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In seinem »bisher ernüchterndsten und realistischsten Buch« (The Guardian) spielt der postmoderne Fantasy- und Bestseller-Autor Jasper Fforde alle Mechanismen von Rassismus und Xenophobie klug und unterhaltsam durch, und zwar in einer absurd-komischen Parallelwelt, die – abgesehen von vermenschlichten Kaninchen – der unseren doch erschreckend ähnelt. Das britische Dörfchen Much Hemlock, nah an der walisischen Grenze, war immer ein Hort des Friedens. Sauber. Traditionell. Die Menschen aufrecht und beflissen. Doch dann kommen sie. Mit ihrer seltsamen Religion, ihrer aggressiven veganen Agenda und viel zu vielen Kindern. Zwar geben sie sich ruhig und friedliebend, aber wer weiß, wie lange noch? »Sie« sind eine Familie vermenschlichter Kaninchen – das Ergebnis eines unerklärlichen Ereignisses vor rund einem halben Jahrhundert. Ihr Nachbar, der langjährige Dorfbewohner Peter Knox, muss sich entscheiden: Kann er Zaungast der Entwicklung bleiben und weiterhin eine ruhige Kugel bei der Rabbit Compliance Taskforce schieben oder soll er den neuen Nachbarn beistehen, denen, wie allen anderen 1,2 Millionen Kaninchen im Vereinigten Königreich, die Zwangsumsiedlung nach Wales droht?
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Seitenzahl: 525
Veröffentlichungsjahr: 2025
JASPER FFORDE
ROMAN
AUS DEM ENGLISCHEN VON MIRIAM NEIDHARDT
JASPER FFORDE
(geboren 1961) ist britisch-walisischer Autor (daher das markante Doppel-F im Namen).
Er hat zwanzig Jahre als Kameramann im Filmbusiness gearbeitet, bevor er mit »Der Fall Jane Eyre« einen internationalen Bestseller landete. Sechs weitere Romane um die Buch-Agentin Thursday Next folgten, daneben weitere Einzelromane und Romanzyklen. Die Jugendbuchserie »Die letzte Drachentöterin« wurde für Sky verfilmt. In Deutschland erschienen von ihm zuletzt die Romane »Eiswelt« und »ROT«.
Jasper Fforde lebt und arbeitet in seiner Heimat Wales.
MIRIAM NEIDHARDT
ist Diplomübersetzerin für Englisch und Russisch. 2011 übersetzte sie für Satyr »Bestseller« von Valentine Honeyman. Als Autorin verfasste sie zwei Ratgeber für Übersetzende, zuletzt »Erfolgreich freiberuflich übersetzen« (2023). Sie lebt mit ihrer Familie und zwei Katzen in Oldenburg.
Die englische Originalausgabe »The Constant Rabbit« erschien 2020 im Verlag Hodder & Stoughton, London
© 2020 by Jasper Fforde
All rights reserved including the the rights of reproduction in whole or in part in any form.
E-Book-Ausgabe September 2025
© für die deutschsprachige Ausgabe: Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2025
Auerstr. 23–25, 10249 Berlin
www.satyr-verlag.de
Übersetzung: Miriam Neidhardt
Lektorat: Dr. Volker Surmann
Korrektorat: Matthias Höhne
Cover: Burkhard Neie, Berlin
Illustration: Bill Mudron
Der Verlag dankt Ralf König und dem Rowohlt Verlag für die Freigabe des Titels.
Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.
E-Book-ISBN: 978-3-910775-36-7
Speed Librarying
Toast und TwoLegsGood
Spotter und Spotting
Fudds und Flopsys
Ross und Rammler
Griswold und Getratsche
Pippa und Pasta
Einen Sonntag später, ein Haus weiter
Erfolglose Suche und Einkauf in der Stadt
Senior-Gruppenleiter
Abendessen und Löwenzahnbrand
Kaninchenfotos
Die Kaninchen-Revolte
Shoppen und Sally Lomax
Tratsch und Toast
Heilige und Hassende
Cops und Kätzchen
Das Abhördrama
Tobys zerrissenes T-Shirt
Doc und Drohungen
Morgenstimmung
MegaWarren
Verkehr und Vernehmung
Der Deal
Die Lockvogelfalle
Hüpfen mit Constance
Abgehörte Langohren
Abendessen und falsche Fährten
Das Ende der Herzlichkeit
Flambierter Fuchs und JVA Leominster
Der Prozess des Lance deBlackberry
Kaninchenkolonie eins
Endspiel
Die Schlacht von May Hill
Nachwehen
Danksagung
»Man kann es nicht oft genug sagen: Alles Leben ist eins.«
Eine kurze Geschichte von fast allem – Bill Bryson
»Für das menschliche Auge sieht ein Kaninchen aus wie das andere.«
The Private Life of the Rabbit – R. M. Lockley
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Jemand sagte mal, eigentlich sei die Bibliothek die dominierende Lebensform auf diesem Planeten. Der Mensch existiere nur, damit er sich vermehren und mehr Bibliotheken erschaffen könne.
»Haben Sie es immer noch mit Western, Baroness Thatcher?«, fragte ich, als ich langsam an der Schlange von Freiwilligen vorbeiging, die vor unserer Bibliothek warteten, einem recht kleinen Gebäude im Pseudo-Tudor-Stil so ziemlich in der Mitte von Much Hemlock, das sich so ziemlich in der Mitte der Grafschaft Hereford befand, die wiederum so ziemlich in der Mitte des Vereinigten Königreichs lag.
Much Hemlock war in so ziemlich jeder Bedeutung des Wortes mittelmäßig.
»Ein Western ist am besten, wenn er gar kein richtiger Western ist«, erklärte Baroness Thatcher, »sondern eher wie ein griechisches Epos. So wie True Grit, zum Beispiel.«
»Mein großer Freund Shane ist eher mein Fall«, meinte Stanley Baldwin, der sich, wie ich finde, selbst gern als sanft sprechenden Mann mit subtiler Macht und ebenso subtilem Einfluss sieht.
Winston Churchill war der Ansicht, dass beide unrecht hätten und Der Ritt zum Ox-Bow mit seiner allgemein positiven Thematik und außergerichtlichen Gewalt deutlich besser sei. Neville Chamberlain versuchte, zu beschwichtigen und einen gemeinsamen Nenner bei dieser Frage zu finden, während David Lloyd George einfach nur ruhig dasaß und sich mental auf die adrenalinlastigen sechs Minuten Speed Librarying vorbereitete, die vor uns lagen.
Vielleicht sollte ich das erklären. Die viel gepriesene Strategische Aktionsgruppe für ländliche Bibliotheken der UKARP-Regierung hatte die Büchereien in Übereinstimmung mit ihrem Wahlprogramm offengehalten, das Personal in Herefordshire jedoch auf eine einzige, einsame Person mit stark verkürzten Arbeitszeiten reduziert, was bedeutete, dass jede einzelne der zwölf Bibliotheken im County nur alle zwei Wochen öffnen konnte – für exakt sechs Minuten.
Und hier trat mein handverlesenes Team aus Fake-Politikern ins Bild. Dank einer Mischung aus sorgfältiger Planung, Schnelligkeit, ausgeprägten Kenntnissen des Dewey-Dezimal-Buchkategorisierungssystems und einer strikten Einhaltung der Abläufe hatten wir es geschafft, Rückgaben, Ausleihen, Reservierungen und Verlängerungen aus vierzehn Tagen in die 360 Sekunden zu quetschen, die uns zur Verfügung standen. Dieses Ereignis war gemeinhin als Buchblitz bekannt.
Mein Name ist Peter Knox, aber für die nächsten sechs Minuten bin ich Ihr John Major.
»Bereit, Stanley?«, fragte ich Mr Baldwin, der für die Rückgaben und Reservierungen zuständig, aber eigentlich Wing Commander Slocombe in Rente war, ein ehemaliger RAF-Offizier, berühmt dafür, dass er bei einem Sprung aus einer Hawker Hunter über Aden ein Ohr verloren hatte. Bemerkenswerterweise wurde ein einsames Ohr aus dem Wrack des Kampfflugzeugs geborgen und ihm angenäht. Noch bemerkenswerter ist, dass es nicht sein Ohr war.
»Bereit hoch drei, Teamleiter.«
»Mr Major?«, fragte Mrs Griswold, die sonst für den Dorfladen von Much Hemlock, die Poststelle, den Tratsch und den Pub zuständig war. »Ich weiß nicht mehr, ob ich nun Winston Churchill oder David Lloyd George bin.«
»Sie sind David Lloyd George«, erklärte ich. »Sie holen die Bücher aus den Regalen, geben sie weiter an Mr Chamberlain, die sie zum Tresen und dort zu Mrs Thatcher bringt, die sie wiederum der Einzigen Bibliothekarin zum Abstempeln reicht. Es ist wirklich sehr einfach.«
»Okay«, sagte Mrs Griswold. »David Lloyd George. Verstanden.«
Ich hatte ein Notfallcodesystem für das Speed Librarying erstellt und Mrs Griswold war definitiv ein Code 3-20: »Jemand, der auf diplomatischen Druck des Dorfes in das Blitz-Team aufgenommen wurde, aber völlig nutzlos ist.« Traurigerweise wusste niemand außer mir, was 3-20 bedeutete, da das System nicht mit der meiner Ansicht nach angemessenen Anerkennung aufgenommen worden war. Dieser Zustand hat seinen eigenen Code, nämlich 5-12: »Mangelnde Begeisterung für korrekte Abläufe.«
Die Kirchturmuhr zeigte 10:45 Uhr und das allgemeine Geplauder wich einem erwartungsvollen Schweigen. Wir hatten die Einzige Bibliothekarin vor der Eröffnung herumwuseln sehen, und obwohl sie uns erlaubte, die Bücher neu zu ordnen, Reservierungen in das System einzugeben und sogar die Karteikästen zu benutzen, waren ihre Stempel sakrosankt: Sie gehörten ihr und nur ihr allein. Deshalb lag es in der Verantwortung von Mrs Thatcher, dafür zu sorgen, dass Bücher und Büchereiausweise exakt vor der Einzigen Bibliothekarin platziert wurden, damit diese ihre Stempelzeit so effektiv wie möglich nutzen konnte. Der stetige Rhythmus von Gummi auf Papier war der Lackmustest eines effizienten Blitzes.
Schnell war Speed Librarying auch zu einem Zuschauersport geworden – zwar gab es leider noch keine TV-Anfragen, aber in der Regel war bei jedem Blitz eine Gruppe lokaler Schaulustiger zugegen, die uns moralisch unterstützte und nach dem Ende des Blitzes mit Tee, Kümmelkuchen und einem Handtuch zum Schweißabwischen versorgte. Nicht alle Schaulustigen waren so hilfsbereit. Norman und Victor Mallett waren de facto die Dorfältesten und dominierten jedes Komitee, vom Pfarrgemeinderat über den Kirchturmfonds bis hin zur Koordinierung der Teilnahme von Much Hemlock am Spick&Span-Wettbewerb für das schönste Dorf in ganz Herefordshire. Sie waren selbst keine allzu großen Fans von Bibliotheken und betrachteten diese als »sinnlose Verschwendung von Steuergeld«.
Angeblich waren sie gekommen, um die aktuelle Neville Chamberlain zu unterstützen, die zufälligerweise die Frau von Victor Mallett war, und sich vehement über alles zu beschweren, was nicht in ihr enges Weltbild passte. Norman nahm bei der Gelegenheit jedoch auch die von ihm zurückgelegte illustrierte Ausgabe von Ruhm und Triumph des britischen Kolonialsystems mit.
Zwei Minuten vor der Öffnung verkündete Mr Churchill, die für Verlängerungen, Hörbücher und den Austausch von abgenutzten Zeitschriften gegen etwas weniger abgenutzte Zeitschriften zuständig war, dass sie auf die Toilette müsse und vermutlich nicht innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten zurückkehren werde. Das war unschön, aber nicht dramatisch, weil Mr Beeton, mein langjähriger Freund und direkter Nachbar, meine Zweitbesetzung für alle Rollen war.
»Könnten Sie Churchill übernehmen?«, fragte ich.
»Wir werden uns niemals ergeben«, antwortete Mr Beeton grinsend, bevor er sich einem ausgedehnten, rasselnden Hustenanfall hingab.
»Sind Sie sich da sicher?«, raunte mir Stanley Baldwin fragend zu. »Für mich sieht er nicht allzu gut aus.«
»Mr Beeton ist bei bester Gesundheit«, behauptete ich hoffnungsvoll, auch wenn das nicht der Realität entsprach: Mr Beeton hatte so viele Gebrechen, dass er eher ein wandelndes medizinisches Wunder als einfach nur ein älterer Mitbürger war. Die einzigen beiden Diagnosen, die er in seinem langen Leben noch nicht erhalten hatte, waren Tennisarm und Tod.
Mr Beeton aka Winston Churchill nahm pflichtbewusst seinen Platz hinter einem Buchwagen ein, in dem sich 46 sorgfältig aufeinandergestapelte Bücher befanden, fein säuberlich sortiert in der Reihenfolge der Regale, damit sie leichter zurückgestellt werden konnten. Ich nickte David Lloyd George zur Bestätigung der kurzfristigen Änderung im Team zu und sie nickte zurück. Just in dem Moment sahen wir beide die Einzige Bibliothekarin auf die Eingangstür der Bibliothek zugehen und auf die Uhr schauen, damit sie auch ja keine einzige Sekunde zu früh öffnete.
Dies war tatsächlich durchaus wichtig: Es waren zwei Öffnungszeitenüberwachungsbeamte der Bibliotheken von Herefordshire anwesend, beide mit Klemmbrettern und Stoppuhren bewaffnet, die von der Strategischen Aktionsgruppe für ländliche Bibliotheken teuer bezahlt wurden. Letztere beschäftigte inzwischen fast 4.000 Mitarbeitende – zufälligerweise exakt so viele, wie Bibliothekare und Bibliothekarinnen zuvor wegen Inkompatibilität mit dem UKARP-Manifest entlassen worden waren.
Ich schaute ebenfalls auf die Uhr.
»Die Zeiger sagen: Es ist Zeit für Rock ’n’ Roll!«
Die Einzige Bibliothekarin schloss die Tür auf und öffnete sie weit. Wir bewegten uns mit militärischer Präzision. Winston Churchill schob den Wagen mit den einzusortierenden Büchern vor sich her, während Maggie Thatcher die Stoppuhr startete.
»Guten Morgen«, begrüßte ich die Einzige Bibliothekarin.
»Guten Morgen, Mr Major«, erwiderte sie den Gruß in einem Singsangton. »Erreichen wir heute unser Ziel?«
»So einfach wie bei den Verhandlungen von Maastricht«, antwortete ich betont zuversichtlich, obwohl ich insgeheim befürchtete, dass wir vermutlich die Rückgaben und Ausleihen schaffen würden, nicht jedoch alle Verlängerungen und Reservierungen. Das Team verteilte sich geschwind auf ihre zugewiesenen Plätze: Mr Churchill, Mrs Thatcher und Stanley Baldwin bewegten sich direkt zum Tresen und reichten der Einzigen Bibliothekarin die Bücher. Innerhalb von Sekunden erfüllte ein stetiges Rums-Rums-Rums den Raum als Beweis dafür, dass die Arbeit nach Plan verlief.
Gleichzeitig hasteten David Lloyd George und Neville Chamberlain die Gänge entlang und luden die Vorbestellungen in einen Bücherwagen, der zum Tresen gebracht würde, sobald die Rückgaben, Verlängerungen und Reservierungen abgeschlossen waren. Und wenn auch das erledigt war, konnte Mr Baldwin mithilfe von Neville Chamberlain die zurückgegebenen Bücher in die Regale sortieren.
»Was macht die Zeit?«, rief ich.
»Neunzig Sekunden sind um, Mr Major«, antwortete Mrs Thatcher.
Alles verlief reibungslos, bis die Einzige Bibliothekarin plötzlich aufhörte zu stempeln, vermutlich aufgrund einer Störung im System, und Neville Chamberlain zeitgleich verkündete, keine Ausgabe von Wind, Sand und Sterne finden zu können.
»Versuchen Sie es unter Aviatik, drei-acht-sieben«, sagte die Einzige Bibliothekarin, der ihre profunden Kenntnisse des Dewey-Klassifizierungssystems zugutekamen.
Während Neville mit einer potenziell falschen Einsortierung von Antoine de Saint-Exupéry beschäftigt war, kümmerte ich mich um die Ursache der Störung im System. Es handelte sich um einen Code 2-76: Mrs Dibley hatte ihre Ausgabe von Henry Ford und andere positive Vorbilder für unzufriedene Jugendliche achtzehn Wochen länger behalten als erlaubt und die Einzige Bibliothekarin füllte ein Formular über die Mahngebühr aus.
»Diese Dame hängt offensichtlich deutlich in der Zeit zurück«, sagte Mrs Thatcher und deutete auf das überfällige Buch. Ich zog eine Grimasse. Die Zeit für den Blitz wurde knapp, aber noch war die Lage nicht aussichtslos.
»Wie läuft es mit Wind, Sand und Sterne, Mr Chamberlain?«, rief ich in Richtung der Regale, während David Lloyd George den Wagen voller Bücher zur Ausleihe zum Tresen schob.
»Ich halte besagtes Schriftstück in meinen Händen«, antwortete Neville Chamberlain triumphierend und hielt das Buch hoch.
Die Einzige Bibliothekarin wechselte von Rückgaben zu Ausleihen und fuhr dann mit einem anderen rhythmischen Rums-Rums, Rums-Rums fort: einen Stempel auf den Büchereiausweis und einen auf das Datum auf dem Rückgabezettel, der vorne in jedes Buch geklebt war. Als Nächstes stand das Einsortieren der zurückgegebenen Bücher in die Regale an, und als Mrs Thatcher »Noch zwei Minuten!« rief, waren wir alle unserer Zeit voraus. Ein Gefühl der Erleichterung machte sich in unserer kleinen Gruppe breit: Wir würden diesen Blitz schaffen und am Ende sogar noch Zeit übrig haben. Gerade stellte ich eine Hörbuchausgabe des besorgniserregend beliebten Werks Cecil Rhodes’ größte Reden, gesprochen von Oswald Mosley, in das entsprechende Regal, als ich eine Stimme hinter mir vernahm.
»Kann ich Sie mal was fragen?«
Erschrocken hielt ich inne, denn ich kannte die Stimme. Ich hatte sie lange nicht vernommen und nicht erwartet, sie jemals wieder zu hören. Es war die Melodie eines sanften und doch ausgesprochen markanten West-Country-Akzents, deren Tonlage sich zum Ende der Frage hin immer höher schraubte. Langsam drehte ich mich um, ohne zu wissen, was ich sagen oder tun sollte. Und da stand Connie und schaute mich mit derselben Intensität an, wie ich sie von unseren spätabendlichen Kaffeetreffen während unseres ersten Jahres an der Universität von Barnstaple in Erinnerung hatte.
»Natürlich«, antwortete ich, ohne zu wissen, ob sie mich erkannte oder nicht.
»Es geht um ein Buch«, erklärte sie fröhlich und ohne den Hauch eines Wiedererkennens. Merkwürdigerweise war ich darüber erleichtert. Ich hatte sie damals sehr gemocht, auch wenn ich es ihr nie gezeigt hatte, und gedacht, sie würde dieses Gefühl vielleicht erwidern. Doch nach ein paar Dates – wobei sie unsere Treffen nie so genannt hatte, ich insgeheim jedoch schon – wurde sie nach einer offiziellen Überprüfung ihres rechtlichen Aufenthaltsstatus der Universität verwiesen und das war’s dann. Ich hätte sie schon immer gern mal wiedergesehen und in den nächsten Wochen würde ich viel mit ihr zu tun haben. In drei Monaten würde ich bei der Schlacht von May Hill an ihrer Seite sein, wenn der Gestank nach verbranntem Gummi und Kordit über das Land wehen und das Artilleriefeuer in der Ferne zu hören wäre. Im Moment jedoch hatte ich davon natürlich noch keine Ahnung und sie vermutlich auch nicht.
»Nun ja, wir befinden uns hier in einer Bücherei«, sagte ich in der Hoffnung, dass sie mir meine plötzliche Verblüfftheit nicht anmerkte. »Was möchten Sie denn wissen?«
Eigentlich hätte sie gar nicht dort sein sollen, und zwar nicht, weil sie ein Kaninchen war. Normalbürger durften die Bibliothek zwar während der Öffnungszeiten betreten, taten es jedoch nie. Schließlich erledigten wir unsere Bürgerpflicht und im Gegenzug hielten sich die Bürger fern, damit wir unsere Pflicht stellvertretend für sie erledigen konnten. Connie, befand ich, war nicht nur eine alte Bekannte, sondern ein Code 4-51: »Nicht identifizierte Bürgerin im Bibliotheksbereich«.
»Ich suche nach Kaninchen und Sinnlichkeit«, erklärte sie. »So wie der Klassiker von Austen, doch spielt die Handlung in Kaninchenbauen und es wird mehr Wert auf Ohren, Sex, Buddeln, Karotten und Sex gelegt.«
»Sex kam in Ihrer Aufzählung zweimal vor.«
»Ja«, sagte Connie und zwinkerte zweimal. »Ich weiß.«
Kaninchen altern besser als Menschen, sofern sie die Gelegenheit haben, überhaupt zu altern, und sie hatte sich in den über dreißig Jahren, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, kaum verändert: kleiner und schlanker als die Norm, ein Wildkaninchen von der braunfelligen Gattung. Sie trug ein gepunktetes Sommerkleid unter einem blassblauen Cardigan mit Knöpfen und vier kleine silberne Ohrstecker steckten in der Mitte des rechten und drei am Ansatz des linken langen und eleganten Ohres. Ihr auffälligstes Merkmal jedoch waren damals wie heute ihre Augen: beide groß und ausdrucksvoll, doch das eine war braun wie eine frische Haselnuss und das andere blassblau-violett, die Farbe von Hasenglöckchen.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte sie, weil ich sie vermutlich angestarrt hatte.
Glücklicherweise suchte sich Neville Chamberlain exakt diesen Moment aus, um uns zu unterbrechen.
»Kaninchen und Sinnlichkeit finden Sie unter sechs-drei-zwei Punkt sechs-sechs«, erklärte sie und zitierte damit die Dewey-Kategorisierungsnummer, die übersetzt bedeutete: »Technik/Landwirtschaft/Schädlinge/Entsorgung«. Das war eine ausgesprochen beleidigende Auskunft. Aber sie war auch mit Victor Mallett verheiratet und die Abneigung der gesamten Familie Mallett gegenüber allen sozialen Gruppen und Spezies, die nicht ihrer eigenen entsprachen, war hinlänglich bekannt. Man munkelte, die Mallett-Kinder wurden sogar dazu angehalten, Enten nur zu füttern, »um sie kämpfen zu sehen«.
»Ich muss Sie korrigieren, Mr Chamberlain«, mischte sich Stanley Baldwin ein. »Vermutlich befindet sich das Buch eher unter sechs-drei-sechs Punkt neun-drei.« Damit bezog er sich etwas weniger beleidigend auf die Kategorie »Technik/Landwirtschaft/Haustiere/Kaninchen«, doch seine Antwort war genauso nutzlos. Connie suchte nicht nach einem Buch über Kaninchen, sondern nach einem der vielen britischen Klassiker, die in den Zeiten nach dem Spontanen Anthropomorphenden Ereignis für Kaninchen umgeschrieben und veröffentlicht worden waren, als die Finanzierung noch gesichert und die Integration in die Gesellschaft noch politische Leitlinie war und kein Wunschtraum idealistischer Liberaler.
»Acht-neun-neun Punkt neun-neun, Mr Major«, fügte die Einzige Bibliothekarin hinzu, die sich auch nicht allzu sehr für Kaninchen interessierte, es jedoch nicht leiden konnte, wenn das Dewey-Dezimalsystem missbraucht wurde. »Literatur/Fremdsprachen. Regal neun.«
»Ich führe Sie hin«, bot ich an und reichte die zurückgegebenen Bücher Neville, die losspurtete, um sie in die Regale zu sortieren, vermutlich, um schnellstmöglich zurückzukehren und die Luft weiter mit ihren Ressentiments gegenüber Kaninchen zu verpesten. Ich für meinen Teil führte Connie lieber schnell weg zur Abteilung für Fremdsprachen.
»Hey«, sagte sie kichernd, »ist die Benennung des Teams nach ehemaligen Premierministern eine direkte Anspielung auf diesen Film von Kathryn Bigelow über den missglückten Banküberfall?«
»Ich ... habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Klar haben Sie das«, meinte sie. »Der mit Patrick Swayze und Keanu Reeves. Wie heißt er noch gleich?«
»Gefährliche Brandung«, antwortete ich und erinnerte mich plötzlich, dass ich diesen Film das erste Mal mit ihr zusammen im Kino der Studentenvereinigung gesehen hatte. Wir hatten in der letzten Reihe gesessen, die normalerweise Verliebten vorbehalten war, doch aus diesem Grund hatten wir die Plätze nicht gewählt. Kaninchen wussten, dass ihre oftmals sehr ausgeprägten Ohrbewegungen allen hinter ihnen Sitzenden einen Kinofilm ruinieren konnten und wählten deshalb aus Höflichkeit die hinterste Reihe. Unsere Unterarme hatten sich beim Hinsetzen berührt und ich weiß noch, wie sehr mir das gefallen hatte. Mehr körperlichen Kontakt hatte es zwischen uns nie gegeben.
»Und«, erklärte ich, »eigentlich handelt es sich eher um eine Hommage.«
»Genau den meinte ich«, sagte sie lächelnd. »Gefährliche Brandung. Sie hätten sich alle Gummimasken überziehen können, wie in dem Film.«
»Die sind bei unserer Tätigkeit eher hinderlich und außerdem müssen wir uns nicht verkleiden«, entgegnete ich. »Abgesehen davon gibt es zwar durchaus Masken von Mrs Thatcher und John Major, Neville Chamberlain und David Lloyd George sind allerdings praktisch nicht zu kriegen.«
»Ich hab mal gehört, man kann William-Shatner-Masken einfach anmalen und in so ziemlich jede Person verwandeln.«
Davon hatte ich auch gehört, sagte aber nichts.
»Das Problem ist eher, dass wir durch die Masken nicht gut genug sehen können«, erklärte ich.
»Neunzig Sekunden!«, rief Mrs Thatcher.
»Sie haben Glück«, sagte ich und zog ein paar verstaubte Bücher aus den Regalen. »Ist das, was Sie suchen, hier dabei?« Ich zeigte ihr die Buchcover, auf denen alles in Rabbity-Schrift1 stand, die ich nicht lesen konnte, genauso wenig wie alle anderen Menschen. Selbst nach 55 Jahren hatte kein Mensch es bisher geschafft, mehr als die absoluten Grundlagen der Kaninchensprache zu erlernen, sei es schriftlich oder mündlich. Jegliche Versuche von Menschen, in dieser Sprache zu kommunizieren, wurden in der Regel mit lautem Gelächter quittiert und füllten die Stand-up-Comedy von Kaninchen neben Witzen über Ohren, Wurfgrößen, die umfassende etymologische Bedeutung von »cuniculus« und die unfreiwillige Komik, die entsteht, wenn man nachts und leicht betrunken während der Paarungszeit aus Versehen den falschen Bau erwischt.
»Oooh!«, rief Connie aus und nahm mir eines der Bücher ab. »Planet der Kaninchen. Das ist ja eine echte Rarität!«
Ich war kein Experte für das Literaturadaptationsprojekt der frühen Achtziger, doch ich wusste, dass von rund hundert Titeln nur einer jemals verboten wurde. In der Adaptation von Planet der Affen waren Kaninchen die dominante Lebensform. Das wurde politisch zu einem heißen Eisen, jedoch nicht unter den Kaninchen. Die noch junge Anti-Kaninchen-Partei Großbritanniens erklärte das zentrale Thema des Romans für »nicht förderlich für gute Beziehungen zwischen Menschen und Kaninchen« und sorgte dafür, dass er aus dem Verkauf genommen und eingestampft wurde.
»Das Exemplar wurde wohl übersehen«, meinte ich.
»Das lese ich mit meiner Familie«, sagte Connie lächelnd. »Vielleicht inspiriert es uns ja.«
Kaninchen lasen selten für sich. Sie betrachteten Lesen mehr als eine Darbietung denn als eine einsame Beschäftigung. Warum, fanden sie, sollte man etwas für sich alleine tun, wenn man es genauso gut gemeinsam mit anderen machen konnte?
»Ein verbotenes Buch?«, fragte Neville Chamberlain, die mit dem Einsortieren der Bücher fertig war und sich nun wieder zu uns gesellte. Sie wollte Connie den Band aus den Pfoten reißen und ihn verschwinden lassen, doch diese ließ nicht locker und so standen sie beide da, jeweils mit ihren Händen/Pfoten am Buch, und zerrten daran.
»Es stand im Regal«, sagte Connie Rabbit. »Also kann man es auch ausleihen. So funktionieren Büchereien nun mal.«
»Erzählen Sie mir nicht, wie Büchereien funktionieren«, sagte Neville Chamberlain, die nun kaum noch beschwichtigend, sondern mehr wie die reaktionäre Mrs Mallett klang, die sie war. »Ich habe schon ehrenamtlich in Bibliotheken gearbeitet, als Sie noch an Ihrer ersten Karotte geknabbert haben.«
Das war schlichtweg eine fiese Beleidigung und beide wussten es.
»Wow«, stieß Connie aus. »Jetzt haben Sie es mir aber gegeben.«
»45 Sekunden!«, rief Mrs Thatcher und jetzt steckte ich in der Bredouille. Wenn die Connie von heute noch annähernd so war wie die Connie, die ich von damals kannte, würde sie nicht nachgeben, und wenn wir die Zeit überschritten, wäre das ein Code 4-22: »Öffnungszeitendefizit«, was bedeutete, dass jede Sekunde, die über die sechs Minuten hinausging, bei der nächsten Öffnung der Bibliothek abgezogen werden würde. Ich äugte zu den beiden Bibliotheksöffnungszeitenüberwachungsbeamten, die uns von der Tür aus anstarrten wie Geier ein verletztes Zebra.
»Mr Major?«, fragte Neville Chamberlain in ihrer Schule-imsiebzehnten-Jahrhundert-Ma’am-der-gehorcht-werden-muss-Stimme: »Unsere Bibliothek ist ein ganz besonderer Ort und darf nicht respektlos behandelt werden.«
»Inwiefern behandele ich sie respektlos?«, fragte Connie ausgesprochen ruhig. »Ernst gemeinte Frage.«
»Sie haben ein ganz erhebliches Problem mit ihrer Attitüde«, meinte Mrs Mallett, die es offensichtlich als Affront ansah, von einem niederen Tier direkt angesprochen zu werden.
»Das tut mir leid«, antwortete Connie. »Inwiefern behandele ich die Bibliothek respektlos, Ma’am?«
Plötzlich herrschte eine unangenehme Stille. Aus Schock, in Erwartung einer Handgreiflichkeit, aus Verwirrung – vielleicht alles drei. Ich holte tief Luft. Wenn man eine Mallett verärgerte, verärgerte man alle Malletts. Wie bereits gesagt, regten die sich immer über irgendetwas auf. Politik, die Regierung, Sozialisten, den Preis von Zwiebeln. Als Wie man eine wilde Kartoffel kocht von der BBC zum Channel 4 verlegt worden war, hatten sie monatelang von nichts anderem gesprochen. Dennoch nahm ich meine Bibliotheksarbeit sehr ernst und war auch noch nie ein großer Fan der Malletts gewesen – aber die Chance, ihnen eins reinzuwürgen mit dem Sahnehäubchen, es glaubhaft abstreiten zu können, durfte ich mir unmöglich entgehen lassen. Also schwieg ich einen Moment und wandte mich dann an Connie.
»Haben Sie einen Bibliotheksausweis?«
»Natürlich«, antwortete sie.
»Dann können Sie das Buch auch ausleihen.«
»Na toll«, sagte Mrs Mallett, die somit ihre Rolle des Neville Chamberlain vollständig abgelegt hatte. »Also verteilen wir nun einfach Bücher an irgendwelche Karnickel, die hier hereinschneien?«
»Dies ist eine Bibliothek, Isadora«, sagte ich. »Wir verleihen Bücher. Und ›Karnickel‹ ist wirklich nicht mehr politisch korrekt.«
Sie lachte spöttisch. »Kommen Sie schon, Peter, das ist nur ein Name, ein Wort, eine Bezeichnung – so wie ›Hut‹ oder ›Auto‹ oder ›Avocado‹ oder so. Wie kann das politisch nicht korrekt sein?«
»Und was ist mit ›leporiphob‹?«, fragte ich. »Ich nehme an, das ist auch nur ein Wort?«
Ich spürte, wie sehr Isadora meine Retourkutsche wurmte. Ich hätte das nicht sagen dürfen, vermute aber, dass ich mich möglicherweise vor Connie etwas aufspielen wollte. Nichtsdestotrotz hatte ich recht. Die Rabbit Compliance Taskforce legte größten Wert auf eine angemessene Terminologie hinsichtlich der Kaninchen, und obwohl das Verhältnis von RabCoT zu der Kaninchengemeinschaft angespannt war, mussten wir stets unparteiisch und unvoreingenommen auftreten. Selbst die Kollektivbezeichnung »das Kaninchen« war heutzutage verpönt.
»25 Sekunden!«, rief Mrs Thatcher mit wachsender Erregung. »Wir müssen hier raus, Mr Major.«
Bevor Mrs Mallett Zeit hatte zu widersprechen, führte ich Connie zum Tresen. Die Einzige Bibliothekarin starrte zuerst den Büchereiausweis an und dann Connie.
»Sie sind Clifford Rabbit?«
»Das ist mein Mann.«
»Damit haben wir es mit einem Verstoß gegen Code 4-20 zu tun«, verkündete Mrs Mallett triumphierend. Augenscheinlich hatte sie also doch meine Codes auswendig gelernt – »Missbrauch von Bibliothekseigentum«.
»Das Buch ist für meinen Mann«, erklärte Connie. »Mitglieder dürfen doch Bücher für andere abholen, stimmt’s?«
Das letzte Wort richtete sie an die Einzige Bibliothekarin, die ihre Zustimmung zum Ausdruck brachte, indem sie sowohl den Büchereiausweis als auch das Buch stempelte und beides an Connie zurückreichte.2
»Zehn Sekunden!«, rief Mrs Thatcher und wir eilten alle inRichtung Tür. Die anderen Mitglieder des Teams waren bereits draußen, und als die Tür hinter uns zuschlug und ins Schloss fiel, checkten Mrs Thatcher und die Überwachungsbeamten ihre Stoppuhren. Wir hatten es mit einer Restzeit von nur drei Sekunden tatsächlich geschafft.
»Gut gemacht allerseits«, sagte ich in dem Versuch, etwas Fröhlichkeit in das Geschehen zu bringen, doch nur Stanley Baldwin und Mrs Thatcher standen neben mir. Die anderen hatten sich zu den Schaulustigen begeben, insbesondere zu Norman und Victor Mallett, vermutlich, um sie zu fragen, wie ein Kaninchen an ihnen vorbei und in die Bibliothek hatte huschen können, und sich über die nächsten Schritte zu beraten. Ich konnte Normans Hals bereits einen hässlichen Violettton annehmen sehen und mehrere Dorfbewohner warfen mir unterkühlte Blicke zu.
Ich schaute mich nach Connie um und entdeckte sie, wie sie mit ihrem Büchereibuch in der einen Pfote und mit der anderen das Handy ans Ohr pressend energischen Sprunges die Straße hoch Richtung Leominster Road hüpfte.
Sie hatte mich nicht erkannt.
»Warum war da ein Kaninchen im Dorf?«, fragte Mrs Thatcher, die meinem Blick folgte.
»Ich weiß es nicht.«
»Wie auch immer, es war ein guter Blitz, Peter«, sagte sie und entfernte sich dann eilig, als sie Victor und Norman Mallett näher kommen sah.
»Nun denn«, sagte Norman in dem blasierten Tonfall von jemandem, der trotz zahlreicher gegenteiliger Beweise glaubt, die moralische Oberhand zu haben. »Wir sollten uns mal darüber unterhalten, ob Karnickel in der Bibliothek willkommen sind.«
Doch er kam nicht mehr dazu, seinem Ärger Luft zu machen. Just in diesem Moment stieß Mr Beeton ein leises Stöhnen aus und fiel in sich zusammen. Umgehend riefen wir einen Rettungswagen, während Lloyd George und Mrs Thatcher abwechselnd eine Herzdruckmassage durchführten, jedoch vergebens. Später erfuhren wir, dass er einen Infarkt erlitten hatte, und somit hatte ich es zum ersten und zum letzten Mal mit einem Code 2-22 zu tun: »Unvermeidlicher Tod bei der Büchereiarbeit«.
»Ich sagte doch, dass er nicht allzu gut aussieht«, meinte Stanley Baldwin.
1Die Schrift sieht aus wie »verschmierter Schlamm«, vergleichbar mit den Flecken, die nach einem Regenguss auf der Veranda entstehen. Das Rabbity-Alphabet verfügt übrigens nur über sechs Buchstaben: N, I, R, H, U und F.
2Als Sparmaßnahme wurde in den Bibliotheken von Herefordshire das alte Karteisystem wiedereingeführt. Jeder Nutzer hat eine Mappe, die in der Bibliothek aufbewahrt wird und in die die Karte, die jedes Buch enthält, gelegt wird. Somit wird sowohl in das Buch als auch auf die Karte, die in der Bibliothek verbleibt, das Fälligkeitsdatum gestempelt. Die Mappen der Nutzer werden in einem riesigen Indexsystem verwahrt. Und das alles ist weitaus einfacher, als es klingt.
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RabCoT steht für die Rabbit Compliance Taskforce und hieß ursprünglich »Rabbit Crime Taskforce«, doch da das zu aggressiv klang, wurde der Name stillschweigend geändert, sehr zu Mr Smethwicks Missbilligung. Er hatte mit dem ursprünglichen Namen eine klare Botschaft senden wollen, dass Kaninchenkriminalität nicht toleriert werden würde.
»Mr Beeton ist also einfach umgekippt?«, fragte Pippa am Montagmorgen beim Frühstück. Sie war den gesamten gestrigen Tag und die Nacht unterwegs gewesen. Ich hatte sie nicht nach Hause kommen hören, aber das war nicht ungewöhnlich. Ich gehe gerne früh ins Bett, um zu lesen, und ihr Zimmer befand sich im Erdgeschoss. Außerdem konnte sie mittlerweile sehr gut auf sich selbst aufpassen. Manchmal ist es besser, nicht zu wissen, wann die eigene Tochter abends nach Hause kommt. Sie war zwanzig, aber auch in dem Alter ist Nichtwissen immer vorzuziehen.
»Jepp«, antwortete ich. »Wie ein Kegel. Wie du weißt, war er aber auch schon 88, insofern kam das nicht allzu überraschend.«
Ich schaute aus dem Küchenfenster auf Hemlock Towers, wo Mr Beeton bis Samstag lange Jahre gelebt hatte. Wir selbst wohnten in den ehemaligen Ställen des alten Anwesens, die im Gegensatz zum Towers jedoch mit den Jahren modernisiert worden waren und inzwischen deutlich mehr Komfort boten.
»Wer das Haus nun wohl übernehmen wird?«, fragte ich mich. Das beeindruckende Gebäude mit den Türmen war das Juwel von Much Hemlocks nicht unbeträchtlicher Sammlung von schönen Häusern. Einige davon stammten noch aus dem 14. Jahrhundert und manch einer behauptete, dass die Dellen in der Fassade von einem unkontrollierten Musketenbeschuss während des Bürgerkrieges stammten. Sollte dem so sein, war die Treffsicherheit der parlamentarischen Kräfte kaum besser als die der Sturmtruppen aus Star Wars, dachte ich.
»Jemand wie Mr Beeton, könnte ich mir vorstellen«, meinte Pippa. »Mit viel Geld und wenig Kälteempfinden.«
»Und mit einem ungesunden Misstrauen gegenüber modernen Sanitäranlagen«, fügte ich hinzu. »Dafür mit einer Vorliebe für Mäuse und aufsteigende Feuchtigkeit.«
Pippa lächelte und reichte mir eine Scheibe Toast mit Marmelade, bevor sie sich selbst noch einen Kaffee einschenkte.
»Ich war gestern Abend bei Toby«, erzählte sie.
»Ah.«
Meine Beziehung zu den Malletts war schon immer angespannt gewesen und hatte sich immens verkompliziert, seit sich Toby Mallett, der jüngste Sohn von Victor, regelmäßig mit Pippa traf. Trotz seiner etwas schwierigen Familie war Toby gut aussehend und zeigte im Großen und Ganzen gute Manieren; dennoch war ich mit ihm nie warm geworden. Politisch gab er sich leidlich liberal, wobei ich das Gefühl hatte, dass er das nur Pip zuliebe tat, denn ich wusste, dass seine Ansichten eher mit denen seines Vaters übereinstimmten. Als das Dorf eine Inszenierung von The Sound of Music auf die Beine gestellt hatte, war es Toby, der sich mit der größten Begeisterung freiwillig für die Rolle von Ralf gemeldet hatte. Er hatte allen erzählt, dass er unbedingt »Sixteen Going on Seventeen« im Duett mit Pippa als Liesl singen wollte, aber mich beschlich der Verdacht, dass er vielmehr die Chance nutzen wollte, sich ungestraft als Nazi verkleiden zu können.
Trotz meines Misstrauens hätte Pippa es schlimmer treffen können. Es hatte sie auch schon schlimmer getroffen. Doch ich hielt mich brav an Tochterregel Nummer sieben: keine unaufgeforderte Meinungsäußerung über den Freund. Lieber auf Nummer sicher gehen und abwarten.
»Hast du gehört, ob irgendwas über Mr Beetons Tod geredet wird?«, fragte ich.
»Niemand gibt dir die Schuld«, antwortete Pippa, wohl wissend, dass die Malletts sie gerne benutzten, um Informationen an mich heranzutragen. »Er hat den Blitz mindestens fünfzehn Mal mitgemacht und wusste, wie stressig und gefährlich diese Art der Bibliotheksarbeit sein kann.«
»Ich hoffe, alle anderen sehen das genauso.«
»Außer bei uns war Mr Beeton nicht allzu beliebt«, meinte Pippa. »Weißt du noch, wie er das Dorf in Aufruhr versetzt hat, als er öffentlich verkündete, die Armen seien doch ›gar nicht so schlecht‹?«
»Dafür habe ich ihn richtig gemocht«, sagte ich und musste ob der Erinnerung lachen.
»Ich auch. Aber in ein paar Wochen ist er vergessen. Das Dorf nimmt seinen Groll sehr ernst. Weißt du noch, wie die alte Granny Watkins ins Gras gebissen hat? Ich schwöre, die meisten Leute sind nur deshalb in die Kirche gegangen, um sich persönlich davon zu überzeugen, dass sie tot war.«
Pippa setzte sich an den Küchentisch und trank einen Schluck Kaffee.
»Die Malletts haben sich mächtig darüber aufgeregt, dass wir die Kaninchen ihrer Ansicht nach zu wohlwollend behandeln«, fügte sie hinzu. »Und das auch noch in meiner Hörweite, insofern wollten sie, dass ich es mitbekomme und weitererzähle.«
»Ach ja?« Das wunderte mich wenig; irgendwie hatte ich so etwas sogar erwartet.
»Ja. Irgendwas von wegen, dass sie deine linken Ansichten durchaus tolerieren, aber solltest du mit deiner ›Ambivalenz‹ gegenüber unerwünschten Wesen ›Schwierigkeiten machen‹, könnte das Konsequenzen haben.«
Ich wandte mich vom Fenster ab und schaute nun sie an.
»Würdest du meine Ansichten als links bezeichnen, Pip?«
Ehrlich gesagt hätte ich mich bisher der politischen Mitte zugeordnet. Wobei ich eher apolitisch war. Ich hatte keine Zeit für so was.
»Verglichen mit dem Rest des Dorfes«, sagte sie lächelnd, »würde ich dich fast als Marxisten bezeichnen.«
Much Hemlock war schon immer eine Brutstätte für rechte Tendenzen gewesen, was einen starken historischen Hintergrund hatte: Das Dorf hatte die zweifelhafte Ehre, mehr Hexen verurteilt und verbrannt zu haben als jede andere englische Stadt in der Geschichte. 31 waren es insgesamt bis zu jener finsteren Nacht im Jahr 1568, als sie versehentlich eine echte Hexe erwischten und alle Beteiligten hässliche schwarze Pusteln bekamen und innerhalb von 48 Stunden einen ausgesprochen qualvollen Tod starben. Zephaniah Mallett hatte den Prozessen als Richter vorgesessen und leider vor seinem Tod Kinder gezeugt, sodass vier Jahrhunderte später Victor und Norman auf Erden wandelten. Diese führten die Familientraditionen gerne fort, auch wenn das Verbrennen von Hexen aktuell tabu war.
»Aber ich mache keine Schwierigkeiten, oder, Pip?«, fragte ich.
Sie schaute auf, lächelte und ich erkannte ihre Mutter in ihren Augen. Obwohl die nun schon seit zehn Jahren nicht mehr bei uns war, hatte ich mich immer noch nicht daran gewöhnt.
»Du machst keine Schwierigkeiten, Dad. Die Malletts machen Schwierigkeiten. Ich glaube, Victor meinte, dass du den Kaninchen gegenüber unnötig freundlich bist und dass diese Freundlichkeit als Einladung fehlinterpretiert werden könnte. Und du weißt ja, wie wichtig ihnen der Erhalt des kulturellen Herzens des Dorfes ist.«
»Der Erhalt des kulturellen Herzens des Dorfes« war die Leitlinie der Malletts, ihre Mission, Entschuldigung und Rechtfertigung für ihre streitbaren Ansichten in einem. Eigentlich wollten Victor und Norman mit ihrem Gerede über das »kulturelle Herz« nur ihren Wunsch rechtfertigen, unerwünschte Wesen auszuschließen – eine Definition, die so weit gefasst war, dass sie in mehrere Unterkategorien unterteilt wurde, und jede davon zog den Zorn der Malletts auf eine ganz eigene Weise auf sich. Und dabei ging es nicht nur um Ausländer und Kaninchen. Sie hassten alle »Schmarotzer« – und wieder war diese Bezeichnung sehr weit gefasst, sie schloss jedoch praktischerweise alle aus, die eine staatliche Frührente bezogen. »Schmarotzer« waren hingegen alle Gruppen, die ihnen zutiefst suspekt waren, zum Beispiel alle, die einen VW Passat fuhren, »das Auto der selbstgefälligen Linken«. Ebenso zu den Schmarotzern gehörten Vegetarier, Sandalenträger, Männer mit »übermäßig eitler« Gesichtsbehaarung – und Frauen, die Latzhosen trugen, laut sprachen und die unverschämte Frechheit besaßen zu glauben, ihre Meinung sei irgendwie relevant oder, noch schlimmer, korrekt.
»Ich glaube, ich habe Connie das Buch nur ausleihen lassen, um die Malletts zu ärgern«, sagte ich.
»Und dafür verdienst du meinen vollen Respekt.« Pip hielt einen Moment inne und sagte dann: »Woher weißt du ihren Namen?«
»Der, äh, stand auf ihrem Büchereiausweis.«
Die Lüge ging mir recht überzeugend über die Lippen, wobei ich selbst nicht verstand, warum ich unsere Freundschaft so automatisch verleugnete.
»Vermutlich die Kurzfassung von Constance. Die haben oft viktorianische Namen. Das hat alles mit diesem Beatrix-Potter-Chic-Ding3 zu tun.«
Pippa nickte. Plötzlich hupte ein Auto zweimal vor der Tür. Sally Lomax war schon seit der Krabbelgruppe Pippas beste Freundin und sie standen sich näher als Schwestern. Sally ging ebenfalls zur Krankenpflegeschule und nahm Pippa mit, wobeisie Kinderpflege lernte, nicht Pflegemanagement. Pippa trank ihren Kaffee aus und sammelte ihre Sachen zusammen.
»Ich habe bei den Malletts ein gutes Wort für dich eingelegt«, sagte sie und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Ich habe ihnen gesagt, dass deine anstößige Toleranz lediglich der Einhaltung geltender Bibliotheksregeln geschuldet war, du ansonsten aber genauso wenig ein Freund der Kaninchen bist wie sie selbst.«
»Danke«, sagte ich.
»Bis heute Abend!«
Und schon war sie weg.
Ich deckte den Tisch ab, räumte den Geschirrspüler ein und griff um Punkt neun Uhr nach Aktentasche, Jacke und Autoschlüssel. Als ich nach draußen ging, wartete Toby Mallett vor der Garage auf mich – wir arbeiteten im selben Büro in Hereford und ich nahm ihn häufig mit. Ärgerlicherweise – und dennoch wenig überraschend – stand sein Vater Victor Mallett neben ihm. Wir wünschten uns allesamt gegenseitig einen guten Morgen.
»Guten Morgen«, sagte Victor.
»Guten Morgen«, sagte ich.
»Guten Morgen«, sagte Toby.
Nachdem wir dieses komplizierte Ritual hinter uns gebracht hatten, fragte Victor: »Könntest du mich mit in die Stadt nehmen? Mein Zephyr ist gerade in der Werkstatt. Beläge auf den Ventilen.«
Ich sagte zu, weil ich nicht nicht zusagen konnte, obwohl mir völlig klar war, dass es ihm nicht um eine Mitfahrgelegenheit nach Hereford ging, sondern darum, mich wegen des Vorfalls mit Connie in die Mangel zu nehmen. Und wir waren noch nicht einmal aus dem Dorf raus, als er schon damit anfing.
»Tut mir leid, dass ich dich neulich in der Bibliothek so hart angegangen bin«, sagte Victor. »Und dass meine Göttergattin dir wegen dieses dahergelaufenen Nagetiers das Leben schwergemacht hat. Du lagst richtig – das Kaninchen hatte jedes Recht, sich in der Bibliothek aufzuhalten.«
»Schon okay«, sage ich, wohlwissend, dass solche Unterhaltungen immer so abliefen: der Charme, die Schmeichelei, die aufgesetzte Freundlichkeit – und dann der Angriff, um zu bekommen, was er tatsächlich wollte. Victor war so durchschaubar wie Luft, wenn auch nicht annähernd so nützlich. Als Nächstes würde er mich vermutlich fragen, ob ich wisse, wer »das Kaninchen« war.
»Also«, sagte er. »Weißt du, wer das Kaninchen war?«
»Welches Kaninchen?«
»Das in der Bibliothek.«
Fast das ganze Wochenende hatte ich an Connie denken müssen. Damals an der Universität hatten wir uns nur ein paar Mal auf einen Kaffee oder einen Kinobesuch getroffen. Zehnmal, wenn’s hochkommt – ohne jemals romantische Gefühle zur Sprache zu bringen, geschweige denn danach zu handeln –, aber sie hatte bei mir Eindruck hinterlassen und ich vielleicht auch ein bisschen bei ihr. Nachdem ihr aufgrund überarbeiteter Aufnahmekriterien für die Universität nachträglich die Zulassung entzogen worden war, wurde eine Demonstration geplant. Die ganze Sache war auf Drängen der UKARP erfolgt, die damals eher Propagandisten und noch keine ernst zu nehmenden politischen Akteure waren. Die Anti-Kaninchen-Gruppe hatte versucht, acht Ziegen, vier Regenwürmer und ein Pony namens Diddy für verschiedene Kurse einzuschreiben mit dem Argument, dass wenn Kaninchen studieren durften, dann logischerweise auch alle anderen Tiere – selbst die dummen, nicht vermenschlichten. Ein Gerichtshof hatte zu ihren Gunsten geurteilt, sodass Connie sowie alle anderen Kaninchen von sämtlichen Universitäten ausgeschlossen wurden. Wir konnten uns nicht verabschieden und hielten auch keinen Kontakt. Zwar hatte ich überlegt, sie in der Datenbank bei der Arbeit zu suchen, es aber nie getan.
»Ich habe ihren Namen nicht mitbekommen.«
»Hast du sie schon mal gesehen?«
»Ich ... glaube nicht.«
»Wir könnten die Politik in diesem Dorf besser ausrichten«, sagte Victor, »wenn wir wüssten, ob ein Ereignis einmalig war oder Teil eines Musters ist, zumal die Preisrichter des Spick&Span-Wettbewerbs in den nächsten Wochen ihre Entscheidung fällen. Und ich will nicht, dass hier passiert, was in Ross4 passiert ist. Dort kann man sich vor lauter Kaninchen kaum noch bewegen, der ganze Ort riecht nach Salat und Englisch wird dort fast gar nicht mehr gesprochen.«
»Ich war neulich im Ein-Pfund-Laden«, mischte Toby sich ein. »Dort war alles voll von Kaninchen, die sich auf Rabbity unterhalten haben. Ich schwöre, die haben mich mit voller Absicht nicht verstanden, einfach nur, um mich wegzuekeln.«
Ich antwortete nicht. Darauf gab es keine Antwort. Was in Ross passiert war, hieß niemand gut, aber alles war völlig legal. Und ich musste es wissen: Das Thema war auf der Arbeit heiß diskutiert worden.
»Könntest du ein paar Sachen für uns recherchieren, wenn du bei RabCoT bist?«, bat Victor. »Ich habe das Kaninchen sagen hören, das Buch sei für ihren Mann Clifford, und es kann nicht allzu viele Kaninchen außerhalb der Kolonien geben, die Clifford heißen und einen Büchereiausweis besitzen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das eine angemessene Verwendung unserer Ressourcen wäre«, sagte ich, weil ich kein Lakai der Malletts sein wollte. »Außerdem arbeiten wir beide nur in der Buchhaltung. Und wenn das Kaninchen oder ihr Mann legal außerhalb der Kolonien lebt, dann ist das sowieso kein Fall für RabCoT.«
Ich warf Victor einen Blick zu. Er starrte mich leer und ohne zu blinzeln an – ein frühes Anzeichen dafür, dass er dabei war, die Fassung zu verlieren.
»Na gut«, sagte er. »Dann fragen wir halt bei TwoLegsGood nach.«
Von den drei Humansuprematistengruppen, die aktuell im Vereinigten Königreich aktiv waren, war TwoLegsGood die größte, am besten organisierte – und die gewaltbereiteste. Ich verstand Victor Malletts Schachzug.
»TwoLegsGood sind schlicht und ergreifend Verbrecher«, sagte ich. »Und es ist niemandem geholfen, wenn die Situation eskaliert.«
»Es sind keine Verbrecher, sondern Patrioten ihrer Spezies«, antwortete Victor schnippisch. »Und obwohl wir ihren Enthusiasmus und ihre Politik begrüßen, muss ich zugeben, dass sie sich gelegentlich etwas in Zurückhaltung üben sollten. Eine einzige kleine Lyncherei und schon werden sie als rechtsextreme Reaktionäre und Leporiphobiker5 dargestellt – was sie nicht sind. Vielmehr handelt es sich um Realisten, die den Multispeziesismus berechtigterweise kritisch betrachten.«
Ich seufzte.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach ich.
Victor Mallett grinste breit. Es gefiel ihm, seinen Willen durchzusetzen, und sobald ihm das gelungen war, konnte er eine ganz passable Performance einer pläsierlichen Person hinlegen.
Für den Weg nach Hereford brauchten wir eine halbe Stunde und ich setzte Victor in Bobblestock ab.
»Na dann mal tschüss, alter Kumpel«, sagte er, als er aus dem Auto gestiegen war. »Du und Pip müsst unbedingt mal zum Abendessen vorbeikommen.«
Das meinte er nicht ehrlich, doch ich antwortete, dass wir gern kommen würden, was ich aber auch nicht ehrlich meinte.
»Tut mir leid wegen meinem Vater«, sagte Toby, als wir die restliche Strecke in die Innenstadt zurücklegten. »Er will einfach nur das Beste fürs Dorf.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Pol Pot auch nur das Beste für Kambodscha wollte«, antwortete ich. »Aber so richtig gut hatdas nicht funktioniert. Scherz!«, fügte ich hinzu, weil ich bemerkte, dass Toby kurz davor war, die Vorhänge für eine Theatervorstellung der Empörung hochzuziehen, wie es die Malletts gerne taten, wenn sie auch nur den kleinsten Gegenwind erlebten.
»Also«, fragte ich, um das Thema zu wechseln, »wer, glaubst du, wird Daniels ersetzen?«
Daniels war unser Führungsoffizier, und zwar der freundlichste, den wir jemals hatten. Leider jedoch war der Job sehr stressig und »freundlich« nicht unbedingt die beste Strategie, wenn es um die Arbeit bei RabCoT ging.
»Keine Ahnung«, antwortete Toby. »Jemand, mit dem die Zusammenarbeit Spaß macht, hoffe ich.«
Ich parkte vor dem regionalen Hauptquartier der Rabbit Compliance Taskforce, einem Gebäudeklotz aus den Dreißigerjahren mit einem halbherzigen Hauch von Art déco, der vom Premierminister Nigel Smethwick höchstpersönlich in Smethwick Centre umbenannt worden war, um sein eigenes Vermächtnis zu gestalten, solange er dazu noch genug Macht besaß.
Smethwick hatte seine politische Karriere fünfzehn Jahre zuvor als Minister für Kaninchenangelegenheiten begonnen, als UKARP noch lediglich Koalitionspartner war, und zur Feier seiner Beförderung die Anzahl der Delikte, die ein Kaninchen verbrechen konnte, erheblich aufgeblasen. Gesetzentwürfe wie »Ordnungsrahmen für unterirdische Konstruktionen« und »Gesetz über die Zulassung von orangefarbenem Wurzelgemüse« stammten von Smethwick höchstpersönlich. Diese neuen Gesetze erhöhten logischerweise die Anzahl der Festnahmen und Inhaftierungen von Kaninchen, wobei Smethwick diese natürlich auf eine »erhöhte kriminelle Energie der Kaninchen« schob, was folgerichtig und schamlos zur Rechtfertigung eines deutlich höheren Budgets und Personalbestands zu deren Verfolgung genutzt wurde.
»Oje«, stieß ich aus, als ich die kleine Menschenmenge vor dem Eingang zum Hauptquartier der Taskforce bemerkte. »Sieht aus, als würde sich TwoLegsGood mal wieder über irgendetwas aufregen.«
Die kleine Menschenmenge bestand nur aus vier Personen und wollte augenscheinlich eher Präsenz zeigen als aktiv demonstrieren. Trotz einer Vielzahl leporiphober Angriffe hielten sich die Humansuprematisten in der Regel an geltende Gesetze. Durch eine merkwürdige Macke der umgekehrten Stereotypisierung handelte es sich weniger um ungelernte Hooligans mit Halstattoo und einem IQ knapp oberhalb der Raumtemperatur, sondern vielmehr um Mitglieder der Mittelschicht: Einzelhandel, mittleres Management, christliche Fundamentalisten, arbeitslose Kürschner und Hutmacher, mehrere Ärzte und Anwälte sowie ein paar überzeugte Umweltschützer, die in der Ausbreitung der Kaninchen eine »potenziell größere Gefahr für die Biodiversität des Planeten« sahen als in der Menschheit selbst.6
»Guten Morgen, Gentlemen«, sagte einer, als wir an ihm vorbeigingen. »Bitte weichen Sie nicht vom kühnen und rechten anthropozentrischen Weg ab.«
Ein anderer hielt ein Banner hoch, auf dem stand, dass MegaWarren bald eröffnet werde, und ein Dritter ließ den einen oder anderen Kommentar zum Höchstlohn der Kaninchen vom Stapel, der sei zu hoch und stelle eine »unzumutbare Belastung für die Industrie« dar. Wir sagten nichts, da die Richtlinien der Taskforce jede Mitgliedschaft in oder Zusammenarbeit mit Humansuprematistengruppen untersagte. Im Grunde genommen teilten die Taskforce, UKARP und 2LG die gleichen Ansichten; der Unterschied bestand in der Legalität, Rechenschaftspflicht und Zurechnungsfähigkeit.
»Ah!«, meldete sich eine weitere Stimme aus einer kleineren Gruppe, die sich bisher außerhalb unserer Sicht auf der anderen Straßenseite aufgehalten hatte. »Können wir mit Ihnen über unsere Arbeit für die Rabbit Support Agency sprechen?«
Es waren nur zwei Personen, die hundert Meter vom Smethwick Centre entfernt standen und damit so nah wie rechtlich zulässig. Bei dem Menschen handelte es sich um Patrick Finkle, Gründungsmitglied von RabSAg und aktuell Regionalleiter. Er hatte eine verkniffene, ruhelose Art an sich, als würde er seit 25 Jahren auf einen Angriff im Morgengrauen warten. Ich wusste von ihm, ich hatte ihn schon häufiger hier gesehen, aber wir hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt. Mit Leuten wie ihm zu reden, war uns genauso verboten wie mit den Suprematistengruppen.
»Können wir mit Ihnen über den Kaninchenweg reden?«, fragte das Kaninchen neben ihm, das der Taskforce unter der Bezeichnung Fenton DG-6721 wohlbekannt war. Er war groß, schneeweiß und hatte durchdringende rote Augen, die seine Herkunft als Laborkaninchen verrieten. Er trug gewöhnliche Latzhosen und hatte ein halbes Dutzend Schusslöcher in den Ohren. Seine wohltätige Arbeit sprach Bände und er hätte ein »brauchbares Gesicht für die Kaninchen-Mensch-Integration« abgeben können, wäre da nicht seine Neigung, Würdenträger, die das Dorf besuchten, ungefragt auf die Probleme der Kaninchen anzusprechen, was ihm den Ruf eingebracht hat, »schwierig« zu sein.
»Der Kaninchenweg ist Mumpitz!«, rief einer der 2LG-Gruppe von der anderen Straßenseite. »Nimm deine bescheuerte Religion, deinen veganen Fundamentalismus und deinen sinnfreien Idealismus und steck ihn dir in deine Köttelritze!«
»Genau das mag ich an Humansuprematisten am liebsten«, entgegnete Fenton freundlich, »ihre Eloquenz.«
»Es geht uns um die Überlegenheit, nicht um die Vormachtstellung der Menschen«, antwortete der Mann und plapperte damit ein Gerichtsurteil nach, nach dem Letzteres illegal war, Ersteres jedoch aufgrund der Dominanz der Spezies auf dem Planeten durchaus realistisch. »Das ist ein wesentlicher Unterschied.«
»Es ist derselbe Quatsch mit einer anderen Soße«, meinte Fenton. »Aber immerhin haben wir praktikable Grundsätze, was unseren Sinn des Seins, unseren Platz in der Biosphäre und unsere Beziehungen mit anderen aus derselben Spezies angeht. Leistet die Erklärung der Menschenrechte das Gleiche für Sie?«
Es war ein permanenter Streitpunkt, dass eines der meistgepriesenen Dokumente der letzten fünfzig Jahre von den Kaninchen mit offenem Spott betrachtet wurde. Deren Weg basierte auf Pflichten – jedes Individuum war moralisch dazu verpflichtet, sich um das Wohlergehen der anderen zu kümmern – und nicht auf Rechten, da dadurch, wie die Kaninchen fanden, dem Individuum fälschlicherweise die Last auferlegt wurde, die Respektierung seiner Rechte durchzusetzen.
Der Sprecher der 2LG-Gruppe antwortete mit einem Kommentar zur Primatenhierarchie und Rolle der Beherrschung des Planeten als eine Form des erhabenen Paternalismus, da diese »in den Fabriken des viktorianischen Zeitalters so unfassbar gut funktioniert hat«. Weder Finkles noch Fentons Antwort bekamen wir mit, weil wir inzwischen außer Hörweite waren. Die Diskussion, die Demonstration, unsere emotionale Distanz beidem gegenüber – das alles war das übliche Prozedere.
»Hast du Finkles Hände gesehen?«, fragte Toby.
»Abgehackt«, erklärte ich und bezog mich dabei auf die Praktik, sich freiwillig die eigenen Daumen zu entfernen, um unmissverständlich und unwiderruflich deutlich zu machen, dass man auf der Seite der Kaninchen stand. »Ich hab gehört, dass er sie bei sich zu Hause in Essig eingelegt hat.«
Diese kontroverse Tat war sowohl auf Verblüffung als auch Abneigung gestoßen, doch Finkle hatte damit erreicht, was er hatte erreichen wollen: das absolute Vertrauen des Großen Rates und der Kaninchen im Allgemeinen. Bei UKARP, Nigel Smethwick, dem Ministerium für Kaninchenangelegenheiten und der Taskforce war das komplette Gegenteil der Fall: Da betrachtete man ihn als abscheuliches Aushängeschild höchst gefährlicher Mensch-Kaninchen-Beziehungen.
»Ich habe mal ein paar Teenager-Kaninchen einen hochgereckten Daumen gezeigt«, erzählte Toby. »Da wusste ich noch nicht, dass das für die eine Beleidigung ist. Sie haben mich elf Kilometer lang gejagt und schließlich erwischt.«
»Du hättest versuchen sollen, mit dem Auto zu entkommen.«
»Ich hab das Auto genommen. Wenn die wollen, können sie ganz schön schnell hüpfen.«
»Und was haben sie mit dir gemacht? Spöttische Sticheleien, Sarkasmus, Spezies-Shaming?«
»Nein, es war mehr so ein Gespräch am runden Tisch, in dem sie mir nahelegten, mich mit den Unzulänglichkeiten meiner Spezies auseinanderzusetzen, und mir dann erzählt haben, dass das Zusammenleben der Kaninchen weniger auf Gesetzen basiert, wie wir sie kennen, sondern auf Vereinbarungen im gegenseitigen Einvernehmen und Bräuchen, deren Nichteinhaltung ein suboptimaler Ansatz für eine friedliche Koexistenz wäre.«
»Und wie ist das bei dir angekommen?«, fragte ich, weil ich hören wollte, ob sich Tobys Ansichten geändert hatten.
»Wie der übliche Wir-Kaninchen-sind-was-Besseres-als-ihr-Blödsinn.«
Okay, seine Ansichten hatten sich nicht geändert.
Wir betraten das Gebäude durch den Haupteingang an der Gaol Street und präsentierten dem Wachmann unsere Ausweise, der sie pflichtbewusst kontrollierte, wie er es jeden Morgen tat, seit fünfzehn Jahren bei mir und seit zwei Jahren bei Toby. Dann öffnete er die innere Sicherheitstür aus Glas und wir gingen an den Überwachungsbeamten vorbei, die im riesigen offenen Erdgeschoss arbeiteten. Im Land lebten schätzungsweise kaum eine Million vermenschlichte Kaninchen und nur rund 100.000 hatten das gesetzliche Recht, außerhalb des Zauns zu wohnen. Die restlichen Kaninchen durften sich laut gängiger Gesetzgebung nur innerhalb der Kolonien aufhalten und ihre Bewegungsfreiheit wurde durch eine Reihe von Genehmigungspflichten streng kontrolliert.
»Weißt du, ob der Senior-Gruppenleiter heute kommt?«, fragte Toby.
»Nein, davon weiß ich nichts«, antwortete ich. »Aber wenn dem so ist, wird es sich schon herumsprechen.«
»Der macht mir Angst«, sagte Toby.
»Wie ich hörte, macht er sogar Nigel Smethwick Angst und das sagt einiges.«
Das stimmte tatsächlich. Selbst die schärfsten und eloquentesten Leporiphobiker im Gebäude fanden, dass der Senior-Gruppenleiter »irgendwie zu unkontrollierter Wut neigte«. Was seiner allgemeinen Unterstützung jedoch keinen Abbruch tat.
Hier in der Rabbit Compliance Taskforce der westlichen Region waren wir für die 150.000 Einwohner verantwortlich, die auf dem Berg über Ross etwa vierzig Kilometer entfernt lebten. Bei der Kaninchenkolonie eins handelte es sich um ein weitläufiges, verzweigtes Tunnelsystem, das sich unter Grundstücken, Wäscheräumen, Sandwichfabriken und den allgegenwärtigen Callcentern sowie Montagewerken für Elektrogeräte7 befand. Der gesamte Bereich war von einem kaninchensicheren Zaun umgeben, der laut Taskforce »die vulnerabelsten Kaninchen vor den gefährlichen Humansuprematisten« beschützen sollte. Wobei ihr das niemand abnahm, am wenigsten die Kaninchen.
Wir gingen durch den Verbindungsflur in einen neueren Teil des Gebäudes und dann hoch in den dritten Stock zu unserem Büro. Dieses war geräumig und penibel ordentlich, die Wände waren in einem beruhigenden Grünton gestrichen, Topfpflanzen standen überall herum und ein riesiges gerahmtes Poster eines Berges, der sich in einem neuseeländischen See spiegelte, sollte motivierend wirken, sah für mich jedoch einfach wie ein Berg aus, der sich in einem See spiegelte. Trotz der großen Fenster war es in dem Büro weder allzu hell noch allzu zugig. Die Fenster ließen sich nicht öffnen und das Glas war einseitig verspiegelt, damit wir für Beobachter von außen unsichtbar waren. Angeblich war das Glas auch kugelsicher und eingebaut worden, als die Vorstellung gewaltbereiter Kaninchen-Aktionsgruppen gerade noch so glaubhaft gewesen war.
Agent Whizelle war noch nicht da, aber die Abteilungsleiterin Flemming saß bereits in ihrem Büro, einer der zwei Kabinen mit Glasfronten, von denen aus man in das Gemeinschaftsbüro sehen konnte, die ihr und Agent Whizelle aber auch die nötige Privatsphäre boten. Susan Flemming lächelte gern und sah gut aus, wodurch sie wesentlich freundlicher erschien, als sie eigentlich war. Ihre streitbaren Ansichten zur menschlichen Überlegenheit verbunden mit einem desinteressierten Intellekt und einer moralischen Gleichgültigkeit machten sie nahezu perfekt für eine lange und erfolgreiche Laufbahn in der Kaninchen-Überwachungs-Branche. An der Wand ihres Büros hing kein Foto ihrer Familie, sondern eines von ihr selbst mit Premierminister Nigel Smethwick und dem Senior-Gruppenleiter, vermutlich aus der Zeit, als Flemming zur Abteilungsleiterin befördert wurde. Doch trotz ihres guten Aussehens wirkte Flemming ausdruckslos und ihr einziges Auge – sie hatte nie erzählt, wie sie das andere verloren hatte – blinzelte nur selten und schien sich auch nicht innerhalb der Höhle frei bewegen zu können. Sie musste ihren Kopf drehen, wenn sie sich umsehen wollte, wodurch sie mich immer wieder an eine schlecht geführte Marionette erinnerte.
»Guten Morgen, Mr Knox«, sagte sie.
»Ma’am.«
»Sie sind heute im Außeneinsatz«, fiel sie mit der Tür ins Haus. »Der neue Führungsoffizier bringt eine laufende Ermittlung mit. Whizelle und er haben das ganze Wochenende an der Planung gearbeitet und ich möchte nicht, dass Sie sie enttäuschen.«
Das gefiel mir gar nicht.
»Ich bin wegen meiner Plattfüße von Außeneinsätzen offiziell befreit.«
Zur Bestätigung meiner Aussage wankte ich auf meinen Füßen ein wenig vor und zurück.
»Blödsinn«, meinte Flemming.
»Nein, wirklich. Unterschrieben vom Betriebsarzt.«
»Ich bezweifele nicht, dass Sie diese Ausnahmegenehmigung haben«, erklärte Flemming. »Der ›Blödsinn‹ bezog sich auf Ihre Plattfüße. Hören Sie, Toby verfügt weder über die Erfahrung noch die entsprechende Ausbildung und sonst haben wir niemanden. RabCoT braucht feldtaugliche Spotter, nicht solche, die den ganzen Tag zusammengepfercht rumhocken wie die Hühner.«
»Ja, aber ...«
»Reißen Sie sich zusammen, Knox. Manche von uns haben das deutliche Gefühl, dass Ihre Begeisterung für den Job schwindet. Wenn Sie heute nicht mit rausgehen, könnten wir zu der Entscheidung kommen, ein Mitarbeitergespräch anzusetzen.«
»Ich hatte doch erst vor zwei Monaten eins.«
»Ich meinte eher ein persönliches Mitarbeitergespräch mit dem Senior-Gruppenleiter.«
Sie trommelte mit ihren langen Fingernägeln auf dem Schreibtisch herum und legte den Kopf zur Seite.
Das klang nicht gut. Ein »Mitarbeitergespräch« mit dem Gruppenleiter war beileibe keine gemütliche Unterhaltung über die Arbeit, sondern eine lange und sehr persönliche, mit Schimpfwörtern gespickte Tirade.
»Das würden Sie nicht tun.«
»Klar würde ich das. Er meinte bereits, dass er vorbeikommen und die Sache bereden würde, wenn Sie sich weigern sollten, auf den Außeneinsatz zu gehen.«
Ich spürte, wie meine Handflächen feucht wurden und sich ein Knoten in meinem Magen bildete. Niemand wollte den Senior-Gruppenleiter verärgern. Es gab Kollegen, die auf der Karriereleiter höher standen als ich und lieber gekündigt hatten, als sich diesen Anschiss zu geben, und es war allgemein bekannt, dass selbst die mutigsten Männer und Frauen nach den verbalen Drohungen und Einschüchterungen völlig traumatisiert aus seinem Büro getaumelt waren. Nur wenige wagten, mit ihm Blickkontakt herzustellen, und ich wusste, dass Toby sich nach einem ausgesprochen aggressiven Aufeinandertreffen im Fahrstuhl mal einen Tag freigenommen hatte.
»Okay, ich mache den Außeneinsatz«, sagte ich. Ich musste noch mindestens zehn Jahre arbeiten, bevor ich auch nur an die Rente denken konnte.
»Gut«, sagte Flemming. »Unseren neuen Führungsoffizier lernen Sie heute Mittag im Besprechungsraum kennen. Er wird Ihnen sagen, was er von Ihnen erwartet.«
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und wollte gerade mit der Arbeit beginnen, als Adrian Whizelle hereinkam.
Das Beste, was man über ihn sagen konnte, war, dass er an einem guten Tag nicht ganz so unausstehlich war, wodurch er im Vergleich zum Senior-Gruppenleiter und Nigel Smethwick wie Julie Andrews rüberkam. Er war vom Bereich für die Informationsbeschaffung bei RabCoT zur Abteilung für Identitätsdiebstahl unter Kaninchen kooptiert worden und verfügte in der oftmals stressigen Überwachungsbranche über einen sehr brauchbaren Bewältigungsmechanismus: einen ausgeprägten und abgrundtiefen Hass auf Kaninchen.
»Guten Morgen«, sagte Whizelle.
Wir erwiderten seinen Gruß, Toby enthusiastischer als ich, da die beiden zusammen Squash spielten oder Racquetball oder was auch immer. Whizelle war groß und dunkelhaarig, so dünn wie ein Besenstiel und hatte lange Arme und Beine, die beim Gehen herumschlackerten wie bei einem unbeholfenen Teenager. Seine scharfen Gesichtszüge gaben nichts preis und seine kleinen schwarzen Augen huschten permanent im Raum herum. Auf seiner Wange prangten zwei veritable parallele Narben, die bis zu seinem schiefen Kiefer reichten. Sie stammten von einem Kaninchenbiss nach einer missglückten Zugriffsoperation. Die Zähne der Kaninchen waren infolge der Vermenschlichung größer geworden und inzwischen so scharf und kräftig, dass sie Fleisch so mühelos durchdringen konnten wie nasses Papier.
Whizelle hatte Glück gehabt, dass er nur diese beiden Narben davongetragen hatte.
»Möchte jemand Tee?«, fragte Whizelle, der sich der Wichtigkeit der Bürogepflogenheiten bewusst war.
»Ich nehme gern einen«, sagte Toby.
»Pete?«
»Ich auch!«
Er machte Flemming durch das Glas ein »T«-Zeichen, die mit einem Daumen hoch antwortete. Whizelle wollte gerade das Büro verlassen, als er innehielt und mich ansprach: »Sie gehen heute mit uns auf Außeneinsatz?«
»Sieht so aus.«
»Guter Mann.«
Dann verschwand er.
»Das ist ja doof«, meinte Toby. »Aber sieh es mal positiv: Du bist ein hervorragender Kaninchen-Spotter, insofern werden sie alles daransetzen, dass du nicht zu Schaden kommst.«
»Vielleicht«, sagte ich, äußerte jedoch nicht meine wahre Sorge: Außeneinsätze bargen immer ein Risiko. Nicht nur das Risiko für die persönliche Sicherheit; ich würde auch Dinge sehen und erleben, die ich weder sehen noch erleben wollte. Hätte ich einen Leitsatz für meine Arbeit für RabCoT, wäre er: »Verhalte dich unauffällig, mach dich unsichtbar und gehe nie, wirklich niemals auf Außeneinsätze.«
3Die Blaupause für die Vermenschlichung des Kaninchens wurde gemeinhin als Beatrix-Potter-Stil bezeichnet. Warum das so war, lässt sich unmöglich sagen, aber es war ein Look, ein Gefühl und ein Tonfall, den die Kaninchen annahmen.
4Ross-on-Wye, die drittgrößte Stadt in Herefordshire.
5Menschen, die Kaninchen fürchten/misstrauen/hassen, aber ich gehe davon aus, dass Sie darauf schon selbst gekommen sind.
6Sie führen gerne die Macquarieinsel an, und wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben, sollten Sie unbedingt den Wikipedia-Eintrag dazu lesen.
7Nichts wurde jemals mit Komponenten hergestellt, die kleiner als eine Murmel waren. Fingerfertigkeit ohne opponierbare Daumen ist gar nicht so einfach.
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Kaninchen waren noch nie gut darin, Menschen voneinander zu unterscheiden. Haarfarbe, Hautfarbe, Kleidung, Gang, Schmuck und Stimme waren hilfreich, doch oftmals mussten sie schlicht raten. In Tests konnten 82 Prozent der Kaninchen keinen Unterschied zwischen Brian Blessed und einem Gorilla ausmachen, wenn diese ähnlich gekleidet waren.
Die Identifizierung einzelner Kaninchen war von Anfang an ein Problem gewesen. Fingerabdrücke funktionierten nicht, da ihre Pfoten hart und ledrig waren, und DNA-Tests waren leider nutzlos, da der Genpool der Kaninchen ausgesprochen klein ist. Erwachsene Rammler, die an mehreren Duellen teilgenommen hatten, konnte man an den einzigartigen Mustern aus Schusslöchern in den Ohren erkennen. »Wie eine IBM-Lochkarte«, wurde scherzhaft gesagt. Zibben, also die Weibchen, und die jungen Kaninchen ohne Duellerfahrung sahen hingegen allesamt absolut identisch aus. Für alle Kaninchen, ob Wild- oder Laborkaninchen, die von der Polizei oder der Compliance Taskforce aufgegriffen wurden, galt ein striktes Vermischungsverbot, denn wenn das passierte, konnte man beim besten Willen nicht mehr herausfinden, wer wer war.
Allerdings waren nicht alle menschlichen Augen für die komplexe Physiognomie der Kaninchen blind. Toby, ich und auch andere – wie viele wir waren, wusste niemand – verfügten über eine genetische Anomalie, die es uns ermöglichte, Kaninchen fast so gut voneinander unterscheiden zu können wie sie sich selbst. Wie Sie vermutlich bereits erraten haben, waren Toby und ich mitnichten banale Buchhalter bei RabCoT, sondern ein wichtiger Teil der Taskforce-Maschinerie. Wir trugen den offiziellen Titel »Kaninchen-Identifikationsagenten«, doch intern waren wir bei RabCoT unter der Bezeichnung »Spotter« bekannt. Eigentümlicherweise wurde die Fähigkeit oftmals erst recht spät erkannt: Ich selbst hatte dieses Talent bei mir erst entdeckt, als mir auffiel, dass das Kaninchen, das bei Warten auf Godot