Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Fragen und Gedanken zur Zukunft unserer Welt. »Wie können wir eine lebbare Welt gestalten?« – diese Frage stellt Convoco im Jahr seines 20-jährigen Jubiläums. Überlegungen zum Gemeinwohl, zur Gleichheit, Freiheit sowie zu Strategien und Ungewissheiten fließen dabei diskursiv zusammen. Was macht eine lebenswerte Welt aus? Frieden, eine gesunde Umwelt und eine dem Menschen dienende Technologie – für Convoco bilden diese drei Bereiche die Grundlage für eine lebbare Welt. Doch wie kann diese gestaltet werden? Die Geschichte lehrt, dass es einfacher ist, die Welt verändern zu wollen, als diese Ideen tatsächlich Realität werden zu lassen. Fragen wie: »Was ist die Zukunft der Demokratie?«, »Vor welchen sicherheitspolitischen Herausforderungen steht Europa?«, »Wie können wir Wirtschaft und Klimaschutz zusammenbringen?« oder »Welche Rolle spielt Regulierung beim Thema technologische Zukunft?« stehen im Mittelpunkt des Diskurses. Die Gesellschaft muss lernen, nach den allgemeingültigen Gesetzen der Natur zu leben. Die Rolle der Wissenschaft ist es, diese aufzuzeigen. Mit Beiträgen u.a. von: Clemens Fuest, Birke Häcker, Stefan Korioth, Martin Korte, Christine Langenfeld, Hans-Dieter Lucas, Timo Meynhardt, Monika Schnitzer, Moritz Schularick, Gernot Wagner, Claudia Wiesner Die Stiftung Convoco Eine Maxime von Convoco ist, heute Verantwortung für morgen zu übernehmen. Convoco will das Bewusstsein schaffen für die sich ständig verändernde, moderne Welt und die Herausforderungen, die sich dadurch für die Gesellschaft ergeben. Convoco bietet Plattformen, auf denen Fragen des künftigen Miteinanders in einer immer stärker vernetzten Welt diskutiert werden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 242
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Wie können wir eine lebbare Welt gestalten?
Herausgegeben von Corinne Michaela Flick
WALLSTEIN CONVOCO! EDITION
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2025
Wallstein Verlag GmbH
Geiststraße 11
37073 Göttingen
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Jade Blanchard-McKinley
ISBN (Print) 978-3-8353-5849-2
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8838-3
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8839-0
no now without then, no there
without here, finally
you glimpse the truth of it:
that we are bound to relation
that we are we inescapably
Victoria Adukwei Bulley
Einführung
Thesen
Gabriel FelbermayrWie sieht eine lebbare Welt aus? Gedanken aus der Ökonomie
Moritz SchularickWo liegt die Macht zum Handeln?
Philipp PattbergWie lässt sich eine freie, gerechte und nachhaltige Zukunft gestalten? Die Rolle globaler Institutionen
Christine LangenfeldHerausforderung Klimawandel – Was kann das Recht leisten?
Claudia WiesnerDemokratie im Anthropozän: Wie und warum das Ende von Sicherheit verändert, wie wir leben und regieren
Clemens FuestIst das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als Leitlinie für die Wirtschaftspolitik der Zukunft geeignet?
Martin KorteDas unveränderliche Gehirn? – … und es bewegt sich doch!
Stefan KoriothEinsicht, Freiwilligkeit, Überredung, Zwang – Regelsetzung auf dem Weg zu einer lebbaren Welt
Birke HäckerRegulierung für eine lebbare digitale Zukunft
Hans-Dieter Lucas Frieden und Sicherheit im Zeitalter globalen strategischen Wettbewerbs – Herausforderungen für Europa
Timo MeynhardtDer Common Sense in unserer Welt
Hans Ulrich Obrist im Gespräch mit Piet Oudolf und Tino Sehgal Jenseits der Trennung: Werke zwischen Kontrolle und Spiel
Die Autorinnen und Autoren
Podcast-Gespräche
Liebe Freundinnen und Freunde von Convoco,
»Wie können wir eine lebbare Welt gestalten?« Dies ist heute angesichts der sich immer rasanter verändernden Welt vielleicht die zentrale Frage. Sie besteht aus zwei Teilen: Was macht eine lebbare Welt aus, und wie können wir sie gestalten und bewahren? Bei dieser Fragestellung fließen zahlreiche Aspekte zusammen – Gedanken zum Gemeinwohl, Überlegungen zu Freiheit und Gleichheit und auch strategische Erwägungen müssen berücksichtigt werden. Über allem steht, wie mit der immer größer werdenden Ungewissheit umzugehen ist. Es muss darum gehen, wie wir in praxi gestalten, denn die Zeit des Appellierens liegt hinter uns.
Wie präsentiert sich die Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts? Geopolitisch betrachtet ist die heutige Welt das Ergebnis des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Durch diesen hat sich nicht nur die Stabilität des Ostens aufgelöst, auch die Stabilität des Westens hat Risse bekommen. Dieser Stabilitätsverlust geht einher mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und dem politischen Erstarken des Globalen Südens. Wir befinden uns also in einer neuen Periode von Wettbewerb – und das in einem Zeitalter gesteigerter Abhängigkeiten und transnationaler Herausforderungen, wie zum Beispiel der des Klimawandels.
Nachdem man anfänglich annahm, dass diese transnationalen Herausforderungen die Welt durch die gemeinsame Bekämpfung einen, wird inzwischen deutlich, dass sie diese eher spalten. So hat der Globale Süden zum Beispiel einen anderen Blickwinkel auf den Klimawandel als der Norden.
Darüber, welche Faktoren eine lebbare Welt grundsätzlich ausmachen, bestehen naturgemäß verschiedene Meinungen. Unstreitig dürfte sein, dass die zwei wesentlichen Faktoren Frieden, sprich Stabilität, und eine gesunde Natur eine lebbare Welt ausmachen. Diese beiden grundlegenden, im Moment stark gefährdeten Positionen definieren sich gegenseitig. Zu diesen zwei großen Bereichen kommt heute ein dritter, neuer Aspekt hinzu: Es gilt, den Herausforderungen durch die Technologie in Form von Künstlicher Intelligenz zu begegnen. Auch KI ist kein Allheilmittel, das uns Menschen rettet. Nur wenn wir sie so einsetzen, dass sie uns als Hilfsmittel dient, ist sie Teil einer lebbaren Welt. Dafür müssen wir lernen, »to work in concert by using AI«, und wir müssen Governance-Strukturen schaffen, anhand derer die Entwicklung gelenkt und strategisch auf eine lebbare Welt ausgerichtet werden kann.
Frieden, eine gesunde Umwelt und dem Menschen dienende Technologien – diese drei Themen bilden gemeinsam die Grundlage für eine lebbare Welt. Da sich der Begriff »lebbar« nur schwer ins Englische übersetzen lässt, haben wir »lebbar« mit »free, just, and sustainable« ausgefüllt – das allerdings nur beispielhaft und nicht abschließend: How can we create a free, just, and sustainable world? Man sollte diese Aufzählung vor allem noch durch die Begriffe open, prosperous und secure erweitern. Also durch offen, wohlhabend – im Sinne von gesellschaftlichem Wohlstand – und vor allem sicher. Erstrangig für die Umsetzung dieser Themen sind der Zugang zu Wasser, Nahrung, Bildung, Energie und – nicht zu vergessen – zu einer gesicherten Durchsetzung von Wahlrecht.
Um das Erreichen dieser Ziele geht es schon seit vielen Jahrzehnten. In der Geschichte gab es immer wieder Ansätze, die Welt zu verbessern und eine idealere Gesellschaft zu etablieren. Hier gibt es eine lange Tradition, an deren Anfang, schaut man auf Europa und die Aufklärung, Denis Diderot mit seiner Enzyklopädie im 18. Jahrhundert steht. Er unternimmt den Versuch, das Wissen der Welt zusammenzutragen und dieses ganz Europa zugänglich zu machen. Dadurch hofft er, die Welt lebbarer werden zu lassen. Aber wie das auf Bernhard von Clairvaux im 12. Jahrhundert zurückgehende Sprichwort schon sagt: »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert«. Die Französische Revolution will durch Freiheits-, Gleichheits-, Brüderlichkeitsversprechen das gemeinsame Miteinander verbessern, aber endet im Terror. Es folgt 1804 der Code Civil von Napoleon. Es ist der Versuch, mit Hilfe des Gesetzes die Ideen von Gleichheit und Freiheit durchzusetzen. In Deutschland ist es die Revolution von 1848, die in der Paulskirchenverfassung mündet, die das große Freiheitsversprechen formuliert. Im 20. Jahrhundert soll die Russische Revolution von 1917 den großen gesellschaftlichen Umbruch bringen. Was sie tatsächlich bringt, wissen wir. Die menschenverachtenden Ideologien des Kommunismus und des Nationalsozialismus reihen sich in die Versuche ein, zu einer anderen Gesellschaft zu gelangen, endeten aber jeweils in physischer und moralischer Zerstörung.
Alle diese Ansätze zeigen, dass es einfacher ist, die Welt verändern zu wollen, als sie tatsächlich zu verändern. Und auch heute müssen wir leider der Wahrheit ins Auge sehen, dass die grüne Transformation mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, dass die Meinungen, wie man mit Künstlicher Intelligenz umgehen soll, weltweit auseinanderfallen, und dass alle darüber streiten, was ein gutes Leben ausmacht.
Welche Schlussfolgerung gilt es also zu ziehen, was müssen wir anerkennen?
Jeder und jede Einzelne existiert nur in Beziehung. Erst durch das Verhältnis zu anderen bin ich. Und zu diesen anderen gehört auch das andere – die Natur. Heute gilt es mehr denn je, dieser Erkenntnis zu entsprechen. Es geht darum, die Gesetze anzuerkennen, die uns die Natur vorgibt, physikalische, biochemische und sozialwissenschaftliche – und nach ihnen zu leben. Dabei ist es die Aufgabe der Wissenschaft, diese Gesetze aufzuzeigen. Nur dann ist die Existenz des Menschen gewährleistet, und wir sind fähig, eine lebbare Welt zu gestalten.
Convoco kann auf zwanzig Jahre gemeinsamen Austausch zurückblicken. Bauen wir gemeinsam die Brücke in die Zukunft.
Corinne Michaela Flick, im Januar 2025
Damit die Welt lebbar für möglichst alle Menschen bleibt, werden schwierige Verteilungsprobleme zu lösen sein. Damit die bereits bestehenden Risiken nicht weiterwachsen und im Falle des Eintretens zu verheerenden Auswirkungen führen, sind Investitionen in die Eindämmung der Risiken und in die Abmilderung der Schäden notwendig. Es geht um Maßnahmen ex ante und ex post, also bevor eine Krise eintritt und danach.
Gabriel Felbermayr
Der Weg nach vorn erfordert den Wiederaufbau staatlicher Steuerungskapazitäten. Dies beinhaltet Investitionen in Bildung, effektives Regieren und globale Zusammenarbeit. Aber diese Ziele in polarisierten politischen Umfeldern und angesichts globaler Unsicherheiten umzusetzen, ist eine Herkulesaufgabe.
Moritz Schularick
Um die globale Governance zweckdienlich zu machen, schlage ich fünf Reformbereiche vor: inklusive Entscheidungsfindung, Zukunftsorientierung, Rechte der Natur, Anpassung an den Zusammenbruch und Umsetzung des Nexus-Ansatzes.
Philipp Pattberg
Die Bewältigung des Klimawandels fordert die rechtsstaatliche Demokratie heraus. Indes kann Klimaschutz nur mit rechtsstaatlichen Mitteln bewirkt werden. Die Stärkung der rechtsstaatlichen Demokratien, die der populistischen Versuchung widerstehen können, in Deutschland, aber auch andernorts, ist Voraussetzung dafür, den Umgang mit dem Klimawandel erfolgreich anzugehen.
Christine Langenfeld
Vor dem Hintergrund des Anthropozäns offenbaren die aktuellen Krisensymptome und Herausforderungen nicht nur eine Krise der Demokratie, sondern eine Krise der Moderne und moderner Denkweisen insgesamt. Diese Diagnose ist bei Weitem nicht nur philosophischer Natur: Sie hat sehr konkrete und sehr materielle Folgen.
Claudia Wiesner
Wenn man das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft nicht als eine Anzahl fester Grundsätze, sondern als einen Politikstil begreift, hat es als Leitlinie für die Wirtschaftspolitik der Zukunft viel zu bieten.
Clemens Fuest
Erhalt der Artenvielfalt und notwendige Verhaltensänderungen im Hinblick auf den Klimawandel sind auf allen Systemebenen – der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft und jedes Individuums – so schwierig, da unsere Gehirne dazu neigen, wahrzunehmen, was wir erwarten, aus Gewohnheit zu denken und zu handeln und bei Veränderung den Verlust stärker zu gewichten als den möglichen Gewinn. Unser zukünftiges Ich nehmen wir dabei wahr wie eine fremde Person, was dazu führt, die Konsequenzen unseres Handelns nicht auf uns selbst zu beziehen.
Martin Korte
Jedem Staat, jeder Institution, jedem Einzelnen müssen die klimaschädlichen Folgen des eigenen Handelns angelastet werden – mitsamt dem Aufzeigen von Alternativen. Der Verursacher von Klimaschäden zahlt für deren Beseitigung oder deren Ausgleich. Die konsequente Umsetzung dieses Prinzips ist mit demokratischen und marktwirtschaftlichen Strukturen am besten vereinbar.
Stefan Korioth
Das rasante Fortschreiten der Digitalisierung stellt uns vor neue regulatorische Herausforderungen. Europa versteht sich hier als Vorreiter und hat bereits verschiedene Regelwerke auf den Weg gebracht. Gern übersehen wird dabei allerdings die Bedeutung der »digitalen Inklusion«.
Birke Häcker
Europa muss seine Entscheidungsfindungsmechanismen und seine militärischen Fähigkeiten erheblich verbessern. Dies erfordert höhere Verteidigungsausgaben und eine leistungsfähigere europäische Verteidigungsindustrie. Darüber hinaus braucht Europa eine neue Mentalität, die auf der Erkenntnis beruht, dass seine Sicherheit in absehbarer Zukunft in vielerlei Hinsicht herausgefordert wird. Es braucht sowohl Widerstandsfähigkeit als auch Einigkeit.
Hans-Dieter Lucas
Der gesunde Menschenverstand ist eine Quelle praktischer Vernunft, die einer inneren Stimme Gehör verschafft und uns darin bestärkt, unserer Intuition zu vertrauen. Er kann Sachwissen nicht ersetzen, aber Lücken schließen und unser Handeln leiten. Der Erfahrungsschatz des gesunden Menschenverstandes sollte nicht bei dem stehenbleiben, was der Mann von der Straße für vernünftig und damit gemeinwohlförderlich hält, sondern auch der »Baum am Straßenrand« und die »Künstliche Intelligenz um die Ecke«.
Timo Meynhardt
Gleich einem Garten hat Kuratieren die Kraft, Menschen zusammenzubringen. Dieses Zusammenbringen ist auch ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Um die großen Themen des 21. Jahrhunderts anzugehen, muss man die Angst überwinden, Wissen aus verschiedenen Disziplinen miteinander zu verknüpfen.
Hans Ulrich Obrist
Eine Möglichkeit, die Moderne zu betrachten, ist als ein Experiment des Trennens. Aufgewachsen in einem Umfeld, in dem sich jeder darauf konzentrierte, Dinge zu produzieren, interessierte ich mich viel mehr für die Arbeit mit Lebendigem und dafür, wie ich Situationen und Interaktionen zwischen Menschen transformieren kann.
Tino Sehgal
Wenn man einen Garten betritt, wirkt es wild, aber es ist organisiert und komponiert. Deshalb arbeite ich gern an öffentlichen Orten und in größeren Städten. Man setzt sich mit Menschen auseinander, damit sie sich der Dinge bewusst werden, die sie sonst wahrscheinlich nicht wahrgenommen hätten.
Piet Oudolf
Jeder und jede Einzelne existiert nur in Beziehung. Erst durch das Verhältnis zu anderen bin ich. Und diese anderen umschließen das andere, nämlich die Natur. Heute gilt es mehr denn je, dieser Erkenntnis zu entsprechen. Es geht darum, die Gesetze anzuerkennen, die uns die Natur vorgibt, physikalische, biochemische und sozialwissenschaftliche – und nach ihnen zu leben.
Corinne Flick
Wie sieht eine lebbare Welt, eine Welt, in der möglichst alle Menschen möglichst gut leben können, aus? Diese Frage grenzt sich ab von jener nach einer lebenswerten Welt, in der das pure Existieren-Können als gegeben erachtet wird und der Fokus eher auf den Bedingungen eines möglichst »guten« Lebens liegt. Die Frage nach der Lebbarkeit der Welt ist im wahrsten Sinn des Wortes radikal, denn es geht ihr um das Überleben und nicht nur um die Qualität des Lebens. In der Tat bedrohen anthropogene Katastrophen wie ein außer Kontrolle geratener Klimawandel, der Einsatz von Atomwaffen oder die Verselbstständigung von Künstlicher Intelligenz die Bewohnbarkeit der Erde für Menschen.[1]
Bei der Frage um eine lebbare Welt geht es also um die Frage, wie Katastrophen verhindert werden können. Damit erscheint die Frage nach der Lebbarkeit einfacher als jene nach der Lebensqualität zu beantworten, weil der normative Konflikt bei einer binären Problemstellung kleiner ist als bei einer im Grunde offenen, stark von Werturteilen geprägten Thematik. In Wahrheit ist die Situation aber komplexer, denn die völlige Unbewohnbarkeit der Erde für Menschen ist das absolute – hoffentlich sehr unwahrscheinliche – Extremszenario, dem man andere dramatische, aber leider durchaus realistische Szenarien danebenstellen kann, in denen zwar nicht die Auslöschung der Menschheit droht, aber ein würdevolles Leben für viele Menschen nicht möglich erscheint. In diesem kurzen Beitrag soll es darum gehen, welche ökonomischen Institutionen und Strukturen es angesichts der multiplen Bedrohungen braucht, damit möglichst viele Menschen weiterhin möglichst gut auf der Erde leben können.
Die globalen Herausforderungen unserer Zeit sind tatsächlich beeindruckend, und sie fordern Antworten auf die Frage nach einer lebbaren Welt mit großer Vehemenz. Der Klimawandel stellt in manchen Gegenden unserer Erde eine Existenzbedrohung dar, weil Städte ohne teure Anpassung unbewohnbar und bisher fruchtbare landwirtschaftliche Flächen unbenutzbar werden.[2] Proponenten der »Extinction Rebellion« befürchten sogar, dass der Klimawandel die ganze Welt unbewohnbar machen könnte. Kriege machen Lebensräume unbewohnbar und bedrohen die physische Existenz Hunderttausender, ein Atomkrieg könnte die ganze Erde verwüsten. In der Ukraine dürfte bereits mehr als eine Million Menschen durch militärische Handlungen gestorben oder Invalide geworden sein.[3] Die Corona-Pandemie hat vor Kurzem erst gezeigt, dass die Menschheit trotz allen medizinischen Fortschritts nicht vor neuartigen Krankheiten geschützt ist – die Covid-19-Krise hat wohl weltweit mehr als 15 Millionen Menschen das Leben gekostet.[4] Und technologische Umbrüche, allen voran wohl die Künstliche Intelligenz, werden als Existenzbedrohung wahrgenommen.[5] Die genannten Bedrohungen können lokaler oder globaler Art sein, sie können die Existenz einzelner Gruppen betreffen oder jene der ganzen Menschheit. Vor allem in den extremsten Szenarien spielen Kipppunkte (Tipping-Points) eine entscheidende Rolle. Wenn diese überschritten werden, gibt es kein Zurück mehr, und die Dynamik des Systems ist nicht mehr kontrollierbar.
In der Folge sollen aber nicht nur solche durch und durch dystopischen Vorstellungen das Thema sein. Denn es erscheint realistischer anzunehmen, dass die genannten Beispiele die Existenzbedingungen für große Teile der Bevölkerung unterminieren, nicht aber die Welt per se unbewohnbar machen. Wenn das so ist, dann geht bei all diesen Bedrohungen – seien es klimatische, militärische, gesundheitliche oder technologische – um Verteilungsfragen. Damit haben sie eine zentrale wirtschaftliche Dimension. Es geht um Ressourcen zur Anpassung an neue Bedingungen, um die wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden, um ökonomische Governance-Strukturen für neue Technologien. Diese sind wiederum aber politisch gestaltbar. Umgekehrt gilt: Die Bedrohung oder gar Vernichtung von Existenzen kann durch die Setzung der richtigen Rahmenbedingungen verhindert werden.
Ein Atomkrieg, die Klimakatastrophe, ein tödliches Virus, technologische Veränderungen, ein Meteoriteneinschlag – all diese können so verheerend ausfallen, dass menschliches Leben nicht mehr möglich ist. Wenn man menschengemachte Katastrophen betrachtet, dann kann man immer die Hoffnung haben, dass es Wege gibt, diese zu verhindern. Allerdings gibt es keine Garantien dafür, weil Nichtlinearitäten und fundamentale Koordinationsprobleme unbeherrschbar werden können.
Nukleare Kriegsführung könnte dazu führen, dass menschliches Leben auf der Erde sehr schwierig oder unmöglich wird. Seit Entwicklung der Atombombe befassen sich die spieltheoretische Forschung und die breitere Öffentlichkeit mit dieser Problematik. Atomare Abschreckung kann Frieden sichern, auch wenn es keine formalen Koordinationsmechanismen zwischen hochgerüsteten Ländern gibt. Es gibt aber keine Garantie, dass diese Strategie in allen denkbaren Fällen funktioniert. Es besteht das Risiko, dass aufgrund einer Fehleinschätzung eines Akteurs ein Atomkrieg eskaliert.[6] Um diese Möglichkeit möglichst gering zu halten, ist es notwendig, dass alle Parteien möglichst gut informiert sind; im Idealfall findet ein Mindestmaß an Informationsaustausch statt, zum Beispiel auf internationalen Foren wie der »Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa«. Aber in Abwesenheit einer globalen Ordnungsmacht mit Durchgriffsmöglichkeiten ist nicht auszuschließen, dass ein Konflikt, der verheerende Folgen haben könnte und somit am Ende allen Teilnehmern im Vergleich zu einer Verhandlungslösung schaden muss, nicht doch eskaliert. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist hierfür ein Beispiel.
Es existiert ein alter Forschungsstrang in der Volkswirtschaftslehre, der mit dem englischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (1766-1834) verbunden wird. In der Logik von Malthus führt exponenzielles Bevölkerungswachstum gekoppelt mit linearem Fortschritt in der Produktivität der Landwirtschaft zu immer wiederkehrenden Hungerkatastrophen. Die moderne Inkarnation dieser fundamentalen Idee findet sich in der Literatur zu den Grenzen des Wachstums, wie sie der »Club of Rome« vertritt, und sie in der Degrowth-Debatte thematisiert werden.[7] Daraus folgt noch keine Gefahr der vollständigen Selbstauslöschung, sondern das Risiko einer zyklischen Entwicklung, in der die Menschheit immer wieder zurückgeworfen wird. Die Wirtschaftsgeschichte seit 1750 zeigt außerdem, dass regionale und mittlerweile auch globale Bevölkerungsdynamiken nicht exponenziell, sondern eher logistisch verlaufen dürften,[8] und dass die Produktivitätsentwicklung nicht linear, sondern eher auch logistisch (mit einem positiven Trend) verläuft. Daraus lässt sich Hoffnung schöpfen.
In der jüngeren Literatur werden Umweltkrisen beschrieben, die sich durch rasche und weitgehend unerwartete Veränderungen der Umweltqualität auszeichnen, die nur schwer oder gar nicht rückgängig zu machen sind. Beispiele hierfür sind Fälle, in denen es zum Aussterben von bestimmten Arten gekommen ist oder zu erheblichen Verschlechterungen eines Ökosystems. Dabei werden typischerweise drei Voraussetzungen für eine Krise gesehen: (1) ein Versagen der Governance, (2) ein ökologisches System, das einen Kipppunkt aufweist, und (3) eine Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Umwelt mit positiven Rückkopplungen. Taylor hat zur Veranschaulichung dieser Bedingungen ein einfaches Modell entwickelt, das zeigt, wie eine Krise entstehen kann.[9] Er stützt sich dabei auf Wissen über vergangene und gegenwärtige Krisen, um die beteiligten Mechanismen auch quantitativ zu verdeutlichen. Mit diesem Modell lässt sich zum Beispiel sinnvoll analysieren, unter welchen Voraussetzungen der Klimawandel tatsächlich eine sich anbahnende Krise darstellt.
Dass die Malthusianische Logik auch zu Auslöschungskatastrophen führen kann, haben Brander und Taylor[10] in einem berühmten Aufsatz über Aufstieg und Untergang der Zivilisation der Osterinsel gezeigt. Sie haben ein Modell des allgemeinen Gleichgewichts vorgeschlagen, in dem die komplexe Dynamik erneuerbarer Ressourcen und der Bevölkerung modelliert wird. Sie bedienen sich des aus der Biologie bekannten Räuber-Beute-Modells, wobei der Mensch das Raubtier und die Ressourcenbasis die Beute ist. Sie wenden das Modell auf den Fall der Osterinsel an und zeigen, dass plausible Parameterwerte eine zyklische Anpassung der Bevölkerungs- und Ressourcenbestände erzeugen. Eine nahezu monotone Anpassung ergibt sich bei höheren Werten eines Parameters für die Ressourcenregeneration, wie sie auch anderswo in Polynesien auftreten könnte, woraus ein vollständiger Kollaps resultiert. Die Autoren beschreiben auch andere Zivilisationen, die aufgrund von Bevölkerungsüberschreitung und endogener Ressourcendegradation untergegangen sein könnten.
Ein fundamentales Problem in den modernen Malthusianischen Überlegungen ist, dass die politische Koordination versagt. Das Preissystem internalisiert aus verschiedenen Gründen die sich anbahnende Knappheit und kommende Katastrophe nicht, und die privaten Akteure setzen ihr Verhalten über einen Kipppunkt hinweg fort, wobei danach keine Korrektur mehr möglich ist. Es braucht also einen robusten politischen Koordinationsmechanismus, der den nicht nachhaltigen Ressourcenverbrauch einbremst. Dabei geht es letztlich um die Lösung eines Verteilungsproblems, denn jede handelnde Person versucht (modellgemäß), den für das Überleben notwendigen Konsumverzicht zu vermeiden und anderen Akteuren aufzubürden.
Diese Problematik erinnert an das Klimathema, wo die Vermeidung der Klimakatastrophe ebenfalls erfordert, dass es zu einer globalen Reduktion des Treibhausgasausstoßes kommt, wobei einzelne Akteure oder Regierungen für sich genommen jeweils sehr geringe Anreize haben, auf Emissionen zu verzichten und damit kurzfristigen Konsumverzicht zu erleiden. Selbst wenn man sich feierlich schwört, die Emissionen zu reduzieren, gibt es auf individueller Ebene eine große Versuchung, von den Versprechungen abzuweichen. Und diese wird umso größer, je mehr man erwarten muss, dass auch die anderen Akteure derselben Versuchung erliegen. Auf regionaler oder nationaler Ebene kann man sich vorstellen, dass ein starker und vorausschauender Staat die notwendigen Maßnahmen, die zu einer Rückkehr auf einen nachhaltigen Pfad notwendig sind, erzwingt. Auf globaler Ebene fällt dies sehr schwer. Umso mehr sollte das Schicksal der Osterinsel eine Warnung sein.
Wie auch im Malthusianischen Katastrophenszenario wird das Koordinationsversagen durch eine hohe Zeitpräferenzrate verstärkt. Damit ist gemeint, dass zukünftige Entwicklungen in die gegenwärtigen Entscheidungen der Akteure nur mit einem geringen Gewicht eingehen. Dies ist auf individueller Ebene gut belegt.[11] Aber auch auf Individuen-übergreifender Ebene, etwa zwischen Generationen, werden mögliche Ereignisse, die die Zukunft betreffen, in der Gegenwart gering bewertet. Hierüber hat sich in der ökonomischen Literatur zur Klimapolitik ein intensiver Streit entwickelt, der immer noch nicht beigelegt ist. So verwendet das eine Lager die auf den Finanzmärkten messbare Zeitpräferenzrate,[12] während die andere Seite argumentiert, dass es unethisch ist, die Wohlfahrt zukünftiger Generationen überhaupt niedriger zu bewerten als die Wohlfahrt der aktuellen Kohorte.[13] Die aktuelle Literatur neigt mehrheitlich der Stern-Position zu. Im Endergebnis ist diese Position auch mit der klassischen Erwartungsnutzentheorie der Ökonomie kompatibel. Wenn im Extremfall die Wohlfahrt einer zukünftigen Generation negativ werden sollte, dann reichen auch sehr geringe Eintrittswahrscheinlichkeiten aus, um den Erwartungsnutzen extrem negativ zu machen. Daraus resultieren dann auch entsprechende Handlungsempfehlungen – nämlich dem Klimawandel jetzt schon sehr entschieden, auch unter Inkaufnahme hoher Kosten entgegenzutreten. Die politische Durchsetzbarkeit bleibt allerdings dennoch eine enorme Hürde, denn die Einsichten aus der Wissenschaft entscheiden noch lange keine demokratischen Wahlen. Dazu kommt: Ganz neue Evidenz zeigt, dass in komplexen Entscheidungsproblemen exzessive Geringschätzung der zukünftigen Nutzen noch stärker ausgeprägt ist.[14] Das gilt für die Klimaerwärmung durch anthropogene Prozesse, das gilt aber auch für andere Vorgänge, die mit hohen aktuellen Erträgen und gleichzeitig hohen zukünftigen Risiken verbunden sind, etwa für die Künstliche Intelligenz.
Auch im Kontext der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) treten ähnliche Fragen auf. Jones[15] folgt einer breiteren neuen Literatur, die argumentiert, dass die Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz (KI) ein zweischneidiges Schwert darstellen.[16] Denn einerseits können sie das Wirtschaftswachstum erhöhen, weil die KI unsere Innovationsfähigkeit steigert. Andererseits befürchten viele Experten, dass diese Fortschritte ein existenzielles Risiko mit sich bringen: Die Schaffung einer Superintelligenz, die nicht mit den menschlichen Werten übereinstimmt, könnte zu katastrophalen Ergebnissen führen, möglicherweise sogar zum Aussterben der Menschheit. Jones befasst sich in seiner Arbeit mit dem optimalen Einsatz der KI-Technologie angesichts dieser Chancen und Risiken. Unter welchen Bedingungen sollten wir den schnellen Fortschritt der KI fortsetzen, und unter welchen Bedingungen sollten wir ihn stoppen?
Wenn es eine Wahrscheinlichkeit gibt, mit der der Einsatz von KI zu einer Katastrophe für die Menschheit führt, dann ist die Weiterentwicklung von KI wie eine Lotterie zu verstehen, in der in der Zukunft eine katastrophale »Ziehung« möglich ist. Die Antwort auf die Frage, ob man diese gefährliche Lotterie verbieten soll, hängt fundamental davon ab, wie Individuen und die Gesellschaft über Risiko und Zeitpräferenz nachdenken. Es ist daher von hoher Bedeutung, diese Einstellungen gut zu verstehen und empirisch zu messen. Letzteres ist schwierig, vielleicht unmöglich. Daher muss es darum gehen, Investitionen zu tätigen, die die KI möglichst sicher machen sollen. Und es braucht entsprechende Regulierung. Aber dafür ist Koordination über einzelne Länder hinweg notwendig.
Die bisherigen Ausführungen befassten sich mit Szenarien, die zu einem völligen Kollaps der menschlichen Zivilisation führen können. In dieser Hinsicht sind die Szenarien sicher extrem und unwahrscheinlich; sie sind aber nicht unmöglich und müssen daher ernst genommen werden. Aber auch wenn Klimawandel, kriegerische Konflikte oder technologische Risiken nicht zu globalen Katastrophen führen, so sind sie dennoch in der Lage, temporär extreme Knappheit essenzieller Konsumgüter – Nahrung, nutzbarer Wohnraum, Energie – zu verursachen. Der effiziente Umgang mit solchen Knappheiten ist ein genuin ökonomisches Problem. Verteilungsfragen lassen sich hier auch deshalb nicht ausblenden, weil marktliche Prozesse bei Vorliegen extremer Knappheitskrisen nicht ausreichen. Wenn sowohl das Güterangebot als auch die Güternachfrage sehr wenig preiselastisch sind, dann können adverse Angebotsschocks zu markträumenden Preisen führen, die für viele Menschen schlicht nicht leistbar sind. Diese Problematik hat sich in Europa während der Energiekrise 2022/23 gezeigt, in der kurzfristig die Marktpreise für Erdgas auf 340 Euro pro Megawattstunde gestiegen waren, nachdem sie jahrzehntelang unter 30 Euro gelegen hatten. In einer solchen Situation ist es sehr wahrscheinlich, dass marktliche Prozesse zusammenbrechen, etwa weil sie politisch ausgehebelt werden und es dann zu Rationierung, also zu einer administrativen Zuweisung von Mengen, kommt. Das wäre wohl auch bei essenziellen Lebensmitteln zu erwarten. Rationierung wäre aber ein hoch politischer Vorgang.
Diese Überlegungen passen sehr gut zu den Thesen, die der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen 1983 in seinem berühmten Buch Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation vertreten hat.[17] Dort hat er gezeigt, dass Nahrungsmittelknappheit nicht zwingend zu Hungersnot führen muss, sondern dass diese auf ein Versagen des politökonomischen Systems zurückzuführen ist. Er argumentiert, dass Demokratie Hungersnöte verhindert, weil sie allen Menschen Rechte verleiht und so die adäquate Verteilung von Lebensmitteln, trotz Knappheit, das Überleben aller in einer Bevölkerung gewährleistet. Eine solche Verteilung kann eben in der Rationierung bestehen. Dabei ist es von allergrößter Bedeutung, dass die Rationierung möglichst effizient vonstattengeht (also keine Verschwendung generiert wird) und dass die angewandten Mechanismen allgemein akzeptiert und als gerecht wahrgenommen werden. Rationierung, die diese Kriterien nicht erfüllt, steht in der Gefahr, die Entwicklung von Schwarzmärkten zu fördern, wodurch es dann doch zur Verdrängung der Nachfrage von Menschen mit niedrigeren Einkommen kommen kann.
Um mit extremen Krisen, die massive Knappheiten hervorbringen können, möglichst gut umgehen zu können und die Lebensbedingungen möglichst vieler Menschen maximal aufrechtzuhalten, braucht es, in der Sprache der Ökonomik gesprochen, entsprechende Mechanismen, die schon vor dem Eintreten einer Krise entwickelt werden müssten. Dabei geht es einerseits um Maßnahmen ex ante, die das Eintreten von Krisen weniger wahrscheinlich machen und für höhere Resilienz angesichts von Krisen sorgen sollen, andererseits um Mechanismen ex post, die greifen, wenn eine Krise bereits eingetreten ist. Hier soll vor allem der Fokus auf vorbeugenden Maßnahmen liegen; die Bewältigung von bereits eingetretenen Krisen erfolgt, wie bereits angedeutet, außerhalb marktlicher Prozesse. Dafür braucht es im Vorfeld Pläne, die kurzfristig aktiviert werden können.
In allen Fällen stellt sich aber die Frage, für welche Produkte oder Dienstleistungen spezielle Vorsorge getroffen werden muss. Was also sind kritische Güter? Wenn solche Güter nicht zur Verfügung stehen, auch kurzfristig nicht, drohen schwere Schäden an Leib und Leben der Menschen. Die Diskussion im Zuge der Coronakrise, der darauffolgenden Lieferkettenverwerfungen und der nun im Zentrum der Debatte stehenden geopolitischen Risiken hat gezeigt, dass die Definition solcher Güter kontextabhängig ist. Darauf haben zum Beispiel Felbermayr und Janeba[18] kürzlich hingewiesen. In Braml und Felbermayr[19] wird ein konzeptuell einfacher Test vorgeschlagen, mit dem kritische Güter identifiziert werden können. Nur wenn drei Kriterien gleichzeitig erfüllt sind, liegt Kritikalität im Sinne staatlichen Interventionsbedarfes vor. Erstens muss es um Güter gehen, für die kurzfristig keine Substitute im Sinne von vergleichbaren Produkten oder alternativen Lieferquellen zur Verfügung stehen. Zweitens geht es um Güter, die direkt konsumrelevant sind und deren Abwesenheit zu Hunger, Krankheit oder anderer Lebensgefahr führt. Das heißt, typischerweise sind kritische Güter Verbrauchsgüter; Kapitalgüter (wie etwa Photovoltaikzellen) sind nur dann kritische Güter, wenn sie direkt auf die Versorgung der Bevölkerung einwirken (PV-Zellen tun das nicht). Und drittens muss Marktversagen vorliegen, denn nur dann gilt, dass staatliche Interventionen zu besseren Ergebnissen führen als private. Das ist insofern extrem wichtig, weil staatliche Krisenhilfen die privaten Anreize senken, in die eigene Krisenresilienz zu investieren, zum Beispiel, indem private Versicherungen abgeschlossen werden oder die Diversifizierung von Bezugsquellen vorangetrieben wird. Der Staat soll nur eingreifen, wenn privates Handeln systematisch zu ineffizient hoher gesellschaftlicher Risikonahme führt.
Gegen die Auswirkungen sich materialisierender Krisen gibt es für Haushalte und Unternehmen in vielen Fällen die Möglichkeit, Versicherungen abzuschließen, etwa gegen Unwetterschäden. Das ist bei Krisenszenarien, die ganze Länder und Branchen umfassen, schwieriger. Neben dem Abschluss von Versicherungsverträgen gibt es die Möglichkeit der Diversifizierung. Für beide Maßnahmen fallen Kosten an; die Vorteile höherer Krisenresilienz sind aber oft sozialer Natur, etwa weil bei den Entscheidungen einzelner Unternehmen die Auswirkungen auf die Produktvielfalt oder auf andere Unternehmen im Produktionsnetzwerk nicht internalisiert werden. Dann kommt es zu ungenügender Diversifizierung.
In den Bereichen, in denen die oben genannten Kriterien (1) bis (3) gemeinsam erfüllt sind, gibt es eine Aufgabe für die Wirtschaftspolitik. Effiziente Maßnahmen sollten für den gesamten Binnenmarkt gelten und nicht nur für einzelne Länder. Und sie sollten für die verschiedenen Arten von Schocks – meteorologische Extremereignisse, kriegerische Verwerfungen, technologische Krisen – funktionieren. In Felbermayr und Janeba[20] diskutieren wir eine ganze Liste von möglichen Maßnahmen. Hier sei nur auf die wichtigsten verwiesen, mit denen ex ante verhindert werden soll, dass sich aufgrund von Schocks Situationen ergeben, die die Lebensbedingungen für Regionen und Menschen massiv beeinträchtigen könnten.
Die exzessive Konzentration der Lieferketten auf wenige Länder könnte mit Hilfe spezieller Quotenzölle zielgerichtet bekämpft werden. Damit sind Zölle auf Importe von Rohstoffen oder Vorprodukten aus Ländern gemeint, deren Lieferanteile einen gewissen Prozentsatz überschreiten. Wenn Importe aus solchen Ländern teurer werden, haben Unternehmen einen Anreiz, auf Bezugsquellen aus anderen Ländern zuzugreifen oder das jeweilige Produkt durch andere Produkte zu substituieren. Beispielsweise könnte man etwa in der EU in Zukunft vorsehen, dass Flüssig- oder Pipelinegas zollfrei aus jenen Ländern importiert werden kann, deren Anteile an den Gesamtimporten in die EU eine gewisse Prozentschwelle nicht übersteigen. Um nicht zusätzlich mitgliedslandspezifische Quotenzölle zu brauchen, die mit den Prinzipien der europäischen Zollunion kaum vereinbar wären, müsste eine solche Politik mit einem Ausbau der innereuropäischen Verteilinfrastrukturen einhergehen. Das Ziel wäre, dass die EU-Importe sowohl zollfrei als auch ausreichend diversifiziert erfolgen. Ob ein solcher Quotenzoll kompatibel mit WTO-Recht ist, dürfte umstritten sein. Klar ist allerdings, dass ähnliche Konstruktionen im Agrarhandel bereits existieren. Vermutlich hätte man mit einem solchen Instrument auch viele ärmere Länder, Indien zum Beispiel, auf seiner Seite.