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In "Wie es Licht geworden!", einem fesselnden Roman von Marie Louise von Suttner, entfaltet sich eine tiefgründige Erzählung über die Herausforderungen des menschlichen Daseins und die Suche nach Wahrheit und Verständnis. Das Werk ist geprägt von Suttners charakteristischem Schreibstil, der durch eine klarsichtige, emotive Prosa besticht und den Leser in die psychologischen und moralischen Abgründe der Figuren eintauchen lässt. In einem literarischen Kontext, der von den Herausforderungen der weiblichen Selbstbestimmung und dem Streben nach Frieden durchzogen ist, hinterfragt Suttner die gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit und öffnet so den Raum für eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Themen Freiheit, Pflicht und die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Marie Louise von Suttner, eine Pionierin der Friedensbewegung und die erste Frau, die den Friedensnobelpreis erhielt, lässt in diesem Roman ihre eigenen Überzeugungen und Erfahrungen einfließen. Ihre vielfältigen Tätigkeiten als Schriftstellerin, Feministin und Sozialreformerin prägen die Handlung und rufen eine bewusste Auseinandersetzung mit den moralischen Imperativen ihrer Zeit hervor. Suttners Lebensweg, geprägt von ihrem Einsatz für den Frieden und die Gleichstellung, bietet eine tiefere Dimension für das Verständnis ihrer charismatischen und oft in Konflikt stehenden Charaktere. Dieses Buch ist eine eindringliche Empfehlung für alle, die sich für die Themen Menschlichkeit, Inneres Wachstum und die Herausforderungen der eigenen Identität interessieren. Durch die literarische Eleganz und die philosophische Tiefe von Suttners Werk wird der Leser zu einer kritischen Reflexion über die eigenen Werte und Überzeugungen angeregt. "Wie es Licht geworden!" ist nicht nur ein literarisches Meisterwerk, sondern auch ein zeitloser Appell für Frieden und Verständigung. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Roman
von
Maria Louise von Suttner.
Dresden und LeipzigG. Pierson’sVerlag1898
Alle Rechte vorbehalten. Unberechtigter Nachdruck wird gerichtlich verfolgt.
Meiner lieben Tante und Lehrmeisterin
Bertha von Suttner zugeeignet.
Harmannsdorf, im Frühjahr 1898.
„Ich mag nicht[1q].“
„Dieses Wort kennt man hier nicht, mein Kind: Du mußt.“ Die Klosterfrau mit dem strengen blassen Gesicht drückte mir den Löffel so fest in die Hand, daß es mich schmerzte. Ich würgte die verhaßte Suppe hinunter und mit ihr die Frage, weshalb ich denn eigentlich „müsse.“
Zu Hause, da hatte es immer geheißen: „Tu’s mir zuliebe, Mimi“, und da aß ich den ganzen Teller blank und war reichlich belohnt, durch das freundliche Lächeln meiner Eltern.
„Du mußt.“ Jetzt erst gewahrte ich die schadenfrohen Blicke der Schülerinnen, mit denen ich nun Tag für Tag beisammen sein sollte. Eine stieß mich ganz besonders ab. Es lag ein böser, harter Zug um ihren Mund und in den grünen Augen blitzte es höhnisch auf. Da fühlte ich mich mit einemmale so grenzenlos verlassen und mit der Kindern eigenen Intensivität, malte ich mir meine Zukunft an diesem Orte in den düstersten Farben aus.
Bis zu diesem Augenblicke hatte ich mich den neuen Eindrücken hingegeben, wie jemand ganz Unbeteiligter. Der kahle, weißgetünchte Saal mit den langen Pultreihen und dem erhöhten Sitz für die „Aufsicht“, das Alles kam mir so seltsam vor.
Noch mehr aber verwunderte mich die Frage „ob ich mich freue, ob ich gern gekommen sei?“ Ich besann mich nicht erst lange, sondern erwiderte rundweg: „Nein.“ Mein Blick schweifte zu den Mädchen hinüber. Sie hatten wie auf Commando die Zähne auf die Unterlippe gepreßt und ein vernehmliches „Mais vraiment“ gemurmelt. Wer nur auch so unverschämt aufrichtig sein konnte! Damit kommt man nicht weit; ich blieb es auch nicht lange.
Wie träge die Stunden dahinschlichen; noch nie hatte mir ein Tag so endlos lang geschienen.
Christine, das Mädchen mit den bösen Augen schlich sich in einem unbewachten Moment an mich heran und riß mir das Band vom Zopfe.
„Du garstiges Ding“, es war mir unwillkürlich entschlüpft. Sie aber flugs bei Mère Walter[1]. „Mimi sagt mir „Du“ und ist grob.“
Nun erfuhr ich, daß man sich nicht „Du“ sagen und nicht empfindlich sein dürfe. Christine hätte es ganz zufällig gethan.
„Das ist nicht wahr.“
„Mein Kind, geh’ in den Winkel.“
Diese Ungerechtigkeit erweckte meinen Zorn. „Ich will nicht[2q]“ und dabei stampfte ich mit dem Fuße auf. Mère Walter machte kurzen Proceß; sie packte mich mit festem Griff am Arme und schleifte mich in die Ecke. „So.“
Nun löste sich mein Widerstand in Tränen auf und ich empfand die Ohnmacht des Schwachen dem Starken gegenüber. Und zugleich mit dem Bewußtsein meiner Hilflosigkeit loderte es in meinem Innern auf, gleich einer zündenden Flamme, etwas Wildes, Dämonartiges — der Haß.
Das war mein erster Tag im Kloster, nur ein dünnes Glied der langen, langen Kette.
Ich sprach das Abendgebet nicht mit, denn ich kam mir vergessen, von Gott verlassen vor und lügen konnte ich damals noch nicht.
„Papa“ — weshalb hatte er mir das, gerade das angethan? Tiefe Sehnsucht nach dem alten lieben Heim trat an die Stelle der Auflehnung; es wurde ruhig in meiner Seele und ich weinte mich still in den Schlaf.
** *
Wir standen im Halbkreis, mit den dunkelblauen Sonntagskleidern angetan, endlos lange Bandschleifen um den Hals, und warteten auf die Notenverteilung. Allwöchentlich wurden nämlich kleine Karten mit „sehr gut“, „gut“ und „ziemlich gut“ ausgegeben, je nach dem Verdienste der Schülerinnen.
Ich war lächerlich klein für meine acht Jahre und befand mich als Allererste vor dem Platze, den bei dieser Gelegenheit die Oberin[2] einzunehmen pflegte.
Pünktlichkeit schien nicht gerade ihre starke Seite zu sein. Wir warteten schon eine geraume Weile, als Mère Walter hereingestürmt kam und uns geheimnisvoll zuflüsterte: „Attention mes enfants, la révérende Mère.“ Gleichzeitig intonierte das Harmonium ein frommes Lied und die Zöglinge stimmten mit ein.
Tiefe Verbeugung beim Eintritt der Erwarteten. Alle setzen sich. Mère Walter klappt ein großes dunkles Heft auf, lächelt mit verbindlicher Miene der Oberin zu, und beginnt dann die Verlesung. Eine endlose, immer gleichförmige Litanei von lauter „Sehr gut“, „sehr gut“, „gut“, die mich bei Weitem weniger fesselt, als das Gesicht der ehrwürdigen Mutter. Um ihren zahnlosen Kiefer zuckt es wie unausgesetzte Blitze und der große Kopf baumelt im Takte auf und ab. Es erinnert mich an die chinesische Pagode auf unserem Kamin zu Hause und diese Ähnlichkeit macht sie mir sympatisch. Ob sie wohl besser, sanfter ist als die Anderen? Da plötzlich werde ich aus meiner Betrachtung aufgeschreckt.
„Mimi Steindorf, ziemlich gut.“
Mechanisch stelle ich mich vor den Tisch, mache einen ungeschickten Knix und streckte meine Hand aus, um die Karte in Empfang zu nehmen.
„Es sind Klagen über Dich eingelaufen, Kind“, — wie rauh und unangenehm ihre Stimme klingt — „Du mußt Dein Benehmen ändern und Mère Walter um Verzeihung bitten,“ und da ich zögere: „Nun, wird es? — schnell.“
„Ich habe nichts getan.“
„Was? — Schäme Dich. Ich verbitte mir solche Antworten. Senke den Blick. Mère Walter, halten Sie ihr heute eine Vorlesung über die christliche Demut; sie scheint es dringend zu benötigen.“ Rote Flecke zeigen sich bei diesen Worten auf ihren fahlen Wangen und lassen das Gesicht geradezu abschreckend erscheinen. Es gleicht der gepuderten, clownartigen Maske eines Perlhuhnes.
Nach diesem Vorgang spürte ich nicht die geringste Reue. Im Gegenteil: ich nahm mir vor, „wirklich schlimm“ zu sein, so daß sie es nicht länger mit mir aushielten und mich zurückschicken müßten. Ich lernte absolut nichts, schnitt Mère Walter Grimmassen und schrieb einen kläglichen Brief an Papa, der aber nie an seine Bestimmung gelangte, da er der strengen Censur nicht Stand gehalten hatte.
Meine Eltern besuchten mich nach einem Vierteljahre und durch meine Bitten schwach gemacht, erlösten sie mich zum Teil von meiner Qual, indem sie mich „Externe“ werden ließen. Vielleicht empfanden sie auch Gewissensbisse, als sie mein blasses Gesicht, die schlechte Haltung gewahrten.
Freilich, ich hatte die Disteln nicht gerade gegen Rosen vertauscht. Gleich zu Anfang schienen mir meine Eltern gänzlich verändert. Die alte Zärtlichkeit war einem lauernden Mißtrauen gewichen, und ich wußte nur zu wohl, wer dieses Gift in ihre Seele geträufelt hatte. Von Natur aus zurückhaltend in meinen Liebesbeweisen, wartete ich unbewußt auf Entgegenkommen. Doch vergeblich.
Es geschah nicht selten, daß, wenn ich irgend eine komische Situation aus dem Klosterleben in ganz harmloser Weise schildern wollte, Papa mir das Wort mit dem Bemerken abschnitt: „Ich dulde nicht, daß Du Dich über die würdigen Schwestern lustig machst.“
Und so hütete ich ängstlich meine Zunge, legte jedes Wort auf die Wagschale, wurde scheu und verschlossen.
Wenn man aber eine junge lichtdürstende Winde in den Schatten stellt, läßt sie das Köpfchen hängen und verkümmert.
** *
Wie das weh tut, wenn man noch halbverschlafen aus den Federn muß! Jeden Morgen setzte es förmliche Kämpfe ab zwischen Clara, der Zofe, und mir.
„Nur noch eine Viertelstunde, nur noch zehn Minuten, bitte, liebe gute Clara; ich bin so schrecklich müde.“ Ich hätte ihr in meinem Schlafbedürfnis ein Königreich angeboten für diesen kurzen Genuß. Und je nach ihrer Laune und vermutlich nach dem Inhalte des Briefes, den sie tags zuvor von ihrem „Gefreiten“ erhalten, ließ sie sich erweichen oder bestand auf ihrer Forderung.
Dieses unbeschreiblich wohlige Gefühl des bewußten Schlummerns, des traumlosen Träumens, wer hätte es nicht ungezähltemale selbst empfunden!
Doch wie kurz währte die Gnadenfrist! Clara entzündete die Kerze und zog die Jalousien auf. Und jedesmal, namentlich im Winter, verspürte ich tiefes Unbehagen, eine Art von Katzenjammer, wenn ich durch halbgeöffnete Lider in den farblosen Morgen blinzelte. Doch Clara schien wenig Sinn für meine Stimmungen zu haben. Sie zog mir mit energischem Ruck die Decke herab und installierte sich mit dem Elektrisier-Apparat an meinem Bette.
Auch ein Erfolg des Klosters. Die storchbeinigen Stühle und die niederen Pulte bewirkten die ersten Symptome einer Rückgrat-Verkrümmung. Ich zuckte wie ein Frosch; dieses Prickeln und Stechen wie von scharfen Nadelspitzen war mir gräßlich. Dann kam das Eisenmieder an die Reihe. Auf diese Weise eingepanzert, fühlte ich mich beengt und unbeholfen, unfähig, mich zu bücken. Mère Walter machte mir einmal eine arge Scene, da ich ihr den herabgefallenen Zwirnknäuel nicht aufgehoben. Ich duldete lieber die Strafe, als einfach zu erklären, das Mieder sei schuld daran, denn ich schämte mich halb zu Tod und zitterte vor der Entdeckung. Da würden sie dann ihre Witze über mich machen, mich verhöhnen, Christine an der Spitze, — nur das nicht. Ich litt ja ohnedies gering an den Regungen unbefriedigter Eitelkeit, da meine Eltern von krankhafter Sparsamkeit waren und oft die allernötigsten Auslagen scheuten.
„Mama, ich möchte so gerne ein paar Knopfstiefletten haben“ und ich zeigte ihr die durchlöcherten Sohlen.
„Man kann sie doppeln lassen. Und was hast Du denn gegen die Zugstiefletten; sie thun genau denselben Dienst, nur daß sie billiger sind. Wozu denn so verschwenden?“ Ich mußte also die geschmacklosen Chaussüren forttragen, zur heimlichen Freude Christinens, die mich nächstenliebend „das Bettlerkind“ getauft hatte.
Auch das Kleid mußte ich solange benützen, bis die Ellenbogen durchgewetzt waren und der Rücken glänzte. Neue Handschuhe und Haarbänder gab es nur alle heiligen Zeiten einmal, und wenn der Mantel nicht mehr paßte, wurde solange der Kreuz und Quere nach angesetzt, bis von der ursprünglichen Façon nichts mehr zu erkennen war. Was Wunder da, wenn ich stets nur „ungenügend“ in der Ordnung bekam! Papa hielt mir dann lange Strafpredigten, „ich sollte mich zusammennehmen, Andere brächten es ja auch fertig.“
Andere! Wie leicht das gesagt war. Da war eben nicht jede Neuanschaffung von Vorwürfen und Lamentationen begleitet, während bei mir! — Nicht einmal ungebrauchte Bücher hatte ich; lauter beschmutzte Einbände mit Fingerspuren und überklebten Stellen. Wie beneidete ich meine Nachbarin, die große Gertrud, um die vielen nagelneuen Bände! Überdies besaß sie ein Gebetbuch, das von den feinsten französischen Spitzenbildern strotzte, und einen Federnbehälter aus papier mâché mit einer Veilchenguirlande darauf. Ich rechnete und überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis ich mir ähnliche Gegenstände kaufen könnte. Ein paar Jahre gut, wenn Papa mein Monatsgeld von 30 Kreuzern nicht erhöhte. Und selbst dieser minimale Betrag hing von den erhaltenen Klassen ab. Also blutwenig Aussicht! Diesmal würde es ohnedies wieder nur „gut“ geben.
Mère Walter ließ mich auf ihr Zimmer rufen. Mein Herz klopfte zum Zerspringen und ich starrte noch immer in tötlichem Schreck den Zettel an, der meine Nummer trug. Ja „17“, da gab es keinen Ausweg.
Ich legte die Schürze ab und setzte mich auf das „Folterbankerl“ vor ihrer Thüre, um zu warten, bis meine Vorgängerin herauskäme. Wäre sie doch ewig drin geblieben, oder gleich erschienen, schon im nächsten Moment, damit es überstanden wäre. Meine Wangen brannten, die Hände glühten und förmliche Krämpfe befielen mich. Was sie nur wieder sagen würde? Vielleicht gar nichts Besonderes, oder wegen der französischen Aufgabe, dem Stockfisch[3]. Schließlich wichen die klaren Gedanken einer maßlosen Furchtempfindung. Ich blickte hinüber zu den arbeitenden Gefährtinnen, die gesammelt der Lektüre lauschten. O daß ich doch an ihrer Stelle gewesen wäre, nur nicht gerade „ich“, oder überhaupt weit weg, ganz anderswo.
Jetzt hörte ich Schritte. Ich raffte mein bischen Mut zusammen, blickte zum Himmel, machte hastig ein Kreuzzeichen nach dem anderen und gelobte dem lieben Gott, „brav zu sein“, der heiligen Jungfrau, „fleißig zu lernen“, der heiligen Filomena, „das Stillschweigen zu beobachten“, lauter Dinge, von denen ich nachträglich keine Ahnung mehr hatte.
Übrigens pflegten mich meine Heiligen in der Regel schmählich im Stich zu lassen. Und am Ende verdiente ich ja ihre Hilfe gar nicht, wenn ich wirklich so schlecht war, wie Mère Walter behauptete. „In der Kirche eingeschlafen, 6 schlechte Punkte wegen Unaufmerksamkeit in der französischen Stunde und des Ungehorsams am Freitag.“
O dieser Freitag, wie verabscheute ich ihn. Schon beim Eintritt ins Refektorium drang mir der penetrante Geruch von Einbrennsuppe und Stockfisch entgegen. Ich versuchte zu essen, doch schon beim ersten Bissen meinte ich, ersticken zu müssen. Ich zog den Atem an, um den abscheulichen Geschmack weniger zu spüren. „Mir wird schlecht. Darf ich es stehen lassen?“ — „Nein, Du wirst essen.“ Ich nahm die Bissen in den Mund, schluckte sie aber nicht, sondern schob sie in die Wangenhöhlung und behielt sie da bis nach beendigtem Mittagsmale. Dann stahl ich mich in den Garten, drückte das Taschentuch an den Mund und warf es mitsammt dem Stockfisch in die geöffnete Kellerluke.
Hierauf ging es in die Kirche, um den „Kreuzweg“ zu beten. Es war eisig kalt, wir traten uns beim Aufstehen auf die Füße, stießen an den Bankecken an und beteten etwas Lateinisches, das wir auswendig gelernt hatten, ohne den Sinn zu verstehen:
Mein Magen knurrte und der Kopf that mir weh. Den ganzen Nachmittag über fühlte ich Schwindel und eine eigentümliche Beklemmung. Zu Hause wurde es noch ärger; ich klagte über Hitze und Kälte und hatte heftige Üblichkeiten. Man schickte nach dem Arzte, einem noch jungen Manne und Freund Papas.
Er stellte mir die gewöhnlichen Fragen der Doktoren an die Patienten und als er hörte, daß man mich zum Essen gezwungen habe, geriet er in Zorn. „Solch’ ein Unsinn! Ich lasse den ehrwürdigen Schwestern sagen—“
Papa räusperte sich bedeutungsvoll und führte ihn in ein Nebenzimmer. Ich hörte deutlich, wie er meinen Eltern auseinandersetzte, daß es unverantwortlich sei, Kinder auf diese Art zu quälen. Gegen Idiosynkrasie lasse sich nichts machen; Zwang sei eine völlig falsche Methode, nur geeignet, den gesunden Organismus zu untergraben. Die Engländer seien viel vernünftiger in dieser Beziehung. „Vor Allem soll sich der Körper kräftigen, entwickeln, dann lernt es sich von selbst. Schicken Sie die Mimi hinaus aufs Land zur Großmama. Im Freien sein, herumspringen den ganzen Tag, das ist das Richtige.“
Wie hüpfte mir das Herz bei der bloßen Vorstellung. Ein weiches, warmes Dankgefühl gegen meinen Anwalt stieg in mir auf; ich hätte seine Hände fassen und sie küssen mögen. Ja, hinaus nach Steindorf, das war mein Traum und ich jubelte innerlich auf. Doch alsbald sanken meine Hoffnungen auf Null.
„Ein großer Irrtum, ich kann mir als Freund diese Bemerkung schon erlauben,“ sagte der Doktor — Papas Erwiderung war mir entgangen — — „Die Kinder sind nicht für die Eltern da, im Gegenteil.“
Zu viel für meinen Kopf. Was das eigentlich hieß, faßte das Begriffsvermögen der Achtjährigen noch nicht. Später freilich erinnerte ich mich — o wie oft — an diese Worte. Wie hatte er doch Recht gehabt, der gute Doktor Vogler.
** *
Von nun an durfte ich eine halbe Stunde später aufstehen und wurde von der Freitagsabstinenz freigesprochen. Sonst fanden keine wesentlichen Veränderungen zum Bessern statt; viel Lernen und recht trockenes Zeug mitunter, blutwenig Erholung.
Um 8 Uhr Morgens versammelten wir uns zur Messe in der kleinen Hauskapelle. Wir sangen aus großen grauen Büchern Kirchenlieder und da nur die Wenigsten Gehör und Notenkenntnis besaßen, ging es oft jämmerlich daneben. Eine wahre Katzenmusik.
Meine Aufmerksamkeit galt ganz anderen Dingen, als dem Gebete selbst. Ich bewunderte die heilige Filomena, die, eine lebensgroße Wachspuppe, in einem Glasschrein ruhte. Bald hatte sie ein fliederfarbenes, bald ein rotes goldgesticktes, dann wieder ein weiß und grünes Kleid, da sie über eine sehr zahlreiche Garderobe verfügte. Auf dem blondgelockten Haupte, das etwas zurückgebogen in den Kissen lag, trug sie eine massive Goldkrone, mit echten Rubinen besetzt. Es war die Gabe einer reichen Gräfin, die ihre Genesung der Fürsprache unserer jugendlichen Heiligen verdankte.
Und die vielen duftenden Wachskerzen! Ich zählte sie gewissenhaft ab, schloß dann die Augen halb und gewahrte nur einen bläulichen Schimmer, ganz rund, wie eine kleine Sonnenscheibe; keine deutlichen Flammen mehr, Alles floß ineinander, vermengte sich, nur wunderlich-schillernde Arabesken.
Oder ich vertiefte mich in den Anblick der künstlichen Blumenstöcke. Steife, königliche Lilien wechselten mit purpurnen Malven und dunklen Pensées ab.
Die Schwester-Pförtnerin lieferte diese Kunstwerke. Ich hatte ihr zugesehen, wie sie, ganze Berge bunten Stoffes vor sich, zuschnitt und klebte. Warum sollte es mir nicht auch gelingen? Ich verfertigte eine Rose aus Seidenpapier, fand sie sehr schön und schenkte sie Mama. Tags darauf lag sie mit anderm Kehricht auf der Schaufel. Kinderherzen sind empfindlich. Von nun an behielt ich meine Blumen für mich oder ich schmückte meinen kleinen Zimmeraltar damit. Natürlich nur aus Nachahmungstrieb, denn vorderhand war mir die Frömmigkeit im wahren Sinn des Wortes ein Buch mit sieben Siegeln.
Ich plapperte mein Morgen- und Abendgebet in Papas Gegenwart herunter wie ein Papagei, mit den Gedanken Gott weiß wo. Oft blieb ich mitten drin stecken, wiederholte, oder vergaß auch, für Daisy Clairvinceau, Anna Auerbach und Sektionschef Kalb — verstorbene Freunde der Eltern — die „ewige Ruhe“ zu erflehen. Ein verweisender Blick Papas genügte, um mich vollends aus der Fassung zu bringen; ich stotterte und verhaspelte mich umsomehr.
Damit wir während der Andacht nicht gestört wurden, mußte ich die Thür verriegeln. Mama vergaß bisweilen nach der Stunde zu sehen und drückte vehement die Schnalle nieder. Papa murmelte dann etwas, das einer Verwünschung nicht unähnlich war.
Darauf mußte ich Tag für Tag dieselben Gedichte ableiern. „Der Sperling“, „Kommt die Nacht mit ihren Sternen“ und „Die Uhr“.
und so weiter, alle Stunden des Tages und der Nacht durch.
Dieses endlose Poëm hatte mir den Haß eines alten Herrn eingebracht, der in mir eine gefährliche Concurrentin erblickte. Er sprach für sein Leben gern und verzieh mir niemals, daß er eine halbe Stunde nicht zu Wort gekommen. „Kinder gehören nicht in den Salon“, äußerte er wütend.
Um diese Zeit wünschte ich mir sehnlichst ein Gebetbuch in Leder gebunden, wie das von Gertrud. Nein, wenn ich das hätte! Wie die Blätter rauschten und knisterten — es mußte eine Wonne sein. Ich schüttete Wasser auf mein Büchlein und verklebte die Seiten mit Gummi — jetzt rauschte es auch.
Mit wie wenig gibt sich doch solch’ kleines Ding zufrieden und wie unsinnig ist die Freude am erfüllten Wunsch. Ich hatte mir das Bitten abgewöhnt; ich kannte die abschlägigen Antworten im Voraus. Eine Zeitlang verzichtete ich und dann — der Wahrheit zuliebe sei’s gesagt — dann stahl ich. Einen Monat blieb es unentdeckt, dann brach die Catastrophe los, die mich in Aller Augen zur Diebin stempelte.
** *
Als ich eines Morgens den Studiensaal betrete, wirft mir Mère Walter einen Blick zu, der mir das Blut in den Adern erstarren macht und sagt mit dröhnender Stimme: „Folge mir.“
Mir ahnt nichts Gutes. Totenblaß tripple ich durch eine lange Zimmerflucht hinter ihr her. Die Knie zittern mir vor Angst und ich meine in den Boden versinken zu müssen vor Scham. „Vorwärts!“ befiehlt meine Führerin.
Jetzt stehen wir stille; sie klopft. „Entrez.“ Ich wünsche mich tot. Die Erkenntnis des begangenen Unrechts, das ich erst jetzt in seiner vollen Größe erfasse, lastet mir mit Centnerschwere auf der Seele. Ich bin halb besinnungslos vor Angst. Einen Moment blitzt mir der Gedanke auf, zu leugnen, doch da liegen sie ja alle aufgestappelt, die corpora delicti[4] — nicht eines etwa, nein ein halber Tisch voll — und grinsen mich verzweifelt überzeugend an. Ach Gott, was war mir da nur eingefallen?
Ich stehe vor der Oberin, mit Armensündermiene, am ganzen Körper bebend wie Espenlaub. Bevor sie noch ein Wort gesprochen, sinke ich in die Knie: „Verzeihung“ — ich presse die Worte mühsam unter Tränen hervor.— „das eine — einzigemal, — ich werde nie wieder — so was thun. Gewiß — ich will mir — viel Mühe geben — nur nichts Papa sagen — das eine Mal.“
„Steh’ auf, kleine Comödiantin. Wer stiehlt, der lügt auch. Ich glaube nicht an Deine Vorsätze. Du bist ein grundverdorbenes Geschöpf und mußt gestraft werden. Geh’! Mère Walter, da sie dem ganzen Pensionat Ärgernis gegeben, bestehe ich darauf, daß sie öffentlich Abbitte leistet. Der Brief an ihre Eltern ist unterwegs. Ein arger Schlag für ihren rechtlich gesinnten Vater.“ Damit bin ich entlassen.
Wir kehren in den Studiensaal zurück. Es flimmert mir nur so vor den Augen. Jetzt würden es Alle erfahren.
„Meine Kinder“, beginnt Mère Walter salbungsvoll, „ich habe Ihnen eine sehr traurige Mitteilung zu machen. Mimi Steindorf, sag’ dreimal laut und deutlich hintereinander: „Ich habe gestohlen; meine Schwestern in Christo, verzeihen Sie mir.““
Ein Zischen der Entrüstung dringt an mein Ohr — dann spreche ich mit einer mir völlig fremden Stimme die anklagenden Worte nach.
Alles geht mir aus dem Wege. Ich sitze in der hintersten Reihe und wage nicht den Blick zu erheben. Ich suche mir einzureden, daß nicht mein „Ich“ das Schreckliche gethan, nein, eine ganz andere Person, die in gar keinen Zusammenhang mit mir steht und die ich ihrer unglaublichen Dummheit halber verachte. Da sie sich schon fremdes Eigentum angeeignet, hätte sie es doch weniger plump anstellen sollen. Die böse Handlung an und für sich schmerzt mich weit weniger als die Entdeckung.
Ich hatte mit der Zeit einen recht ansehnlichen Vorrat aufgespeichert, was mir eben zufällig unter die Hand kam. Bücher, Lehrgegenstände, einen Spielball und vier Paar Bedientenhandschuhe, das Alles verschwand in meinen Taschen, während diensteifrige Commis Mama ihre Waaren anpriesen. Heute wollte ich gerade die Handschuhe zerschneiden und meiner Puppe Strümpfe daraus machen. Es fällt mir inmitten meiner ernsten Reflexionen ein und die Vereitelung des Spaßes erfüllt mich mit Ärger. Wer weiß, was mir überhaupt nach Schulschluß bevorstand?
Genug, um es mir zu merken mein Leben lang.
Ohne erst viel Worte zu verlieren, legte mich Papa aufs Bett und bläute mich so unbarmherzig durch, daß ich die Schmerzen eine volle Woche spürte. Ich schrie aus Leibeskräften, strampfte mit den Füßen und schlug mit den Händen um mich; es half Alles nichts. Dann sperrte er mich in eine stockfinstere Kammer, von der er mir erzählt, es gehe darin um. Eulen, Ratten, Schlangen und noch viel Ärgeres.
Ich schloß die ganze Nacht kein Auge und was ich damals empfunden, war so haarsträubend gräßlich, daß ich es auch nicht annähernd zu schildern vermag.
Die Rute stand permanent in Salzwasser, für den allfälligen Bedarf. Wir kamen noch wiederholt in Berührung und gewöhnten uns aneinander. Auch das Fasten, das stundenlange Knien auf Erbsen, es machte mir keinen Eindruck mehr. Völlig gleichgültig ließ ich Alles über mich ergehen, wie das liebe Vieh, das die Prügel erträgt, ohne sich zu wehren. Dumpfe Schwüle legte sich mir aufs Gemüt; ich fürchtete die Menschen und wagte sie nur mehr scheu von der Seite anzublicken.
Dabei sehnte ich mich unsäglich nach einem Wesen, das mich verstehen, mir Trost zusprechen und helfen sollte, mich zu bessern. Allein brächte ich es ja doch nie fertig. Ich war nicht schlecht aus Lust am „Schlechtsein“, sondern aus Schwäche, aus Mangel an einem Ansporn zum „Gutsein“.
Oft, wenn ich allein war, streckte ich die Hände aus, nach dem unerreichbaren Phantom. Und ich jubelte laut auf, als es Gestalt annahm, mir näher und näher kam und mich anblickte mit den Augen des Mitleids und der unendlichen Güte.
** *
„Tu’s mir zu Liebe, Mimi!“ Tante Laura’s Hand hatte mich unter’s Kinn gefaßt und ich sah ihr in’s Gesicht. Und was ich in ihren Zügen las, drang mir wie heller Sonnenschein in’s Herz. Ein armes geängstigtes Vöglein, huschte es durch die geöffnete Käfigtüre, schwang sich wie neubelebt zum blauen Äther empor und schmetterte hoch in den Lüften seiner Befreiung Lied „Tu’s mir zu Liebe, Mimi!“ Dieses eine sanfte gute Wort trieb die Dämonen aus und gab den guten Mächten Raum.
Endlich, endlich! Der kindliche Übermut, die alte Daseinsfreude kehrten wieder. Ich sprang auf, drehte mich herum wie ein Kreisel, unaufhaltsam, rastlos, bis ich erschöpft auf einem Stuhle niedersank.
„Nein, so ein Wildfang. Was hast Du denn nur?“ Und noch ganz atemlos erwiderte ich: „Ich bin so froh Tante, so froh. Nicht wahr, Du bleibst recht lange hier bei uns, — bei mir?“
„Wenn Du brav bist.“
„Ja, Tante, Dir zu Liebe.“ Sie blickte mich betroffen an; ich hatte es so eigens feierlich gesagt. Dann nahm sie ihre Arbeit wieder auf; ich ließ mich mit einem Spielzeug zu ihren Füßen nieder. Wir sprachen Beide nichts, aber eine Flut von Gedanken wälzte sich durch meinen Kopf. Mir war mit einem mal so wohl, so leicht zu Mute, wie nach einem lauen parfümierten Bad. Alle Hindernisse schienen mir wie weggeblasen und neue Zuversicht erfüllte mich. Und das Alles, weil mir ein Mensch begegnet war, der mir wohlwollte und mich nicht quälte wie die andern. Von meinen Eltern trennte mich eine Kluft — ich empfand es deutlich — ihnen Freude zu machen, dazu fehlte mir die Begeisterung. Sie zankten stets und ich fürchtete sie.
Im Studiensaale hing hinter Glas und Rahmen der goldgedruckte Spruch: „Alles zur Ehre Gottes[3q]“ und vor jeder Stunde wiederholten wir die gute Meinung. Lippensprache, weiter nichts, die kein Echo weckte in der Tiefe der Seele.
Die Entfernung war so weit. Der liebe Gott wohnte im Himmel und ich konnte mir nicht vorstellen, daß mein schwaches Stimmlein bis zu ihm dringe. Ich hatte mir ein ganz bestimmtes Bild von ihm gemacht. Ein alter Herr mit wallendem weißen Bart, der in eine blaue Draperie gehüllt auf einem Fauteuil sitzt. Er hat schrecklich lange fellige Ohren, die bis zur Erde reichen. Wie soll er denn sonst hören? Bisweilen runzelt er die Stirn und stampft mit dem Fuße, wenn gar zu viel Geschrei da unten ist und er aus dem Durcheinander nicht klug wird. Christine bittet, daß ich etwas anstellen und gestraft werden möge, Papa will Ministerialrat werden und Mama „Ruhe, Ruhe“ haben. Ich weiß nicht was es war, ich hegte kein besonderes Vertrauen zu ihm.
Wir saßen noch immer beim offenen Fenster; schillernde Wölkchen zogen über den Abendhimmel und sachte schlich die Dämmerung heran. Laue Frühlingsdüfte umwehten unser Haar und ein Schwalbenpaar schnäbelte auf dem gegenüberliegenden Dache. Ich blickte die Tante an und erschrack. Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte bitterlich. Und das duldete der gerechte, barmherzige Gott? Also auch die Guten mußten leiden! Arme Tante.
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Wir hatten unsere schwarzen Winter-Capuchons gegen helle Leinwandhauben vertauscht, die unser Gesicht beschatteten und die grellen Sonnenstrahlen abwehrten. Ich beteiligte mich mit großem Eifer am Ballspiel und entschädigte mich so einigermaßen für das lange Stillsitzen. Übrigens, man gewöhnt sich an Alles und die angenehme Aussicht, daß meine Gegnerin Christine demnächst austreten sollte, versöhnte mich völlig mit meinem Schicksal.
Papa steckte bis über den Ohren in seiner Arbeit und Mama klagte ununterbrochen über die verschiedensten Zustände, die Doktor Vogler als hochgradige Nervosität bezeichnete. So blieb ich unter Tante Lauras Aufsicht und damit gab ich mich gern zufrieden.
Der Juni ist wunderschön in Wien. Wir setzten uns in das Gärtchen hinter dem Haus, sie mit einem Buch, ich mit meiner Puppe „Clementine“, die mit verständnislosen Glasaugen vor sich hinstarrte. Sie hatte eine zerquetsche Nase und eine Glatze, aber ich war ihr herzlich zugetan, trotz aller Mängel. Ich traktierte sie mit Sandkuchen und Maulbeeren, dann streute ich den Spatzen kleine Semmelkrummen auf. Zwitschernd, mit breitem Behagen picken sie die Stückchen an, sträuben das Gefieder und sind voll Übermut. Einer sucht dem Andern zuvorzukommen, ihn zu verdrängen und den eroberten Bissen im Notfall zu entreißen. Manche tragen einen Brocken ihrer Familie zu, die Ledigen halten an Ort und Stelle Tafel.
Sie kannten mich und kamen mir sehr nahe; das blinde Zutrauen dieser Tierchen rührte mich.
Tante Laura sprach wenig und blickte oft mit einem Ausdruck ins Leere, der mir in das Herz schnitt. Es lag etwas darin, das ich mir nicht zu erklären wußte und das mich seltsam berührte.
Papa war doch so gut mit ihr; wenn sie für mich bat, verzieh er gleich. Was wußte ich davon, daß sie ein einzigesmal für sich gebeten und — vergeblich. Liebe, Sehnsucht und Entsagung! Das Kloster ist bloß der Beginn; manche gehen aber den Dornenweg ihr Leben lang. Wenn ihre Kräfte nicht mehr reichen, dann legen sie sich hin und sterben, oder sie machen eine Agonie durch, die tausendmal schlimmer ist als Tod.
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