Wider das Vergessen - Anne Friedberg - E-Book

Wider das Vergessen E-Book

Anne Friedberg

0,0

Beschreibung

14 Geschichten über Opfer und Täter im Dritten Reich, über Widerstand und innere Immigration, über Schuld und Sühne, über die Verantwortung des »Nie wieder!«.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 76

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Table of Contents

Anne Friedberg: Wider das Vergessen

Impressum

Ein Rest von Menschlichkeit

Das Versprechen

Das einzig Richtige

Helden

Sieben Tage

Mutter und Kind

Neugier

Gepanschte Milch

Lea

Mein Tagebuch

Die Zeitzeugin

Tanzen

Ein ganz normaler Tag

Vor Gericht

Anne Friedberg

Wider das Vergessen

Geschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus

 

Erstausgabe

Juni 2025

Verlag NeuWerk

Ein Imprint der Kulturmaschinen Verlag UG (haftungsbeschränkt)

97199 Ochsenfurt

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden

Der Kulturmaschinen Verlag verbietet die Nutzung aller Teile des Buches zu KI-Trainingszwecken.

Umschlaggestaltung: Sven j. Olsson Satz: Dino Sirji

Druck: Libri Plureos GmbH

978-3-910300-11-8 (Kart.)

978-3-910300-12-5(Geb.)

978-3-910300-13-2(ePUB)

EIN REST VON MENSCHLICHKEIT

Ich sitze im Zimmer auf einem Stuhl und schaue auf das Fenster, durch dessen zurückgezogene Vorhänge ein fahles Morgenlicht fällt. Den Wintermantel habe ich bereits angezogen und den gepackten Handkoffer neben mich gestellt.

Sie werden gleich kommen, mich zu holen. Ich spüre, dass es heute sein wird, denn sie waren länger nicht mehr in unserer Straße.

Hilfst du mir dann, indem du mich küsst? Du weißt, wenn du mich küsst, fühle ich mich stets geborgen und sicher. Dann sehe ich uns unter der alten Eiche, im Park gegenüber, an den Stamm gelehnt sitzen und lesen. Du legst den Arm um mich und sagst: »Hör zu, Ella, ich lese dir mein neues Gedicht vor.« Ich lasse meine Hand über freiliegende knorrige Wurzeln des Baumes wandern, fühle die kühle braune Erde, die leicht modrig riecht, und wenn der Wind geht, rascheln die Blätter sacht hoch über unseren Köpfen. Und während ich dir zuhöre, schaue ich spielenden Kindern zu, Müttern, die den Kinderwagen über den Weg schieben, Fahrradfahrern, die sie in weiten Bögen umfahren und dem Hund, der am Stamm des Baumes schnüffelt oder auch mal an unseren nackten Beinen.

Wir lachen und küssen uns, dein Mund liegt auf meinem und dein Atem riecht nach Karamell, nach Luft und Freiheit, nach Leben. Wir waren glücklich, wie lange ist das her?

Ich habe über ein Jahr nach dir gesucht, bin die Plätze in der Stadt abgelaufen, die Straßen in unserem Viertel, mit einem Foto von dir in der Hand, das ich in der Innentasche meines Mantels versteckt habe. Es gehört zu den wenigen Dingen, die mir geblieben sind, mir Halt geben und mir sagen, wofür ich lebe.

Den Schmuck meiner Mutter habe ich Stück für Stück unserem Vermieter gegeben, damit er mich weiter hier wohnen lässt. Das Geld habe ich fast verbraucht. Ich habe Menschen damit bestochen, mir zu sagen, wo ich dich finden kann. Keiner weiß etwas Genaues. Max, dein Arbeitskollege, hat mir erzählt, dass du fliehen konntest, als alle Zwangsarbeiter der Firma festgenommen wurden, du seist Richtung Alexanderplatz gelaufen. Also wolltest du nach Hause kommen?

Max geht davon aus, dass sie dich mit einem der Sammeltransporte nach Osten verbracht haben, in eins der neu erbauten Lager. »Ella, es kann nicht anders sein«, hat er gemeint, »glaube mir.«

Ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben soll oder kann.

Ich trage den Stern, wie befohlen, ich habe meinen Arbeitsplatz geräumt, ich gelte nicht mehr als Deutsche, ich bin nur noch Ella Sara. Aber ich will nicht mehr ohne dich sein, ich will mich nicht länger verstecken müssen, ich will ein wenig Würde behalten und deshalb sitze ich hier.

Sie kommen.

Ich ziehe den Mantel enger um mich. Etwas hält mich auf dem Stuhl, etwas lähmt mich, dabei möchte ich doch lieber wieder weglaufen, mich verstecken, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich schließe die Augen. Küss mich, küss mich, bitte.

Das Brummen der Laster wird lauter, sie fahren dröhnend auf unser Haus zu, kommen quietschend zum Stehen, die Sicherheitspolizei bellt die Befehle heraus, die Haustür wird durch wuchtige Schläge aus dem Schloss gesprengt, die Klingeln schrillen durch das stille Haus, schwarze Stiefel poltern die Treppe hoch, die knarzt und ächzt, als wäre sie es müde, dass ständig auf ihr herumgetrampelt wird, meine Wohnungstür fliegt auf und schlägt mit einem Knall gegen die Wand, die Gestalt in der schwarzen Uniform füllt den Türrahmen aus.

Küss mich, küss mich, jetzt. Leg deinen Mund auf meinen, ich muss deine warmen Lippen spüren mit dem Geschmack nach Karamell, ich spüre sie, ich spüre sie wirklich und mein Mut kehrt zurück. Ich öffne die Augen.

Der Polizist geht mit verschränkten Armen um mich herum, begutachtet jeden Zentimeter meines Körpers, blickt mich prüfend und lauernd an, er hält jetzt die Peitsche in der Hand und wippt auf den Fersen, ich kann seinem Blick standhalten, ich schaue ihn an.

Er geht langsam rückwärts zur Tür, wir schauen uns in die Augen, bis er sich zur Treppe dreht und hinunter brüllt: »Hier oben ist keiner mehr, alle ausgeflogen.«

Ich rühre mich nicht und bleibe sitzen, ich höre ihn die Treppe hinunter stürmen, ich höre das Jammern derjenigen, die unter wüsten Beschimpfungen und den Knüppeln der Sicherheitspolizei gewaltsam aus dem Haus getrieben werden. Ich halte mir die Ohren zu, wiege den Oberkörper hin und her und weine lautlos.

DAS VERSPRECHEN

Gloria wälzte sich auf der harten Matratze hin und her. Sie konnte nicht einschlafen; die vielen Geräusche um sie herum, die Enge des Raums, der Hunger und der Geruch, der über der Zelle hing, ließen es nicht zu. Und vor allem der Gedanke an das Ereignis, das sie hierhergebracht hatte, quälte sie, tagsüber und noch mehr nachts. Sie wäre natürlich nicht verhaftet worden, wenn sie nicht in der Stadt auf diesen Jungen in seiner Uniform gestoßen wäre.

Sie hatte die Klinke der Ladentür zu Simonsons Kurzwarengeschäft schon in der Hand gehabt, als hinter ihr eine helle Stimme ertönte: »Verräter!«

Sie hatte sich umgedreht und diesen selbstgefälligen Knaben in seiner ihm noch zu großen HJ Uniform gesehen. Wie alt war der, zehn, elf?

»Du darfst nicht bei Juden kaufen. Du bist ein Vaterlandsverräter,« wiederholte der Junge.

Was bildete der sich ein, dieser … Pimpf. Sie ging zu ihm, stellte sich vor ihn hin und musterte ihn von oben bis unten.

»Was war das? Du, du sagst mir nicht, was ich darf und was nicht,« sagte sie, »verstanden?« Sie gab ihm eine Ohrfeige und starrte ihn voller Zorn an. »Verstanden, habe ich gefragt.«

Der Junge rannte weg.

Als sie nach einer Weile wieder aus dem Geschäft kam, standen da der Junge und ein Polizist.

Der Polizist sagte: »Ich muss Sie mit auf die Wache nehmen.«

Wollte der Junge sie anzeigen, weil sie ihm eine Ohrfeige gegeben hatte? Rasch fragte sie: »Können wir das nicht hier klären? Es tut mir leid, dass ich den Jungen geschlagen habe.«

»Siehst du«, wandte sich der Polizist an den Knaben, »das tut ihr schon mal leid. Du kannst jetzt gehen.« Und an sie gerichtet: »Sie kommen mit.«

Auf der Wache wurde sie ohne Begründung festgenommen.

»Sie können mich doch nicht so einfach festnehmen! Und mein Mann, ich muss doch meinen Mann benachrichtigen. Er weiß doch nicht, wo ich bin«, erboste sie sich.

Der Polizist meinte nur achselzuckend: »Ich kann alles. Und wenn Ihr Mann Sie vermisst, dann wird er sich schon bei uns melden«, grinste er.

Fünf Tage später erhielt sie einen durch die Polizei geöffneten Brief von Ludwig mit geschwärzten Stellen. Sie las, dass er sie zwar nicht im Gefängnis besuchen, ihr aber einen Brief schreiben dürfe. Er empfahl ihr, sich nicht so aufbrausend der Polizei gegenüber zu verhalten, dann werde sie auch bald entlassen, das habe man ihm gesagt. Leicht beschämt gestand sie sich ein, dass ihr Aufbegehren gegen die Inhaftierung ihr bereits genug Ärger eingebracht hatte. Wegen des »Randalierens in der Zelle« war sie in eine Sammelzelle mit zehn weiteren Frauen verlegt worden. Hier fügte sie sich ein, weil die Frauen sie unmissverständlich aufforderten, den Mund zu halten. So bat sie nur höflich, wenn die Luke der Zellentür geöffnet wurde: »Bitte, wann werde ich entlassen?« Der jeweilige Polizist überhörte regelmäßig ihre Frage.

Nach weiteren zwei Wochen in dem improvisierten Gefängnis in Berlins Hedemannstraße erhielt sie nach einem Verhör den Schutzhaftbefehl ausgehändigt. Verständnislos las sie die Begründung: Frau Gloria Weinhauser wird wegen des Verdachts hoch- und landesverräterischer Betätigung in Schutzhaft genommen.

»Was soll das denn heißen? Was habe ich denn getan?« Mühsam beherrschte sie sich. Bloß nicht ausfällig werden. Der Polizist lehnte sich genüsslich in seinem Stuhl zurück:

»Sie erinnern sich nicht an Ihren Einkauf in dem jüdischen Geschäft?«

»Ja doch, sicher. Warum, das darf ich doch.«

»Noch nichts von dem Boykott am 1. April gehört, zu dem unsere Partei aufgerufen hatte? Nichts von unseren Plakaten bemerkt? Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!« Herablassend setzte er hinzu: »Dann wissen Sie es jetzt.«