Wie man Kinderbilder nicht betrachten soll - Arno Stern - E-Book

Wie man Kinderbilder nicht betrachten soll E-Book

Arno Stern

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Beschreibung

'Und was hast du hier gemalt?' Mit dieser Frage überrumpelt der Erwachsene das Kind, das sich an seinen bunten Spuren auf dem Papier erfreut. 'Das Auto ist dir aber toll gelungen!' So deutet und beurteilt er sein Bild. 'Na, wie sieht denn der Schornstein aus, der fällt ja gleich vom Haus runter.' So versucht er es zu belehren. Die Folgen: Das Kind malt, was der Erwachsene sehen will, es gerät in Abhängigkeit von seinem Lob oder verliert die Lust am Spiel mit Farben und Formen oft gleich ganz. Anders im Malort von Arno Stern, einem Raum der Geborgenheit, in dem sich Kinder frei von Erwartungen erleben. Dort fiel Stern auf, dass alle – ist der kunsterzieherische Ballast erst abgeworfen – ganz ähnliche Figuren malen: Ein bildnerisches Gefüge zeigt sich, das wie das Erproben des aufrechten Ganges programmiert und allen Menschen gemein ist. Erinnerungen an die Zeit vor unserer Geburt lassen sich so ausdrücken – und wer dergestalt zu seinen verlorenen Anfängen zurückkehren kann, der erstarkt daran. Arno Sterns Erkenntnisse treffen sich heute mit denen der Epigenetik, Hirnforschung und Embryologie. In seinem Buch zeigt er eindrücklich illustriert, wie Kinder malen, wenn man sie denn lässt – und was das in ihnen auslöst.

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Seitenzahl: 90

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Fotografie: Peter Lindbergh

GELEITWORT

1DAS SPIEL UND DIE SPUR

2DIE FORMULATION

3URSPRUNG UND ENTWICKLUNG DER FORMULATION

4VERNUNFT UND SPONTANEITÄT

5DIE FORMULATION, EIN UNIVERSALGEFÜGE

Der Autor

GELEITWORT

Wer den Autor dieses kleinen Buches jemals getroffen hat, der wird diese Begegnung so schnell nicht wieder vergessen. Arno Stern, dieser besondere Mann mit seiner unglaublichen Zugewandtheit und seinem enormen Einfühlungsvermögen hinterlässt eine Spur im Gedächtnis, die zwangsläufig immer dann aufscheint, wenn man später wieder einmal Gelegenheit bekommt, Zeichnungen, insbesondere Kinderzeichnungen, zu betrachten.

Man muss sich, wie Arno Stern das getan hat, nicht nur sehr lange, sondern vor allem sehr intensiv, vorurteilsfrei und ohne jede Bewertung mit der Art und Weise befasst haben, wie Kinder sich und das, was sie bewegt, zeichnerisch und malend auszudrücken versuchen. Dann erst kann man erkennen, was in ihren Darstellungen zum Ausdruck kommt und was sich hinter ihren Gemälden verbirgt.

»Die Spur« nennt es Arno Stern und er beschreibt in diesem Buch auf einfühlsame Weise, wie er diese »Spur« gefunden hat und wie man selbst dieser »Spur«, dieser im Zeichnen und Malen von Kindern zum Ausdruck kommenden »Spur«, auf die Spur kommen kann.

Prof. Dr. Gerald Hüther

1DAS SPIEL UND DIE SPUR

Lehrer, Lehrerinnen, Erzieher und Erzieherinnen, besonders für Euch habe ich dieses Buch geschrieben – wobei zu den Erziehern nicht zuletzt alle Eltern gehören. Ich bitte darum: Gebt Euch die Mühe, es zu lesen. Schon wenn Ihr beginnt, darin nur zu blättern, und einen Blick auf die Bilder werft – möglicherweise auf die Schema-tafeln –, werdet Ihr verstehen, dass es Euch direkt angeht.

Ich arbeite seit mehr als 60 Jahren mit Kindern – allerdings nicht im schulischen Rahmen. Als Lehrer wäre ich schon lange pensioniert und erholte mich von der mühsamen Karriere. Ich beabsichtige jedoch gar nicht, meine Tätigkeit aufzugeben, und übe sie uneingeschränkt aus wie in meiner Jugendzeit. Ich habe damals meinen Beruf erfunden. Deshalb passt er mir besser als ein von der Stange Genommener, in den man sich einleben muss.

Darf ich fragen, ob Sie von Ihrer Tätigkeit so begeistert sind wie ich von meiner 1946 erfundenen Rolle und ob das Zusammensein mit Kindern für Sie eine endlos beglückende Begebenheit ist, auf die Sie sich alltäglich freuen?

Mit 20 Jahren wurde mir eine Stelle in einem Heim für Kriegswaisen angeboten; mein Auftrag war es, die Kinder zu beschäftigen. Die Mittel dazu waren beschränkt in dem durch Krieg und jahrelange Besatzung ausgeplünderten Frankreich. Es galt, das knapp Vorhandene zu nutzen: aufgefundene Bleistifte, Abfallpapier usw. Ich wusste nicht, dass damit Wunder geschehen können. Denn so schien mir, dem Unerfahrenen und zugleich von keinem Vorurteil Belasteten, was dann geschah: Es war wundervoll, Zeuge der Begeisterung der Kinder zu sein – Zeuge und zugleich Ermöglicher, denn darin allein, das begriff ich sofort, bestand meine Rolle.

Das Kinderheim in Fontenay-aux-Roses 1946 – 1947

Erste Einrichtung im Kinderheim. Zunächst malten die Kinder am Tisch ...

In dem als Kinderheim notdürftig eingerichteten Schloss aus dem 18. Jahrhundert war von der alten Pracht kaum eine Spur übrig geblieben. Schlafsäle, Klassenzimmer, mit kargen Mitteln ausgestattet, entstellten die ehemaligen Prunksäle. Nur dem geräumigen Treppenhaus in der Mitte des Hauses haftete noch etwas von einer üppigen Lebensweise an. Aber wer bemerkte das schon? Der Sinn für das Kostbare war grundlegenden Bedürfnissen geopfert worden. Verfolgte sind keine Feinschmecker mehr, ihr dringendster Wunsch ist es, nicht zu verhungern. Der Krieg war vorüber und wer ihn überlebt hatte, war bestrebt, sich auch in der neuen Lage zurechtzufinden. Alle hier im Kinderheim waren auf wundersame Weise der Deportation entgangen. Die Mehrzahl der Kinder wie auch die als Betreuer angestellten jungen Leute waren in Klöstern oder bei Bauern versteckt gewesen und erfuhren erst jetzt, dass ihre Eltern vergast worden waren.

... später malten sie an der Wand

Sehr bald nach Kriegsende, während Nahrungsmittel noch rationiert und nur mit Lebensmittelmarken käuflich waren, wurde Farbe wieder hergestellt, und ich konnte Tempera in großen Glastöpfen anschaffen.

Als ich den Kindern das Spiel mit Pinsel und Farbe anbot, begann das eigentliche Abenteuer. Es begann in einem kleinen Zimmer auf dem Dachboden, und später richtete ich einen geeigneteren Raum in einem ehemaligen Stall für dieses Spiel ein, abseits des Hauptgebäudes, mit Fenstern und einer Glastür auf der einen Längsseite. In dem zuvor für die Zeichen- und Malstunden gestalteten Raum stand ein Tisch in der Mitte, darauf eine Reihe aus einstmaligen Schulpulten stammende Tintenfässer, und neben diesen lagen Pinsel – irgendwelche kleinen Aquarellpinsel, wie sie Grafiker verwendeten. Die Kinder saßen rings um die Tischplatte auf Bänken und Hockern, in üblicher Weise über ihre kleinen Papierbogen gebeugt.

Eines Tages wollte ein Kind ein größeres Bild malen, aber das Blatt passte nicht auf den Tisch und so hängte ich es ihm an der Wand auf. Das löste bei allen anderen denselben Wunsch aus. Der Tisch und die Bänke waren nunmehr unnötig geworden, und ich räumte sie weg. Nur in der Mitte des Raumes stellte ich ein schma-les Brett für die Farben und Pinsel auf. In dem neuen Malraum konnten die Bilder bis zur Decke hinauf wachsen. Immer mehr Kinder wollten zu dem Spiel kommen und ich musste eine Möglichkeit erfinden, die Malgruppe zu erweitern. Dazu verkleidete ich die Fenster mit Brettern, sodass eine lückenlose Wandfläche die Malstätte umgab.

Allein aus dieser praktischen Erwägung heraus ist der einzigartige Malort entstanden, dessen vier Wände ein Schutzwall gegen das Eindringliche und Veränderliche sind; denn nur in dieser Geborgenheit kommt das Eigenerlebte uneingeschränkt zum Ausfließen. Von solch außergewöhnlichen Eigenschaften und Folgen wusste ich allerdings noch nichts und habe sie erst viel später erfahren. Mein alleiniges Bemühen war es, einem jeden Kind das Spiel leicht zu machen, damit es sich ungehindert dem angeregten Impuls hingeben kann.

Alles später zur Perfektion Weiterentwickelte hatte hier seinen Ursprung: der Malort, der Palettentisch, die dienende Rolle im Malspiel.Ich ahnte oder berechnete nicht, was diese außergewöhnlichen Bedingungen in jedem Menschen auslösen können. Anfangs waren es nur Kinder zwischen 5 und 15 Jahren, im Kinderheim und auch später noch, nachdem ich in der Stadt den ersten Malort einrichtete, die Académie du Jeudi, die Donnerstagsakademie 1.

Ich erkannte, dass durch dieses Spiel eine unvergleichliche Äußerung ins Leben gerufen wird, dessen Zeuge zu sein ich das einmalige Privileg hatte.

Mein Eintritt in das Kinderheim bei Paris war den drei Jahren der Internierung als Zivilflüchtling im Schweizer Arbeitslager fast übergangslos gefolgt. Andere junge Menschen studieren, erwerben Diplome für eine zukünftige Karriere. Das hätte auch mir geschehen sollen. Aber es kam eben anders. Ich hatte schon als Kind, nach der Flucht aus dem Dritten Reich, das Leben auf eine ungewöhnli-che Weise erfahren – als Bedrohter, Ausgestoßener, nirgendwohin Gehörender ...

In den folgenden Jahren entdeckte ich, dass die bildnerische Spur des Kindes nicht, wie allgemein behauptet wird, der Kunst angehört, sondern Bestandteil eines eigenständigen Gefüges ist. Ein halbes Jahrhundert lang vertiefte ich mich in ihr Studium.

Aber ich bin kein Forscher im üblichen Sinne, der von einem genialen Einfall fasziniert eine Theorie entwickelt, für die er Beweise sucht. Ich bin überhaupt kein Theoretiker. Ich suchte nichts. Was ich fand, ist mir in einer überzeugenden Fülle entgegengekommen. Ich nahm es auf. Es wiederholte sich. Nichts war zufällig – oder gar außergewöhnlich wie ein Kunstwerk. Es war allen eigen, den Hunderten von Menschen, die vor meinen nichts fordernden Augen unvergleichliche Spuren entstehen ließen, die ich achtungsvoll aufbewahrte.

Im Jahr 1952 zog ich in das damals berühmteste Viertel von Paris um Saint Germain-des-Prés, wo der Académie du Jeudi ein unermesslicher Erfolg beschieden war. Hier entwickelte sich auch die Forschung, nicht nur die Erkenntnis der originellen Phänomene, sondern auch das ihnen angepasste Vokabular.

Als mich im Kinderheim die alltäglich entstandenen Bilder faszinierten, sprach ich von Kinderkunst als von einer besonderen Gattung. Neben allen anderen Gattungen oder sogenannten Schulen, neben dem Expressionismus, dem Futurismus, dem Kubismus, dem Impressionismus usw., glaubte ich, gäbe es auch die Kinderkunst als ein eigenständiges Kunstgeschehen.

Aber ich wurde mir alsdann bewusst, dass ein anderer Unterschied die kindliche Äußerung von allen anderen Gruppen entfernt, dass nämlich die Spur des Kindes, weil sie keine Botschaft vermittelt und sich nicht wie ein Werk an einen Empfänger richtet, gar nicht der Kunst angehört.

Diese Erkenntnis veranlasste meine Ablehnung aller verbreiteten Stellungnahmen zur Kinderzeichnung. Ich werde darauf noch zurückkommen.

Es wurde mir auch klar, dass die Spur des Kindes kein Fantasieerzeugnis ist, denn auch das wird oft behauptet, weil der vom Kind dargestellte Mensch einen übertrieben großen Kopf hat, weil ein toller Weg sich durch den Raum des Blattes schlängelt o. Ä. Ich wusste – schon sehr bald –, dass das keine lustigen Erfindungen des unvernünftigen Kindes sind, sondern dass sie als Bestandteile eines Codes einem geordneten Gesamtablauf angehören.

Ich verglich diese Gesetzmäßigkeit mit den grammatikalischen Gesetzen einer Sprache und bezeichnete diesen Code als die »Bildnerische Sprache«. Aber ich musste dann immer ergänzend hinzufügen: »Jedoch eine Sprache, die nicht der Kommunikation dient.«

Jahre hernach fand ich die vollgültige Benennung für das erkannte System, indem ich es »die Formulation« nannte. Ich bitte Sie, sich dieses Wort zu merken, das ich in meinem Buch immer wieder verwenden werde.

Die Donnerstagsakademie. Eine Außenansicht der Rue de Grenelle

Eine Kindergruppe im dortigen Malort

Ich bediente mich anfangs einiger bestehender Bezeichnungen wie Kritzelei, Aufklappung, Kopffüßler, die von Menschen stammen, die mit ihrem irregeführten Blick der Spur der Kinder begegnen und sie missverstehen. Für mich, der ich der Äußerung unter anderen Bedingungen begegnete, waren diese Benennungen unbrauchbar, weil sie die Sicht des Erwachsenen zum Maßstab nehmen.

Der spätere Malort

Ich werde dazu noch ausführlicher Stellung nehmen. Zuvor aber möchte ich mich dem zuwenden, was allgemein als »Kinderzeichnung« verstanden wird.

***

Seit vielen Jahren halte ich Vorträge. Es war seit jeher mein Anliegen – oder soll ich sagen: meine Pflicht! – das Erfahrene, das mich begeisterte, mit anderen zu teilen. Ich musste anfangs meine angeborene oder anerzogene Schüchternheit überwinden, um öffentlich das Wort zu ergreifen. Der Wichtigkeit dieser Aufgabe voll bewusst, erarbeite ich immer wieder neue Vorträge mit vielen Bildern aus dem Malort. Eine meiner Darbietungen, »Die Kinderzeichnung, ein verhängnisvoller Irrtum«, beginnt mit der folgenden Einführung:

»Überall in der Welt ist die Rede von Kinderzeichnungen. In allen Sprachen erscheinen Bücher und Zeitschriftenartikel über dieses Thema.

Ich werde Sie überraschen, wenn ich sage: Die Kinderzeichnung gibt es nicht! Die Benennung ›Kinderzeichnung‹ ist aus zwei Begriffen zusammengesetzt, die ich einzeln behandeln werde.

Ich beginne mit dem zweiten Teil des Wortes, mit der sogenannten Zeichnung. Zeichnen heißt Zeigen. Das Gezeigte ist für einen Betrachter bestimmt. Oder anders gesagt: Der Zeichnende, indem er ein Werk schafft, richtet sich an einen erhofften Empfänger. Es liegt im Wesen der Kunst, Trägerin einer Mitteilung zu sein.

Von der Spur des Kindes glaubt man also allgemein, dass sie dem gleichen Zweck diene wie die Äußerung des Künstlers. Und das ist nicht erstaunlich, weil überhaupt nur diese kommunikative Rolle der Spur bekannt war und sie immer in diesem Sinne geschah. Dies ist auch durch die Tatsache bestätigt, dass für das Hervorbringen einer Spur in der kunstpädagogischen Fachliteratur stets dieses einzige geläufige Wort ›zeichnen‹ verwandt wird.