Widerstand ist immer persönlich - Ernst Köhler - E-Book

Widerstand ist immer persönlich E-Book

Ernst Köhler

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Beschreibung

Ernst Köhler, seines Zeichens scharfsinniger Essayist, Historiker und Literat, zählte zu den ständigen Mitarbeitern des »Freibeuters«, jener linksgerichteten Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik des Berliner Wagenbach Verlages, die zwischen 1979 und 1999 erschien. Die Intention der Zeitschrift, Texte gegen die zunehmende Verengung im Denken der Neuen Linken zu präsentieren, trifft in vollem Umfang auch auf Ernst Köhlers »Freibeuter«-Beiträge zu. Linke Selbstgenügsamkeit, Blockdenken oder rechthaberische Kleinkariertheit sind dem Publizisten ein Graus. Die ständige kritische Hinterfragung ist sein Antrieb; sei es, wenn es um die Rolle der Gewerkschaften geht, sei es, wenn er sich beispielsweise mit der Psychiatrie-Reform beschäftigt. Themen wie Macht, Sozialpolitik, Parteienlandschaft, RAF, Antifaschismus oder der NS-Staat mitsamt seinen Schergen werden mehrfach von Köhler aufgegriffen. Der Autor erweist sich dabei als aufmerksamer Zeitgenosse und kluger Kommentator, der die gesellschaftlich-politischen Bewegungen unserer Republik analysiert und geschichtlich einordnet. Köhlers Texte handeln immer wieder von der Hinterfragung der linken Identität, und die akribische Gewissenserforschung macht auch vor der eigenen Person nicht Halt.

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Für Franz, Katinka, Linus, Max, Ronja und Rosa

Inhalt

Vorbemerkung

Einige zaghafte Einwände gegen den linken Pessimismus

Nichts Neues

Plädoyer für eine kleine Pädagogik

Der unwürdige Opa

Antiautoritäre Erziehung

Fragen eines Laien an die bundesdeutschen Psychiater

Psychiatrie

Mondlandschaft mit Menschen

Im Volke baden

Widerstand ist immer persönlich

Der kleine Mann und seine Liebhaber

Der Feminist

Rede vor dem Ortskartell

Requiem

Kultur

Die Sprache lebt

Das Ehrenwort

Die langsame Verspießerung der Zeitgeschichte

Vier Gedanken

Einfälle

Franz Neumann

Neun Beobachtungen

Faustregel für Schiffsbrüchige auf hoher See

Aus gegebenem Anlass

Das Missverständnis

Befehl und Gehorsam

Ist der Holocaust vergleichbar?

Mahatma

Der Passant

Handicap

Die Poesie des Pierrot

Eine etwas primitive Bemerkung gegen den Humanismus

Gott sei Dank nur ein Traum

Vorbemerkung

Ernst Köhler, seines Zeichens scharfsinniger Essayist, Historiker und Literat, zählte zu den ständigen Mitarbeitern des »Freibeuters«, jener linksgerichteten Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik des Berliner Wagenbach Verlages, die zwischen 1979 und 1999 erschien und es auf insgesamt 80 Ausgaben brachte. Der Name der Zeitschrift knüpfte an Pier Paolo Pasolinis Buch »Freibeuterschriften« an, das 1975 auf Deutsch bei Wagenbach erschienen war und zu einem Bestseller wurde. Die Intention der Zeitschrift, Texte gegen die zunehmende Verengung im Denken der Neuen Linken zu präsentieren, trifft in vollem Umfang auch auf Ernst Köhlers »Freibeuter«-Beiträge zu. Linke Selbstgenügsamkeit, Blockdenken oder rechthaberische Kleinkariertheit sind dem Publizisten ein Graus. Die ständige kritische Hinterfragung ist sein Antrieb; sei es, wenn es um die Rolle der Gewerkschaften geht, sei es, wenn er sich beispielsweise mit der Psychiatrie-Reform beschäftigt.

Themen wie Macht, Sozialpolitik, Parteienlandschaft, RAF, Antifaschismus oder der NS-Staat mitsamt seinen Schergen werden mehrfach von Köhler aufgegriffen. Der Autor erweist sich dabei als aufmerksamer Zeitgenosse und kluger Kommentator, der die gesellschaftlich-politischen Bewegungen unserer Republik analysiert und geschichtlich einordnet. Köhlers Texte handeln immer wieder von der Hinterfragung der linken Identität, und die akribische Gewissenserforschung macht auch vor der eigenen Person nicht Halt.

Im vorliegenden Sammelband lernen wir nicht nur den eloquenten Gesellschaftskritiker Ernst Köhler kennen, sondern auch den belletristischen Schriftsteller, denn manchmal tendiert seine Auseinandersetzung mit den ihn bedrängenden Themen auch ins Literarische, z. B. in »Requiem«, »Die Sprache lebt« oder »Das Ehrenwort«. Gedichte, kurze Prosatexte und Erzählungen Ernst Köhlers runden diesen Band deshalb literarisch ab.

Klaus Isele

Einige zaghafte Einwände gegen den linken Pessimismus

Politische Theorie in Deutschland, linke zumal, beklagt die Zustände, analysiert Mangel und Zurückgebliebenheit. Antidemokratische Tradition und verfehlte Republik sind ihre liebsten Themen. Die theoretische Reflexion über Politik steht nach wie vor völlig im Bann erstens der Katastrophe der deutschen Arbeiterbewegung von 1933 und zweitens des betäubenden kapitalistischen Wiederaufschwungs nach 1945. Wir rechnen beinahe schon instinktiv oder reflexartig mit der politischen Omnipotenz der herrschenden Klassen, mit der tiefen, ja heillosen Bewusstlosigkeit der Masse der Bevölkerung im Zeichen von Konsum und »Konsumterror«, mit der autoritären Fixierung des »Kleinbürgertums« auf den starken Staat, mit der unerschöpflichen Kraft von Feindbildern und schließlich mit der totalitären Manipulation einer entwurzelten und pulverisierten »Masse« durch die Medien. Das sind unsere Aprioris – eine erdrückende historische Hypothek, die unsere politische Wahrnehmung blockiert.

Meiner Meinung nach führt es zu einer fundamentalen Fehleinschätzung, wenn man die politische Geschichte der Bundesrepublik als einen linearen Prozess zunehmender Erstarrung, Selbstabkapselung, Manövrierunfähigkeit, legitimatorischer Verarmung des politischen Systems sieht. Aus Gründen politischer Pädagogik mag es nützlich sein, die Kontinuität in der deutschen Geschichte vom Kaiserreich bis zur BRD – beispielsweise vom Sozialistengesetz bis zu den Berufsverboten, von der Puttkamerschen bis zur Adenauerschen Beamtenpolitik zu betonen. Aber eine derartige Sicht verfehlt leicht den politischen Eigencharakter der BRD und bleibt auf jene traumatisierte Vergangenheitsbewältigung, wie sie lange Zeit für die BRD typisch war, fixiert. Ich bezweifle grundsätzlich den Wert aller politischen Analysen und Zeitdiagnosen, die das politische System der BRD tendenziell als Variante einer übermächtigen »obrigkeitsstaatlichen« Tradition interpretieren. Diese These, die links im politischen Spektrum der BRD sehr populär ist, vermag unter den Schatten der Vergangenheit die eigentümlichen politischen und ideologischen Ressourcen dieses Systems nicht wahrzunehmen.

Aber sie verfehlt auch die krisenhaften Momente dieses Systems in ihrem spezifischen Charakter. Zur Illustration dieser Überlegung: Einerseits hat der reale politische Konsens der 50er und 60er Jahre wenig zu tun mit der fiktiven »Volksgemeinschaft« der nationalsozialistischen Propaganda (eher schon etwas mit der jetzt von Sebastian Haffner beleuchteten Beeindruckbarkeit der Mehrheit der deutschen Bevölkerung durch das »Wirtschaftswunder« des Nationalsozialismus; vgl. Anmerkungen zu Hitler, München 1978). Andererseits scheint aber auch das »Abbröckeln« dieses Konsens in den 70er Jahren nicht zur Wiederbelebung früherer Formen von Massenopposition zu führen – etwa zu Formen der Arbeiterbewegung, wie sie für die Zeit vor 1933 (und vielleicht noch einmal episodisch für die Jahre 1945 bis 1952) typisch waren. Dieser historische Typus organisierter politischer Massenopposition mit seinem reformistischen und seinem radikalen Flügel hat in der BRD keine Chance mehr. Wer auf ihn zurückstarrt, kann die Herausbildung neuartiger Formen des Protestes (oder der Verweigerung) nicht erfassen – und schon gar nicht ihr politisches Gewicht und ihre Entwicklungsfähigkeit abschätzen. Gemeint sind vor allem die Massenproteste gegen Kernkraftwerke und andere Formen der Umweltbedrohung. Der verzweifelt sterile politische Avantgardismus versagt angesichts solcher Phänomene: er versucht, der deutschen Realität ein Modell von politischer Entwicklung und Emanzipation anzutragen, das einfach nicht Kontur gewinnen will, das – seit langem schon – von den Leuten zurückgewiesen wird. Wenn aber die Theorie notorisch unfähig ist, die Realität schlüssig zu begreifen, dann ist das ein Mangel der Theorie, nicht der Realität.

Wie sieht der Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus? In weiten Teilen der Geschichtswissenschaft erscheint die BRD als ein politisch gelobtes Land, das nach schrecklichen Irrwegen endlich erreicht worden ist. Mit anderen Worten: als das Ende des katastrophalen deutschen Sonderwegs, als die Rückkehr Deutschlands zur politischen Normalität hochindustrialisierter moderner Gesellschaften – endlich habe wenigstens ein halbes Deutschland das Niveau der repräsentativen Demokratie erreicht, die Deutschen seien Bürger, Citoyens geworden. Solch naiver Modernismus sieht in der Weimarer Republik und im Dritten Reich nur die Abweichung vom Weg in die Demokratie, sieht dort nur antidemokratisches Ressentiment und irrationale Realitätsflucht am Werk. Die Optik ist einfach: die Deutschen waren nicht auf der Höhe der Zeit, sie waren den Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft nicht gewachsen. Vollends selektiv und entstellend wird dieser Ansatz, wo er versucht, die bundesrepublikanischen Verhältnisse zu begreifen: gegen jeden Augenschein unterstellt er, die Demokratie habe die Deutschen erobert, sie seien politisch aktive, am Gemeinwesen partizipierende, politisch verantwortungsbewusste Menschen geworden. Politische Abstinenz und Apathie entgehen ihm vollständig – allenfalls gelten sie für leicht überwindbare Rückstande eines alten deutschen Übels. Der politisch diffuse, klassenmäßig kaum fixierbare ökologische »Konservativismus« der 70er Jahre bleibt dieser Forschung weithin unzugänglich. Sie liest daraus nur die Notwendigkeit, den Apparat der politischen Repräsentation zu verbessern und zu vervollständigen, sie spielt das Problem herunter. Sie sieht nicht, wie weit der Verfall politischer Legitimität schon fortgeschritten ist, sie nimmt den Prozess politischer Desintegration nicht zur Kenntnis. Weil dieser Forschung der moderiert republikanische Wunsch Vater des Gedankens ist, vergisst sie – trotz aller historischer Detailarbeit über Weimar und das Dritte Reich – die Kontinuität der politischen Enthaltsamkeit in Deutschland.

Doch angesichts der offenkundigen Verschleißerscheinungen der Bonner Demokratie, angesichts der Tatsache, dass die Ohnemich-Haltung inzwischen z. B. in Form der Bürgerinitiativen allmählich einen offensiven »politischen« Ausdruck findet, ist es nicht länger zulässig, Indifferenz, Misstrauen, Zynismus und Feindseligkeit gegenüber der parlamentarischen Demokratie als irrational-regressive Reaktionen abzutun. Es wird heute sichtbar, dass diese Einstellungen in der bundesrepublikanischen Geschichte niemals auf ein Randphänomen zusammengeschrumpft waren; der parlamentarisch-demokratische Anstrich verblasst, eine lange übersehende Kontinuität tritt wieder zu Tage.

Das spiegelbildliche Gegenstück dieser affirmativen Historie, die von der fundamentalen demokratischen Stabilität der BRD ausgeht, ist eine Gesellschaftskritik, die fast axiomatisch von der totalen Manipulation der westdeutschen Massen durch Staat, Schule, Familie, Massenmedien, Kontrolltechniken und Konsum ausgeht. Auch hier, in der linken Optik, das Bild zementierter politischer Stabilität – wenn auch in entgegengesetzter Interpretation: als unentrinnbarer, Klassenbewusstsein und persönliche Autonomie so gut wie restlos zerstörender Herrschaftszusammenhang. Diese seltsame Verliebtheit in ein perfektioniertes Bild von Niederlage, diese an negative Utopien wie »1984« und »Brave new world« erinnernde Überschätzung der Möglichkeiten des politischen Systems, den einzelnen zu isolieren, zu ängstigen, zu kontrollieren und zu steuern, hat die Linke weithin unfähig gemacht, zu einer realistischen Analyse der politischen Verhältnisse in der BRD zu gelangen. Dieser orthodoxe Pessimismus entwickelt beachtliche Fähigkeiten in der düsteren Ausmalung der deutschen Misere: die fehlende bürgerliche Revolution, die Zerschlagung der traditionellen Klassenorganisationen der Arbeiter werden beklagt; in Kontinuität von Adorno, Horkheimer, Marcuse u. a. entsteht das eindimensionale Konstrukt des »analen«, obrigkeitsgläubigen, »faschistoiden« Kleinbürgers oder des »entfremdeten«, »verbürgerlichten«, vom verinnerlichten Konsumterror zerfressenen Arbeiters.

Die gedankliche Operation ist dabei nicht sehr verschieden von der der BRD-apologetischen Wissenschaftler: der unvoreingenommene Blick auf die Realität findet nicht statt, die deutsche Dumpfheit wird an einer apriorisch feststehenden Elle gemessen – politische Verweigerung und Enthaltsamkeit, das Desinteresse an Partizipation, Kampf und Organisation sind per se negative Eigenschaften. Es gibt kaum Versuche, diese Haltung aus ihrer inneren Logik heraus zu begreifen und zu entschlüsseln. Wo es sie doch gibt, werden sie eher von Einzelgängern, die der marxistischen Tradition kritisch gegenüberstehen, unternommen – wie etwa von Peter Brückner und Robert Jungk oder, mit einigen Abstrichen, von Jürgen Habermas und Claus Offe. Doch sind auch die Ansätze dieser Autoren unsystematisch: Seismographisch zeichnen sie Momente der gesellschaftlichen Desintegration auf – das historische Umfeld dieses Prozesses jedoch bleibt merkwürdig undeutlich. Immer häufiger wird auf die krasse Diskrepanz zwischen den formaldemokratischen Prinzipien des Systems und der faktischen Ausschaltung der Masse der Bevölkerung hingewiesen. Doch gerade weil diesen Untersuchungen oft die historische Dimension fehlt, gelingt ihnen keine Analyse der besonderen Verhältnisse der BRD.

Versuchen wir also andeutungsweise, der historischen Kontinuität der »deutschen Dumpfheit« nachzugehen. Ein Angelpunkt solcher Analyse ist die Kritik an den gängigen Faschismus-Theorien. Ich behaupte: Die These, dass sich die Masse der Deutschen rückhaltlos nicht nur der politischen Führung, sondern auch der ideologischen Hegemonie des Nationalsozialismus anvertraut habe, verzeichnet in ganz gravierender Weise den Prozess der nationalsozialistischen Machtergreifung und Herrschaftssicherung. Längst gibt es literarische Darstellungen, die ein weit realistischeres und differenzierteres Bild zeichnen (ich denke etwa an das gewiss keiner nationalsozialistischen Apologetik verdächtige Werk Christa Wolfs: »Kindheitsmuster«, Darmstadt 1976/77): Sie handeln von einer renitenten Apathie, vom Sich-Arrangieren, von jener passiven Abseits-Haltung, die gerade durch das pausenlose propagandistische Trommelfeuer der Nazis wesentlich miterzeugt wurde – wäre dieser Aufwand nötig gewesen, wenn der nationalsozialistische Staat fest mit aktiver Loyalität hätte rechnen können? Sicher: Gemessen an der hellen Figur des Partisans in anderen Ländern bleibt die deutsche Renitenz sozusagen moralisch unter dem Strich, kümmerlich und erbärmlich. Doch ich bestreite, dass moralischer Ekel (und Scham) geeignet sind, zur Erklärung jener Zeit beizutragen. Sich kleinmachen, sich ducken, sich absetzen: Das alles sind weder heroische noch demokratische Tugenden – doch in diesen Haltungen wurde auf die totale Politisierung des Lebens im Dritten Reich reagiert. Was ist etwa von dem betroffenen Schweigen zu halten, mit dem in Deutschland – ganz anders als 1914 – der Beginn des Zweiten Weltkrieges hingenommen wurde? Hat vielleicht die Passivität, der Vorrang, der den persönlichen Interessen, den privaten Problemen, den familiären Beziehungen gegenüber Staatsraison und »Vaterlandsliebe«, gegenüber den politischen »Pflichten«, der soldatischen »Ehre«, der Verantwortung für das »Volksganze« eingeräumt wurde, mit zum Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft beigetragen? Ein Studium etwa der Militärjustizakten (Bundesarchiv Kornelimünster) macht diese These außerordentlich plausibel: »Defätismus«, »Wehrkraftzersetzung«, Fahnenflucht waren sehr viel weiter verbreitet, als gemeinhin angenommen wird – es brauchte zum Schluss viele Filbingers. Und von wissenschaftlicher Seite wird neuerdings ein Bild des Dritten Reiches gezeichnet, in dem der Furcht des Regimes vor einer zweiten Novemberrevolution, seiner Laviertaktik gegenüber den dauernd überforderten, unzufriedenen, oft auch renitenten, »politisch« aber nicht kämpferischen Arbeitermassen große Bedeutung beigemessen wird (vgl. vor allem das außerordentlich wichtige Buch von Tim Mason: Volksgemeinschaft und Arbeiterklasse, Opladen 1975): Das apolitische, privatistische, subpolitische Verhalten wirkte zersetzend auf das nationalsozialistische Regime – schon in den Zeiten seines Vorkriegs-»Wirtschaftswunders«, vor allem aber in den letzten Jahren des Krieges.

Unter dieser Optik verliert auch das Jahr 1945 viel von seinem Zäsur-Charakter. Die so oft als Skandal angeprangerte Problemlosigkeit, mit der die Masse der arbeitenden Bevölkerung nach Kriegsende zur Tagesordnung des persönlich-familiären Existenzkampfes überging, enthält – so gesehen – möglicherweise viel weniger Flucht- und Verdrängungsmechanismen als gemeinhin angenommen wird. Man lebte, arbeitete und dachte, wie man, so gut es eben ging, immer gelebt, gearbeitet und gedacht hatte: nur jetzt befreit vom Druck des totalitären Staates und des totalen Krieges. Die Haltung gegenüber Staat und Politik war die gleiche geblieben.

Vor diesem Hintergrund ist wohl auch die Geschichte des Antimilitarismus in der BRD zu sehen – etwa in den 50er Jahren das Auftreten einer breiten Protestbewegung gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik. Diese Widerstandshaltung hat in der BRD eine nahezu ununterbrochene Geschichte, die große Zahl der Wehrdienstverweigerungen gehört genauso dazu wie der ökologische Protest, der in den 70er Jahren zur Massenbewegung wurde. Bei dieser Bewegung handelt es sich auch, gemessen an klassischen politischen Kriterien, um ein Paradox: Gespeist aus einer apolitischen, individualistischen, verweigernden Haltung entsteht plötzlich eine politische Bewegung, die nicht mehr zu übersehen ist – die sichtbarste und stärkste vielleicht seit Bestehen der BRD. Politologen und Linke haben daher begreifliche Schwierigkeiten, sich darauf einen Reim zu machen. Eines jedoch scheint mir diese Bewegung heute schon nahezulegen: Wir müssen unser Verständnis des Politischen überdenken. War das wirklich Politische vielleicht stets etwas, das sich unter den Haupt- und Staatsaktionen wegduckte und sich aus guten Gründen der politischen Politik verweigerte?

So komme ich zu meiner zugegeben gewagtesten These: Die wirklichen Massenbewegungen in Westdeutschland entwickeln sich nicht aus einem Aufschwung und einer Wiederbelebung humanistischer, reformerischer, demokratischer, republikanischer oder antikapitalistischer Traditionen heraus; sie entwickeln sich quer zu diesen Traditionen, jenseits davon. Sie stellen ein Umschlagen des in Deutschland aus historischen, bis in die Zeit der Bauernkriege reichenden Gründen besonders tiefsitzenden Disengagements in Protest und Widerstand dar. Wir treffen hier also nicht auf eine geschichtliche Kontinuität oppositioneller Einstellungen und auf eine entsprechend entfaltete, gefestigte und festgelegte, normierte Vorstellungswelt, Zukunftsperspektive und Utopie, sondern auf eine politische tabula rasa, auf ein Trümmerfe1d aller in den letzten hundert Jahren einmal einflussreichen Ideologien – auf eine Desillusionierung, die an Entwurzelung grenzt, und entsprechend auf eine angstbeherrschte, ungeformte, aber offenbar produktive und entwicklungsfähige Gedankenwelt. Die opinio communis liberaler, demokratischer und sozialistischer Kritik an den deutschen Verhältnissen, die das Defizit an liberalen, demokratischen und sozialistischen Traditionen, Einstellungen und Werten in den Mittelpunkt stellt und die politische Lethargie und Indifferenz der Westdeutschen beklagt, kann daher den deutschen Verhältnissen nicht voll gerecht werden: Von außen Maßstäbe anlegend, sieht sie stets nur Defizite, wo eine spezifische Differenz, wo die Tradition der politischen Traditionslosigkeit zu untersuchen wäre. Das Versanden jeglicher ideologischer Traditionen (und das trotz aller energischer Wiederbelebungsversuche durch Studentenbewegung und »Neue Linke«), der tiefe Kreditverlust des »realen Sozialismus« wie der parlamentarischen Demokratie, die Diskreditierung aller überkommenen Modelle von »Mitbestimmung«, demokratischer Partizipation und Kontrolle – dieser umfassende Prozess der Entpolitisierung, des Verschwindens traditioneller Klassenkämpfe, der Erosion des republikanischen Gemeinsinns hat die Bahn freigemacht für eine Repolitisierung qualitativ neuer Art – in Deutschland lediglich früher und deutlicher als anderswo.

Um es pointiert zu formulieren: Dass für die Massen Westdeutschlands alle traditionellen politischen Ideale demoliert waren und es für sie lange Zeit über beruflichen Existenzkampf und Familie hinaus wenig Lohnenswertes gegeben hat – dieses im Westen (von den USA einmal abgesehen) vielleicht einzigartige politische »Idiotentum« ist, wie mir scheint, die historische Voraussetzung für die sog. »Maschinenstürmerei«, den Anti-Modernismus, für die biologische Sensibilität, für das Katastrophenbewusstsein der heutigen Bürgerbewegungen. All das sind Momente, die im traditionellen politischen Universum nicht vorgesehen sind, auch an ihrem radikalsten Rande nicht. Sie setzen vielmehr eine geradezu »asoziale« oder apolitische Distanz zu diesem Universum voraus. Nur aus einem extremen Abstand zu dieser »Welt der Politik« kann eine derartig grundsätzliche Absage an die Industriegesellschaft überhaupt gedacht werden und kann die Überlebens- und Zukunftsangst vieler Menschen sich selbst so ernst nehmen und so direkt und explosiv äußern. Auch die Schnelligkeit, mit der die Konflikte besonders um Kernkraftwerke, aber auch um andere Großprojekte eskalieren, deutet darauf hin, dass sich hier unterhalb und außerhalb der gesellschaftlich-staatlich vermittelten Anpassungszwänge, unterhalb und außerhalb der Sphäre der Öffentlichkeit und ihrer integrativen und normierenden Wirkungen ein großes Potential von Fluchtgedanken, Verweigerungstendenzen und Widerstandsimpulsen angesammelt haben muss. Ist es ein Zufall, wenn die weltweit massivsten Kämpfe dieser Art sich gerade in Staaten mit einer historisch besonders problematischen zwanghaften und unfundierten Legitimationsbasis entwickeln: In Japan und in der BRD – in Gesellschaften auch, in denen die Zerstörung traditioneller Lebenszusammenhänge, die soziale und kulturelle Entwurzelung, Vereinzelung, die »Entpolitisierung« der Masse der Bürger besonders weit fortgeschritten ist?

Natürlich kommen hier Einwände: Schönfärberei, Illusionsmacherei, modische Überschätzung des politisch unklaren, ideologisch ambivalenten ökologischen Protests. Viel eher bräuchten wir schonungslose Geister vom Schlage etwa Pasolinis, die die totale und destruktive Herrschaft des »hedonistischen Faschismus« analysieren. Ist nicht tatsächlich das neue ökologische Problembewusstsein im Grunde sehr obskur? Man denke etwa an die oft an Hypochondrie grenzende Sensibilität für die Gefährdung der körperlichen Gesundheit, die darin enthaltene Lustfeindlichkeit, den Egoismus und die Gleichgültigkeit dieser Haltung. Ich gebe zu: dieses wildgewordene Bedürfnis, persönlich die Katastrophe zu überleben und in einer Ruinen-Gesellschaft steinalt zu werden, hat etwas Widerliches.

Doch ist das alles wirklich nur lächerlich? Wird an der Massivität des ökologischen Protests nicht auch klar, dass heute in gewisser Hinsicht die Bedeutung von Klassenprivilegien schwindet, dass sich heute vielleicht zum erstenmal auch breite bürgerliche Schichten fundamental, physisch, in ihrer gesamten Zukunft bedroht sehen – wie früher nur Proletarier oder von der Proletarisierung erfasste Gruppen und Schichten? Wahrscheinlich zum erstenmal in der modernen Geschichte wird heute die Erfahrung einer direkten und persönlichen Gefährdung und Schutzlosigkeit, die nicht mehr von der Klassenlage in erster Linie bestimmt ist, gemacht. Mit anderen Worten: Diese Bewegung hat die Perspektive, breiter und allgemeiner zu werden als frühere.

Zudem kommt es darauf an, den Egoismus, der diesen Protest heute zu Teilen kennzeichnet, zu entschlüsseln, nicht diffamatorisch mit ihm umzugehen. Es äußert sich da etwas als Egoismus, weil es auf diesem Gebiet, mit diesen Erfahrungen der Bedrohung andere Formen noch nicht gibt. Auch hier wäre es vielleicht ratsam, unsere Optik und unsere politischen Wertungen zu ändern. Traumatische Ängste und neurotische Erfahrungen werden heute allgemein und haben stärker denn je ihren Grund in einer wahnsinnigen Realität. Sie sind zu sehr realistischen Indikatoren geworden. Das vitale Bewusstsein persönlicher Unverletzbarkeit kann heute Stumpfsinn bedeuten und tödliche Folgen haben. Was dagegen sehr wohl zählt, ist die Wahrnehmung realer Gefahren – auch wenn sie antizipatorisch, paranoid, halluzinatorisch oder visionär ist. Der »Blick nach innen« ist politischer, als das politische Denken von oben wahrhaben will.

Auch der entgegnende Verweis auf andere Länder, auf die Blüte der politischen Kultur dort ist nicht mehr überzeugend. Die großen kommunistischen Formationen etwa, die sich in Frankreich und Italien nach 1944-45 aus dem antifaschistischen Kampf heraus entwickelt haben, erweisen sich heute weithin als staatstragende Kräfte – politisch zudem in den Massen um vieles einflussreicher als die ideologisch ausgepowerte (wenn auch faktisch starke) Sozialdemokratie in der BRD es noch sein kann: man denke nur an den Nationalismus der französischen KP, an ihre proimperialistische Politik während des Algerienkrieges, an ihre blockierende Rolle im Mai 68, an die korporativistische Politik des CGT gegenüber den Arbeitsemigranten (vergleiche dazu jetzt M. A. Macciocchi, Der französische Maulwurf, Berlin 1979); oder man denke an die extrem harte Linie der KPI in der Moro-Affäre und vorher in der Frage der Studentenunruhen. In der BRD gibt es einen Reformismus von dieser Vitalität und mit dieser aktiven Massenbasis nicht – schwache Ansätze dazu sind bereits in den ersten Nachkriegsjahren gescheitert. Aber das Fehlen eines derartig massiven Reformismus, der enorme Potentiale von Unzufriedenheit und Auflehnung an sich zu binden oder doch zu demoralisieren vermag, könnte auch bedeuten, dass sich hierzulande die Unzufriedenheit der Massen unkontrollierter, jenseits von institutionellen Kanälen entwickelt.

Das ist immer – von Liberalen bis hin zur RAF – als Ausdruck der letalen Schwäche der Demokratie in Deutschland gesehen worden. Nie aber auch als Ausdruck der Schwäche des Staates – als Ausdruck seiner mangelnden Verankerung in den Köpfen der Leute, eines zutiefst passiven Bezugs der einzelnen zum Staat, einer im katastrophenartigen Wechsel der politischen Systeme stark verschlissenen politischen Legitimität. Pointiert gesagt: Die politische »Geborgenheit« muss sich erst zersetzen, bevor die zivilisatorische Ungeborgenheit in vollem Ausmaß erfahrbar wird. Erst wenn die staatliche Ordnung als etwas ganz Fremdes wahrgenommen wird (wie beispielsweise heute bereits die Schule von der großen Masse der Schüler), kann die Leere dieser Gesellschaft voll bewusst werden. Ich behaupte, dass dieser »Prozess« (mir fällt kein anderes Wort ein, aber gemeint ist gerade nicht ein Mechanismus hinter dem Rücken der Menschen) in der BRD keineswegs langsamer verläuft als in anderen hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften – eher schneller: gerade weil hier aus besonderen geschichtlichen Gründen die Zukunftshoffnung auf einen sozialistischen Staat so gut wie gestorben ist; gerade weil hier die demokratische Utopie nie Fuß gefasst hat; weil hier der große Einsatz für den Staat bereits zweimal in Krieg und unfassbarem Elend geendet ist und paradoxerweise gerade weil hier der Staat immer so stark gewesen ist, immer triumphiert hat über alle demokratischen Massenbewegungen und Reformkräfte und daher weniger als anderswo gezwungen war, eine flexible politische Hegemonie (im Unterschied zur repressiven Herrschaft) über die beherrschten Klassen zu entwickeln. Es liegt auf dieser Linie, dass der westdeutsche Staat weniger politisches Kapital aus der historischen Aufwertung der bürgerlichen Demokratie nach der faschistischen Erfahrung geschlagen hat als etwa der französische oder der italienische Staat. In der BRD hat es während der Schleyer-Entführung zwar Denunzianten gegeben, aber keine Demonstranten wie im Italien der Moro-Affäre.

Auch das wegen der Parallele zur Dritten Welt so suggestive Bild von der westdeutschen »Aristokratie« über einem weithin verarmten Europa hat weniger Substanz, als es zunächst den Anschein hat. Das vor allem deshalb, weil die neue internationale Arbeitsteilung, die ganze Regionen Europas verwüstet, auch innerhalb der BRD selbst verheerende Auswirkungen hat. Das »Modell Deutschland« könnte langfristig immer mehr Menschen ausschließen: sehr junge und ältere Arbeiter bekommen bekanntlich schon jetzt die ganze Schärfe dieses Prozesses zu spüren. Jeder Schüler oder Student, der nicht gerade einen Fabrikherrn zum Vater hat, weiß heute, dass er nur über Spitzenleistungen an eine ihn einigermaßen befriedigende Arbeit herankommen kann – er weiß es nicht nur, dieser Druck formt seinen gesamten Alltag. Die Krisenlösungsstrategien scheinen in einer so auf Export und internationale Wettbewerbsfähigkeit gestellten Ökonomie wie der westdeutschen auf eine langfristige Ausweitung der Arbeitslosigkeit hinauszulaufen. Ein aktuelles Beispiel sind die durchgeführten und noch geplanten Massenentlassungen in der saarländischen Stahlproduktion, die von einem »korporatistischen Block«, von einer unheiligen Allianz von Staat, Kapital und Gewerkschaften gegen die Arbeiter durchgesetzt werden. Wenn diese korporatistische Strategie verallgemeinert würde – und was soll auf Dauer sonst passieren? – , dann hätte das in einem Staatswesen, das seine politische Legitimation immer fast ausschließlich der Sicherung eines vergleichsweise sehr hohen und stabilen Lebensstandards verdankt hat, unabsehbare politische Konsequenzen.

Denn die vielbesprochene Tatsache, dass junge Leute heute diesen Konsum und diese Sicherheit nicht mehr als Sinn des Lebens betrachten, dürfte wohl kaum bedeuten, dass sie sich nun ohne Gegenwehr zu einer kapitalistisch verordneten Massenaskese verdammen ließen. Diese bereits seit einiger Zeit im Gange befindliche Umwertung der Werte führt ja keineswegs zu einer fatalistischen oder puritanischen Selbstbescheidung, sondern eher zu einer außerordentlichen und qualitativen Steigerung der Ansprüche an das Leben – eine Entwicklung, die für uns Ältere etwas Erbitterndes hat, so tief reichen diese Veränderungen.

Nichts Neues

Seit neuestem gibt man uns den Rat,

uns guten Gewissens einfach in die Büsche zu schlagen,

wenn der Kampf über unsere Kräfte geht.

Als ob wir dann nicht normalerweise

über ein unabsehbar weites baumloses Feld laufen müssten.

Und außerdem: Wer läuft, zumal wer schnell läuft,

kann sich einfach nicht so klein machen

wie es die Situation an sich erfordern würde.

Auch der geduckt Laufende bleibt weithin sichtbar.

Ich will ja nicht bestreiten,

dass ich in letzter Zeit einiges abgekriegt habe.

Aber muss man mich deshalb gleich

als politisches Opfer in Seide schlagen und aufbahren?

Auch auf einem Katafalk von Solidarität

liegt es sich schlecht.

Besonders dann, wenn eine junge Frau

sich über Dich beugt,

nicht etwa um Dich zu küssen,

sondern um Dir eine Kerze anzuzünden.

Plädoyer für eine kleine Pädagogik

Schule in Deutschland, im Herbst

Das Folgende ist ein Bericht über eine zwei Jahre dauernde Lehrertätigkeit an einem Gymnasium in einer Kleinstadt Baden-Württembergs. Ich vermutete, man erwarte von mir dunkles (aus dem tiefen Schacht der Schule zutage gefördertes) Material zur Illustrierung einer allgemeinen Misere. Mit dieser Haltung jedenfalls ging ich an die Arbeit. Nur war meine persönliche Erfahrung merkwürdigerweise ganz anders: Seitdem es mich in diese Schule und in diese Provinz verschlagen hat, habe ich politisch wie persönlich nach und nach wieder aufgeatmet. Ich lebte wieder mit Gusto in diesem Lande.

Die Angst des Herbstes und Winters 1977/78 ließ allmählich nach. Während der Zeit, in der die von mir teilweise seit langem persönlich verehrten Mitglieder der RAF in den Gefängnissen und Prozessen vor unseren Augen langsam aufgerieben und vernichtet wurden, habe ich zum erstenmal in meinem Leben wirklich politisch Angst gehabt. Ich werde diese Vorgänge nicht vergessen, und ich glaube nicht, dass ich jemals wieder eine andere Beziehung zu diesem Staat finden werde als die des fundamentalen Misstrauens (eine Einstellung, die mir trotz aller marxistischen Staatstheorie vorher vollständig fremd war). Als die Nachricht vom Tod Baaders und der anderen in das Lehrerzimmer meiner Schule kam, haben ein oder zwei Kollegen laut geklatscht und andere ihrer Erleichterung und Freude durch lebhafte Gespräche Luft verschafft. An einem Freiburger Gymnasium sollen sich Studienräte aus diesem Anlass sogar in die Arme gefallen sein, so jedenfalls eine Rundfunkmeldung, die ich selbst gehört habe. Ich habe damals nicht den Mut gefunden, dem applaudierenden Kollegen, der direkt neben mir saß, ein klares Wort über meinen Zweifel an der offiziellen Darstellung dieses Tods zu sagen. Und schon gar nicht habe ich es gewagt, diesem Kollegen gegenüber meine Trauer zum Ausdruck zu bringen. Ich hoffe, dass ich auch das nicht vergesse. In diesen Monaten war mehrfach in den Zeitungen von einzelnen Lehrern (meiner Erinnerung nach: meist Lehrerinnen, was zu denken gibt) zu lesen, die sich in ihrem Unterricht um eine sachliche Auseinandersetzung mit dem »Terrorismus« und der Anti-Terrorismus-Kampagne bemüht hatten – etwa über die Besprechung eines bekannten Fried-Gedichts über Ulrike Meinhof oder durch die Auswertung kritischer Pressestimmen aus dem Ausland – und sich aus diesem Grunde einer wahnwitzigen Verfolgung ausgesetzt sahen. Aus meiner Kenntnis des Klimas an einem Gymnasium bin ich überzeugt, dass zu einem solchen Nonkonformismus, den die Holländer oder Italiener vielleicht als selbstverständlich empfinden, damals geradezu so etwas wie Tapferkeit nötig war. Und zwar, wie ich glaube, in erster Linie nicht einmal deshalb, weil man auf diese Weise seine berufliche Existenz aufs Spiel setzte; sondern eher, weil man es in diesem Moment mit einem sich drohend aufrichtenden, im Kern sicher geschwächten oder verunsicherten, gerade deswegen aber militanten Konsensus zu tun bekam. Etwas von der elementaren Furcht des Irren vor dem Psychiater, der den Stab über ihn brechen und ihn gerade wegen seiner persönlichsten und realsten Erfahrungen aus der Mitte der Normalen verbannen wird, hat uns möglicherweise in dieser Situation erfasst. Ich jedenfalls habe geschwiegen, meine abweichende Meinung verborgen und es leider monatelang vermieden, Themen wie RAF und Stammheim im Unterricht, wo dazu viel Gelegenheit gewesen wäre, auch nur anzusprechen. Ich erinnere mich deutlich an das Gefühl der Beschämung, das mich beschlich, als mich eines Tages ein paar Schüler (15, 16 Jahre alt) zu Hause besuchten und sich amüsiert und neugierig über einen Band mit RAF-Texten hermachten, den ich versehentlich nicht beiseitegeschafft hatte. Hätte ich diesen jungen Leuten nicht doch besser etwas mehr Vertrauen entgegengebracht? Sie hatten freilich gelegentlich in ihren Aufsätzen ziemlich blutrünstige Überlegungen vorgetragen. Aber diese finsteren Henkersphantasien mögen alles Mögliche bedeuten, nur fügen sie sich in der Regel bei diesen Jugendlichen nicht zu finsteren Weltbildern zusammen …

Als ich mich schließlich wieder ein wenig hervorwagte und in einer Klasse der Mittelstufe die Lektüre von Bambule von Ulrike Meinhof vorschlug, gab es nur wenige Gegenstimmen. Die anderen zeigten sich interessiert, insbesondere wohl, weil sie etwas darüber zu erfahren hofften, »wie die zu so etwas überhaupt gekommen sind«, wie einer es formulierte. Ist das nicht eine entscheidende Frage? Allerdings ist sie es nur, wenn sie nicht von irgendwelchen sozialwissenschaftlichen Theorien darüber, unter welchen Bedingungen jemand zum Terroristen werden kann, im Ansatz erdrückt oder verfälscht wird. Aber diese Verwandlung der RAF in eine eigenartige menschliche (oder bestialische) Spezies, die man eigentlich klinisch sezieren müsste, war diesen Schülern, glaube ich, ganz fremd. Sie waren vielmehr bereit, sich auf einer persönlichen Ebene mit diesen Leuten auseinanderzusetzen. Wie weit man in dieser Richtung auch mitten in den Aufregungen »Deutschlands im Herbst« hätte kommen können, wenn man nur die Ruhe bewahrt hätte, ist mir erst später in einem anderen Zusammenhang klar geworden: bei der Besprechung eines Zeitungsberichts über ein jugendliches Selbstmörderpaar. In diesem Bericht war davon die Rede, dass der Junge (17 Jahre alt) alle Gewalt strikt abgelehnt und sich seinen Freunden gegenüber immer sehr entschieden für ein friedliches Zusammenleben der Menschen und für Völkerversöhnung ausgesprochen habe.

Unter den Kritzeleien in einem Heft, das man unter seinen Schulsachen fand, waren andererseits die Buchstaben »RAF« erkennbar – was einigen Schülern als widersprüchlich erschien. Einerseits war er Pazifist, andererseits hatte er sich aber offenbar von den Terroristen beeindrucken lassen, wie passt das zusammen? Darauf ein Mädchen: »Vielleicht hat er die bewundert, weil sie überhaupt aus allem ausgebrochen sind – ohne sich nun gleich auch mit ihren Gewalttaten zu identifizieren.« Da war diese Unterscheidung, die ich selbst ängstlich in mir begraben hatte – nüchtern und unbefangen formuliert: die Unterscheidung nämlich zwischen der Geschichte, den Erfahrungen, der ursprünglichen Moral der RAF und ihrem Versagen, ihrem Irrweg, ihrer moralischen Verhärtung und Selbstentfremdung. Was ihm hier mehr zufällig und ganz unverdient zufiel, hätte der Lehrer vielleicht auch von sich aus ein wenig hervorlocken können. Allerdings kaum frontal und forciert. Eine Voraussetzung für den Erfolg derartiger Bemühungen wäre vielmehr gewesen, dass der Lehrer etwas von (wie ich es in freier Anlehnung an den von Deleuze in seiner Kafka-Analyse entwickelten Begriff der »kleinen Literatur« nennen möchte) »kleiner Pädagogik« (nicht zu verwechseln mit linker Pädagogik) verstanden hätte. Wenn der große direkte Weg der politischen Aufklärung versperrt ist – und wann wäre er je gangbar oder attraktiv gewesen? – , dann bleiben immer noch zahllose kleine Pfade und Seitenwege, Umwege. Und merkwürdigerweise, befremdlich für den gradlinigen, aber ortsunkundigen Linken, sind diese Nebenwege stark bevölkert. Da herrscht ein reges Leben, Interesse und Entdeckerfreude stellen sich eher hier ein. Beispielsweise: Dass diese offiziellen, öffentlichen, fahndungsöffentlichen Bestien ein menschliches Gesicht tragen und verständliche Motive haben, das erfasst man offensichtlich leichter nebenbei, hier im Kontext einer konkreten Selbstmordgeschichte, als in direkter Konfrontation mit den heulenden Furien der Staatsräson. Diese Geister können eine furchterregende Macht über die Köpfe der Leute, auch der jungen Leute, gewinnen – sie nähren sich schließlich bekanntlich auch von den Ängsten, Enttäuschungen, verstummten Wünschen dieser Leute – also aus einem riesigen und unerschöpflichen Reservoir. Aber diese Macht scheint abseits von der jeweiligen Achse des politischen Spektakels, auf der der Staat seine staubaufwirbelnden Kampagnen rollen lässt wie Panzer im Krieg, schnell abzunehmen. In diesem undurchdringlichen Hinterland, um im Bild zu bleiben, findet der Ap