine Hand aus Nellys Kleid zurück. Tims wütender Blick zeigte ihm, dass er diese Geste sehr wohl bemerkt hatte.

Nelly machte sich aus Dirks Umarmung los und versuchte, die Situation zu klären.

„Tim! Dirk ist mein Ex-Freund. Das ist vorbei.“

Dirk lachte laut auf. „Nelly, Nelly“, sagte er vergnügt. „Das war erst der Anfang“, flüsterte er in Nellys Ohr. Tim schaute sie nur mitleidig an. Nelly griff sich das Cola-Bacardiglas und trank es in einem Zug leer.

„Vergiss es, Nelly! Du musst ja wissen, was du tust“, sagte Tim. Er drehte sich um und ging. Nelly machte sich aus Dirks Umarmung los und folgte Tim zur Wohnungstür.

„Tim! Du kannst jetzt nicht so gehen.“

„Ich werde mir bestimmt nicht ansehen, wie du dich von diesem Mistkerl um den Finger wickeln lässt!“

Nelly sah ihn prüfend an und sagte langsam: „Zwischen uns beiden war nie mehr als Freundschaft.“ Nelly trat in den Hausflur hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Sie wollte nicht, dass jemand zufällig dieses Gespräch verfolgte.

„Darum geht es auch gar nicht“, antwortete Tim ernst. „Du bist eine wunderbare Frau“, begann er zögernd. „Aber uns unterscheidet so vieles. Zum Beispiel die Hunde. Mehr als Freundschaft habe ich nie gewollt. Und wenn, hätte es bessere Gelegenheiten als heute gegeben, meinst du nicht auch?“ Nelly nickte und fühlte sich ein wenig erleichtert.

„Warum hast du dich dann so aufgeregt?“ Tim legte seine Hände auf Nellys Schultern.

„Weil du zu schade bist, um dich an diesen ...“ Mühsam senkte er seine Stimme wieder und fuhr verächtlich fort: „Dirk wegzuwerfen. Er hat dir wehgetan und er wird es wieder tun. Er kennt seine Wirkung auf dich, aber er nutzt sie nur, um sein Ego aufzupolieren. Das eben in der Küche war sein wirklicher Charakter. Beleidigend und arrogant. Du solltest einen deutlichen Schlussstrich unter diese Beziehung ziehen. Es gibt bessere Männer als ihn.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging über den Flur zu seiner Wohnung.

Während er die Tür aufschloss, schimpfte er: „Dein Hund, Nelly, ist schlauer als du. Hör auf ihn!“

Nelly sah ihm nachdenklich nach. Sie wusste, dass er recht hatte. Und sie wusste, dass sie seinen Rat nicht befolgen würde. Nach und nach verabschiedeten sich die übrigen Gäste. Nur Dirk dachte nicht daran, zu gehen. Er half Nelly wie selbstverständlich, die Wohnung aufzuräumen. Nelly wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie bereute ihre Reaktion in der Küche, weil sie deutlich machte, dass Dirk noch zu ihrem Leben gehörte. Es gelang ihm spielend, eine alte Vertrautheit herzustellen und auszunutzen.

„Dirk“, begann sie vorsichtig das Gespräch. „Ich habe morgen einen harten Tag. Es ist schon spät.“

„Frost hat einen harten Tag, wolltest du sagen“, korrigierte Dirk und spielte damit auf den bevorstehenden ersten Einsatz als Deckrüde an. Nelly war zuversichtlich. Nach zehn Jahren Zucht war ein solcher Termin Routine. Ein wenig wunderte sie sich, dass Dirk davon wusste. „Hast du unserem Zuchtwart Karsten in die Karten geschaut?“

„Das war nicht schwer. Sein Champ ist zurzeit bei mir und er ist der Ersatzrüde. Falls Frosty also Probleme mit Lady hat: Champ wird ihn da gern vertreten.“

„Frost wird das schon hinkriegen, da mach dir keine Gedanken“, antwortete Nelly kurz.

Dirk erwiderte nichts. Schweigend stand er vor den Fotos, die Nelly im Flur aufgehängt hatte.

„Sie gehören nach Atlantis“, sagte er. „Genau wie du.“ Er drehte sich zu Nelly um. „Ich habe das damals nie so gesehen, aber du fehlst dort. Wir hatten so große Träume.“

„Ja. Lange Zeit waren unsere Träume die gleichen. Aber jetzt nicht mehr.“ Sie deutete auf den zerbeulten Pokal, der einen Ehrenplatz unter dem Foto von Snow Queen hatte. Die Beule stammte vom Umzug. Er hatte ihnen damals viel bedeutet: Diese Ausstellung hatte Snow Queen die Zuchtzulassung gesichert. „Snow Queen war eine Chance. Wir haben sie nicht genutzt. Ich habe eine zweite Chance bekommen.“ Nelly deutete auf White Frost. „Snow Queen war etwas ganz Besonderes. Mir kommen jetzt noch die Tränen, wenn ich an ihre letzten Wochen denke. Ganz allein im Zwinger, ausgesetzt der Kälte. Eine Hündin, der wir so viel verdanken.“

Es steckte ein leiser Vorwurf in ihren Worten. Dirk hatte nichts für Snow Queen getan. Sie war allein in ihrem Zwinger gestorben, während Nelly Überstunden machte.

Nelly fuhr fort: „Ich werde mit White Frost einen anderen Weg gehen. Aber ohne dich.“

Dirk drehte den Pokal nachdenklich in den Händen. „Bist du dir deiner Gefühle so sicher?“ fragte er leise. „Soll dein Geburtstag so enden? Einsam und allein? In einigen Tagen ist Weihnachten. Seit ich denken kann, gehören diese Tage uns beiden.“

Nelly spürte einen Stich. ‚Ja, es wird schlimm werden’, dachte sie, aber sie riss sich zusammen. „Nach Frostys Zuchttauglichkeitsprüfung habe ich geglaubt, wir können es schaffen, Dirk.“ Sie dachte an den regnerischen Dezembertag zurück. Sie hatte Dirk nach fast 6 Monaten auf dem Gelände wieder getroffen und gemerkt, dass ihre Gefühle für ihn noch die gleichen waren wie vor ihrem Auszug aus ‘Atlantis’. Als Frost anscheinend grundlos in Panik geriet und auf die Bundesstraße zulief, stand Dirk dort, stoppte ihn und rettete ihm damit das Leben.

Langsam fuhr sie fort: „Du hast ihn gerettet, als er auf die Straße laufen wollte. Ich war dir dankbar und habe gehofft, ich könnte nach Atlantis zurückkehren. Alles könnte wieder so werden wie früher.“

„Es war wie früher“, sagte Dirk leise und nahm sie in den Arm.

Nelly machte sich wütend los. „Ja! Es war wie früher: Du hast mich sofort wieder angelogen. Warum hast du mir nicht ehrlich gesagt, dass du Frost in den Zwinger gesperrt hast, damit er uns nicht stört?“

Dirk schüttelte den Kopf. „Es war dir in dem Moment doch selber egal! Du wolltest mit mir ins Bett, nichts anderes. An deinen Frost hast du doch gar nicht mehr gedacht! Erst am nächsten Morgen!“, sagte er mit einem leisen Triumph in der Stimme. „Und dann bist du rausgestürmt. Jede Wette, dass du in der Nacht nicht einmal an Frost gedacht hast.“

Nelly wollte wütend etwas erwidern. Dirks Arroganz war unerträglich. Aber sie schwieg. Die Argumentation war nicht ganz falsch. Sie hatte ihren Gefühlen nachgegeben und die gemeinsame Nacht mit ihm genossen. Wie konnte sie ihm vorwerfen, den Hund ausgesperrt zu haben, wenn sie sich selber nicht um Frost gekümmert hatte.

„Ich habe einen Fehler gemacht“, sagte Nelly ruhig.

Dirk strich ihr eine Strähne aus der Stirn und sagte: „Wir haben unsere Geburtstage immer gemeinsam gefeiert, Nelly.“

„Ich bin heute 30 geworden“, stellte Nelly fest. „Wird Zeit, dass ich auch vernünftig werde. Bitte geh jetzt.“

Dirk sah sie nachdenklich an und seufzte. „Wenn du das wirklich möchtest“, sagte er, zuckte die Schultern und nahm seine Jacke vom Haken. Er strich White Frost über den Kopf, griff in die Jackentasche und bot ihm einige Brocken Futter an. Frost näherte sich seiner Hand misstrauisch. Vorsichtig nahm er Stück für Stück aus der Hand und verschlang sie. Nelly biss sich auf die Lippen. Sie wollte nicht, dass er ging. Es würde eine einsame Nacht werden. Dirk schien ebenfalls auf ein Wort von ihr zu warten.

Er zögerte, drehte sich noch einmal um, wies auf Frost und sagte: „Um deinetwillen und ... verdammt noch mal, ja, weil ich dich liebe, Nelly: Sag den Decksprung morgen ab.“

Dirk sagte das mit einer Überzeugung, die Nelly aufhorchen liess. Sein Tonfall hatte gar nichts mit ihrer Beziehung und ihrem Gespräch zu tun. Nelly war aber zu müde, um weiter darüber nachzudenken. So sagte sie nur: „Kommt nicht in Frage!“

Dirk nahm sie spontan in den Arm. „Dann pass gut auf dich auf. Und auf ihn.“ Er tätschelte Frost den Kopf, murmelte: „Alles Gute, White Frost“, und verließ endgültig die Wohnung.

2

Nelly zögerte, auszusteigen. Sie blickte verträumt auf die Eiszapfen, die vom Dach des alten Fachwerkhauses herunterhingen. Unendlich langsam war sie die lange, mit Birken gesäumte Auffahrt entlang gefahren. Noch immer übte das Haus, das 12 lange Jahre ihre Heimat gewesen war, einen Zauber auf sie aus. Was war aus ihren gemeinsamen Träumen geworden? ‘Atlantis’, das stand für sie für Partnerschaft, Familie und ein glückliches Leben. Nelly seufzte. Sie hatte ihren Traum eingetauscht gegen eine kleine, immer noch karg eingerichtete Wohnung eines Wohnblocks. Und sie hatte ihren langjährigen Partner Dirk gegen ein einsames Leben eingetauscht. Manchmal fragte sie sich, ob ihr Weg der Richtige war. White Frost, der auf dem Beifahrersitz saß, stupste sie an.

„Du erahnst meine geheimsten Gedanken, nicht wahr? Kaum jemand konnte verstehen, dass ich das alles aufgegeben habe“, sagte Nelly und strich ihm über den Kopf. Sie stieg aus und blieb vor der Haustür stehen. Obwohl sie seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr hier wohnte, war es ein merkwürdiges Gefühl, klingeln zu müssen.

Dirk hatte ihre Ankunft bereits bemerkt und öffnete ihr die Tür. „Du bist spät“, stellte er fest und gab ihr einen flüchtigen, freundschaftlichen Kuss auf die Stirn. Nelly spürte ein leises Kribbeln und aufsteigende Wärme, ausgelöst durch seine Berührung.

Sein leises Lächeln verriet, dass er sie viel zu gut kannte. Aber er schwieg.

„Die Straßen waren glatt“, antwortete sie kurz angebunden. Nelly ging zurück zum Auto und öffnete die Beifahrertür. White Frost sprang hinaus, stürzte auf Dirk zu und bellte ihn sofort an.

„Hör auf, Frost“, wies Nelly ihn genervt zurecht. Dirk zuckte die Schultern. Er mochte Nellys Hund nicht. Seiner Meinung nach war der Rüde am Zerbrechen ihrer Beziehung schuld.

„Lass den Blödsinn“, rief er Frost zu, griff nach Nellys Reisetasche und brachte sie ins Haus. Nelly folgte ihm langsam und blickte sich um. Dirk hatte seit ihrem Auszug wenig verändert. Die Fotowand in der Diele wies helle Stellen auf. Die Fotos, die sie mitgenommen hatte, waren nicht ersetzt worden.

Dirk folgte ihrem Blick. „Ich hoffe, sie werden irgendwann wieder hier hängen“, sagte er. Nelly sah ihn nachdenklich an. War ihm noch nicht klar geworden, dass sie einen Schlussstrich gezogen hatte?

„Wehre dich nicht gegen deine Gefühle“, beantwortete Dirk ihre unausgesprochene Frage. Als Nelly etwas erwidern wollte, schüttelte er den Kopf. Mit den Worten: „Komm, ich muss los. Wenn ich zurückkomme, wird genug Zeit zum Reden sein“, unterband er jede Entgegnung und fuhr sachlich fort: „Du kennst dich ja aus. Die Welpen sind draußen. Gemini, Eliza, Indy und Lance auch.“ Er sah sie ernst an und sagte eindringlich: „Sie sollten auch dort bleiben. Die Welpen kannst du meinethalben in Zweiergruppen reinholen.“

„Dirk! Wir haben Januar! Es ist eiskalt draußen.“

„Ach Nelly, die alte Leier? Das sind Atlanter und keine Stubenhunde. Du hast mit Atlantis nichts mehr zu tun, also richte dich bitte nach meinen Anweisungen.“

Nelly schüttelte ungläubig den Kopf, widersprach aber nicht. Es würde zu nichts führen. Dirk sagte ernst: „Ich vertraue dir Atlantis an. Fühl dich -“ Dirk drehte sich noch einmal zögernd um, „wie zu Hause,“ beendete er den Satz und verließ winkend das Haus.

Nelly ging langsam zur Tür und blickte ihm nach. ‚Wie zu Hause’, dachte sie. Nun stand sie da mit ihren Erinnerungen. Alles wirkte vertraut und sie spürte, dass sie sich nach diesem Haus zurücksehnte. Welcher Teufel hatte sie geritten, Dirks Bitte nachzukommen? Er hatte sie angerufen und gebeten, ein Wochenende auf die Welpen des Q-Wurfes aufzupassen, da er nach Süddeutschland fahren musste. Ein Hund ihrer Zucht, ‘Ocean von Atlantis’, sollte dort die Zuchttauglichkeitsprüfung ablegen. Ocean war wie White Frost fast anderthalb Jahre alt und zählte zu den vorsichtigsten und ängstlichsten Welpen ihres O-Wurfes. Die erste Prüfung hatte er im Dezember vermasselt. Eine Blamage für Atlantis, die schnellstens behoben werden musste.

Nelly schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken loszuwerden. Es gab Besseres zu tun. Entschlossen ging sie zur neuen Zwingeranlage. Die Kosten dafür hatten sie Anfang letzten Jahres an den Rand des finanziellen Ruins gebracht.

‚Ohne die Geldprobleme wäre vieles anders gelaufen’, dachte Nelly. ‚Vielleicht’, führte sie ihren Gedanken um ihre vergangene Beziehung fort, besann sich aber sofort wieder auf die Realität. White Frost blieb an ihrer Seite und näherte sich neugierig den Hunden im Zwinger. Vier erwachsene Hunde waren hier untergebracht. Alle stammten aus der eigenen Zucht: Eliza und Gemini, beide Enkelinnen ihrer ersten Zuchthündin Snow Queen. Lancelot, ein Sohn von Gemini und Heaven von Atlantis. Und Nellys Favorit Indian Spirit aus dem letzten Wurf von Aphrodite, einer direkten Snow Queen-Tochter. Nelly öffnete die Zwingertür und ließ Eliza hinaus, die sofort mit Frost durch den Garten tobte. Anscheinend war das ein seltenes Vergnügen, denn im Schnee waren keinerlei Spuren zu erkennen. Nelly wandte sich den Rüden zu, die offensichtlich wütend darüber waren, dass sie nicht mittoben durften. Lancelot teilte seinen Zwinger mit Eliza. Indian Spirit war allein untergebracht, ebenso wie Gemini und ihre Welpen.

Lance sah großartig aus. Er gehörte Dirk und war ein kräftiger, selbstbewusster Rüde mit enormer Ausstrahlung. Allerdings brauchte er eine konsequente und manchmal harte Hand. Dirk mochte ihn genau deshalb. Lance war ein verlässlicher Partner im Hundesport und hatte trotz seines jungen Alters schon einige Erfolge erzielt. Sein langes, schneeweißes Fell glänzte. Verglichen mit den übrigen Hunden war Lance eindeutig am gepflegtesten. Als Nelly in Indys Zwinger blickte, fehlten ihr für einen Moment die Worte. Das Fell von Indy war glanzlos und an einigen Stellen verfilzt. Anscheinend hatte Dirk heute noch versucht, ihn zu bürsten, denn an seiner rechten Seite war das Fell ordentlich und glatt. Nur kleine Unebenheiten zeigten, dass verfilzte Stellen herausgeschnitten wurden. Nelly öffnete die Zwingertür und stellte sich der stürmischen Begrüßung. Sie vergrub ihr Gesicht in seinem Fell.

„Mein Indy, wie siehst du denn aus?“, murmelte sie. Indy fuhr fort, sie abzulecken und warf sie vor Freude einige Male um. Nelly stand auf und blickte ihn an. Als der I-Wurf fiel, hatte sie durchgesetzt, dass dieser Rüde in Atlantis bleiben konnte. Offiziell gehörte er Dirk, aber damals machte das für sie keinen Unterschied. Vom ersten Tag an orientierte er sich an Nelly. Sie kam mit seinem sensiblen, stimmungsabhängigen Wesen viel besser zurecht als Dirk, der schnell ungeduldig wurde. Sie zog Indian Spirit auf und legte mit ihm die Begleithundeprüfung ab. Der Rüde hatte seinen eigenen Kopf, aber für Nelly tat er alles. Sie bereitete ihn unter Dirks und Karstens Anleitung auf die Schutzhundeprüfung vor, die er ebenfalls bestand. Kurz danach kam White Frost ins Haus und die Probleme mit Dirk wurden größer. Als sie Atlantis Hals über Kopf verließ, konnte sie nur White Frost mitnehmen. Gedankenverloren streichelte sie Indy. Wie lange war dieser Hund wohl nicht draußen gewesen? Angewidert hob sie die Decke hoch, die im Zwinger lag. Feucht und dreckig. Nelly seufzte und warf sie hinaus. Vielleicht konnte sie irgendwo eine neue besorgen.

Frost war herangekommen und steckte seine Nase durch das Gitter. Sofort stürzte Indy nach vorne und versuchte, ihn anzugreifen. Frost stand mit gesträubten Nackenhaaren vor dem Zwinger und machte nicht weniger Theater als Indy. Nelly brüllte die beiden an und nahm sich fest vor, mit Dirk zu reden. Indy musste besser versorgt werden oder sie musste ihn woanders unterbringen. Nur wo?

Schweren Herzens ließ sie Indy zurück und betrat Geminis Zwinger. Sieben kleine Welpen krabbelten um sie herum. Unwillkürlich lächelte sie die Kleinen an. Dieses Alter gehörte zu der schönsten Zeit der Aufzucht. In der nächsten Woche würden sie zu ihrem neuen Besitzer wechseln. Auf den ersten Blick war es eine fröhliche Bande. Nelly riss sich von dem Anblick los und ging zum Haus zurück. Es wurde langsam dunkel und merklich kühler. Sie dachte gar nicht daran, Dirks Anweisung zu befolgen. Wenn sie die Verantwortung für Atlantis hatte, würden die Welpen ins Haus kommen. Und zwar alle. Sie trennte den Küchenbereich vom übrigen Haus mit den alten Trennwänden ab, die noch im Gartenhaus standen. Dann holte sie die Welpen und Gemini. Vor Indys Zwinger blieb sie wieder zögernd stehen. Wenn sie Indy mit hineinnehmen wollte, musste sie eine Lösung für Frost finden. Die beiden jungen Rüden würden sich nicht vertragen, das war bereits jetzt deutlich geworden.

„Die Welpen gehen vor“, murmelte Nelly und bereitete das Futter vor. Frost saß neben ihr und verfolgte jede Bewegung mit aufmerksamem Blick und in der Hoffnung, einen Bissen ergattern zu können. Sämtliche Welpen tummelten sich in der Küche und Nelly hatte Mühe, dem Gewusel mit den Füßen auszuweichen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die Kleinen und ließ langsam die Hände sinken. Zwei Welpen waren hektisch in eine Ecke geflüchtet. Kein Wunder, denn die Welpen waren weder an die Küche noch an die Geräusche gewöhnt, die der laufende Geschirrspüler verursachte. Einer der Welpen schien beim Laufen unsicher zu schwanken. Im Moment lag er erschöpft in der Ecke. Nelly versuchte, ihn zu greifen. Panisch ergriff er die Flucht und fiel dabei fast auf die Seite.

„Meine Güte“, murmelte sie und trat vorsichtig einen Schritt zurück. Sie wollte ihn in Ruhe lassen, um seine Panik nicht zu verstärken. Langsam setzte sie sich auf den Fußboden und beobachtete jeden einzelnen der Welpen. Dirk hatte sie bereits mit unterschiedlich farbigen dünnen Halsbändern versehen, sodass sie sie leicht unterscheiden konnte. Der Welpe, der sich jetzt vorsichtig aus der Ecke hervorwagte, trug ein gelbes Halsband. Nelly stand vorsichtig auf und ging ins Arbeitszimmer. Sie brauchte nicht zu suchen. Dirk hatte ihre alte Ordnung beibehalten. Der Ordner mit der Aufschrift „Würfe“ stand am gewohnten Platz. Nelly nahm ihn mit und setzte sich wieder zu den Welpen. Schnell überflog sie die Papiere unter dem Abschnitt „Q-Wurf“. Beim Namen des Vaters stutzte sie: „Don-Juan von der Blauen Grotte“. Das war ungewöhnlich. Dirk hatte bisher Rüden aus der eigenen Zucht genommen. Allerdings stammte die Mutter Gemini selber schon aus einer Halbgeschwisterverpaarung. War Dirk ihrem Rat gefolgt und hatte deshalb einen fremden Rüden gewählt?

Rasch blätterte sie weiter bis zur Ahnentafel des Vaters. Die Mutterseite entlockte ihr einen anerkennenden Pfiff. Diesen Hund hätte sie selber gern in die Zucht genommen. ‚Biscaya von der Blauen Grotte’ war eine Tochter einer Importhündin namens ‚Tinkerbell’s Passion’. Nelly hatte sie auf einer Ausstellung gesehen und war damals begeistert gewesen. Dirk wusste, dass sie immer versucht hatte, einen Nachkommen dieser Hündin einzusetzen. Ihr Blick schweifte über die Welpen und vertiefte sich dann wieder in die Abstammung des Vaters.

„Ach herrje!“, murmelte sie und schlug mit der flachen Hand auf die Klarsichthülle. „Konntest du es doch nicht lassen, Dirk?“ Sie schüttelte den Kopf und sah die Verpaarung auf einmal in einem anderen Licht. Die Abstammung der Mutter von Don-Juan konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass über dessen Vater wieder ‚Excalibur von Camelot’ ins Spiel gebracht wurde. ‚Excalibur’, der ehemalige Zuchtrüde von Karsten Reincke, dem Hauptzuchtwart des Vereins, der gleichzeitig zu Dirks besten Freunden zählte. ‚Excalibur’ war ein Championrüde gewesen und hatte in den acht Jahren seines Lebens unzählige Nachkommen gezeugt. Es gab kaum eine Zucht, die „Excaliburfrei“ war. Zurzeit setzte Karsten Excaliburs Sohn ‚Champ vom Birkenwald’ ebenso erfolgreich ein. Champ war der Vater von Gemini und Geminis Mutter Aphrodite war eine Tochter von Excalibur. Nun brachte der Partner diese Linie noch einmal mit. Dirk verfügte über die gleichen Informationen wie sie und hielt trotzdem an der alten Linienzucht fest. Dies war ein weiterer Grund für ihre Auseinandersetzungen gewesen.

Nelly wandte sich wieder den Welpen zu und suchte ihre Namen aus Dirks Liste, die ordentlich abgeheftet war. Neben den Namen waren die Halsbandfarben vermerkt. Der Welpe mit dem gelben Halsband war ein Rüde namens ‚Quix’. Der Kleine mit dem blauen Halsband gefiel ihr: Er war frech und schien keinerlei Probleme mit der ungewohnten Umgebung zu haben: ‚Quero’. Der dritte und letzte Rüde trug ein dunkelgrünes Halsband und sollte ‚Quirrel’ heißen. Nelly grinste. ‚Squirrel’ – Eichhörnchen.Diese Vokabel hatte im Englischunterricht immer für Heiterkeit gesorgt. Ob Dirk bei der Namensgebung an ihre Schulzeit gedacht hatte?

Die fünf Hündinnen lagen gemeinsam in einer Ecke und schliefen. Nelly blickte auf Dirks Zettel: ‚Quinta’ mit weißem Halsband, ‚Quana’ in Schwarz. Nellys Finger stoppte abrupt beim nächsten Namen. Ihr Herz klopfte und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Die Hündin mit dem roten Halsband hieß ‚Queen Nelly’. Gut, dass Dirk nicht hier war. Für derartige Gesten hatte sie eine Schwäche. Nelly blickte sich ihre Namensvetterin an und streichelte sie.

„Hoffentlich bist du in Ordnung, kleine Königin“, sagte sie leise. Die Hündin öffnete die Augen, seufzte kurz und fiel dann wieder in tiefen Schlaf.

Nelly zog ein Handtuch von der Anrichte und begann, ein wenig mit den Welpen zu spielen. Dabei beobachtete sie genau, wie sie auf Anstrengung reagierten. Abgesehen vom Schwanken bei Quix fiel ihr noch bei Quirrel ein unsicherer Gang auf. Soweit sie das bei dem Durcheinander in der Küche beurteilen konnte.

Nelly zwang sich zur Vernunft. „Ich sehe langsam Gespenster“, murmelte sie. „Der Wurf ist gesund. Dirk hätte mir etwas gesagt, wenn etwas Auffälliges gewesen wäre.“

Nelly ging noch einmal ins Arbeitszimmer und suchte nach den Wurfaufzeichnungen. Sie hatten bereits zwei Würfe mit Gemini gemacht und Nelly war einfach neugierig, wie die Geburt abgelaufen war. Auch das Buch war dort, wo sie es erwartete. Sie überflog ihre eigenen Aufzeichnungen, die beim A-Wurf begannen und beim O-Wurf endeten. Wieder überkamen sie Erinnerungen an durchwachte Nächte. An Dirk, der sie immer wieder beruhigte, wenn sie sich um Hündin oder Welpen Sorgen machte.

„Es war ein Fehler, herzukommen“, murmelte Nelly und blätterte weiter bis zum Q-Wurf. Der Schrift nach stammten die Bemerkungen von Karsten. Knapp und nicht mehr als notwendig. Nur Uhrzeit, Gewicht und Geschlecht der Hunde waren angegeben. Normalerweise reichten diese Daten aus, aber Nellys Notizen beinhalteten zusätzlich persönliche Eindrücke. Sie blätterte zurück zum P-Wurf, für den bereits Karsten und Dirk verantwortlich waren.

„Na“, sagte sie leise zu sich, „haben wir ein bisschen geschummelt?“ Vor dem P-Wurf war fein säuberlich und kaum sichtbar eine Seite herausgetrennt worden. Sie ahnte, was das bedeutete. Offiziell waren fünf gesunde Welpen zur Welt gekommen. Inoffiziell waren es wahrscheinlich mehr gewesen. Aber tote oder nachträglich verstorbene Welpen, aus welchen Gründen auch immer, machten einen schlechten Eindruck. Besser, es gab sie erst gar nicht. „Was nicht passt, wird passend gemacht“, murmelte sie und legte das Buch an seinen Platz zurück.

‚Kein Wunder’, dachte sie grimmig. ‚Karsten kann jetzt ungestört handeln.’ Bereits beim Gedanken an den Hauptzuchtwart des Vereins wurde sie wütend. Karsten hatte seine Chance gesehen und genutzt. Seit ihrem Ausscheiden trat er als Partner von Dirk auf. Sie war sich sicher, dass Karsten sich diesen Vorteil durch eine finanzielle Beteiligung erkauft hatte, denn Dirk brauchte damals dringend Geld. Nelly gähnte. Über der ganzen Grübelei war es spät geworden. Die Welpen schliefen eng aneinander gekuschelt auf einer Decke. Gemini lag in einer anderen Ecke und White Frost lag wie immer an ihrer Seite. Alles war still.

Nelly stand auf, streckte sich und ging ins Schlafzimmer. Zögernd blieb sie auf der Schwelle stehen. Das Bett war frisch bezogen. Vorsichtig nahm Nelly das Foto vom Nachtschrank und betrachtete es lange. Ein Porträt von Dirk und ihr, das bereits einige Jahre alt war.

‚Ein Traumpaar’, dachte sie ironisch. „Damals waren wir glücklich. Richtig glücklich und verliebt“, sagte sie zu sich selbst. „Und all die Träume sind jetzt Vergangenheit.“ Durch das leicht geöffnete Fenster kam kühle Winterluft herein. Die dünnen, fliederfarbenen Gardinen bewegten sich leicht im Windzug. Nelly biss sich auf die Lippen und verbannte die Erinnerungen aus ihren Gedanken. Dirk hatte ein zweites Kopfkissen bezogen und eine rote Rose darauf gelegt. Vorsichtig löste Nelly den Zettel, der darunter lag. „Schlaf gut und träum’ was Schönes. Ich bin bald wieder bei dir. In Liebe Dirk.“

„Puh“, seufzte Nelly und grinste, als Frost ohne zu zögern auf das Bett sprang. „Komm da runter, Frost. So schwer es mir fällt: Es gibt Dinge, die verzeihe ich ihm nicht. Du gehörst dazu und Indy auch“, sagte sie entschlossen, legte den Zettel wieder unter die Rose, warf das Bild achtlos auf die Bettdecke, schob White Frost aus dem Schlafzimmer, löschte das Licht und zog die Tür hinter sich zu. Sie holte sich eine Decke und legte sich auf die Couch im Wohnzimmer.

3

Nelly blickte erstaunt auf die Uhr. Es war erst Samstag Mittag. Dirk würde frühestens morgen zurückkommen. Trotzdem hatte es geläutet und Indy war bellend zur Tür gestürzt.

„Boah, Indy, kratz nicht so an der Tür rum. HÖR AUF!“, schrie Nelly und zog ihn am Halsband zur Seite. Sie öffnete die Tür.

„TIM?!“ Überrascht liess sie Indys Halsband los. .

„Das siehst du falsch“, sagte Tim fröhlich und hielt ihr zwei Kartons entgegen. „Ich bin der Pizzamann.“

Indys Gebell war inzwischen in Jaulen übergegangen. Quiekend und wedelnd umkreiste er Tim.

„Frost?“, fragte er erstaunt.

„Nein, das ist Indian Spirit, genannt Indy.“ Nelly errötete, als sie hinzufügte: „Frost ist im Zwinger. Indy hat Zuwendung nötiger als Frost. Du kannst mir gleich helfen, ihn zu baden.“

„Machst du allen Pizzamännern so merkwürdige Angebote?“, fragte Tim. Er hatte sich zu Indy hinabgebeugt und streichelte ihn. Zwischen Tim und dem Hund bestand auf Anhieb Sympathie. Indy stand mit den Vorderpfoten auf Tims Knien und leckte ihn ab.

„Der mag mich“, stammelte Tim fassungslos.

Nelly lachte. „Ja. Das kommt vor. Nun komm schon rein. Bevor die Pizza kalt wird.“ Sie verspürte plötzlich enormen Hunger. Kein Wunder, gestern Abend hatte sie nichts gegessen und heute Morgen nur eine Tasse Kaffee getrunken.

„Ich war einfach neugierig“, sagte Tim. „Du hast mir so viel von Atlantis erzählt. Ich wollte wissen, wie es hier aussieht.“ Er sah sich neugierig um. „Die Rückkehr hierher war nicht einfach, was?“ Nelly schwieg einen Moment und überbrückte die Stille, indem sie zwei Teller und Gläser aus dem Schrank holte.

„Sieh dir Indy an“, sagte sie bedrückt. „Er war mein Hund. Sein Fell ist verfilzt, er ist abgemagert und sein Zwinger war verdreckt. Zwei der Welpen sind anscheinend krank und keiner hat es bemerkt. Oder wollte es nicht bemerken. Morgen früh kommen Welpenkäufer und ich weiß nicht, was ich denen sagen soll.“

„Iss erst einmal was“, sagte Tim tröstend und setzte sich.

„Du bist ein Schatz“, sagte Nelly und griff nach dem ersten Stück Pizza. Tim gab Indy ein Randstück und beobachtete die Welpen.

„Sag mal“, fragte Nelly, nachdem sie ihn eine Weile beobachtet hatte. „Hast du nicht gesagt, du magst keine Hunde?“

„Ich mag Frost nicht. Weil er mich immer so belauert. Indy könnte ich glatt mitnehmen. Aber ich bin wohl zu viel unterwegs“, fügte er traurig hinzu. Indy hatte es sich inzwischen neben Tim bequem gemacht und gab fleißig Pfötchen, um noch mehr Pizzarand zu ergattern.

„Was ist mit den Welpen?“, nahm Tim das Gespräch wieder auf.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein. Achte einmal auf die Bewegungen und ob dir etwas auffällt.“ Tim nickte und sah sich die Welpen genau an. Nelly setzte sich auf den Fußboden und spielte mit ihnen. Sie sollten sich ein wenig anstrengen.

Nach einiger Zeit sagte Tim nachdenklich: „Der Kleine mit dem gelben Halsband. Er schwankt so komisch. Und der Grüne auch, aber nicht so schlimm. Ist es das, was du meinst?“ Nelly nickte. Tims Beobachtung deckte sich mit ihren Eindrücken. Schwanken. Nelly vergrub ihren Kopf in den Händen. Tim fasste vorsichtig ihr Handgelenk und suchte ihren Blick.

„Was bedeutet das, Nelly?“

„Das kann – muss nicht – einen Herzfehler bedeuten. Die Mutter, Gemini von Atlantis, stammt aus einer Halbgeschwisterverpaarung. Der Vater beider Hunde ist Excalibur von Camelot.“

Tim lachte, als er den Namen hörte.

Nelly fuhr ernst fort: „Ich kann es so schlecht erklären.“ Sie holte den dicken Ordner mit Ahnentafeln der Hunde und zeigte ihm die Abstammung der Q-Welpen.

„Excalibur von Camelot kommt zusätzlich noch in der Vaterlinie vor. Er ist der Vater von Mika of White Phoenix. Der Großvater von Excalibur war ein Rüde aus dem J-Wurf von Arctic Wonderland. Dieser Wurf hatte schwere Herzprobleme, von denen wir allerdings erst erfahren haben, als die Tochter der damaligen Züchterin die alten Unterlagen durchgesehen hat. Aus diesem J-Wurf wurden zwei Rüden stark eingesetzt oder besser, einige ihrer Nachkommen. Einer ist besagter Excalibur von Camelot. Aber viel schlimmer ist eine andere Sache dabei. Champ vom Birkenwald, der Vater von Gemini, hat eine Mutter namens Ygrec von Arctic Wonderland. In Ygrecs Linie wurde eine Jupiter-Tocher wieder mit Jupiter belegt. J-Wurf Arctic Wonderland. Inzest auf einen Herzfehlerwurf erster Güte. Über die Mutter von Ygrec kommt der J-Wurf erneut in die Linie.“ Nelly seufzte. „Gemini allein ist schon eine Katastrophe. Die Linie noch einmal obendrauf ist einfach Wahnsinn.“

Tim hatte sich in die Ahnentafel vertieft und analysierte sie.

„Ich sehe nicht einen Hund mit ‚J’“, sagte er langsam.

Nelly ging um den Tisch und blickte ihm über die Schulter. „Nein. Und so wie du sehen es auch die Welpenkäufer.“ Nelly schlug den N-Wurf auf. In der Klarsichthülle steckte eine Ahnentafelkopie von Champ vom Birkenwald, die sie Tim gab.

„Bitte schön. Das ist Champs Ahnentafel.“

Tim vertiefte sich einen Moment in die Daten. „Moment mal. Der F-Wurf von White History. Das sind doch Geschwister, oder?“ Er zeigte mit dem Finger auf die Namen und dachte konzentriert nach. Nelly nickte erstaunt. Tim hatte in Windeseile das Wesentliche in den Verpaarungen erkannt.

„Nicht direkt“, antwortete sie. „White History hat zweimal die gleichen Hunde verpaart, nämlich ‚Aurora of White History’ mit ‚Benji vom Hause Scholz’. Man bezeichnet das als Wurfwiederholung, die im Übrigen auch umstritten ist. ‚Carpe Diem’ und ‚Deluxe’ haben deshalb unterschiedliche Anfangsbuchstaben, sind aber trotzdem abstammungsmäßig Geschwister.“

„Gut“, sagte Tim nachdenklich. „Champs Vater Excalibur entstammt also mütterlicherseits einer Geschwisterverpaarung und in der Vaterlinie sitzt der problematische ‚Jaguar’ von Arctic Wonderland. Puh, das sieht übel aus.“

Nelly zuckte die Schultern. „Dass es im J-Wurf Herzfehler gab, wissen wir noch nicht lange“, entschuldigte Nelly. „Die Züchter halten oft den Mund, um ihre Zucht nicht in Verruf zu bringen.“

Tim schüttelte ungläubig den Kopf. „Die armen Welpenkäufer! Wie sicher sind denn die Infos zum J-Wurf?“

„Aufzeichnungen der Züchterin“, antwortete Nelly ernst. „Und Probleme in der eigenen Zucht. Aus unserem N-Wurf, der Anfang letzten Jahres geboren wurde, lebt nur noch ein Hund. Der vitalste von den Welpen, ein Rüde namens ‚Nurmi’, kippte im letzten Jahr tot um. Einfach so.“

Tim nahm den Ordner und schlug den N-Wurf auf. „Ich würde sagen, du hast recht.“ Tim blätterte langsam weiter bis zum P-Wurf. Dann blickte er auf. „Jetzt beginne ich langsam, dich zu verstehen, Nelly“, sagte er. „Du hast mit Frost versucht, dem ein Ende zu bereiten. Und niemand hat dir geglaubt.“

Tim dachte an ihren ersten gemeinsamen Nachmittag in seiner Wohnung. Nelly brauchte einen Internetzugang, über den er verfügte. Damals verstand er ihre Aufregung über die Wurfankündigung des P-Wurfes nicht. Jetzt, nachdem er die Ahnentafeln gesehen und Erklärungen dazubekommen hatte, wurde ihm vieles klar und er verstand Nellys unbeschreibliche Wut.

„Was ist aus den P’s geworden?“,

„Ich weiß es nicht“, antwortete Nelly. Die herausgerissene Seite verschwieg sie.

„Und du, mein Freund?“, fragte Tim in Richtung Indy. „Wie sehen deine Ahnen aus?“

„Der I-Wurf war mein Wunsch. Indys Vater hatte es mir vom ersten Moment angetan.“ Tim blätterte im Ordner zur Ahnentafel von Indian Spirit of Atlantis.

„Was bedeutet ‚unbekannt’ hinter Snow Queen?“, fragte Tim. „Kann das sein, dass da auch noch die gleichen Hunde drin stecken?“

„Nein, mit Sicherheit nicht. Snow Queen hat nichts mit unseren Hunden zu tun“, sagte Nelly. Tim nickte und fragte nicht weiter. Er strich Indy über den Kopf.

„Nicht wirklich schön, aber erträglich. Musstet ihr ausgerechnet mit Excalibur anfangen?“

„Das frage ich mich inzwischen auch. Komm mal mit.“ Sie zog Tim zur Fotowand im Eingangsbereich des Hauses.

„Das ist Excalibur“, sagte sie und wies auf einen langhaarigen, schneeweißen Rüden, der anscheinend genau wusste, dass er fotografiert wird. Er blickte selbstbewusst in die Kamera.

„Und außer der Geschwisterverpaarung von White History ist Excalibur ja linienmäßig in Ordnung. Von Jupiter wussten wir nichts.“

„Bist du sicher, dass niemand davon wusste?“, fragte Tim provozierend.

Nelly nahm den Ordner mit den Ahnentafeln, schlug ihn langsam zu und stellte ihn bedächtig zurück ins Regal. Dann antwortete sie: „Nein. Beschwören würde ich das jetzt auch nicht mehr. Karsten traue ich zu, ihn auch mit dem Wissen einzusetzen.“

Tim nickte. „Glaubst du tatsächlich, Frost hätte das alles retten können?“, fragte er.

„Nein“, antwortete Nelly bestimmt. „Das hätte er nicht. Sein Urgroßvater ist Arctic Wonderlands Jupiter. Ich werde keine Verpaarung mit einer Hündin zulassen, die einen Hund aus Wonderlands J-Wurf in den Ahnen hat. Damit scheiden fast alle Atlanter aus. Er allein könnte keine Zuchtlinie retten. Wir haben zu viel falsch gemacht. Aber ihn zu integrieren, wäre ein Anfang. Ein Schritt in eine andere Richtung. Er bringt viele gute Eigenschaften und Voraussetzungen mit.“

Tim blickte die kleinen Welpen an.

„Du solltest sie untersuchen lassen.“

„Und dann?“

„Wüsstest du Bescheid.“

„Vielleicht ist es besser, wenn ich es nicht weiß.“ Tim sah sie forschend an.

„Das letzte Mal, als ich gegen Karsten und Dirk angetreten bin, hat es Frost fast das Leben gekostet. Irgendetwas ist passiert, das ihm heute noch Angst macht. Aber er ist in der Zucht. Dieses Ziel habe ich erreicht. Damit sollte ich zufrieden sein. Wenn sich seine Welpen vielversprechend entwickeln, wovon ich ausgehe, dann werden andere Züchter auf ihn aufmerksam.“

„Und wenn Dirk oder Karsten Frost angreifen? Wenn sie behaupten, irgendwelche Krankheiten kämen von Frost? Wäre es dann nicht gut, einen Gegenbeweis zu haben? Mit Untersuchungsergebnissen hättest du zumindest etwas in der Hand.“

„Ach Tim, ich weiß nicht. Ich befürchte, damit würde alles nur noch schlimmer.“

„Soll ich fahren? Ich bin neutraler“, fragte er. Leise fügte er hinzu: „Du bist nicht allein, Nelly. Du hast Freunde, die dir helfen werden.“

„Ich vernichte, was ich selber aufgebaut habe. Mein Atlantis.“

„Nein! Du wehrst dich nur gegen das, was andere daraus gemacht haben. Komm schon.“ Er reichte ihr die Hand. Nelly zögerte und sah zweifelnd erst Tim, dann die Welpen an.

„Ja. Gut. Womöglich können wir etwas für die Kleinen tun“, sagte sie entschlossen und stand auf. Gemeinsam holten sie Transportboxen und fuhren zur Tierklinik.

4

Sichtlich wütend zappelte Quero in Nellys Armen. Er wusste genau, was er wollte und was nicht. Nelly versuchte ihn zu beruhigen, spürte aber sofort seine spitzen Welpenzähnchen in der Hand.

„Meine Güte, bist du ein Teufel“, brummte sie, ließ ihn laufen und grinste die Welpenkäufer an. Sie saßen gemeinsam im Wohnzimmer von Atlantis.

„Schauen Sie, der Kleine ist vom Temperament genau das, was Sie sich vorgestellt haben.“ Nelly versuchte, die Aufmerksamkeit der Interessenten auf Quero zu lenken.

„Ja, sie sind alle ganz niedlich“, bestätigte Magdalene, die mit ihrem Mann und ihrer 12jährigen Tochter Anna auf dem Fußboden saß.

„Aber der mit dem gelben Halsband ist einfach mein Favorit“, fuhr sie fort. „Sie sagten doch, wir wären die Ersten, da kann er doch noch nicht vergeben sein.“ Nelly blickte Quix an. Der Kleine lief unsicher auf Magdalenes Tochter zu. Sein leises Keuchen rief sofort die Erinnerungen an die Tierklinik in Nelly wach. Tim, der sie tröstend in den Arm genommen hatte, als der Tierarzt ihren Verdacht bestätigte. Vier Welpen, darunter ‚Queen Nelly’, waren unauffällig. Bei zwei Welpen riet der Tierarzt zu weiteren Untersuchungen. Quix’Verhalten war so auffällig, dass die Diagnose auf der Hand lag. Ein Jahr, vielleicht zwei, würden dem Kleinen vergönnt sein. ‚Quirrel’ und ‚Quinny’ sollten weiter beobachtet werden. ‚Quirrel’ war der Rüde mit dem grünen Halsband. Beim Verlassen der Klinik musste Tim Nelly stützen. Er kannte sie als tatkräftige und zielstrebige Frau. Als sie im Auto saß, verlor sie vollkommen die Fassung und begann, haltlos zu weinen. Seine unbeholfenen Versuche, sie zu trösten, wehrte sie ab. Erst in Atlantis hatte sie sich ein wenig beruhigt. Tims Angebot, bei ihr zu bleiben, schlug Nelly aus. Selbst wenn Tim nur ein guter Freund war: Ein fremder Mann bei ihr in Atlantis, diese Vorstellung widerstrebte ihr. Sie musste in Ruhe über die Ereignisse nachdenken.

„Schau mal, er läuft doch so niedlich“, rief Anna. Nelly blickte auf und fand langsam in die Realität zurück. Sie wollte Quix nicht verkaufen, schon gar nicht an diese Interessenten, die sich einen sportlichen Begleiter wünschten. Falls dem Kleinen überhaupt noch geholfen werden konnte, würde es teuer werden. ‚Nurmi’ war viel kräftiger und lebenslustiger gewesen als ‚Quix’. Er hatte das erste Lebensjahr nicht überlebt. Nelly unternahm einen weiteren Versuch, die Interessenten unauffällig in der Auswahl zu manipulieren.

„‚Quero’ würde für Ihre Verhältnisse viel besser passen. Wenn der Hund Ihre Tochter beim Training begleiten soll, wäre ‚Quero’ erste Wahl“, sagte sie. „Ich habe die Welpen länger vor Augen als Sie und als Züchter versuche ich natürlich, Ihnen den passenden Welpen zu geben“, fügte sie freundlich hinzu. ‚Quix’ brauchte ein ruhiges Leben und keine Marathon-Jogging-Touren durch die Wälder. Das würde ihn umbringen.

„Meine Damen möchten ‚Quix’, das haben sie doch klar geäußert. Da gibt es keine Diskussionen“, beendete der Familienvater Nellys Hoffnung, die Käufer umstimmen zu können. Ihr war elend. Dieser Welpe war schwer krank. Dirk und vor allem Karsten würden diesen Leuten den Hund zum normalen Preis verkaufen. Dirk brauchte Geld und Karsten war in dieser Hinsicht skrupellos. Wenn der Welpe starb: Pech. Es stand ihr nicht mehr zu, sich in die Belange von Atlantis einzumischen. Sie hatte nur für zwei Tage einige Welpen zu beaufsichtigen. Ihr Gewissen meldete sich und sie entschloss sich zu einer Alternative.

„Gut. Ich trage sie bei ‚Quix’ ein. Aber ich möchte Ihnen raten, sich den Gesundheitszustand attestieren zu lassen. Insbesondere in Bezug auf Herzfehler.“ Den letzten Satz sagte sie sehr leise. Nelly wusste genau, dass sie Dirk und Karsten damit öffentlich schlimmster Zuchtfehler beschuldigte. Ihre Loyalität zu Atlantis stand bisher nicht infrage, immerhin steckte jahrelange Arbeit in ihrer Zucht.

„Wollen Sie damit sagen, dass der Zwinger kranke Hunde verkauft?“ Magdalene reagierte mit Entsetzen auf Nellys Ratschlag. Ihr Tonfall veranlasste Nelly, die Aussage abzuschwächen. „Nein. Ich habe lediglich einen Rat gegeben. Ein schwankender Gang kann durchaus einmal vorübergehend auftreten und muss nichts zu bedeuten haben. Dennoch könnte es auch ein Hinweis auf Herzfehler sein. Unwahrscheinlich, aber wir sollten es von vornherein ausschließen.“ Der Tierarzt würde sie schon aufklären.

„Armer kleiner Quix“, dachte sie. „Hoffentlich kannst du dein kurzes Leben genießen.“

„Dann wäre es doch angebracht, diesen Welpen vor dem Verkauf zum Tierarzt zu bringen“, hakte Magdalene nach.

„Vielleicht hat Dirk das auch getan“, antwortete Nelly neutral. Sie stand auf, um die Pfütze zu beseitigen, die ‚Quinny’ gerade auf dem Fußboden hinterließ. Kurz darauf entschlossen sich die Welpenkäufer zum Aufbruch. An der übereilten Verabschiedung merkte Nelly, dass sie Dirk alle Einzelheiten berichten würden. Oder Karsten, was das Ganze noch schlimmer machen würde.

„Das habe ich nun von meiner Gutmütigkeit“, murmelte Nelly. „Hätte ich mich doch bloß nicht bequatschen lassen. Das Wochenende hätte so schön sein können.“

Sie brachte die Welpen in den Zwinger zurück. Dirk brauchte nicht zu merken, dass sie seine Anweisungen ignoriert hatte. Als sie die Küche aufräumte, versuchte White Frost, zur Haustür zu stürzen.

„Bleib hier, Frost“, sagte Nelly, klammerte sich an ihre Tasse Kaffee und blickte um die Ecke. Sie erwartete Dirk erst in einigen Stunden, wer machte sich da an der Tür zu schaffen? Frosts Nackenfell sträubte sich.

„Nelly?“ Nelly schloss die Augen. Karsten. Der letzte Mensch, den sie jetzt hier gebrauchen konnte.

„Ja?“, antwortete sie.

„Moin“, grüßte er unverbindlich, kam in die Küche und nickte ihr zu. Nelly war auf der Hut. Karsten hasste sie und das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Nach außen schafften es beide, halbwegs normal miteinander umzugehen. Selbst ihre Freunde ahnten nicht, wie schlecht ihr Verhältnis tatsächlich war. Karsten warf seine Jacke und seine Mütze auf den Küchenstuhl. Er war groß und kräftig. Die Haare trug er extrem kurz und seine Kleidung war normalerweise nicht besonders modisch, sondern einfach nur praktisch. Meistens hatte Nelly ihn im Trainingsanzug des Hundesportvereins gesehen. Heute trug er Jeans und einen dicken Wollpullover.

‚Was ihn nicht wirklich attraktiver macht’, dachte Nelly böse.

„Kaffee?“, fragte sie und deutete auf die Kaffeemaschine. Karsten nickte.

„Wie ist es mit Ocean gelaufen?“, erkundigte Nelly sich beiläufig, während sie eine neue Tasse aus dem Schrank nahm.

„Ocean?“, fragte er erstaunt. „Wieso Ocean?“

„Dirk ist doch seinetwegen gefahren“, sagte Nelly erstaunt.

Karsten lachte gutmütig. „Er hat dir gesagt, er fahre wegen Ocean?“, fragte er amüsiert. „Und ich habe mich schon gewundert, weshalb du ihm die Welpen abgenommen hast. Du Ahnungslose, du.“ Nelly wusste nicht, worauf er hinaus wollte, aber Karsten redete bereits weiter.

Seine Schadenfreude war nicht zu überhören. „Ocean habe ich in den letzten Wochen ausgebildet. Warum sollte Dirk ihn führen? Ich habe ihn durch die Zuchttauglichkeitsprüfung geführt und es war kein Problem“, sagte er selbstbewusst.

Nelly überlegte, worauf er hinaus wollte. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, griff sie nach der Kaffeekanne und goss ihm den Kaffee ein.

„Dirk“, sagte Karsten und sie spürte seinen forschenden Blick. „Dirk war mit Melanie dort. Und als ich vorhin losfuhr, waren die beiden noch nicht aufgestanden.“

Für einen Moment hatte Nelly sich nicht unter Kontrolle. Der Kaffee lief über den Tassenrand, bildete eine Pfütze auf der Anrichte und tropfte von dort aus auf den Boden. Erschreckt stellte Nelly die Kanne ab. „Er ist mir keine Rechenschaft schuldig“, murmelte sie und bückte sich, um den Kaffee aufzuwischen.