Widerspruch zwecklos? - Jannike Zimmermann - E-Book

Widerspruch zwecklos? E-Book

Jannike Zimmermann

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Beschreibung

Angesichts des eklatanten Mangels an Organspender:innen in Deutschland wird die Einführung der Widerspruchlösung hierzulande immer wieder kontrovers diskutiert. Befürworter:innen dieser gesetzlichen Regelung verweisen auf die höheren Spenderzahlen in anderen europäischen Ländern, die die Widerspruchslösung praktizieren, und erblicken in ihr ein effektives Instrument zur Steigerung von Organspenden. Aus Sicht der Kritiker:innen wiederum lässt sich die Einführung der Widerspruchslösung aufgrund verfassungsrechtlicher und ethischer Bedenken sowie aufgrund von Zweifeln an ihrer Effektivität nicht rechtfertigen. Jannike Zimmermann analysiert neben Ausmaß und Ursachen des Organmangels in Deutschland auch die Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung und leistet einen wichtigen Beitrag zu der anhaltenden Debatte über einen Spenderregelungswechsel.

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Jannike Zimmermann

Widerspruch zwecklos?

Über die Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung bei der postmortalen Organspende

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Angesichts des eklatanten Mangels an Organspender:innen in Deutschland wird die Einführung der Widerspruchlösung hierzulande immer wieder kontrovers diskutiert. Befürworter:innen dieser gesetzlichen Regelung verweisen auf die höheren Spenderzahlen in anderen europäischen Ländern, die die Widerspruchslösung praktizieren, und erblicken in ihr ein effektives Instrument zur Steigerung von Organspenden. Aus Sicht der Kritiker:innen wiederum lässt sich die Einführung der Widerspruchslösung aufgrund verfassungsrechtlicher und ethischer Bedenken sowie aufgrund von Zweifeln an ihrer Effektivität nicht rechtfertigen. Jannike Zimmermann analysiert neben Ausmaß und Ursachen des Organmangels in Deutschland auch die Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung und leistet einen wichtigen Beitrag zu der anhaltenden Debatte über einen Spenderregelungswechsel.

Vita

Jannike Zimmermann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Center for Life Ethics an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Die vorliegende Arbeit wurde von ihr im Jahr 2021 als Masterarbeit im Fach Komplexes Entscheiden an der Universität Bremen eingereicht.

Für Octavio und Artemis

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

Teil I

1.

Einführung

1.1

Die medizinische Dimension der Organtransplantation

1.2

Der Ablauf einer postmortalen Organspende in Deutschland

1.3

Ausmaß und Entwicklung des Organmangels in Deutschland

2.

Die Bedeutung der Widerspruchslösung als Gegenstand der Forschung

2.1

Ursachen des Organmangels

2.1.1

Infrastrukturelle Ursachen

2.1.2

Entscheiderbasierte Ursachen

2.1.3

Zwischenergebnis

2.2

Die gesetzgeberische Dimension der Widerspruchslösung

2.2.1

Episode I: Der erste Gesetzgebungsversuch

2.2.2

Episode II: Der zweite Gesetzgebungsversuch

2.2.3

Episode III: Die erste Reform des TPG

2.2.4

Episode IV: Die zweite Reform des TPG

2.2.5

Zwischenfazit

2.3

Forschungsfrage

Teil II

3.

Rechtfertigbarkeitskriterium I: Effektivität

3.1

Erklärungen für die höhere Effektivität der Widerspruchslösung

3.2

Die statistische Überlegenheit der Widerspruchslösung

3.2.1

Multivariate Ländervergleichsstudien

3.2.2

Methodologische Limitationen

3.2.3

Diskussion

3.3

Bewertung

4.

Rechtfertigbarkeitskriterium II: Medizinethische Legitimität

4.1

Patientenautonomie

4.2

Das liberale Standardmodell von Autonomie

4.2.1

Kriterien für eine autonome Entscheidung

4.2.2

Formen valider autonomer Zustimmung und Ablehnung

4.2.3

Varianten der Widerspruchs- und Zustimmungslösung

4.2.4

Das Prinzip des Respekts vor der Autonomie des Patienten

4.3

Die Spenderregelungen im Lichte des Prinzips des Respekts vor der Autonomie des Patienten

4.3.1

Die Spenderregelungen im Lichte des positiven PRAP

4.3.2

Die Spenderregelungen im Lichte des negativen PRAP

4.3.2.1

Die moralische Qualität nach dem Pure Autonomy Standard

4.3.2.2

Die moralische Qualität nach dem Substituted Judgement Standard (A)

4.3.2.3

Die moralische Qualität nach dem Substituted Judgement Standard (B)

4.4

Bewertung

5.

Rechtfertigbarkeitskriterium III: Verfassungsmäßigkeit

5.1

Potenzielle Spender

5.1.1

Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)

5.1.2

Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG)

5.1.3

Postmortales Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1. Abs. 1 GG)

5.1.4

Negatives Selbstbestimmungsrecht und Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG)

5.1.4.1

Verhältnismäßigkeitsprüfung

5.1.4.2

Ergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung

5.1.5

Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG)

5.1.6

Zwischenergebnis

5.2

Angehörige

5.2.1

Verhältnismäßigkeitsprüfung

5.2.2

Zwischenergebnis

5.3

Patienten auf der Warteliste

5.4

Bewertung

6.

Ergebnis

7.

Diskussion

7.1

Die Voraussetzung der Rechtfertigbarkeit schwächen

7.2

Ein zweiter (Aus-)Weg? Die Entscheidungspflicht

7.3

Ausblick

Fazit

Abkürzungen

Abbildungen

Tabellen

Literatur

Anhang

Anhang A

Anhang B

Anhang C

Anhang D

Anhang E

Anhang F

Anhang G

Einleitung

»Alle acht Stunden stirbt ein Mensch auf der Warteliste, weil kein passendes Spender-Organ gefunden wird« (Bundesministerium für Gesundheit (BMG) 2020). Dieses Memento, das geradezu mantraartig den öffentlichen Diskurs zur Organspende in Deutschland begleitet, fasst den janusköpfigen Charakter der Organspende in Deutschland pointiert zusammen: Auf der einen Seite verweist es auf das Potenzial der postmortalen Organtransplantation als lebensrettende oder -verlängernde Therapie in der medizinischen Versorgung. Auf der anderen Seite hebt es hervor, dass in Deutschland eine eklatante Diskrepanz zwischen dem Angebot postmortal gewonnener Organe und dem Organbedarf besteht. Mit einem seit Jahren rückläufigen Organangebot, das im Jahr 2017 einen historischen Tiefstand erreichte und sich auch in den Folgejahren nur schwach erholt hat, gelingt es Deutschland nicht, seine Transplantatnachfrage zu decken. Auch im internationalen Vergleich steht die Leistungsfähigkeit des deutschen Transplantationssystems auffällig hinter der seiner europäischen Nachbarn zurück. Als Konsequenz der Organknappheit beträgt die Wartezeit für ein geeignetes Transplantat in Deutschland derzeit im Durchschnitt acht Jahre. Tausende Patienten1 versterben in dieser Zeit. Tausende Patienten, die auf eine Spenderniere warten, erfahren durch die jahrelange Abhängigkeit von der medizinischen Nierenersatztherapie (Dialyse) eine massive Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität. Die Organknappheit zu überwinden ist angesichts dessen eine der dringlichsten Aufgaben der gegenwärtigen Gesundheitspolitik.

Eine Strategieoption zur Behebung des Organmangels, die mit periodischer Aktualität in den Fokus des politischen, öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurses rückt, ist eine Reform der Spenderregelung im Sinne einer Transition von der derzeit in Deutschland geltenden Zustimmungslösung zu einer sogenannten Widerspruchslösung. Im Gegensatz zu der Zustimmungslösung, unter der einem Verstorbenen nur dann Organe entnommen werden können, wenn er der Entnahme zu Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt hat, sieht die Widerspruchslösung umgekehrt eine Entnahme bei allen Patienten vor, die einer Spende lebzeitig nicht ausdrücklich widersprochen haben.

Die Einführung der Widerspruchslösung ist in Deutschland seit jeher ein notorisch kontrovers und höchst emotional diskutierter Gegenstand sowohl in Politik und (Fach-) Gesellschaft als auch in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Ihre Befürworter verweisen auf die höheren Spenderzahlen in anderen europäischen Ländern, die die Widerspruchslösung praktizieren, und erblicken in ihr ein im Vergleich mit der Zustimmungslösung effektiveres Instrument zur Steigerung der Spenderzahlen. Aus Sicht ihrer Kritiker lässt sich die Einführung der Widerspruchslösung aufgrund erheblicher verfassungsrechtlicher und ethischer Bedenken einerseits sowie grundsätzlicher Zweifel an ihrer Effektivität andererseits nicht rechtfertigen. Während die Widerspruchslösung in Europa im Verlauf der vergangenen zehn Jahre zur dominierenden Spenderregelung avanciert ist, ist ihre Einführung – trotz wiederholter gesetzgeberischer Bemühungen – in Deutschland politisch bisher nicht durchsetzbar: Der jüngste von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn initiierte Versuch, einen regulatorischen Paradigmenwechsel zu vollziehen, scheiterte im Jahr 2020 deutlich.

Vor dem Hintergrund einer Kontroverse, die zum einen angesichts der Ankündigung der Patientenbeauftragten der Bundesregierung, in der nächsten Legislaturperiode die Wiedervorlage eines Entwurfs zur Widerspruchslösung zu initiieren (Deutsches Ärzteblatt 2020), zum anderen mit Blick auf die anhaltende Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage kaum als abgeschlossen gelten kann, ist die Frage, ob die Einführung der Widerspruchslösung in Deutschland gerechtfertigt ist, weiterhin von höchster Bedeutung. Das Hauptziel dieser Arbeit ist es daher, die Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung in Deutschland zu bewerten.

Voraussetzung dieser Bewertung ist die Definition, unter welchen Bedingungen eine Spenderregelung gerechtfertigt ist. Damit eine Spenderregelung gerechtfertigt ist, muss sie sich sowohl aus ökonomischer als auch normativer Sicht bewähren. Aus ökonomischer Sicht ist die Einführung der Widerspruchslösung nur dann rechtfertigbar, wenn sie das komparative Kriterium der Effektivität erfüllt. Die Widerspruchslösung ist dann effektiv, wenn sie im Vergleich zur Zustimmungslösung ein höheres Spenderaufkommen realisiert. Aus normativer Sicht setzt die Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung die Erfüllung zweier Kriterien voraus: Die Widerspruchslösung ist dann rechtfertigbar, wenn sie zum einen das komparative Kriterium der medizinethischen Legitimität erfüllt. Dieses Kriterium ist dann erfüllt, wenn die Widerspruchslösung mit Blick auf das medizinethische Prinzip der Patientenautonomie eine höhere moralische Qualität aufweist als die Zustimmungslösung. Damit die Widerspruchslösung aus normativer Sicht gerechtfertigt ist, muss sie zum anderen das Kriterium der Verfassungsmäßigkeit erfüllen. Somit gilt: Damit die Einführung der Widerspruchslösung gerechtfertigt ist, muss sie diese drei jeweils notwendigen, aber erst gemeinsam hinreichenden Rechtfertigbarkeitskriterien erfüllen.

Während die Überprüfung aller drei Rechtfertigbarkeitskriterien innerhalb ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen durchaus breite Aufmerksamkeit erfährt, sind multiperspektivische bzw. -disziplinäre Untersuchungen der Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung im Forschungsdiskurs auffällig unterrepräsentiert. Diese perspektivische Verengung ist problematisch, da die Widerspruchslösung, unter anderem je nachdem, mit welchen Rechten die Angehörigen im Spendenentscheidungsprozess ausgestattet werden, unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann. Folglich können Befunde unterschiedlicher Arbeiten aus unterschiedlichen Disziplinen, die auf verschiedenen definitorischen Voraussetzungen fußen, nicht zu einem Gesamtbefund zusammengeführt werden.

Aus diesem Grund soll die Frage der Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung in dieser Arbeit innerhalb eines multidisziplinären und komparativ angelegten Bewertungs- und Bewährungsraums abgebildet werden: Ziel ist es, zu prüfen, ob und in welcher Variante die Widerspruchslösung die drei Kriterien Effektivität, medizinethische Legitimität und Verfassungsmäßigkeit erfüllt und ob ihre Einführung in Deutschland somit gerechtfertigt ist.

Die Prüfung der Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung erfolgt, ausgehend von den drei Kriterien, die die Rechtfertigbarkeit konstituieren, in mehreren Teilprüfungen, die jeweils eine eigene Methodik erfordern und deren Ergebnisse schließlich in einem additiven Befund zusammengeführt werden. Um zu validieren, ob die Widerspruchslösung das Kriterium der Effektivität erfüllt, werden im Rahmen einer allgemeinen Effektivitätsprüfung verschiedene Ländervergleichsstudien, die anhand multivariater Analysen ermitteln, ob die Widerspruchslösung mit einem höheren Spenderaufkommen assoziiert ist, ergebnisorientiert zusammengefasst und kritisch diskutiert. Im Gegensatz zur Prüfung der Effektivität, die aufgrund der Designs der Ländervergleichsstudien nicht zwischen den verschiedenen Varianten der Widerspruchslösung differenziert und somit einen generischen Befund liefert, kann und muss der normativen Prüfung eine konkrete Variante der Widerspruchslösung zugrunde gelegt werden. Als normativer Referenzrahmen sowohl der Konkretisierung als auch der medizinethischen Prüfung der Widerspruchslösung dienen das liberale Standardmodell von Autonomie sowie das Prinzip des Respekts vor der Autonomie des Patienten (PRAP) von Beauchamp und Childress (2019). Ihr Konzept der Formen autonomer Entscheidungen dient als Grundlage dafür, die verschiedenen Varianten der Widerspruchslösung definitorisch zu konkretisieren. Das PRAP, das die moralische Qualität einer Spenderregelung als graduelle Eigenschaft fasst, erlaubt es anschließend, die Varianten der Widerspruchslösung mit der in Deutschland geltenden Zustimmungslösung im Hinblick auf ihre moralische Wertigkeit zu vergleichen. Die Prüfung des Verfassungsmäßigkeitskriteriums erfolgt schließlich durch Anwendung der klassischen dreischrittigen Verfassungsmäßigkeitsprüfung, innerhalb derer geprüft wird, ob die Anwendung der im Rahmen der medizinethischen Prüfung konkretisierten Variante der Widerspruchslösung die Grundrechte der von einer Spenderregelungsänderung betroffenen Rechtssubjekte – der potenziellen Spender, ihrer Angehörigen und der Patienten auf der Warteliste – verletzt.

Die vorliegende Arbeit umfasst einen deskriptiven (I) und einen analytischen Teil (II). Teil I gliedert sich wie folgt: Kapitel 1 führt in das Transplantationsgeschehen in Deutschland ein. Dazu werden zunächst eine kurze medizinische Einführung in die postmortale Organtransplantation (1.1) sowie ein Überblick über den organisatorischen Ablauf der Organspende in Deutschland geben (1.2). Anschließend werden in Kapitel 1.3 die Dimensionen des Organmangels in Deutschland erfasst: Dazu werden Ausmaß und Entwicklung der Diskrepanz zwischen Organangebot und -nachfrage in Deutschland über den Zeitraum von 2007 bis 2020 abgebildet. Anschließend stellt Kapitel 2 die Bedeutung der Widerspruchslösung als Forschungsgegenstand aus zwei Perspektiven heraus. Dies erfolgt in zwei Schritten: Zunächst exponiert Kapitel 2.1 die Bedeutung der Widerspruchslösung als mangelursachenadäquate und möglicherweise probate Lösungsstrategie zur Überwindung des Organmangels: Dazu werden die verschiedenen Ursachen des Organmangels identifiziert. Im Zuge dessen werden die verschiedenen Spenderregelungen sowie ihre jeweiligen Varianten definitorisch eingeführt. Anschließend bildet Kapitel 2.2 die Widerspruchslösung in ihrer gesetzgeberischen Dimension ab und exponiert die Bedeutung der Widerspruchslösung als Streitgegenstand der aktuellen Gesundheitspolitik. Eine zusammenfassende Synthese der beiden Teilkapitel in Kapitel 2.3 leitet die Forschungsfrage ein.

Teil II der vorliegenden Arbeit prüft die Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung. Ausgehend von den drei Rechtfertigbarkeitskriterien gestaltet sich diese Untersuchung dreischrittig: Kapitel 3 prüft, ob die Widerspruchslösung das Kriterium der Effektivität erfüllt. Dazu werden in Kapitel 3.1 zunächst Erklärungen für die Effektivität der Widerspruchslösung skizziert. Nachfolgend leitet ein deskriptiv-statistischer Spenderquotenvergleich die zusammenfassende Darstellung und Diskussion verschiedener multivariater Ländervergleichsstudien in Kapitel 3.2 ein. Die medizinethische Prüfung der Widerspruchslösung in Kapitel 4 definiert zunächst den Begriff der Patientenautonomie (4.1). Anschließend führt Kapitel 4.2 das liberale Standardmodell von Autonomie, das heißt die Formen validen autonomen Entscheidens, auf dessen Grundlage die verschiedenen Varianten der Widerspruchslösung definitorisch konkretisiert werden, sowie das PRAP ein. Davon ausgehend werden in Kapitel 4.3 die moralischen Wertigkeiten der verschiedenen Varianten der Widerspruchslösung und der in Deutschland geltenden Zustimmungslösung verglichen. Kapitel 5 setzt die Rechtfertigbarkeitsprüfung mit der Verfassungsmäßigkeitsprüfung der in Kapitel 4 konkretisierten Variante der Widerspruchslösung fort. Diese Prüfung erfolgt, ausgehend von den drei von der Spenderregelungsänderung betroffenen Akteursgruppen, in drei Schritten: Kapitel 5.1 prüft mögliche Verletzungen der Grundrechte der potenziellen Spender, Kapitel 5.2 der Rechte ihrer Angehörigen und Kapitel 5.3 der Rechte der Patienten auf der Warteliste. Die Rechtfertigbarkeitsprüfung schließt in Kapitel 6 mit der Zusammenführung der einzelnen Prüfergebnisse zu einem Gesamtergebnis, das in Kapitel 7 im Hinblick auf den sich eröffnenden weiterführenden Forschungsbedarf und die Möglichkeit einer Handlungsempfehlung an die politischen Entscheidungsträger diskutiert werden soll. Die Arbeit schließt mit einem Fazit.

Teil I

1.Einführung

1.1Die medizinische Dimension der Organtransplantation

Die postmortale Organtransplantation, das heißt die Entnahme und Übertragung von Organen »zum Ersatz verloren gegangener Funktionen« (Breyer et al. 2006: 13) von einem Spender auf einen Empfänger, ist eine der effektivsten und bedeutendsten medizinischen Versorgungsleistungen (Schulte et al. 2019: 888). Seit Jahrzehnten ist sie weltweit als eine »medizinische Routinebehandlung etabliert« (Breyer et al. 2006: 13, 145; Schöne-Seifert 2007: 137). Die »klinische[…] Revolution« (Breyer et al. 2006: 13) im Bereich der allogenen Transplantation, das heißt der Organübertragung zwischen Individuen mit unterschiedlichem Genotyp (Breyer et al. 2006: 13), begann mit der Entdeckung und dem Fortschritt der Immunsuppressionstherapie in den 1960er Jahren (Lauchart et al. 2005: 482; Nagel et al. 2011: 16), mit der »immunologische Abwehrreaktionen«, die bei dem Empfänger zu Abstoßungen des Organs führen, wirksam überwunden werden können (Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften 2020). In Verbindung mit der sukzessiven Fortentwicklung der Operations- und Organkonservierungstechniken und »des peri- und postoperativen Managements« (Lauchart et al. 2005: 482) des Empfängers können in der modernen Transplantationsmedizin inzwischen hohe »[…]Patienten- und Organüberlebensraten […] erreicht werden« (Breyer et al. 2006: 14). »Schätzungen zufolge führt eine Organtransplantation durchschnittlich zu einem Lebenszeitgewinn von 4,3 Jahren […]« (Schulte et al. 2018: 463).

Prinzipiell ist eine Organtransplantation indiziert, wenn der Funktionsausfall eines Organs »durch anderweitige, medikamentöse, intensivmedizinische oder chirurgische Therapie nicht mehr zu beheben bzw. zu beeinflussen ist« (Kniepeiss 2014: 11). Im Gegensatz zu Patienten mit endstadiger Niereninsuffizienz, für die mit der Dialyse eine, wenngleich drastisch lebensqualitätsbeschränkende und kostenintensive apparative Organersatztherapie zur Verfügung steht (Breyer et al. 2006: 9, 16), ist die Transplantation für alle anderen Patienten mit terminalen Organerkrankungen »in der Regel die überlegene oder einzige Behandlungsoption« (Kirste 2010: 778). Die Organe, die in Deutschland transplantiert werden, sind Niere, Lunge, Herz, Bauchspeicheldrüse und Leber. Auch Transplantationen des Dünndarms und der Gebärmutter sind medizinisch möglich, werden in Deutschland jedoch äußerst selten durchgeführt (Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) 2021a: 93; Universitätsklinikum Tübingen 2019). Während eine Entnahme der paarigen Niere, der regenerationsfähigen Leber und der Lunge segmental auch lebzeitig erfolgen kann (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) o. J.), werden Herz, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm ausschließlich postmortal gewonnen (Schöne-Seifert 2007: 137-138). Rechtlich setzt die postmortale Organspende den gesicherten klinischen Tod des Spenders voraus (sogenannte Dead-Donor-Rule) (Sturma/Heinrichs 2015: 421). In Deutschland schreibt das Transplantationsgesetz (TPG) als Entnahmevoraussetzung den Hirntod2 des Patienten voraus. Dies ist »der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms [, der, d. Verf.] nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist« (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG)3. Der Herz- und Kreislaufstillstand des Menschen wird unter anderem aufgrund seiner bisher nicht nachweisbaren Irreversibilität in Deutschland »als mögliches, aber unsicheres Todeszeichen« (Bundesärztekammer (BÄK) 1998: A-3235) abgelehnt.

Spenderseitig wird der Transplantationserfolg maßgeblich durch die Organqualität bestimmt. Dabei ist »weniger das Alter als der Funktionszustand der Organe [entscheidend]« (Kirste 2010: 785). Liegen bei einem Patienten Tumor- oder andere schwere, nicht behandelbare Erkrankungen vor, ist, da diese durch eine Transplantation auf den Empfänger übertragen werden und dessen Gesundheit erheblich gefährden können, eine Organspende absolut kontraindiziert (DSO 2016b: 1/5, 7/1). Ein weiterer erfolgskritischer Faktor ist, dass die Funktionsfähigkeit des Organs – prä- und postexplantativ – aufrechterhalten wird (Lauchart et al. 2005: 483). Vor der Entnahme können Funktionseinbußen, die (erst) im Zusammenhang mit der Hirnschädigung auftreten, durch das frühzeitige Einleiten (Hahnenkamp et al. 2016: 556) organprotektiver intensivmedizinischer Maßnahmen, die sogenannte Spenderkonditionierung (alternative Bezeichnung: intensivmedizinische Organprotektion), gemindert werden (Kirste 2010: 786). Nach der Entnahme steigt der Transplantationserfolg bei »möglichst kurzer Ischämie4- und Transportzeit« (Breyer et al. 2006: 27) des Transplantats. Die empfängerseitigen Parameter, die Einfluss auf den Transplantationserfolg nehmen, sind, organspezifisch variierend, der allgemeine Gesundheitszustand, die Grunderkrankungen (Breyer et al. 2006: 19) sowie, im Falle der Niere, eine möglichst kurze Dauer der Dialyse (Liefeldt et al. 2006: 64). Auch ist der Transplantationserfolg dann höher, wenn der Patient zum ersten Mal ein Organ empfängt (Breyer et al. 2006: 17).

Angesichts ihrer herausragenden Bedeutung bei der Lebensrettung und Leidenslinderung schwerkranker Patienten ist es nicht überraschend, dass die Organtransplantation weltweit konjunkturiert. Allein in Deutschland wurden zwischen 1963 und 2020 insgesamt 142.584 Organe übertragen (DSO 2021a: 18). Dieser Zahl an durchgeführten Transplantationen, die den globalen Erfolg der Transplantationsmedizin numerisch materialisiert, steht jedoch – tatsächlich bereits seit ihrer Etablierung »als reguläre Versorgungsaufgabe« (Nagel et al. 2011: 17) – ein Transplantationsbedarf gegenüber, der aufgrund eines chronischen Mangels an verfügbaren Transplantaten bisher nicht gedeckt werden kann (Breyer et al. 2006: 26). Ausmaß und Entwicklung dieser Mangelsituation werden in Kapitel 1.3 erfasst. Um eine strukturelle und terminologische Grundlage für die anschließende Mangelursachenanalyse in Kapitel 2.1 zu schaffen, wird zunächst der idealtypische Ablauf einer postmortalen Organspende in Deutschland skizziert.

1.2Der Ablauf einer postmortalen Organspende in Deutschland

Abb. 1:Ablauf einer postmortalen Organspende in Deutschland

Datenquellen: DSO 2021a, 2021b; eigene Darstellung

Abbildung 1 stellt den idealtypischen Ablauf einer postmortalen Organspende dar. Der Spendenprozess beginnt mit der Spendererkennung: Dabei werden bei einem intensivmedizinisch therapierten Patienten, der eine akute Hirnschädigung aufweist, erste Symptome des irreversiblen Hirntodes durch das intensivmedizinische Personal erkannt und die Möglichkeit einer Organspende erwogen (DSO 2016b: 1/5). Kann zudem die grundsätzliche medizinische Eignung des Patienten bestätigt, das heißt das Vorliegen absoluter medizinischer Kontraindikationen, also solcher Krankheiten, die die Übertragung eines Organs mit Blick auf die Empfängersicherheit verbieten, ausgeschlossen werden, erfolgt die Feststellung des irreversiblen und vollständigen Hirnfunktionsausfalls (Spenderidentifikation). Der Hirnfunktionsausfall muss unabhängig »durch zwei dafür qualifizierte Ärzte« (§ 5 Abs. 1 TPG), die »weder an der Entnahme noch an der Übertragung der Organe […] beteiligt sein [dürfen]« (§ 5 Abs. 2 S. 2 TPG), festgestellt werden. Bis zum Abschluss der Hirntoddiagnostik wird ein Patient als möglicher Spender bezeichnet. Erst dann, wenn ein positiver Befund der Hirntoddiagnostik vorliegt, wird der Patient als potenzieller Spender klassifiziert.

Da in Deutschland die Transplantation eines Spenderorgans nur dann zulässig ist, »wenn die Organentnahme […] durch die Koordinierungsstelle organisiert« (§ 9 Abs. 2 S. 2 TPG) wird und ihre Allokation durch eine Vermittlungsstelle erfolgt (§ 9 Abs. 2 S. 3 TPG), sind alle als Entnahmekrankenhäuser benannten Kliniken nach § 9a Abs. 2 Nr. 2 S. 1 TPG dazu verpflichtet, den potenziellen Spender unverzüglich an die Koordinierungsstelle zu melden (Spendermeldung). »Entnahmekrankenhäuser sind die […] zugelassenen Krankenhäuser, die nach ihrer räumlichen und personellen Ausstattung in der Lage sind, Organentnahmen von möglichen Spendern […] zu ermöglichen« (§ 9a Abs. 1 S. 1 TPG).

Nach § 11 Abs. 1 S. 2 TPG ist die DSO durch den Spitzenverband der Krankenkassen, die BÄK und die Deutsche Krankenhausgesellschaft als die Koordinierungsstelle benannt. Sie ist damit beauftragt, »die Durchführung aller bis zur Übertragung erforderlichen Maßnahmen mit Ausnahme der Vermittlung von Organen […] zu organisieren […]« (§ 11 Abs. 1a S. 1 TPG), die Zusammenarbeit aller am Spendenprozess beteiligten Akteure zu koordinieren und die Entnahmekrankenhäuser bei Bedarf, etwa durch die Vermittlung neurologischer Fachärzte, die Unterstützung beim Angehörigengespräch und bei der Durchführung der organprotektiven Intensivtherapie (konsultativ) zu begleiten (DSO 2020a: 37). Die Inanspruchnahme der Unterstützungsangebote, das heißt die Kontaktaufnahme zur DSO, muss spätestens nach Feststellung des Hirntodes erfolgen. Davor ist sie fakultativ.

Im idealtypischen Verlauf werden die Spenderkennung, -identifikation und -meldung bei jedem Patienten vollzogen, der aus medizinischer Sicht als Organspender geeignet ist. Erst nach der Spendermeldung wird geprüft, ob der potenzielle Spender bzw. dessen Angehörige einer Organentnahme zustimmen (Zustimmung). In Deutschland ist eine Spende nur zulässig, wenn die Patienten ihr ausdrücklich zugestimmt haben. Liegt keine Zustimmung der Patienten vor, werden die Angehörigen in den Entscheidungsprozess einbezogen. Sie müssen bei ihrer Entscheidung zunächst den mutmaßlichen Willen des Patienten zur Geltung bringen. Ist dieser nicht ermittelbar, können sie nach eigenem Ermessen über eine Organentnahme entscheiden (vgl. 2.1.3). Nur unter der Voraussetzung, dass der potenzielle Spender oder seine Angehörigen in die Spende eingewilligt haben, werden die organprotektiven Maßnahmen, die sogenannte Spenderkonditionierung, eingeleitet. »Diese Maßnahmen dienen nicht mehr der Behandlung des Patienten (patientenzentrierte [Hervorh. im Original] Behandlung), sondern sollen die Erfolgsaussicht der Organtransplantation verbessern (spendezentrierte [Hervorh. im Original] Behandlung)« (Marckmann 2015: 352). Liegt keine Zustimmung vor, entfallen mit Feststellung des Hirntodes »die Pflicht und auch das Recht des Arztes zur Fortführung weiterer kurativer Therapiemaßnahmen […]« (Kuhn/Hahnenkamp 2019: 241).

Parallel zur Spenderkonditionierung wird der potenzielle Spender medizinisch charakterisiert (Spendercharakterisierung) (DSO 2016b: 7/1). Der entsprechende Untersuchungsbefund sowie weitere für die Vermittlung eines Organs erforderlichen Spenderdaten werden sodann der Organvermittlungsstelle Eurotransplant zugeleitet (Datenübertragung) (DSO 2021b: 20). Der internationale Spendenverbund Eurotransplant, eine Kooperation zwischen acht europäischen Ländern5, organisiert die Zuteilung und Vermittlung der vermittlungspflichtigen Organe auf die Patienten im gesamten Einzugsgebiet seiner Mitgliedstaaten (Eurotransplant o. J.); seine Zuständigkeit ist durch § 12 Abs. 1 und 2 TPG geregelt. Die gemeldeten Spenderorgane werden nach medizinischen und ethischen Kriterien, der Dringlichkeit, dem prognostizierten Transplantationserfolg, aber auch unter Berücksichtigung der Wartezeit und der »nationale[n] Organaustauschbilanz« an den Patienten vergeben, der zum Zeitpunkt der Transplantatverfügbarkeit an höchster Stelle auf der zentral geführten Warteliste steht (Allokation) (Eurotransplant o. J.). Nach der Vermittlung der Organe werden dem potenziellen Spender im Entnahmekrankenhaus die zur Spende freigegebenen Organe entnommen (Explantation); ab diesem Zeitpunkt wird er als tatsächlicher Spender bezeichnet. Der Spendenprozess schließt mit der Implantation der Spenderorgane bei den Empfängern; diese darf nach § 9 Abs. 2 S. 1 TPG ausschließlich in einem Transplantationszentrum erfolgen.

1.3Ausmaß und Entwicklung des Organmangels in Deutschland

Abbildung 2 gibt Auskunft über die numerischen Dimensionen des Organmangels in Deutschland zwischen 2007 und 2020.

Abb. 2:Entwicklung von Organangebot und -nachfrage in Deutschland; Entwicklung der Transplantationsquote in Deutschland, 2007–2020

Datenquellen: Eurotransplant 2008–2020, 2021a, 2021 f; eigene Berechnung; eigene Darstellung

Abbildung 2 stellt der Zahl der benötigten Organe, das heißt der sogenannten aktiven Nachfrage6, das Organangebot, das heißt die Zahl aller postmortal oder lebend gewonnener Organe, die im selben Berichtsjahr transplantiert wurden, gegenüber. Aus dieser Gegenüberstellung geht zunächst hervor, dass das Organangebot die Nachfrage im gesamten Betrachtungszeitraum deutlich unterschreitet. Zwar hat der aktive Organbedarf seit 2009 konstant abgenommen: Wurden zum Nachfragehöchststand im Jahr 2009 noch 12.122 Organe benötigt, erreichte die Nachfrage nach einem moderaten, jedoch stetigen Rückgang bis zum Jahr 2016 und einem steilen Abwärtstrend am Ende des letzten Jahrzehnts ihren Tiefpunkt. Auch im Jahr 2020 ist die Transplantatnachfrage nur leicht wieder angestiegen: Zum Jahresende 2020 wurden in Deutschland jedoch weiterhin 9.473 Organe benötigt.

Diesem sichtbaren Abwärtstrend der Transplantatnachfrage stand eine deutliche Abnahme des Organangebots im selben Berichtszeitraum gegenüber. Wurden im Jahr 2010 noch 5.077 Organe transplantiert, konnten, nach einem kontinuierlichen Rückgang der Transplantationszahl ab dem Jahr 2011, im Jahr 2017 – am Tiefpunkt der vergangenen Dekade – lediglich 3.382 Transplantationen durchgeführt werden: Mit einer Abnahme der durchgeführten Transplantationen im Zeitraum zwischen 2009 und 2017 um 28,1 % stand dem Nachfragerückgang im selben Berichtszeitraum (14,0 %) eine doppelt so hohe Abnahme der Transplantationszahlen gegenüber. In der Konsequenz dieser unproportionalen Entwicklungen hat sich die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage im Verlauf des Betrachtungszeitraums nicht nur fortgesetzt, sondern bis zum Jahr 2017 sukzessive verschärft. Erst nachdem die Zahl der Transplantationen im Jahr 2018 sprunghaft zugenommen hat, haben sich Angebot und Nachfrage erstmals innerhalb des vergangenen Jahrzehnts sichtbar angenähert, ohne jedoch das Missverhältnis zu nivellieren. Nach diesem kurzfristigen Anstieg war das Organangebot seit 2019 erneut rückläufig. Sind Organangebot und -nachfrage im Jahr 2019 im Vergleich zum Vorjahr jedoch annährend proportional gesunken, hat die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage im Jahr 2020 aufgrund sinkender Transplantatzahlen bei gleichzeitig steigendem Bedarf erneut erkennbar zugenommen.

Eindrücklicher als mit der Gegenüberstellung in absoluten Zahlen werden Ausmaß und Entwicklung der Angebot-Nachfrage-Diskrepanz durch die sogenannte Transplantationsquote veranschaulicht, die in gleicher Abbildung auf der Sekundärachse abgetragen wird. Indem sie die Zahl aller transplantierten mit der Zahl aller benötigten Organe eines Berichtsjahres ins Verhältnis setzt, drückt die Transplantationsquote die Höhe des gedeckten Organbedarfs aus. Erwartungsgemäß verlief die Transplantationsquote im gesamten Betrachtungszeitraum auf moderatem Niveau. Seit 2010 entwickelte sie sich im Trend negativ: Auch beim Höchststand der Transplantationsquote zu Beginn der letzten Dekade konnten lediglich 42,5 % des Organbedarfs gedeckt werden. Im weiteren Verlauf sank die Transplantationsquote bis zum Jahr 2017 sukzessive auf einen Tiefstand von 32,4 %.7 Mit einem deutlichen Anstieg auf 40,8 % erfolgte im Jahr 2018 zwar ein sichtbares Wachstum der Transplantationsquote. Da trotz dieser positiven Entwicklung, die im Jahr 2019 nur leicht rückläufig war, nicht einmal die Hälfte des Organbedarfs gedeckt wurde, konnte von einer Entschärfung des Missverhältnisses von Angebot und Nachfrage jedoch nicht die Rede sein.8 Im Jahr 2020 ist die Transplantationsquote im Vergleich zum Vorjahr um über 3 Prozentpunkte gesunken: Zuletzt wurde somit lediglich etwas mehr als ein Drittel des Organbedarfs gedeckt. Als unmittelbare Folge der gravierenden und anhaltenden Angebot- und Nachfragelücke beträgt die Wartezeit für eine Niere nach Angaben der DSO (2020b: 2) derzeit durchschnittlich acht Jahre. Zwischen 2010 und 2020 sind in Deutschland 10.247 transplantationsbedürftige Patienten verstorben (Eurotransplant 2011–2017, 2021b, 2021c, 2021d, 2021e), da sie nicht rechtzeitig ein passendes Transplantat erhalten haben.

2.Die Bedeutung der Widerspruchslösung als Gegenstand der Forschung

Ziel des nachfolgenden Kapitels ist es, die Bedeutung der Widerspruchslösung als Forschungsgegenstand herauszustellen. Dies erfolgt aus zwei Perspektiven: Zum einen wird die Bedeutung der Widerspruchslösung als mangelursachenadäquate und möglicherweise probate Lösungsstrategie zur Überwindung des Organmangels dargestellt. Dies erfolgt im Rahmen einer Mangelursachenanalyse, innerhalb derer die verschiedenen Ursachen des Transplantatmangels identifiziert werden (2.1). Zum anderen wird die Bedeutung der Widerspruchslösung als Streitgegenstand der aktuellen Gesundheitspolitik exponiert; dies erfolgt durch eine Darstellung der gesetzgeberischen Dimension der Widerspruchslösung (2.2). Eine Zusammenführung dieser beiden Perspektiven leitet sodann die Forschungsfrage ein (2.3).

2.1Ursachen des Organmangels

Die nachfolgende Mangelursachenanalyse gestaltet sich ein-, gegebenenfalls zweischrittig: In einem ersten Analyseschritt ist zu prüfen, ob sich die Unterversorgung mit Spenderorganen auf eine natürliche Ressourcengrenze oder auf eine Unterausschöpfung des vorhandenen Spenderpools zurückführen lässt. Wurde das vorhandene Spenderpotenzial eines Landes im Rahmen seiner Transplantationsaktivitäten bereits vollständig ausgeschöpft, liegt die Ursache des Organmangels angebotsseitig in einer natürlichen Ressourcengrenze (Healy 2006: 1030). In diesem Fall endet die Prüfung. War dagegen ungenutztes Spenderpotenzial vorhanden, ist ein zweiter Schritt der Mangelursachenanalyse indiziert, in deren Rahmen die organbeschaffungssystemischen Ursachen der Unterausschöpfung identifiziert und auf Grundlage dessen potenziell problemursachenadäquate Lösungsstrategien benannt werden können.

Die Effizienzquote

Eine Kennzahl dafür, den Umfang des ungenutzten Spenderpotenzials eines Landes zu quantifizieren, ist die sogenannte Effizienzquote. Die Effizienzquote bezieht die Zahl der tatsächlichen Spender auf die Anzahl aller potenziellen Spender eines Landes (Breyer et al. 2006: 40): Entspricht die ermittelte Quote einem Idealwert von 100 %, wird jedem potenziellen Spender wenigstens ein Organ entnommen; in diesem Fall ist der potenzielle Spenderpool vollständig ausgeschöpft, das Organbeschaffungssystem arbeitet im Hinblick auf die Spenderakquise also maximal effizient.9 Eine Quote < 100 % hingegen indiziert eine Unterausschöpfung des potenziellen Spenderpools.

Abbildung 3 stellt dem potenziellen Spenderpool die Zahl der tatsächlichen Spender für die Berichtsjahre 2007 bis 2020 gegenüber. Beide Kennzahlen werden quotal in der gängigen Einheit pmp (per million of the population) erfasst. Die Entwicklung der Effizienzquote wird in gleicher Abbildung auf der Sekundärachse abgetragen. Die systematische Messung der Größe des aktuellen potenziellen Spenderpools in Deutschland ist ein Desiderat der transplantationsbezogenen Forschung. Für die Zahl der potenziellen Spender wird daher ein konstanter Wert von 41,8 pmp aufgerufen, den Wesslau et al. (2007: 150) bereits im Jahr 2007 als Ergebnis einer regionalen Spenderpotenzialanalyse ermitteln.

Abb. 3:Tatsächliche und potenzielle Spender in Deutschland; Entwicklung der Effizienzquote in Deutschland, 2007–2020

Datenquellen (tatsächlich Spender): DSO 2011–2015, 2016a, 2017, 2018a, 2019, 2020a, 2021a; International Registry in Organ Donation and Transplantation 2021; Datenquelle (potenzielle Spender): Wesslau et al. 2007; Datenquelle (Effizienzquote): eigene Berechnung; eigene Darstellung

Abbildung 3 gibt Aufschluss darüber, dass die Zahl der tatsächlichen Spender im Trend der letzten 14 Jahre deutlich abgenommen hat. Wurden im Jahr 2007 noch 16 pmp erzielt, fiel sie bis zum Jahr 2012 auf 12,8 pmp. Nach einer stagnativen Episode zwischen 2013 und 2016 sank die tatsächliche Spenderquote im Jahr 2017 mit einem Wert von 9,7 pmp auf ihren historischen Tiefstand (DSO 2018b). Im Jahr 2018 wurde zwar ein erkennbarer, jedoch nur kurzfristiger Anstieg der Spenderquote verzeichnet. Seit 2019 war die Spenderquote erneut leicht rückläufig und sank im Jahr 2020 auf ein Niveau von 10,9 pmp zurück.

Daraus, dass die tatsächliche Spenderquote deutlich und konstant unterhalb der potenziellen Spenderquote verlief, geht logisch hervor, dass die Effizienzquote den Idealwert von 100 % im gesamten Berichtszeitraum unterschritten hat: Zwischen 2007 und 2020 wurden in Deutschland Effizienzwerte zwischen 23,2 % (2017) und 38,3 % (2007) erzielt. Innerhalb der letzten 14 Jahre wurde innerhalb des deutschen Organbeschaffungssystems im Durchschnitt weniger als ein Drittel des vorhandenen Spenderpotenzials abgerufen; zwei Drittel wurden hingegen nicht ausgeschöpft. Dass sich dieser Befund einer massiven Unterausschöpfung zwischen Beginn und Mitte der letzten Dekade deutlich verschärft hat, geht eindrücklich aus der Negativentwicklung der Effizienzquote hervor. Mit einem Höchstwert von 38,3 % lag sie im Jahr 2007 bereits auf einem gemäßigten Niveau. Nach einer deutlichen Negativentwicklung der Effizienzquote ab dem Jahr 2011, die in den Jahren 2013 bis 2015 nur kurzfristig stagnierte, erreichte sie im Jahr 2017 mit einem Wert von 23,2 % den Tiefstand innerhalb des Berichtszeitraums. Im Jahr 2018 stieg die Effizienzquote zwar erstmals innerhalb des letzten Jahrzehnts erkennbar an und hat auch in den Jahren 2019 und 2020 im jeweiligen Vorjahresvergleich nur leicht abgenommen. Nichtsdestotrotz wurde im Jahr 2020 nur knapp ein Viertel des verfügbaren Spenderpotenzials ausgeschöpft.