Wie ich ICH wurde - Kathie Kleff - E-Book

Wie ich ICH wurde E-Book

Kathie Kleff

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Beschreibung

Was wäre, wenn unsere schlimmsten Erfahrungen uns nicht mehr kontrollieren würden? Wenn sie uns nicht mehr in unserem täglichen Leben beeinflussen würden und wir in der Lage wären, freie Entscheidungen zu treffen und unsere Beziehungen nicht mehr zu belasten? Das Gefühl, das eigene Leben nicht kontrollieren zu können und immer wieder die gleichen ungünstigen Entscheidungen zu treffen, ist Kathie Kleff sehr vertraut. Als erfolgreiche Radiostimme litt sie bis zur Mitte ihres Lebens unter den Folgen ihrer traumatischen Kindheit, ohne es zu wissen. Anstatt aufzugeben, machte sie sich auf in den Kaninchenbau, um ihr eigenes Trauma besser zu verstehen, endlich zu integrieren und somit in die Heilung zu bringen. In ihrem Buch "Wie ich ICH wurde" teilt sie ihre persönliche Reise und zeigt, wie sie es geschafft hat, die Spirale ihrer Traumafolgen zu verlassen. Von Depressionen und Essstörungen bis hin zu Panikattacken – Kathie Kleff hat alles erlebt und kennt das Gefühl, von sich und der Welt entfremdet zu sein. Dank ihrer Erfahrung und ihres Wissens als traumasensibler Coach hat sie Wege gefunden, ihr frühes Bindungs- und Entwicklungstrauma in gesunde und stabile Beziehungen zu verwandeln, ihre Vergangenheit zu integrieren und ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Wenn Sie auf der Suche nach Inspiration und einem tieferen Verständnis für Trauma und seine Auswirkungen sind, ist "Wie ich ICH wurde" das perfekte Buch für Sie. Tauchen Sie ein in die Welt von Kathie Kleff und lassen Sie sich von ihrer Geschichte berühren.

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Kathie Kleff

Wie ich ICH wurde

DER WEG MEINER TRAUMAHEILUNG

Wichtige Hinweise

Die im Buch veröffentlichten Empfehlungen wurden von Verfasserin und Verlag sorgfältig erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Ebenso ist die Haftung der Verfasserin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen. Die Empfehlungen ersetzen keine ärztliche Konsultation, und deren Anwendung erfolgt auf eigene Verantwortung der Leserinnen und Leser.

Der Inhalt dieses Buches gibt die Meinungen der Autorin wieder, die nicht unbedingt mit der Ansicht des Verlages und seines Teams übereinstimmen.

Die Publikation enthält ggf. Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben; für diese fremden Inhalte können wir keine Gewähr übernehmen. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung nicht erkennbar.

Auch wenn eine gendergerechte Sprache wünschenswert ist, gibt es aus Sicht des Verlages bisher keine befriedigende, gut lesbare Lösung. Der leichteren Lesbarkeit zuliebe haben wir zumeist von der Doppelung männlicher und weiblicher Formen nach dem Muster »der … oder die …«, »er bzw. sie« usw. Abstand genommen. Selbstverständlich liegt es uns fern, dadurch jemanden zu benachteiligen.

© 2023 MOMANDA GmbH, Rosenheim

www.momandaverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2024

Lektorat: Ruth Kalmund

Satz: Davina Maichel

Cover: Sladjana Radujkovic

Fotos der Autorin: Conny Stein, Fotodesign, www.conny-stein.de

Illustrationen: Verena Mayer-Kolbinger

Gesamtherstellung: Bernhard Keller

Druck: CPI Moravia Books – Printed in the EU

ISBN 978-3-95628-071-9

eISBN 978-3-95628-073-3

Für alle Menschen.Die wir alle einmal Kinder waren.

Danksagung

Mein Heilungsweg wäre ohne die Unterstützung unzähliger Autorinnen, Podcaster, Mentoren und vieler anderer kluger Menschen aus aller Welt ein sehr viel steinigerer gewesen. Sie kennen mich nicht, aber sie haben mich aus der Ferne begleitet. Einige von ihnen sind schon vor langer Zeit verstorben, andere zum Glück noch quicklebendig. Und manchmal haben sie nur durch einen einzigen Satz Großes in mir in Bewegung gesetzt. Ihnen gilt mein größter Dank.

Danke an meine langjährige Therapeutin Gabriele Heyers, die stets geduldig und sanft den Raum für mich hielt und somit einer der ersten sicheren Menschen für mich wurde.

Danke an dich, liebe Verena König. Nicht nur für dein wunderbares Vorwort, sondern auch für dein unermüdliches Wirken, dein Sein, deine Freundschaft und deinen klugen Weitblick. Manchmal frage ich mich, wie mein Leben wohl weitergegangen wäre, wenn wir uns nicht begegnet wären.

Ich weiß nicht, wie ich die letzten zwanzig Jahre ohne meine Freundin Claudia überstanden hätte. Mit deiner Klarheit und deiner Stabilität warst du an den dunkelsten Tagen immer und ohne Ausnahme ein sicherer Hafen für mich. Immer. Danke dafür, von ganzem Herzen.

Ich danke dir, lieber Patrick. Du bist mein liebevoller Komplize, mein Verbündeter, mein Reisebegleiter, mein Freund, Partner und Lebensgefährte. Und du warst nicht nur bei der Entstehung dieses Buches für mich ein wertvolles Gegenüber, sondern bist es jeden Tag aufs Neue. Danke für deine Erdung, deinen Humor und auch für deinen Mut, dich auf eine Wundertüte wie mich einzulassen. Ich weiß, das ist auch nicht immer leicht.

Mein Dank gilt natürlich meinem Verlag: Barbara und Bernhard Keller und der ganzen Momanda-Familie. Besonders erwähnen möchte ich Calvin Dibowski, dem ich sicherlich aufgrund von Verspulung den ein oder anderen Schrecken eingejagt habe, und Sladjana Radujkovic für ihre Engelsgeduld, ihre ausgleichende, wohltuende Energie und die Gestaltung des Buchcovers. Zum Glück habe ich euch gefunden und auf meine Intuition vertraut. Unsere Zusammenarbeit fühlt sich für mich nie wie Arbeit an – außer wir müssen ein Fotoshooting machen.

Ich danke meiner Lektorin Ruth Kalmund, die nicht nur großartige Arbeit geleistet hat, sondern sich auch noch völlig unverhofft als Seelenschwester entpuppt und mir so unendlich viel Wertschätzung entgegengebracht hat. Ein riesiges Dankeschön geht an dich, liebe Conny Stein, weil du mich gefühlt schon immer begleitest und stets meine Unversehrtheit und meine Heilung fotografisch eingefangen hast. Verena Mayer-Kolbinger danke ich für ihre einfühlsamen und wunderschönen Illustrationen, die dieses Buch komplett gemacht haben, und Davina Maichel, die am Schluss alles zusammensetzte und somit vollendete.

Auch gilt mein Dank meinem lieben Freund Alexander von Schlieffen, der mir in unruhigen Zeiten immer wieder neue, erstaunliche Perspektiven auf das große Ganze eröffnet. Ich habe viel von dir gelernt, mein Lieber, es ist ein großes Vergnügen, mit dir zu arbeiten, und ein großes Geschenk, dich zu kennen.

Ich danke meinem Sender, Antenne Bayern. Dafür, dass ich mich verändern darf und dass ihr mir in den letzten Jahren nicht einmal das kleinste Steinchen in den Weg gelegt habt. Allen voran Felix Kovac, der im Mai 2020 sicher nicht ahnte, welch wichtiges Kapitel er mit seiner Idee, einen Podcast zu starten, in meinem Buch des Lebens unbeabsichtigt mitschreiben würde.

Danke an Azize Ekinci, die geduldigste Literaturagentin der Welt, für die selbstverständlich war, was ich für unmöglich hielt. Und an Celestina Filbrandt, die das erste Feuer für dieses Buch entfachte.

Von ganzem Herzen danke ich meiner Mutter für ihre Worte und ihren unvorstellbaren Mut, sich in diesem Buch öffentlich zu zeigen. Ich weiß nicht, ob dir bewusst ist, welche riesige Tür zur Heilung du damit aufgestoßen hast. Eine Tür, die zum Frieden zwischen den Generationen führen kann. Mögen sich noch viel mehr Mütter und Väter auf der Welt daran erinnern, dass sie selbst einst ängstliche, einsame und traurige Kinder waren, deren Wunden nie versorgt wurden. Mögen sie sich diesen Kindern zuwenden, anstatt sie und ihr Leiden weiter zu verleugnen.

Und danke an DICH, liebe Leserin und lieber Leser. Dass du auf dem Weg der Heilung bist und nie aufgegeben hast. Wie schön, dass es dich gibt. Die Welt braucht dich.

München, im August 2023

Inhalt

Vorwort von Verena König

Teil 1 – Früher

Am Anfang war das Schlamassel

Traumatisierte Menschen traumatisieren Menschen

Das kleine Mädchen

Meine Mutter

Wer sein Kind liebt, der züchtigt es

Mein Vater

Die Leihoma

Wunderbare Pferde

There is no wisdom like pop music wisdom

Teil 2 – Radio

Vom Trauma zum Traumjob und wieder zurück

Gefangen in der Komfortzone

Stillstand ist das Gegenteil von Tod

Eine neue Tür

Die Verlässlichkeit des Prozesses

Teil 3 – Symptome

Ich glaub, ich hab ein Trauma

Essen

Ich über mich

Vom Lärm und von dem Fenster der Stresstoleranz

People Pleasing

Die Energie von Täter und Opfer

Ich und die anderen

Menschen lesen

In großer Not

Schmerzen

Beuteschema: toxisch

Teil 4 – Beziehungen

Wo hast du nur immer diese Typen her?

Frauenfreundschaften

Die finale Phase – Platz 3

Die vorletzte Lektion

Finale

Worte ohne Wert

Nachspiel

Das fehlende Puzzleteil

Teil 5 – Aufwachen

Face your fears

Das bin gar nicht ich

Erstverschlimmerung

Die Scham

Die Angst

Die Traurigkeit

Die Wut

Teil 6 – Heilung

Babysteps

Selbstfürsorge

Neugier

Der Kontakt mit dem Körper

Der lange Weg zur Meditation

Die Rückkehr zur Natur

Finde die anderen

Was würde Pink tun?

Schlaf

Ein sicheres Gegenüber

Etwas in mir

Teil 7 – Kintsugi

Leben

Posttraumatisches Wachstum

Vergebung

Liebe

Was vom Trauma übrig blieb

Kintsugi

Quellenverzeichnis und Literaturempfehlungen

Über die Autorin

Vorwort

Heilung beginnt in dem Moment, in dem ein Mensch sich gesehen fühlt.

Kathie gibt mit ihrem Buch sicherlich einer großen Zahl von Menschen das Gefühl, endlich gesehen zu werden. Da ist plötzlich jemand, der Worte für das findet, für das man selbst noch keine Worte hatte. Da ist jemand, der sich zeigt – mit all dem Schmerz und den Gefühlen, für die man sich selbst bisher geschämt hat und die man verborgen hielt. Da ist jemand, der davon erzählt, wie es gelingen kann, aus alledem einen Ausweg zu finden und aus den Schatten der Vergangenheit ins Licht der Gegenwart zu treten.

Was für ein Geschenk.

Aus Sicht einer Therapeutin ist es ein großer Schritt, wenn sich ein Mensch anvertraut und öffnet. Zu viele Ängste, Scham- und Schuldgefühle erschweren es Betroffenen oft lange, sich anzuvertrauen und sich in ihrer Verletzlichkeit zu zeigen. Zu groß ist die Angst, zurückgewiesen oder als »falsch« bewertet zu werden. Zu groß ist das Risiko, wieder beschämt oder verlassen zu werden.

Indem Kathie sich auf so authentische und offene Weise zeigt, öffnet sie die Tür zu einem Raum, in dem kein Urteil gefällt und kein Schmerz zugefügt wird. Sie öffnet den Raum zu Selbstmitgefühl, Respekt und Wohlwollen für uns selbst und andere. Sie öffnet einen Raum, in dem Zuversicht wachsen und Heilsames seinen Anfang nehmen kann.

Es handelt sich bei diesem Buch um keine leichte Kost. Das verheerende Ausmaß früher Bindungstraumata zu bezeugen, kann schmerzlich daran erinnern, wie verletzlich wir sind. Die Folgen fortwährender Abwertung und tiefer Einsamkeit werden uns direkt und unbeschönigt vor Augen geführt. Und das ist wichtig, denn es spiegelt die Lebensrealität vieler Menschen wider, die beim Lesen dieses Buches spüren können, dass sie nicht allein sind und dass es nie zu spät ist, um zu heilen.

Dieses Buch nimmt uns mit auf eine Reise durch eine bewegte Biografie, in der eine stetige, kraftvolle und letztlich erfolgreiche Suche nach Heilung und Verbundenheit sichtbar wird. Eine solche Reise braucht Zeit, Kraft, hilfreiche Ressourcen und Menschen wie Kathie, die den Weg weisen und zeigen: Du bist nicht allein.

Verena König

Früher

Deine Mutter ist kaputt, aber du bist es nicht, du trägst dieselben Verbände, Schicht über Schicht.Aber irgendwo darunter bist du längst schon verheilt, du hast viel zu lang ihre Wunden geteilt.

Wir sind Helden, Kaputt

Am Anfang war das Schlamassel

Dies ist ein Buch über Trauma und die Folgen davon. Es ist ein Buch über MEIN Trauma. Beinahe wäre es nicht zustande gekommen, denn ungefähr zehn Tage, bevor ich die erste Fassung fertig hatte, um sie meiner Lektorin zu überreichen, entschied etwas in mir, dass einer von uns beiden – ich oder das Buch – noch nicht bereit war. In einem Zustand kompletter Unbewusstheit oder geistiger Umnachtung löschte ich das gesamte Skript von meiner Festplatte – und zwar unwiederbringlich. Keine halben Sachen, Baby. Ich zog es scheinbar erst unbemerkt in den Papierkorb, den ich einen Tag später leerte, um auch wirklich ganz sicherzugehen. Leider kann ich mich nicht erinnern, wann oder wie das geschah, ich weiß nur, dass der Ordner einschließlich der sieben Teile und circa 220 Seiten an einem Montagmorgen im Mai 2023 nicht mehr auf meinem Schreibtisch lag. Den Rest kann ich nur erahnen.

Das Loch, in das ich stürzte, als ich realisierte, was ich getan hatte, war bodenlos, brutal und sehr finster. An diesem Morgen, um kurz vor sechs, glitt ich lautlos in die Rolle meines vierjährigen Ichs und fürchtete, in einem Strudel tiefer, echter Verzweiflung zu ertrinken. Solche dysregulierten Zustände kannte ich nur von früher, ich hatte vergessen, wie unangenehm sie sind.

Ich weinte, schrie und schluchzte und konnte es nicht fassen. Ich hatte mein Buch gelöscht, mein erstes eigenes Buch, an dem ich fast zehn Monate gearbeitet hatte. Nicht einmal zwölf Stunden zuvor hatte mein Verleger mir den Link geschickt, unter dem man es bereits vorbestellen konnte, begleitet von einem Feuerwerk an glücklichen Emoji. Jetzt gab es kein Buch mehr, das man vorbestellen konnte. Ich hatte nichts, nur die Meldung »Dieses Dokument kann nicht mehr geöffnet werden, weil es entweder beschädigt oder gelöscht wurde«.

In den nächsten drei Tagen, während ich alle technischen Hebel in Bewegung setzte, um doch noch irgendwie zu retten, was nicht zu retten war, durchlief ich im Minutentakt die fünf Phasen der Trauer nach Kübler-Ross, manchmal gleichzeitig. Auf einen Moment abgrundtiefer Traurigkeit folgte die komplette Verleugnung dessen, was geschehen war. Zehn Sekunden später ruhte ich in zenartiger Akzeptanz und verkündete voller Zuversicht, dass alles immer für etwas gut ist, um im nächsten Augenblick wiederum bitterlich in Tränen auszubrechen. Es war interessant.

Was soll ich sagen? Shit happens. Auch wenn es sich über 48 Stunden nicht immer so anfühlte, habe ich auch das überlebt und dieses Buch trotzdem geschrieben. Oder erst recht.

Welche innere Instanz auch immer mit Händen und Füßen versucht hatte, es zu verhindern, sie scheiterte – und ich gewann und folgte endlich dem Ruf, der über dreißig Jahre in meinem Kopf herumgegeistert war. Immer wieder hatte er an meine Tür geklopft, hatte zaghaft nachgefragt und mich aufgefordert, zumindest mal darüber nachzudenken: Schreib deine Geschichte auf! Meine Geschichte aufschreiben. Aha. Klang deutlich leichter gesagt als getan. Wie? Wozu? Und vor allem für wen? Was darf ich erzählen, worüber muss ich Stillschweigen bewahren, was gehört weiterhin schön unter den Teppich und muss für immer im Kreise der Familie bleiben? Darüber spricht man nicht.

Fragen, die mich nachts wach hielten und auf die es am Ende lange immer nur die eine Antwort gab: Das geht auf keinen Fall. Trotzdem fing ich immer wieder an, fand sogar ganz ordentlich, was ich zu Papier brachte, und legte das Skript trotzdem zurück in die Schublade. Ist doch Quatsch, sagte der Kopf, was soll denn der Unsinn? Du hast Wichtigeres zu tun.

Das Projekt geriet immer wieder in Vergessenheit und ich widmete mich lieber den Dingen, die mir vertraut waren. Ich blieb im sicheren Hafen. Der Kopf war zufrieden, das Herz geduldig. So ging es über Jahre.

Vielleicht habe ich meinen Wunsch über all die Zeit unbewusst ins Feld geschickt, wer weiß? Es heißt ja, man solle achtsam sein, was man sich so wünscht. Anfang 2022 flatterte aus heiterem Himmel eine Mail in mein Postfach. Da stand es, schwarz auf weiß, in Helvetica, Schriftgröße 12: »Hallo Frau Kleff! Möchten Sie für uns ein Buch über Trauma schreiben?« Ach du Scheiße, dachte ich. Und dann: Ich flipp aus! Doch diese Freude währte nicht lange, denn mein Verstand schaltete sich sofort ein, um entschlossen und empört auf ihr herumzutrampeln.

Du kannst doch kein Buch schreiben! Das darfst du nicht, so etwas macht man nicht, das ist viel zu persönlich! Das könnte ja am Ende jemand lesen! Was werden die Menschen von früher sagen? Dein Bruder? Deine Mutter? Und außerdem: Wen zur Hölle interessiert schon deine Geschichte und was du zu sagen hast?

In meinem Kopf herrschte Krieg und ich war komplett überfordert. Wochenlang führte ich Diskussionen mit mir, druckste herum, antwortete nicht, kaute das Thema immer wieder durch und fand tausend Gründe, warum es gerade schlecht ist. Schließlich sagte ich ab und verspürte große Erleichterung.

Ich wuchs und reifte – und nur ein halbes Jahr später kam die nächste Anfrage. Ich wusste schon beim Öffnen der Mail, dass diesmal etwas anders war. Ich war so weit. Ich war bereit, all das, was ich auf meiner langen, verrückten und anstrengenden Reise durchgestanden, ausgehalten, erfahren und erlebt hatte, in die Welt zu schicken und zu teilen. Ein letztes Mal ließ ich alle inneren Bedenkenträger zu Wort kommen, bedankte mich freundlich für ihre warnenden und mahnenden Worte und ließ mein erwachsenes Ich die Entscheidung treffen. Und hier sind wir nun. Du und ich.

Dieses Buch ist für all die Traumakinder, deren Mütter und Väter bereits Traumakinder waren und die keine Möglichkeiten hatten, die eigenen Wunden zu versorgen, die ihnen wiederum von ihren Müttern und Vätern beigebracht wurden, die ebenfalls Traumakinder waren. Ich schreibe es für all die Menschen, die mir in den letzten Jahren geschrieben und mir von sich erzählt haben. Mit denen ich arbeiten und die ich begleiten durfte. Die mir ihre Verletzungen zeigten und sich mir anvertrauten. Die älteste Dame kam aus Österreich und war 82 Jahre alt. Sie habe nicht mehr viel Zeit, schrieb sie, aber das sei okay. Sie sei glücklich darüber, dass ihr kurz vor ihrem Lebensende noch so vieles klar werden würde. Und wie wunderbar es sei, dass ihre Enkelin anders und vor allem früher mit diesen Themen umzugehen wisse, als es ihre Generation je gekonnt hatte.

Ich fühlte und fühle mich jedem von euch auf eine Art nah, weil ich fest davon überzeugt bin, dass Trauma sich erkennt. Dazu müssen wir uns nicht einmal persönlich begegnen, wir sehen die Verletzungen des anderen, jedoch nicht mit unseren Augen. Wir sehen sie mit unserem Herzen – und erkennen uns im anderen.

Hier sind wir nun – du und ich –, verbunden durch diese Zeilen und die Wunden, die wir erlitten haben, obwohl es nicht unsere Schuld war. Bereit, sie zu fühlen, sie anzuerkennen, die dicken, schmutzigen Verbände der letzten Jahrzehnte vorsichtig und behutsam Schicht für Schicht abzunehmen, sie zu versorgen, ans Licht zu befördern und sie schließlich dort zu heilen. Bereit, zu lernen, mit den Narben zu leben und sie liebevoll zu betrachten, wenn etwas im Außen sie berührt. Denn Narben bleiben, so viel ist sicher. Sie bleiben ein Teil unserer Biografie, die wir vielleicht nicht komplett neu schreiben, aber auf deren Verlauf und Ende wir doch zumindest Einfluss nehmen können.

Ich nehme dich ein Stück mit auf meine Reise, die gleichermaßen anstrengend, magisch, unvorhersehbar, schmerzhaft und großartig war und ist. Eben wie der Zyklus der kleinen Raupe, die sich unter größten Strapazen immer wieder verpuppen und freikämpfen muss, bis sie schließlich eines schönen Tages als Schmetterling aus ihrem Kokon schlüpft, der seine leuchtenden Flügel ausbreitet und dem Leben entgegenfliegt. Ich teile meine Erfahrungen mit dir, um dir zu zeigen, dass du nicht mutterseelenallein bist, auch dann nicht, wenn du dich so fühlst. Du bist es nicht. Du hast dich vielleicht noch nicht gefunden und verstanden. Aber alles in uns ergibt einen Sinn, wenn du nur begreifst, wozu.

Ich hatte große Angst vor diesem Buch und vor meiner eigenen Sichtbarkeit. Angst, aus der Deckung zu kommen und laut zu sagen: Das bin ich, mit allem, was war, aber vor allem mit dem, was da noch ist und noch entstehen kann. Die ersten Schritte waren mehr ein Stolpern als ein flüssiges Schreiben, aber je mehr ich mich auf die neue Erfahrung einlassen konnte, umso leichter wurde es. Irgendwann landeten die Worte ganz selbstverständlich auf dem Papier, flossen ineinander, formten Sätze, Abschnitte und Kapitel. Erzählten Geschichten, nahmen in den Arm und gaben mir immer mehr das sichere Gefühl, das Richtige zu tun. Manchmal rühren sich noch Zweifel in mir, ob ich das alles bewältigen kann, und damit meine ich vor allem mich in meiner neuen Rolle, die keine Rolle mehr ist. Ich, in meiner neuen Sichtbarkeit. Ich, nackt. Ich, authentisch. Ohne Schutzstrategien. Einfach ICH.

Ich wurde als Kind schwer traumatisiert und ich hatte keine Ahnung. Es hat lange gedauert, bis ich mir diese Tatsache eingestehen konnte. Es hat noch länger gedauert, bis ich verstanden habe, dass das meiste, was ich über mich glaubte, nicht die Wahrheit war und dass meine Wunden genauso schwer wie die meiner Eltern wiegen. Dass ich genauso wichtig und wertvoll bin.

Etwas in mir hat dafür gesorgt, dass ich überlebe. Eine liebende Intelligenz vielleicht, von der ich glaube, dass wir sie alle in uns tragen. Auf einer langen Reise habe ich meine Traumata behutsam aus der Dunkelheit geholt, sie nach und nach kennengelernt, ihre Dynamiken begriffen und sie sanft in mein Leben integriert. Ich habe erlebt, wie aus Wunden Wunder wurden, nachdem ich den Dauerzustand von Überleben-Müssen hinter mir lassen konnte.

Der Weg raus aus dem Überlebensmodus ist kein bisschen leicht, das musst du wissen, aber er ist auch nicht immer schwer. Ich halte ihn für ziemlich alternativlos, wenn diese Welt weiterbestehen soll und wir als Erdenbürger eines Tages miteinander in Frieden leben wollen. Mein Leben lang hatte ich das Gefühl: Das kann nicht alles gewesen sein, da ist noch mehr. Etwas in mir wusste, dass Leben auch anders geht, und es hatte recht. Wenn auch nur einer meiner Sätze, nur eines meiner Worte, dich auf deinem Weg einen einzigen Schritt nach vorn gehen lässt, dann hat sich die doppelte und dreifache Arbeit an diesem Buch schon gelohnt.

Es gibt ein Leben vor dem Trauma, es gibt oft ein langes Leben mit den Folgen des Traumas, aber vor allem gibt es ein Leben nach dem Trauma. Ich möchte, dass du das weißt. Dazwischen liegt eine Welt, die es zu entdecken, zu begreifen und zu erobern gilt. Du kannst lernen, deine Schutzschilder, deine Kompensationsstrategien und scheinbar destruktiven Verhaltensmuster zu verstehen und Schritt für Schritt abzulegen. Du kannst lernen, Beziehungen zu führen, die nährend, sicher und wertschätzend sind. Du kannst neue Erfahrungen machen. Du kannst mit dir in Kontakt kommen, klare Grenzen ziehen, bessere Entscheidungen für dich treffen und lernen, mehr Mitgefühl für dich und deine eigene Geschichte zu haben. Wenn du begreifst, warum dir das lange so schwergefallen ist. Du kannst vielleicht nicht löschen, was war, aber du kannst lernen, heute so damit zu leben, wie du es dir wünschst. Du kannst deine Geschichte nicht umschreiben, aber du kannst lernen, leichter mit ihr umzugehen. Ich kenne deinen Weg nicht, niemand kennt ihn. Nur du allein. Du musst ihn nur gehen, das ist alles.

Du kannst dich aufmachen, hier und jetzt, rein in den Kaninchenbau, durch die Dunkelheit und schließlich ans Licht. Sei gut vorbereitet, denn du brauchst Beharrlichkeit, Offenheit, Neugier, Mut, Ruhe, Disziplin, Geduld und Zeit. Eine ordentliche Portion Humor und Leichtigkeit, wenn es geht, und im besten Fall Verbundenheit mit Menschen, bei denen du dich sicher und gesehen fühlst. Verbundenheit mit der Natur oder mit Tieren. Du brauchst genügend Energie und ausreichend Proviant, um diesen Berg zu erklimmen. Reise mit leichtem Gepäck, gehe kleine und achtsame Schritte, damit du nicht stolperst. Gönn dir Pausen, sie sind wichtig, genauso wichtig wie ausreichend Schlaf und ein gesunder Lebensstil.

Du brauchst deine Kraft, sei dir dessen bewusst. Es ist hilfreich, an anderer Stelle Kraft zu sparen und immer wieder auszuruhen und aufzutanken. Du bist schon viel länger unterwegs, als dir klar ist, und du hast schon viel mehr geschafft, als du denkst. Vielleicht kann es an diesem Punkt noch kleine Verzögerungen geben, aber das ist okay. Nichts und niemand kann dich mehr aufhalten, dich zu entfalten. Du bist schon zu weit gekommen.

Vertraue dem Prozess.

Es ist an der Zeit, dass wir uns unsere Geschichten erzählen.

Dies hier ist meine.

I will not make the same mistakes that you didI will not let myself cause my heart so much miseryI will not break the way you didYou fell so hardI’ve learned the hard way to never let it get that far.

Kelly Clarkson, Because of you

Traumatisierte Menschen traumatisieren Menschen

Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, ist vielleicht viel unspektakulärer, als du vermutest, und genau das machte sie für mich auch lange Zeit so kompliziert. Weil ihre Folgen diffus waren, alles andere als offensichtlich, und ich sie auch nicht wirklich ernst nahm. Niemand tat das. Sie war und ist eine von viel zu vielen, wie sie wahrscheinlich Millionen von Männern und Frauen meiner Generation erlebt haben. Wir, die Kinder der Nachkriegskinder. In diese Welt gesetzt von Eltern, die selbst als Kinder emotional nicht viel zu erwarten hatten, weil ihre eigenen Eltern – unsere Großeltern – und deren Eltern die Prägungen ihrer Ahnen sowie den Schrecken und die Traumata zweier Kriege noch tief in ihren Zellen trugen. Die selbst im Innern auf eine Art immer Kinder geblieben waren. Zutiefst verängstigte, verletzte Kinder, aus denen verletzte und verletzende Erwachsene wurden. Kinder in Angst, Not und Einsamkeit – auf der verzweifelten Suche nach einem Zuhause, nach Sicherheit und Geborgenheit. Die völlig selbstverständlich bestraft, misshandelt und geschlagen wurden, in der Familie und auch in der Schule, ohne einen Verbündeten an der Seite zu haben, der diese Methoden infrage stellte und bessere Entscheidungen im Sinne des Kindeswohls traf. Meine Eltern wollten gute Eltern sein, so wie alle Eltern. Aber wie viele andere waren sie aufgrund ihrer eigenen Biografie nicht in der Lage, all das zu geben, was ein Kind braucht, wenn es als winziges, nacktes Geschöpf in diese Welt geschubst wird. Dieses Wesen nicht nur körperlich zu versorgen, sondern es beispielsweise in all seinen emotionalen Bedürfnissen zu sehen, zu erkennen und zu halten. Es vor Gefahren zu beschützen, ihm alle Sicherheit dieser Welt zu geben, es als eigenständigen Menschen zu respektieren, mit all seinen Wünschen, Ängsten und Nöten. Es bedingungslos zu lieben. Ohne Wenn und Aber.

Vater und Mutter ermöglichten mir ein sehr komfortables Leben in einer soliden Mittelklassefamilie – mit allem Drum und Dran. Und das war viel mehr, als sie selbst bekommen hatten. Sehr viel mehr. Ich hatte eigene Pferde, lebte in einem großen Haus mit einem eigenen großen Zimmer, trug stets die neuesten Klamotten und musste nicht hungern. Augenscheinlich war alles vorhanden und es hat lange gedauert, bis ich die wahre Bedeutung der Worte »Du willst doch nicht behaupten, du hättest eine schlechte Kindheit gehabt?« verstanden habe. Es ist alles eine Frage der Betrachtung und durch die Augen meiner Eltern, geboren 1940 und 1945, war das, was ich als Kind erlebt hatte, das Schlaraffenland. Im Vergleich zu ihnen hatte ich alles bekommen, außer Prügel. Aber eine sichere Bindung, ein friedvolles Zuhause, in dem Liebe, Empathie und ein respektvoller Umgang miteinander nicht verhandelbare Werte waren, gehörten in ihrer Welt nicht zur lebensnotwendigen Grundausstattung einer glücklichen Kindheit. Nicht in dem Wertesystem, in dem sie selbst aufgewachsen waren, und nicht mit der Konfiguration ihres eigenen Nervensystems. Sie trugen keine Schuld für das, was man ihnen als Kinder angetan hatte. Sie waren jedoch auch nie in der Lage, die volle Verantwortung für ihre Elternschaft und ihre Versäumnisse zu übernehmen. Das hat es nicht besser gemacht, aber zumindest hat es mir vieles erklärt.

Hätte es diese Diagnose damals schon gegeben, hätte sie Komplextrauma, Bindungs- und Entwicklungstrauma gelautet und man hätte mir spätestens mit Mitte zwanzig aufgrund meiner Symptomatiken eine kPTBS, also eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung, bescheinigt. Man hätte mich für mindestens zwei Jahre in eine Traumatherapie geschickt, wo man mir geduldig und behutsam erklärt hätte, was zur Hölle eigentlich mit mir los ist, was es mit meinem Nervensystem zu tun hat und warum mir viele Dinge so schwerfallen. Aber es waren die 80er- und 90er-Jahre und es dauerte bis ins Jahr 2022, bis die kPTBS ihren Weg in die ICD-11 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) fand und somit endlich offiziell anerkannt wurde.

Auf das meiste in meiner Kindheit und Jugend habe ich keinen Zugriff mehr. Ich erinnere mich an einzelne, wenige Ereignisse, einige davon waren schön, viele andere waren das Gegenteil. Ich kann nur sehr wenige längere Sequenzen wiedergeben, die Erinnerungen sind eher aufeinanderfolgende kurze Momente, so als hätte jemand einen Trailer geschnitten, der meine Lebensgeschichte erzählt. Bilder flackern auf, eine Szene, die Jahreszeit vielleicht, ein Geräusch, ein Geruch oder die Helligkeit des Lichtes. Die rotkarierte Wolldecke, in die ich eingewickelt war, auf der Rückbank der himmelblauen Ente meiner Mutter. Als uns die Nachbarin ins Krankenhaus fuhr, weil ich mit dem Stuhl gewippt und nach hinten übergekippt war. Viele Lagen Pflaster am Kinn, und wie ich im Bad aufs Klo kletterte, um mich ganz im Spiegel zu betrachten. Natürlich die Narbe, die blieb.

Dem, was ich aus meiner Vergangenheit teile, möchte ich mit großer Behutsamkeit und dem größten Respekt vor allen Beteiligten begegnen. Nichts liegt mir ferner, als die Würde eines Menschen zu beschädigen oder ihn öffentlich bloßzustellen. Das, was meine Eltern versäumt oder falsch gemacht haben, geschah nicht in böser Absicht, und ich habe ihnen niemals die Schuld für irgendetwas gegeben, mit dem ich später zu kämpfen hatte. Aber: Es war eben auch nicht meine Schuld. Die Dinge sind nicht immer schwarz oder weiß. Das Leben ist sehr viel komplexer.

Ich wurde 1973 in einem Krankenhaus im nordrheinwestfälischen Hagen geboren. Angekündigt war ich für Anfang Oktober, aber nachdem ich nicht wie geplant auf diesem Planeten landen wollte, holte man mich am 12. November um 13 Uhr 50 gegen meinen Willen ans Tageslicht. Meine Mutter fuhr allein zur Entbindung, mein Vater hatte es am Tag meiner Ankunft vorgezogen, in Hamburg in die Oper zu gehen und sich mir erst ein paar Tage später persönlich vorzustellen. So war er halt, würde meine Mutter später sagen. Sie blieb während meiner Geburt allein, weil sie ihren Eltern das nicht »zumuten« wollte, was auch immer das heißt. Am Ende war niemand bei ihr, als ich meinen ersten Atemzug nahm, und niemand kam sie in den ersten 24 Stunden nach meiner Geburt besuchen, um nach uns zu sehen. So konnte sie auch ihre Überraschung – und vielleicht auch ihre Enttäuschung – darüber, dass ihr die Schwestern nicht, wie erwartet, einen kleinen Jungen auf den Bauch legten, sondern ein Mädchen, mit niemandem teilen. Damit hatte keiner gerechnet, also blieb der Platz für meinen Vornamen in meinem Babypass vorerst leer. Frederick oder Benjamin erschien allen Beteiligten eher unpassend. Erst nach ein paar Tagen bekam dieses kleine namenlose Wesen, das sich gar nicht so recht hatte überzeugen lassen wollen, überhaupt zur Welt zu kommen, doch noch einen Namen: Kathie sollte es heißen. Nicht Katharina, nicht Kathrin, kein Zweitname. Einfach nur Kathie.

Nach zehn Tagen wurden meine Mutter und ich aus dem Krankenhaus entlassen und durften nach Hause, wo mein fünf Jahre älterer Bruder und eine Menge großer Herausforderungen des Lebens bereits auf mich warteten. Es waren die 70er-Jahre und junge Eltern bekamen von Ärzten, Hebammen und den eigenen Eltern noch sehr fragwürdige Tipps und Empfehlungen, wie man mit Kindern umzugehen hatte und was sie brauchten, um sich gut zu entwickeln. So gab man meiner Mutter im Krankenhaus einen detaillierten Ernährungsplan mit, der einigermaßen überschaubar und leicht zu erfüllen war: Füttern Sie das Kind ab 6 in der Früh alle vier Stunden und nach 22 Uhr gar nicht mehr – bis zum nächsten Morgen um 6. Ich war zehn Tage alt, wurde nicht gestillt und bekam über einen Zeitraum von acht Stunden überhaupt keine Nahrung. Ich sei natürlich zwischendurch aufgewacht und hätte laut geschrien, erzählte mir meine Mutter später, aber ich sei auch immer recht schnell wieder eingeschlafen. »Du hast nicht mehr gebraucht«, sagte sie. Was sie – und auch sonst niemand im Krankenhaus – damals leider noch nicht wusste, war, dass ich mitnichten wieder einschlief, sondern dass mein vollkommen dysreguliertes Nervensystem ab einem gewissen Punkt einfach die Lichter ausmachte und mich auf das Sterben vorbereitete. Mein System fuhr herunter und ich landete im sogenannten neuronalen Shutdown. Jede Nacht aufs Neue. Zum Vergleich: Im Jahr 2023 ist es üblich, ein Neugeborenes alle anderthalb bis zwei Stunden zu füttern, beziehungsweise immer dann, wenn es danach verlangt. Auch wenn ich selbst keine Mutter bin, kann ich mir ungefähr vorstellen, welche langfristigen Auswirkungen diese Empfehlung für einen Säugling und sein Nervensystem hatten. Und wie falsch es sich für jede Mutter angefühlt haben muss, die aufgrund einer Empfehlung ihr Baby in der Dunkelheit um sein Leben schreien ließ, ohne sofort zu ihm zu eilen. Einfach schrecklich. Das solide Fundament für mein Bindungstrauma war damit schon mal gelegt.

Trotz meiner spärlichen Nahrung war ich ein großes Baby, das zu einem hübschen kleinen Mädchen mit strohblondem Haar, einer Stupsnase und einem lachenden Gesicht heranwuchs. Ich liebte die Kirmes, Pommes und Tiere. Ich brachte ständig welche mit nach Hause, ob klein, groß, tot oder lebendig. Das größte war ein schwarzer Riesenschnauzer, der mit einem Polizeibus abgeholt und ins Tierheim gebracht wurde. Die kleinsten waren Mäuse. Das hoffnungsloseste war ein eingefrorener Maulwurf, den ich im Straßengraben gefunden hatte und den ich wiederzubeleben versuchte, indem ich ihn im Bad auf die Heizung legte. Ich konnte leider nichts mehr für ihn tun. Einmal entdeckte ich auf unserer Terrasse einen Igel. Ich schnappte mir meine Reithandschuhe, um mich nicht zu verletzen, und dann den Igel, den ich völlig euphorisiert mitten auf den Esstisch setzte, während alle anderen gerade ihr Abendessen beendet hatten. Eine ganze Armee von Flöhen hüpfte fröhlich aus dem irritierten Tier, meine Mutter stieß einen Schrei aus und setzte es auf direktem Weg wieder unbeschadet in den Garten. Tiere waren das Allergrößte für mich.

Ich erinnere mich an Urlaube in Dänemark und Schweden, an die breiten Strände, auf die man mit dem Auto fahren durfte, an die Wildheit der Nordsee, den rauen Holzboden vor dem Ferienhaus unter meinen nackten Füßen, der mir Splitter in die Zehen jagte. An die gelbe, dicke Remoulade, an Besuche im Liseberg Park in Göteborg, in dem es eine Marienkäferachterbahn gab. An die Fahrt mit der Fähre dorthin. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich mit zwei Jahren auf dieser Fähre fast gestorben wäre, weil ich scheinbar komplett dehydriert war. Ich weiß auch nicht, wie es dazu kommen konnte, dass ich dehydrierte.

Wahrscheinlich war ich in meinen ersten zwei oder drei Lebensjahren im Wesen ein glückliches, neugieriges und fröhliches Kind. Und wie jedes andere Kind schutzlos und sehr zerbrechlich. Scheinbar habe ich gestottert und gelispelt, auch das weiß ich nur aus Erzählungen. Meine Kindergärtnerin hieß Frau Reitemeier, was ich unglaublich lustig fand, weil das klang wie Frau Rottenmeier aus Heidi. Ich habe sie warmherzig und freundlich in Erinnerung. Ich glaube, ich ging gern in den Kindergarten, es gab einen großen Sandkasten, tolle Spiele und Lutschtabletten, die nach Kakao schmeckten und für oder gegen irgendwas gut waren. Ich war überhaupt gerne woanders, als Kind und später auch als Teenager.

Einmal habe ich einen kleinen Koffer gepackt, mit einer Unterhose drin und einem Butterbrot. Ich wollte weg von zuhause, da war ich vielleicht fünf oder sechs. Ich wanderte am Friedhof entlang, an dem ich aufwuchs, runter ins Dorf, und meine Mutter lief parallel zu mir über den Friedhof, um mich aus sicherer Entfernung nicht aus den Augen zu verlieren. Was auch immer meine wahren Beweggründe damals waren – heute finde ich es doch recht bemerkenswert und auch ein wenig traurig, dass ein so kleines Kind sich eigenständig aufmacht, um die eigene Familie zu verlassen und es lieber allein irgendwo anders zu versuchen. Manchmal spreche ich mit Freundinnen über die Zeit, in der ich schon ein Teenager war, und sie erzählen mir von Dingen, die sie bei uns zuhause erlebt haben. Dann schaue ich sie an wie ein Auto, weil ich keine Ahnung habe, wovon sie reden und wann das gewesen sein soll. Alles weg.

Es war nicht alles schlecht, heißt es, und das stimmt. Es war nicht alles schlecht. Meine Eltern haben mir viel mitgegeben und mir viele gute Werte vermittelt. Es ist sicherlich auch ihrem Einfluss zu verdanken, dass ich zu dem Menschen geworden bin, der ich heute bin. Aber auch ich trage dafür einen riesigen Anteil der Verantwortung und es war ein langer Weg bis hierhin. Denn es war wahrlich auch nicht alles gut, und das, was gewaltig schieflief, hinterließ tiefe, schmerzhafte Spuren in meinem Körper und in meinem Nervensystem und machte mir ein glückliches Leben sehr schwer.

Momma, please stop crying, I can’t stand the soundYour pain is painful and it’s tearin’ me downI hear glasses breaking as I sit up in my bedI told dad you didn’t mean those nasty things you said.

Pink, Family Portrait

Das kleine Mädchen

Wie gesagt: Wirklich viel kann ich nicht mit dir teilen. Erinnerungen sind eine tückische Angelegenheit und es gibt nicht viele Zeitzeugen. Meine Erinnerung beginnt, bis auf wenige Schlüsselmomente, bruchstückhaft ungefähr ab meinem sechsten Lebensjahr und meiner Zeit in der Grundschule. Was vorher war, liegt größtenteils im Nebel, einige Details weiß ich nur, weil meine Mutter sie mir erzählt hat. Dass ich beispielsweise gestottert und dann gelispelt habe oder dass ich an Pseudokrupphusten und azetonämischem Erbrechen litt. Ich war ein unauffälliges, strohblondes, zierliches und hübsches Mädchen. Bei meiner Einschulung trug ich ein blaues Kleid mit weißem Muster, weiße Kniestrümpfe, hochgebundene Zöpfe und hatte eine riesige Schultüte im Arm. Darin waren kleine Raider, die zu meinen absoluten Lieblingssüßigkeiten gehörten. Ich knabbere bis heute erst das Karamell mit den Zähnen runter und dann esse ich den Keks! Alles muss seine Ordnung haben.

Ich war lieb und brav, wie man es von einem Kind erwartete, und ich brachte viele gute Noten mit nach Hause. Ein Intelligenztest in der dritten oder vierten Klasse brachte zutage, dass ich über einen IQ von 136 verfügte und somit den inoffiziellen Titel Intelligentestes Kind der Grundschule Wetter-Wengernverliehen bekam, was sich später auf dem Gymnasium allerdings keineswegs in meinen Noten widerspiegeln sollte. Ich glaube, ich ging die ersten vier Jahre gerne in die Schule. Ich weiß, dass ich Schreibübungen liebte und mir bei den geschwungenen Buchstaben immer besonders viel Mühe gab. Von der Zweiten bis zur Vierten war ich das erste Mal verknallt, in einen Jungen aus meiner Klasse. Er hatte große blaue Augen, umrahmt von langen Wimpern, eine coole Topffrisur, war sportlich und gut in Mathe, im Gegensatz zu mir. Seine Eltern hatten ein tolles Haus mit einem großen Garten. Die Familie war sehr nett, die Eltern wirkten stets gut gelaunt, erfolgreich und freundlich. Ich war gerne dort. Als der große Bruder mit achtzehn nach einigen erfolglosen Versuchen von einer Brücke im Ort sprang und sich das Leben nahm, waren alle geschockt. Kurz zuvor hatte er noch ein Einser-Abitur abgeliefert. Wir schauen den Menschen eben nur vor den Kopf und wir glauben nur, was wir hören und sehen. Und vielleicht auch, was wir glauben wollen.

Es schien, als sei ich ein ganz normales Kind. Ich kletterte auf Bäume, baute Dämme und Hütten aus Ästen im Wald, hatte einen kleinen Puppenherd, auf dem ich winzige Frikadellen briet, und knetete allerlei Zeug aus Fimo, das niemand gebrauchen konnte. Die ersten Folgesymptome meiner frühen Lebensjahre wurden in kleinen Schritten sichtbar. So passierte es immer wieder, dass ich noch ins Bett machte, obwohl ich schon in die zweite Klasse ging. Ich träumte dann, dass ich auf dem Klo sitze, und ließ einfach alles los. Das war erst eine unendliche Erleichterung und dann ein grausames, feuchtwarmes Erwachen, für das ich mich in Grund und Boden schämte. Ich bekam dafür zwar nie Ärger, aber ich schämte mich trotzdem. Ich bekam ohnehin selten Ärger und wurde auch selten im herkömmlichen Sinne durch Schläge oder Sanktionen bestraft, aber ich lernte später, dass es auch sehr viel wirksamere und perfidere Methoden als Fernsehverbot oder Hausarrest gibt, um seine Kinder zu konditionieren. Dazu gehören beispielsweise Liebesentzug, emotionale Kälte oder sonstige Formen von emotionaler Erpressung.

Wie der Rest der Familie war auch ich Mitglied im örtlichen Schwimmverein und nahm sogar an Wettkämpfen teil. Im 50-Meter-Rückenschwimmen machte mir niemand so schnell etwas vor. Ich konnte mich stundenlang im Wasser aufhalten, so lange, bis die Lippen ganz blau wurden und mein Kiefer anfing zu bibbern. Im Wasser war alles leicht und leise und vor allem nahm ich dort das Gewicht nicht wahr, das ich unaufhörlich zulegte. Ich fühlte mich schwerelos, auch wenn es eine immer größere Last wurde, mich vor anderen im Badeanzug zu zeigen. Ungefähr zur selben Zeit nahm eine Freundin meiner Mutter mich zum ersten Mal mit auf einen Reiterhof. Nach der ersten Longenstunde war klar, dass hier der Grundstein für eine große Liebe und ein sehr kostspieliges Hobby gelegt worden war. Mit sieben Jahren wurde ich ein Pferdemädchen und blieb es, bis ich mit neunzehn nach München ging.

1984 ging meine Zeit an der Grundschule zu Ende, mein Zeugnis strahlte vor lauter Einsen und Zweien. Ich wechselte aufs Gymnasium, und nicht nur mein Umfeld, sondern auch mein Körper veränderte sich. Meine Wangen wurden voller, die Oberarme in den zarten Sommerkleidern, die meine Mutter selbst bestickte, dicker, mein Blick wurde ernster. Aus dem lebensfrohen und doch stillen kleinen Mädchen war ein Kind geworden, das immer ein wenig traurig aussah, das sich unwohl in seinem Körper zu fühlen schien und das sich irgendwie stets hinter anderen zu verstecken versuchte. Seine kindliche Unbeschwertheit war etwas anderem gewichen, einer düsteren Last, die viel zu schwer war für sein Alter.

Ich weiß, dass das Mädchen, das ich einst war, in seinen ersten Lebensjahren sehr viel Angst gehabt hatte und damit komplett allein war. Und ich spreche nicht von der Angst, die mit einem mulmigen Gefühl im Magen aufzieht, wenn man spätabends noch eine Flasche Wasser aus dem Keller holen muss, in den man schon tagsüber nur widerwillig geht. Ich spreche von Angst aus der Kategorie blankes Entsetzen. Und davon überflutet zu sein, als kleiner Mensch. Jeden Tag, und das über viele Jahre. Später kamen andere Themen dazu, aber das schlimmste Gefühl war sicherlich die Angst.

Dieses Mädchen hatte niemanden gehabt, der ihm diese Angst nahm. Niemanden, der es beschützte vor der Überflutung, vor all den gewaltvollen Szenen, den lauten, schrillen Stimmen, vor der bedrohlichen Ruhe kurz vor dem nächsten Sturm, vor der Machtlosigkeit und der Einsamkeit. Da war niemand. Die Familie, in die es hineingeboren wurde, war scheinbar eine ganz normale Familie, aber in Wahrheit hatte sie mit großen Problemen zu kämpfen. Niemand sprach darüber, aber wenn andere Erwachsene da waren, tuschelten sie hinter vorgehaltenen Händen und glaubten, das Mädchen würde sie nicht hören. Dann sprachen sie darüber, wie es mit ihr weitergehen solle oder wo sie war, und meinten damit seine Mutter. Und dann taten sie so, als wäre nichts, und machten einfach ganz normal weiter.

Die Mutter des Mädchens war oft sehr traurig und abwesend, manchmal verschwand sie einfach für mehrere Wochen und niemand wusste, wo sie war. Sie litt an einer Krankheit, die Depressionen hieß. Das hatte das Mädchen in einem der vielen geflüsterten Gespräche aufgeschnappt, deswegen lag die Mutter oft tagelang in der Dunkelheit im Bett und sprach kein Wort. Auch nicht, wenn man sie etwas fragte. Oft wurden aus Tagen Wochen, manchmal sogar Monate. Wenn es der Mutter schlecht ging, trank sie und nahm viele Tabletten. Dann ging es ihr noch schlechter und sie sprach oft darüber, dass sie sowieso nicht mehr lange zu leben hätte. Das erschreckte das Mädchen zu Tode, dann wurde es ganz still und starr und sein ganzer Körper verkrampfte sich. Wenn seine Mutter besonders viel getrunken hatte, sagte sie unglaublich gemeine und hässliche Sachen zum Vater, schrie ihn an und gab ihm die Schuld für alles. Sie machte dann auch Sachen kaputt, stolperte über Möbel und riss dabei irgendetwas runter, das laut scheppernd zu Boden krachte.

Den Vater kannte das Mädchen kaum. Er war wie ein Fremder, der kam und ging und verzweifelt versuchte, ein Schiff vor dem Untergang zu retten, obwohl es schon ein riesiges Loch hatte. Er musste viel arbeiten und war wohl sehr bemüht, dass es der Mutter und den beiden Kindern gut ging. Eine Zeit lang klappte das auch, aber nie lange. Auch vor dem Vater fürchtete sich das Mädchen, weil er sehr aufbrausend sein konnte und sehr streng. Gleichzeitig schien es keinen Unterschied zu machen, ob es das Mädchen gab oder nicht. Entweder er überwachte es oder er nahm es gar nicht wahr. Wenn die Dinge nicht so liefen, wie er wollte, konnte er sehr böse werden. So zum Beispiel, wenn sie beim Essen saßen. Wenn er fand, dass das Mädchen schmatzte, hielt er plötzlich inne, starrte es zornig von oben herab an, warf mit einem lauten Geräusch das Besteck auf seinen Teller und äffte es nach. Meistens wusste es gar nicht, was es verbrochen hatte, aber weil der Vater so wütend war, musste es wohl irgendwas Schlimmes gewesen sein. Das Mädchen versuchte dann, möglichst lautlos zu essen, aber egal, wie sehr es sich auch bemühte, es half nicht. Später, als es anfing zu essen, wenn es traurig war oder sich allein fühlte, erwischte er es häufig am Kühlschrank, und dann schrie er es an und schickte es zur Strafe in sein Zimmer. Heimlich war das Mädchen erleichtert, wenn der Vater nicht zuhause war, dann fühlte es sich wenigstens nur noch halb so ängstlich.

Zuhause wurde ein immer dunklerer Ort. Wenn das Mädchen mittags aus der Schule kam und von der Straße aus sah, dass im Schlafzimmer die Rollläden runtergelassen waren, wusste es, was das bedeutete und dass es nicht gut war. Wenn das passierte, wurde ihm ganz übel und es wäre am liebsten gar nicht mehr nach Hause gegangen. Wenn es der Mutter so ging, machte das dem Mädchen Angst. Und weil der Vater so wenig sprach und so viel arbeitete, war es oft ganz allein mit ihr in dem stillen Haus. Das war sehr bedrohlich. Oft wusste das Mädchen gar nicht, ob die Mutter noch am Leben war, wenn sie da in ihrem dunklen Schlafzimmer lag. Manchmal reagierte sie überhaupt nicht mehr und dann betete das Mädchen, dass sie nur schlief. Später, als es älter wurde, fing das Mädchen an zu beten, die Mutter möge endlich sterben, damit es vorbei wäre. Dafür schämte es sich sehr, denn niemand darf sich wünschen, dass die eigene Mutter tot sein soll. Aber so war es.

Ein oder zwei Mal musste sogar die Polizei kommen und ein Rettungswagen, weil der Vater die Tür nicht aufbekam, hinter der sich die Mutter eingeschlossen hatte, und auch er hatte schreckliche Angst, dass etwas Furchtbares passiert war. Da hatte das Mädchen den Vater das einzige Mal bitterlich weinen sehen und das hatte sich grauenhaft angefühlt. Wie er dagesessen hatte, am Esstisch, mit dem Gesicht in den Händen und dem lauten Schluchzen, das wie eine Flutwelle aus ihm herausgebrochen war. Das Mädchen hatte nur dagestanden und ihn angestarrt, weil es sich nicht bewegen konnte vor lauter Entsetzen. Es hätte sich so gewünscht, der Vater hätte es in den Arm genommen und ihm gesagt, dass nun alles gut wird, dass es der Mutter bald besser gehen wird und dass er es immer beschützen wird, komme, was wolle. Aber es blieb nur ein Wunsch, denn so war der Vater nicht.

Also wurde das Mädchen weiterhin Zeugin von Ereignissen, für die es viel zu klein war. Nicht einmal ein Erwachsener hätte sehen sollen, was das Mädchen sah. Der Bruder war viel älter, er hatte Freunde, bei denen er Schutz suchen konnte, und später sogar ein Motorrad, auf das er einfach aufsteigen und mit dem er davonfahren konnte. Weit weg, irgendwohin, wo es heller war. Aber auch dafür war das Mädchen zu klein, es musste beim Vater bleiben oder, wenn der nicht da war, allein zuhause bei der Mutter.

Die Wochen und Monate, in denen sie fast eine normale Familie waren, waren für das Mädchen beinahe noch schlimmer als die, in denen die Mutter wieder von der Dunkelheit verschluckt wurde. Weil es sich nie sicher sein konnte, was als Nächstes passieren würde und wann es wieder losging. Das war sehr bedrückend und auf eine andere Art furchteinflößend. So, als ob man wohlig eingewickelt vor dem knisternden Kaminfeuer in einem wunderschönen Haus sitzt, eine heiße Tasse Kakao trinkt, aber genau weiß, dass da draußen vor der Tür ein Monster lauert, das sich jederzeit Zutritt verschaffen konnte. Nämlich dann, wenn alle schliefen und niemand damit rechnete. Über die Jahre lernte das Mädchen, sich unsichtbar zu machen und ganz leise zu sein, damit es das Monster nicht weckte oder gar seine Aufmerksamkeit erregte. Und natürlich auch, um den Vater nicht zu verärgern. Oft lag es nur da und lauschte atemlos in die Stille, versuchte jedes Geräusch wahrzunehmen, um vorbereitet zu sein, wenn es wieder losging.

Wenn es der Mutter gut ging, war sie eine wunderschöne Frau, die von allen gemocht und bewundert wurde. Weil sie so schön war und so herzlich. Und weil sie so gut kochen konnte. Dann blühte sie auf, lud Freunde ein und lachte viel. Das Mädchen mochte es, wenn die Mutter lachte, aber oft verstand es nicht, warum plötzlich alles wieder anders war und warum sich das Leben zuhause heute so und morgen ganz anders anfühlte. Wo war das Monster, wenn die Mutter lachte? War es für immer verschwunden? Oder ruhte es sich nur aus, um Kraft zu tanken? Das Mädchen blieb stets wachsam und wähnte sich nie in Sicherheit. Das war gut, denn der Tag, an dem die Mutter eines Morgens nicht mehr aufstand, kam garantiert, oft war es ein Montag. Manchmal zog die Mutter sogar ganz aus der Wohnung aus und lebte über Wochen im Keller in der Sauna oder im Gästeappartement im ersten Stock. An einigen Tagen klopfte das Mädchen ängstlich und verzweifelt an die Tür, um sicher zu sein, dass es der Mutter gut ging, aber diese antwortete nicht.

Eine Situation sollte sich besonders einprägen und später, als das Mädchen schon längst eine erwachsene Frau war, der die Angst immer noch in den Knochen steckte, würde es sich daran oft erinnern. Wie es in der offenen Tür zum rabenschwarzen Schlafzimmer stand und in die Dunkelheit lauschte. Mit klopfendem Herzen, kaum in der Lage, sich zu bewegen oder einen Mucks zu machen, während die Mutter – nur zwei Meter entfernt – bewegungslos im Bett lag. Lebte sie noch? Oder schlief sie nur? War es überhaupt die Mutter oder war etwa das Monster zurückgekehrt und lauerte dort in der Schwärze? Das Mädchen war ganz allein in der totenstillen Wohnung und seine Angst war so groß gewesen, dass es glaubte, sterben zu müssen. Irgendwann stand die Mutter dann auf, um ins Bad zu gehen oder in die Küche. Das Mädchen hätte erleichtert sein müssen, aber das war es nicht. Längst war die Angst vor der Dunkelheit in sein kleines Herz eingezogen, hatte sich dort eingenistet und sollte von nun an immer da sein.

Ich habe viele Jahrzehnte gebraucht, um mit diesem Mädchen vorsichtig in Kontakt zu kommen und in der Tiefe zu begreifen, was es damals alles durchstehen und erleiden musste. Wie stark es war, wie tapfer und wie resilient. Welche genialen Strategien und Lösungen sein kleines Gehirn entwickelte, um sich in all dem Chaos zurechtzufinden und nicht unterzugehen. Wie es sich gefühlt hatte und was es für ein Wunder ist, dass es überlebt hat. Das war der Zeitpunkt, an dem ich anfing, das Mädchen, das ich einst war, aufrichtig zu respektieren, wertzuschätzen und vor allem zu lieben. Und dies von ganzem Herzen.

Diesem Mädchen habe ich es zu verdanken, dass ich noch am Leben bin. Es war ein langer, steiniger Weg, das zu begreifen. Denn um dieses Mädchen zu verstehen, musste ich fühlen, was es gefühlt hatte. Ich musste die Tränen weinen, die es nicht weinen konnte. Ich musste der Wut Raum geben, den man ihm nicht erlaubt hatte. Ich musste seine Angst erfahren, um es endlich in Sicherheit zu bringen. Heute weiß ich: Das Mädchen und ich – wir sind eins. Es ist noch immer ein Teil von mir und ich lasse nie wieder zu, dass ihm irgendjemand etwas antut, seine Würde verletzt, seinen Wert herabsetzt oder es schlecht behandelt.

Das Mädchen ist mein wertvollstes Ich.

For all those born beneath an angry starLest we forget how fragile we are.

Sting, Fragile

Meine Mutter

Irgendwann im Laufe meiner Traumatherapie fragte ich meine Therapeutin mal, warum die Menschen eigentlich zu ihr kommen.

»Wegen ihrer Mutter«, sagte sie.

»Echt?«, fragte ich. »Und die Männer?«, fragte ich weiter.

»Die kommen auch wegen ihrer Mutter.«

Und auch wenn mein Vater ohne Frage seinen Teil zu meinen Verletzungen und meinen negativen Selbstbildern beigetragen hatte, war die zentrale Figur meiner frühkindlichen Schreckenserfahrungen meine Mutter gewesen.

Sie hatte es wahrlich nicht leicht. Aufgrund ihrer ersten Jahre als kleines Mädchen war sie zeit ihres Lebens ein sehr belasteter, instabiler, ambivalenter und herausfordernder Mensch. Für andere – aber vermutlich am meisten für sich selbst. Ihre Eltern hatten ganze Arbeit geleistet. Sie war Licht und Schatten. Man wusste nie, wer oder was einen erwartete, wenn man morgens aufstand oder abends zur Tür hineinkam. Sie konnte unglaublich lustig, warmherzig und gesellig sein, um einem im nächsten Moment das Messer in die Brust zu jagen oder einen zu Tode zu ängstigen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hatte nicht nur ständig Angst um sie, ich hatte auch häufig Angst vor ihr. Keinen Satz habe ich in meiner Kindheit so oft gehört wie »Die Mama hat nicht mehr lange zu leben«. Das sitzt! Die Drohung, die sich in diesen Worten verbarg, lebte immer mit uns unter einem Dach, saß mit am Frühstückstisch und unterm Weihnachtsbaum. Und ich tat schon als Kind alles dafür, damit sie niemals Wirklichkeit wurde.

Ich weiß nicht, ob die Dinge bei uns immer so waren. Es gibt verschiedene Aussagen von verschiedenen Menschen. Die Mutter meines Vaters erzählte mir mal, das Temperament meiner Mutter sei noch nie zu bändigen gewesen und sie habe bereits mit Anfang zwanzig Möbel aus dem Fenster geworfen. Mein Bruder meint, es sei erst mit dem Eintritt in die Selbstständigkeit meiner Eltern losgegangen, da wäre ich sechs oder sieben gewesen. An dieser Version habe ich allerdings so meine Zweifel. Zum einen, weil ich mich dunkel an Sachen erinnere, die sehr viel früher waren, und auch, weil ich mittlerweile weiß, dass die schwersten Traumafolgen in den ersten Lebensjahren entstehen, in denen wir Menschenkinder am verletzlichsten sind und unser Gehirn noch eine unbespielte Festplatte ist. Sie selbst sagt, ihre Depressionen hätten neun Monate nach meiner Geburt begonnen, und das halte ich für sehr viel realistischer. Aber ich denke, sie hatte auch schon davor auf die eine oder andere Art mit ihren geifernden Dämonen zu kämpfen.

Meine Mutter war eine moderne, schlanke und atemberaubend schöne Frau, die sich und uns Kinder stets kleidete, als seien wir frisch einem Katalog entsprungen. Das Äußere war ihr wichtig, in jeder Hinsicht – genau wie meinem Vater. Beide legten viel Wert auf Äußerlichkeiten. Sie wirkte wie eine lebensfrohe, selbstbewusste Frau, aber in Beziehungskontexten war sie in Wahrheit eher ein kleines, einsames und sehr hilfsbedürftiges Mädchen, das eine ganze Menge an Wut, Angst, Traurigkeit und Verzweiflung in sich trug. Besonders die Wut entlud sie häufig an meinem Vater, jedoch niemals an uns Kindern. Abseits davon war sie eine Frau, die absolut unerfüllbar hohe Ansprüche an sich stellte und von sich selbst erwartete, als Mutter, Ehefrau, Köchin, Gärtnerin, Dekorateurin und Geschäftsführerin immer zu einhundert Prozent zu funktionieren, was ihr sogar über weite Strecken gelang, bis ihr System zwangsläufig immer wieder kollabierte. Alles schien ihr zu gelingen, nichts machte sie mittelmäßig. Stillstand war für sie der Tod, Ausruhen kannte sie nicht, Urlaube wurden für sie mehr und mehr zu einem kostspieligen Übel als zu einem Vergnügen. Sie arbeitete sich bis auf die Knochen runter, wurde krank und machte einfach weiter. Sie war erbarmungslos mit sich und wenn man die richtigen Knöpfe drückte, auch erbarmungslos mit anderen. Als Kind hatte sie nicht nur schwere Gewalt und emotionalen Missbrauch erfahren, auch ihre Bedürfnisse waren als schutzbedürftiges kleines Wesen nie erfüllt worden. Es kam, wie es kommen musste: Das Kind in ihr suchte weiter verzweifelt danach und so verlagerte sie ihre Bedürfnisse häufig auf mich, was es mir wiederum unmöglich machte, ein gesundes Gespür für meine eigenen Bedürfnisse zu entwickeln. Wie viele andere war auch sie nur ein Mensch, der in seinen eigenen Überlebensund Kompensationsstrategien gefangen war. Strategien ihres autonomen Nervensystems, sie am Leben zu halten, die ihr und allen um sie herum das Leben gleichzeitig sehr schwer machten. Es kam durchaus auch vor, dass sie wochen- oder monatelang stabil war und bei uns zuhause alles völlig normal schien. Aber je nach Tagesform konnte jede vermeintlich noch so kleine Unregelmäßigkeit oder Emotion meine Mutter von einer Minute auf die andere komplett aus der Bahn werfen. Was die Auslöser waren, ließ sich schwer vorhersagen, häufig kündigte es sich an einem Sonntagabend an und ging an einem Montag los. Vielleicht war es einfach die logische Konsequenz ihrer chronischen Übererregung und die Angst vor einer neuen Woche, wenn sie sich selbst wieder einmal zu viel zugemutet und ihre eigenen Grenzen nicht gewahrt hatte. Dann gingen bei ihr irgendwann einfach die Lichter aus. Die Trigger, die ihr altes Überlebensprogramm starteten,