Wie Nietzsche aus der Kälte kam - Philipp Felsch - E-Book

Wie Nietzsche aus der Kälte kam E-Book

Philipp Felsch

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Beschreibung

Nach 1945 liegt Nietzsches Ruf genauso in Trümmern wie der europäische Kontinent. Ausgerechnet Giorgio Colli und Mazzino Montinari, zwei italienische Antifaschisten, entschließen sich, den gefährlichen Denker zu rehabilitieren. Ihr Ziel: Nietzsches Nachlass neu zu entziffern, um alle postumen Verfälschungen rückgängig zu machen. Ihr Problem: Zehntausende kaum lesbarer Seiten, die sich in der DDR befinden, wo Nietzsche offiziell als Staatsfeind gilt. In seinem brillant geschriebenen Buch erzählt Philipp Felsch ein intellektuelles Abenteuer im Spannungsfeld des Kalten Krieges, das von Florenz über Weimar und Ost-Berlin bis ins Paris der Postmoderne führt. Wer die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebene Nietzsche-Gesamtausgabe aufschlägt, betritt eine Wüste akribischer Gelehrsamkeit. In seinem aufregenden neuen Buch folgt Philipp Felsch den beiden Philologen auf ihrer epischen Suche nach dem echten Nietzsche, die zwischen die politischen und philosophischen Fronten des Kalten Krieges führt. Während Colli und Montinari im Osten ins Visier der Staatssicherheit geraten, schlägt ihnen im Westen der Widerstand der neuen Meisterdenker entgegen, die die Idee des authentischen Urtexts, ja der Wahrheit selbst in Frage stellen. Zu guter Letzt wird ihre Ausgabe sogar für den Fall der Mauer verantwortlich gemacht. Die Geschichte des Kampfs um Nietzsches Überlieferung, zugleich ein intellektuelles Porträt der Epoche, macht deutlich, welche Sprengkraft bis heute in seinem Denken liegt.

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Philipp Felsch

Wie Nietzsche aus der Kälte kam

Geschichte einer Rettung

C.H.Beck

Zum Buch

Nach 1945 liegt Nietzsches Ruf genauso in Trümmern wie der europäische Kontinent. Ausgerechnet Giorgio Colli und Mazzino Montinari, zwei italienische Antifaschisten, entschließen sich, den gefährlichen Denker zu rehabilitieren. Ihr Ziel: Nietzsches Nachlass neu zu entziffern, um alle postumen Verfälschungen rückgängig zu machen. Ihr Problem: Zehntausende kaum lesbarer Seiten, die sich in der DDR befinden, wo Nietzsche offiziell als Staatsfeind gilt. In seinem brillant geschriebenen Buch erzählt Philipp Felsch ein intellektuelles Abenteuer im Spannungsfeld des Kalten Krieges, das von Florenz über Weimar und Ost-Berlin bis ins Paris der Postmoderne führt.

Über den Autor

Philipp Felsch ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein bei C.H.Beck erschienenes Buch Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960–1990 (32015) war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Inhalt

Die Spielverderber Einleitung

1. Jenseits der Gotenlinie Lucca 1943/44

Die Auserwählten

Standardsituationen der Nietzsche-Rezeption

Verführung der Jugend

Das blaue Licht

Magie der Buchstaben

Die Schule der höheren Ignoranz

2. Akribie und Klassenkampf Pisa 1948

Vom Glück, Kommunist zu sein

Genosse Hiob

Le goût de l’archive

Der Nietzsche der anderen

Akademiker im Stellungskrieg

Deutschlandreisen

Trinken, rauchen, lesen

3. Aktion Nietzsche Florenz 1958

Holzwege

Schönheit und Schrecken

Die andere Bibliothek

Über den Abgrund gehen

Gefährliche Papiere

The Italian Job

4. Über die Mauer und in die Wüste Weimar 1961

Keine verdächtigen Spuren

Die Luft in Weimar

Das Handwerk des Lesens

Nietzsche ist eine Krankheit

Der Ritter von der traurigen Gestalt

Politik der Tatsachen

Nieder mit den Philosophen!

5. Warten auf Foucault Cerisy-la-Salle 1972

Allein gegen die Nietzsche-Mafia

Against Interpretation

Fernsehen in Reinhardsbrunn

Der verfemte Denker

Nietzsches schmutziges Geheimnis

Tod eines Autors

Quote Unquote

6. Burn After Reading Berlin 1985

Anarchie der Atome

Die Roten Brigaden der Textkritik

Nietzsche im Taschenbuch

Die große Verschwörung

Am Nullpunkt der Philologie

Der Ring des Seins

Dank

Anmerkungen

Die Spielverderber Einleitung

1. Jenseits der Gotenlinie Lucca 1943/44

2. Akribie und Klassenkampf Pisa 1948

3. Aktion Nietzsche Florenz 1958

4. Über die Mauer und in die Wüste Weimar 1961

5. Warten auf Foucault Cerisy-la-Salle 1972

6. Burn After Reading Berlin 1985

Literaturverzeichnis

Archive

Filme

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

für Martin Bauer

«Ich kritzele auf meinen Wegen hier und da etwas auf ein Blatt, ich schreibe nichts am Schreibtisch, Freunde entziffern meine Kritzeleien.»

Friedrich Nietzsche

«Nietzsche braucht keine Interpreten.»

Giorgio Colli

«Nietzsche ist eine Krankheit.»

Mazzino Montinari

Die Spielverderber Einleitung

Die Konferenz von Royaumont – Querelle des anciens et des postmodernes

In Royaumont, einer im Norden von Paris gelegenen ehemaligen Zisterzienserabtei, fand im Juli 1964 ein deutsch-französisches Gipfeltreffen statt. Im Jahr zuvor hatten de Gaulle und Adenauer den Elysée-Vertrag unterzeichnet. Als fühlten sie sich dem Geist des Freundschaftsabkommens verpflichtet, trafen sich jetzt die führenden Nietzsche-Exegeten der beiden Länder, um über die richtige Lesart von Nietzsche zu diskutieren. Im Rückblick gilt Royaumont als eines der Ereignisse, mit denen die Postmoderne in der französischen Philosophie begonnen hat. Dass ihre Tagung einmal als Keimzelle eines neuen Zeitgeistes gelten würde, war für die Teilnehmer allerdings nicht abzusehen. Nietzsche selbst hatte zeit seines Lebens als «unzeitgemäßer» Denker gelten wollen, doch erst in der zweiten Nachkriegszeit seit seinem Tod schien dieser Wunsch endlich in Erfüllung zu gehen. Zwar war er von Georges Bataille vom Vorwurf des Nationalsozialismus freigesprochen worden, zwar tauchte er bei Camus und Sartre als eine Art entfernter Vorläufer des Existentialismus auf. Doch das nächste große Ding war in Frankreich der Strukturalismus. In den beiden deutschen Staaten sah es für den Autor des Zarathustra noch schlechter aus. In der DDR galt er offiziell als «Wegbereiter des Faschismus», und auch in der Bundesrepublik war sein Renommee auf einem historischen Tiefstand angelangt. Darf man den Zeitdiagnostikern glauben, dann hatte er sein Stammpublikum, die sogenannte «Jugend von heute», verloren. Die skeptische Generation wusste mit seinem Pathos nichts mehr anzufangen. Noch 1968 schrieb Jürgen Habermas mit spürbarer Erleichterung, von Nietzsche gehe «nichts Ansteckendes» mehr aus.[1]

Es passt ins Bild, dass es sich bei der Mehrzahl der Vortragenden in Royaumont um Nietzsche-Veteranen aus der ersten Jahrhunderthälfte handelt: um Boris de Schlözer zum Beispiel, den dreiundachtzigjährigen Nachfahren des russischen Zweigs einer deutschen Adelsfamilie, der über die Verklärung des Bösen bei Nietzsche und Dostojewski spricht. Oder um Jean Wahl, den jüdischen Sorbonne-Professor, der unter deutscher Besatzung interniert worden war und der als Ehrenvorsitzender der Societé française d’études nietzschéennes in Royaumont die Rolle eines aufgeräumten Frühstücksdirektors spielt. Oder um Karl Löwith, der die deutsche Nietzsche-Begeisterung der ersten Jahrhunderthälfte wie kein anderer zu verkörpern vermag, denn schließlich hatte er sie am eigenen Leib erlebt: Von der Jugendbewegung über die Weltkriegseuphorie und das Studium bei Heidegger bis zu dem Tag, an dem die nationalsozialistischen Rassengesetze seiner akademischen Karriere in Deutschland ein Ende bereitet hatten, war Nietzsche der Leitstern seiner eigenen radikalen Denkbewegungen gewesen. Ohne diesen «letzten deutschen Philosophen», hat Löwith später in seiner im japanischen Exil verfassten Autobiografie geschrieben, lasse sich die «deutsche Entwicklung» nicht verstehen – und in einer Wendung, die an die Stimmungslage mancher heutiger Geisteswissenschaftler erinnert, fügte er reumütig hinzu, er habe fahrlässig «mitdestruiert».[2]

In Royaumont hatte sich der einstige Avantgardist in einen weißhaarigen Stoiker verwandelt, den an Nietzsche nicht mehr die Theorie des Willens zur Macht, sondern der Gedanke der ewigen Wiederkehr faszinierte. Löwith plädiert dafür, aus der fatalen Bewegung der Moderne auszusteigen und zu einer antiken Gelassenheit zurückzufinden, die den Menschen als Teil des ewig unveränderlichen Kosmos ansieht.[3]

Nichts könnte den französischen Jung-Nietzscheanern, die die andere Hälfte der Konferenzteilnehmer ausmachen, ferner als dieser vornehm distanzierte Konservatismus liegen. Während Löwith die Bilanz einer epochalen Ernüchterung präsentiert, spielen sie bereits die Motive einer kommenden Philosophie der Überschreitung durch. Für Gilles Deleuze, Attaché de recherches am Centre national de la recherche scientifique und Veranstalter des Colloquiums, bedeutet die ewige Wiederkehr keineswegs eine Besinnung auf die Kontemplation des immer gleichen Kosmos, sondern ein dionysisches Prinzip der Unruhe, das garantiert, dass die Welt niemals mit sich identisch bleibt.[4]

Zu den jungen Franzosen gehört auch Michel Foucault, dem damals genau wie Deleuze noch kein großer Ruf vorauseilt. Dass sein Vortrag über «Nietzsche, Freud, Marx» als einziger bis heute gelesen wird, dürfte daran liegen, dass er eine Beobachterperspektive zweiter Ordnung einnimmt. Anstatt den Interpretationen der Nietzsche-Exegeten nämlich eine weitere hinzuzufügen, macht er die Interpretation als solche zu seinem Gegenstand. Bis ins 19. Jahrhundert, so Foucaults These, seien die Verfahren der Textexegese durch die regulative Idee einer authentischen Quelle begrenzt gewesen. Erst Nietzsche (und Marx und Freud) hätten der Hermeneutik mit ihren Schriften diesen beruhigenden Boden entzogen. Indem er die Idee des Urtextes durch einen Abgrund ineinander geschachtelter Auslegungen ersetzte, habe insbesondere Nietzsche das Geschäft der Interpretation für seine Nachfolger zu einer unendlichen, durch keine ursprüngliche Wahrheit mehr gedeckten Aufgabe gemacht.[5]

Die Geburt der Tragödie, Nietzsches erstes, 1872 erschienenes Buch, das zugleich den Anfang vom Ende seiner akademischen Karriere einläutete, hat eine ungewöhnliche Dramaturgie: Man muss erst zwölf Kapitel lang die Dialektik des Apollinischen und Dionysischen verfolgen, bevor – auf der Hälfte der Schrift – endlich Sokrates, der eigentliche Protagonist, die Bühne der Darstellung betritt. Oder genauer: Er betritt nicht die Bühne, auf der der Gott des Traumes und der Gott des Rausches ihre spannungsreiche Vereinigung in Form der antiken Tragödie zelebrieren, sondern sitzt unauffällig im Zuschauerraum, von wo aus er zusammen mit seinem Gesinnungsgenossen, dem Dichter Euripides, das Geschehen voller Zweifel beäugt. Die Weltanschauung, die der Tragödie zugrunde liegt, bleibt ihm unverständlich. Im Gegensatz zu den übrigen Anwesenden verkörpert Sokrates nämlich den «theoretischen Optimismus», das Ethos aufklärerischer Wissenschaft, die Überzeugung, es sei möglich, «die wahre Erkenntniss vom Schein und vom Irrthum zu sondern» und dem Schicksal der tragischen Helden durch existentielles Besserwissen zu entrinnen. Das wahre Drama, das Nietzsche in der zweiten Hälfte seines Buches entfaltet, ist nicht das zwischen dionysischem und apollinischem, sondern zwischen dionysischem und sokratischem Prinzip.[6]

Mit der gleichen Skepsis und der gleichen Unauffälligkeit wie Sokrates und Euripides müssen Giorgio Colli und Mazzino Montinari unter den in Royaumont versammelten Philosophen gesessen haben. In den Diskussionsprotokollen des Kongresses haben sie so gut wie keine Spuren hinterlassen. Abgesehen von dem kurzen Referat, das Montinari am Morgen des zweiten Tages hielt, ist von ihnen keine Rückfrage, keine Hypothese, keine noch so geringfügige Bemerkung überliefert. Dabei hätten sie spätestens nach Foucaults Vortrag über die unreglementierte Interpretation eigentlich unbedingt ihren Widerspruch einlegen müssen. Doch wie ihre Korrespondenz im Vorfeld der Konferenz verrät, fühlen sie sich unter den Nietzsche-Experten fehl am Platz. Colli, der mit Mitte vierzig als Privatdozent an der Universität Pisa antike Philosophie unterrichtet, macht um akademische Veranstaltungen normalerweise einen großen Bogen, und Montinari, der sich in seiner Zeit als Funktionär der Kommunistischen Partei Italiens daran gewöhnt hat, die Welt in Freunde und Feinde einzuteilen, befürchtet, die «hohen Tiere der westlichen Nietzscheologie» wollten ein Exempel an ihnen statuieren. Schon im Bus von Paris nach Royaumont müssen sie durch Zufall mit anhören, wie ein französischer Professor von einem italienischen Kollegen wissen will, wer die beiden unbekannten Italiener seien, deren Namen im Programm auftauchen. Sie gehören in keines der auf der Konferenz vertretenen Lager; sie fühlen sich weder den deutschen Apollinikern noch den französischen Dionysikern zugehörig; und in den Kaffeepausen, die bei solchen Veranstaltungen unvermeidlich sind, stehen sie sicher meistens alleine herum. «Die Vielen und mit ihnen die besten Einzelnen hatten nur ein misstrauisches Lächeln für ihn», heißt es bei Nietzsche über den Zweifler Euripides, und so ähnlich mag es den beiden Italienern ergangen sein.[7] In den Augen der Nietzscheologen spielen sie nämlich eine unrühmliche Rolle: Sie sind als Spielverderber nach Royaumont gekommen.

Dazu muss man wissen, dass der deutsch-französische Gedankenaustausch mit einer Hypothek belastet ist. Durch die Veröffentlichungen des Darmstädter Philosophieprofessors Karl Schlechta und des französischen Germanisten Richard Roos war in den späten 1950er Jahren in beiden Ländern kurz nacheinander bekannt geworden, dass die einschlägigen Nietzsche-Editionen, die das Weimarer Nietzsche-Archiv unter Federführung von Elisabeth Förster-Nietzsche herausgegeben hatte, postume Eingriffe und Manipulationen, ja sogar Fälschungen enthielten. Seitdem gab es keine gesicherte Textgrundlage mehr.[8]

Die Literatur über den wohl berühmtesten Skandal der neueren Philosophiegeschichte füllt mittlerweile selbst eine kleine Bibliothek. Erich Podach, einer der vielen Nietzsche-Forscher, die sich damals in die Debatte einschalteten, schrieb, Nietzsche sei die «nach Leben und Werk am stärksten verfälschte Erscheinung der neueren Literatur- und Geistesgeschichte». Und obwohl man an dieser Behauptung mit guten Gründen zweifeln kann, ist es richtig, dass es kaum einen zweiten literarisch-philosophischen Erbfall geben dürfte, in dem dieser Verdacht eine so zentrale Rolle spielt.[9]

Aus Gründen, über die immer wieder spekuliert worden ist, erlitt Nietzsche Anfang 1889 in Turin einen geistigen Zusammenbruch und verbrachte die folgende Dekade bis zu seinem Tod im Jahr 1900 größtenteils in der Obhut seiner Mutter und seiner Schwester, denen zusammen mit der Vormundschaft auch die Verfügungsgewalt über sein veröffentlichtes und unveröffentlichtes Werk zufiel. Zwar ist das Bild der geldgierigen, von den antisemitischen Obsessionen ihres verstorbenen Mannes beherrschten Schwester, die aus der Prominenz ihres geisteskranken Bruders Profit in eigener Sache schlägt, inzwischen einer differenzierteren Einschätzung gewichen. Immerhin gebührt Elisabeth, die sich als weibliche Nachlassverwalterin von Anfang an einem besonderen Misstrauen ausgesetzt sah, das Verdienst, Nietzsches verstreuten Hinterlassenschaften bis zum letzten von seiner Hand beschriebenen Zettel nachgejagt zu sein und seine Botschaft, wie der Georgeaner Rudolf Pannwitz 1957 im Merkur schrieb, «im fruchtbaren Moment in die Welt geschleudert» zu haben. Dass sie dabei vor strategischen Lügen nicht zurückschreckte, dass sie die kriminelle Energie besaß, Dokumente zu unterschlagen, zu verändern und zu fälschen, und dass sie ihren Bruder der völkischen Rechten und den Nationalsozialisten andiente, bleibt aber genauso wahr. Unter der Regie der Schwester wurden nicht weniger als vier verschiedene Gesamtausgaben in Angriff genommen. Sie entfaltete selbst eine einflussreiche Publikationstätigkeit, baute das Weimarer Nietzsche-Archiv zu einer nationalen Pilgerstätte aus und trug maßgeblich dazu bei, ihren Bruder in jene Ikone mit Schnurrbart zu verwandeln, die er – neben allem anderen – bis heute ist.[10]

Elisabeths Kampagne beruhte maßgeblich darauf, dass sie sich 1896 die Urheberrechte an Nietzsches Nachlass gesichert hatte. Mit ihrer Methode, Schnipsel und Teaser in Zeitschriften zu platzieren, hielt sie das Interesse der rasch wachsenden Nietzsche-Gemeinde wach. Mit der Publikation des Willens zur Macht präsentierte sie 1901, im Jahr nach Nietzsches Tod, das vermeintliche Hauptwerk, auf das die Anhänger seit langem gewartet hatten. Ihre Anstrengungen liefen darauf hinaus, den Glauben an eine esoterische, die zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften an Bedeutung überragende Überlieferung zu schüren – einen Glauben, der den Enthüllungen Schlechtas und Roos’ zufolge als Legende anzusehen war.[11]

Während der Spiegel der Affäre einen zehnseitigen Kultur-Aufmacher widmete, wischte die Mehrzahl der Philosophen sie wie eine lästige Störung weg. Heidegger, der als Berater des Nietzsche-Archivs in den 1930er Jahren selbst in die Vorbereitungen zu einer historisch-kritischen Gesamtausgabe involviert gewesen war, erklärte, Der Wille zur Macht bleibe für ihn nach wie vor die maßgebliche Referenz. Auch Schlechta, der die Aphorismen des inkriminierten Buches in korrigierter, chronologischer Reihenfolge herausgegeben hatte, sprach sich gegen die Notwendigkeit einer vollkommen neuen Ausgabe aus. Überdies erschienen diesbezügliche Gedankenspiele den meisten Beteiligten sowieso rein hypothetisch, da, wie der bereits zitierte Rudolf Pannwitz geschrieben hatte, Nietzsches Nachlass «in der Ostzone», also in der DDR, dem Zugriff aller wohlmeinenden Nietzsche-Freunde bis auf Weiteres entzogen sei.[12]

Montinari ist der einzige Konferenzteilnehmer, der aus der «Ostzone» anreist. Als ihn die Einladung von Deleuze erreicht, steht er im Begriff, seinen Wohnsitz nach Weimar zu verlegen. Wer damals aus der Toskana in die DDR übersiedelt, muss gute Gründe haben. In Montinaris Fall datieren diese Gründe auf einen Apriltag des Jahres 1961 zurück. Während unter manchen westdeutschen Nietzscheanern noch immer das Gerücht kursiert, Nietzsches Nachlass sei nach dem Krieg auf einen sowjetischen LKW verladen worden und in Moskauer Katakomben gelandet, betritt Montinari, der aus seiner Zeit als Parteifunktionär noch über gute Kontakte in die DDR verfügt, an diesem Tag – vier Monate vor Bau der Berliner Mauer – das Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, um Nietzsches Handschriften einzusehen. Ist es übertrieben zu behaupten, dass er über dieses Erlebnis nie hinweggekommen ist? «Diese Reise nach Weimar ist vielleicht das wichtigste Ereignis meines Lebens», schreibt er wenige Tage später an Colli. «Ich war auf eine ganz eigene, unaussprechliche Weise bewegt, als ich zum ersten Mal ein Manuskript von Nietzsche in den Händen hielt.»[13]

Nietzsche selbst war aus Thüringen über Zwischenstationen in der Schweiz und in Frankreich nach Italien geflüchtet. Im Bann von Nietzsches Handschriften geht Montinari den umgekehrten Weg. Eigentlich hatte er in Weimar nur die Textgrundlage für eine zusammen mit Colli geplante italienische Übersetzung prüfen wollen, doch nach seiner Rückkehr treffen sie die Entscheidung, eine neue deutschsprachige Gesamtausgabe von Nietzsches veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften zu edieren. Während Colli seine publizistischen Kontakte nutzt, um Geldgeber und Verleger aufzutreiben, beginnt Montinari, vor Ort in Weimar Nietzsches Nachlass zu entziffern – eine Aufgabe, die ihn bis ans Ende seines Lebens beschäftigen wird. Er wolle «langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen» gelesen werden, hatte Nietzsche in der Vorrede zur Morgenröthe geschrieben. In Montinari findet er seinen absoluten Leser. «Er ist wohl der einzige unter den Lebenden, der jede hinterlassene Zeile, jeden bewahrten Brief im Original gelesen hat», schreibt Frank Schirrmacher, der Literaturchef der FAZ, 1986 kurz vor Montinaris Tod.[14]

Am Anfang dieses Buches steht ein Erstaunen, das dem des französischen Professors im Bus nach Royaumont nicht unähnlich ist: Wer waren die beiden italienischen Dilettanten, und wie kamen sie dazu, die Schriften von Nietzsche zu edieren? Woher die Hingabe an das Werk eines Philosophen, der – zumal für Linke – in den 1960er Jahren noch ein Repräsentant des Bösen war? In vielerlei Hinsicht bilden Colli und Montinari ein unwahrscheinliches Paar: ein bürgerlicher Privatgelehrter mit gräkophilen Obsessionen und ein zwölf Jahre jüngerer abtrünniger Kader der Kommunistischen Partei mit proletarischem Familienhintergrund. Ihre Bekanntschaft reicht bis in die 1940er Jahre in der toskanischen Kleinstadt Lucca zurück, wo Colli Montinaris Philosophielehrer im Gymnasium gewesen war. «Der eine schweigsam, aristokratisch, in den Glorienschein einer fernen Vergangenheit entrückt, der andere lebendig, mitreißend, empathisch, der Gegenwart und ihrer Veränderung zugewandt», hat Antonio Gnoli geschrieben, der den beiden in der Tageszeitung La Repubblica eine Reihe von einfühlsamen Porträts gewidmet hat.[15]

Die Philologen bei der Arbeit. Colli und Montinari, 1970er Jahre

Nicht einmal in ihrer Begeisterung für Nietzsche stimmen sie miteinander überein. Während Colli in Nietzsche einen modernen Mystiker erblickt, der ihm die Flucht in ein imaginäres Griechenland ermöglicht, sieht Montinari ihn als radikalen Aufklärer, als Verfechter unscheinbarer, mit strenger Methode gefundener Erkenntnisse an. In seinen Briefen kann man die allmähliche Verwandlung eines kommunistischen Intellektuellen in einen Philologen verfolgen. Verleiht ihm die Buchstabentreue nach dem Verlust seiner politischen Überzeugungen letzten Halt? «Aller Luxus fließt an ihm ab, er will nur arbeiten», berichtet der Informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, der Montinari im Goethe- und Schiller-Archiv observiert. Inmitten der kulturellen und politischen Beschleunigung der 1960er Jahre ermöglicht die Windstille hinter der Mauer überhaupt erst den langen Atem für das epische Entzifferungsprojekt. Weimar kommt Montinari wie «aus der Zeit» gefallen vor. Ausgerechnet hier, in einer bildungsbürgerlichen Enklave des real existierenden Sozialismus, findet der Renegat sein persönliches Posthistoire. Eine einzige Seite aus Nietzsches Notizbüchern zu transkribieren, kann Tage dauern. Nach Schließung des Lesesaals versenkt sich Montinari autodidaktisch in die theoretischen und technischen Details der Editionsphilologie. Mit der Zeit gelangt er zu der für den Umgang mit heiligen Schriften charakteristischen Überzeugung, dass «kein Bild, kein Wort, nicht einmal ein Interpunktionszeichen anstelle eines anderen» in Nietzsches Texten beliebig seien. Er will die weltanschaulichen Auseinandersetzungen ignorieren und zum «echten Nietzsche» zurück. Ihn treibe, schreibt er Colli, eine «wütende Leidenschaft für die Wahrheit» an.[16]

Mit diesem Pathos – und voller Vorbehalte gegenüber den interpretationsfreudigen Philosophen – fahren Colli und Montinari 1964 nach Royaumont. Kein Wunder, dass die Begegnung von wechselseitigem Misstrauen geprägt ist: Während die «hohen Tiere der westlichen Nietzscheologie» um die richtige Deutung ringen, erheben die beiden Italiener den Anspruch, den authentischen Nietzsche zu repräsentieren. Colli, der seine Texte so lesen möchte, wie man einer «unbekannten Musik» zuhört, vertritt die Meinung, wer Nietzsche zu interpretieren versuche, tue ihm schon das erste Unrecht an. Ohne akademischen Titel oder einschlägige Publikationen, aber mit der Autorität seiner Kenntnisse aus erster Hand ausgestattet, malt Montinari in seinem Referat die Mängel der existierenden Ausgaben aus. Er geht so weit, bis zur Klärung der strittigen philologischen Fragen ein Moratorium der Interpretation zu empfehlen. Stattdessen aber ruft Michel Foucault zur wilden Exegese auf. Wenn nämlich kein verbindliches Fundament in Form eines Urtextes mehr existiert, dann bleibt keine Alternative, als sich in immer neuen Lesarten zu ergehen. «Die einzige Anerkennung, die man einem Denken wie dem Nietzsches bezeugen kann, besteht darin, daß man es benutzt, verzerrt, mißhandelt und zum Schreien bringt», erklärt er einige Jahre später. «Ob einem die Kommentatoren Treue bestätigen oder nicht, ist völlig uninteressant.»[17]

Hier hört man den Sound der französischen Theorie, deren globaler Erfolgsgeschichte der Autor Nietzsche seine bis heute anhaltende Renaissance verdankt: als Theoretiker der Überschreitung, als Wegbereiter «absoluter Decodierung» und aller Arten von Dekonstruktion. Den Absichten Collis und Montinaris hätte nichts fremder als dieser französische Nietzsche sein können. Mit ihrem Buchstabengehorsam, ihrem philologischen Ethos und ihrem Glauben an die Wahrheit muten sie neben Foucault und Deleuze wie Figuren aus einer fernen Vergangenheit an. Mit ihrem Anspruch, den definitiven Nietzsche zu repräsentieren, ragt ihre Edition wie ein Atavismus in die Theorielandschaft des späten 20. Jahrhunderts hinein. Schon Heidegger, der ihre Kritische Gesamtausgabe verächtlich als Nietzsches «kommunistische Edition» bezeichnet haben soll, sah in der Philologie den Geist des 19. Jahrhunderts am Werk. Er verspüre «ein Grauen vor dieser Vollständigkeit und Wühlerei», hatte er in den 1930er Jahren geschrieben, bevor er sich aus dem Beirat der historisch-kritischen Ausgabe zurückgezogen hatte – nicht ohne hinzuzufügen, Nietzsche selbst hätte vermutlich noch «ein weit größeres» gehabt.[18]

Zum Affekt gegen die Philologie dürfte im deutschen Sprachraum tatsächlich niemand stärker als Nietzsche beigetragen haben, der innerhalb weniger Jahre vom vielversprechenden Talent zum Abtrünnigen seines Faches, der Altphilologie, geworden war. Schon als junger Basler Professor hatte er es nicht lassen können, sich über die Geistlosigkeit seiner Kollegen zu mokieren: «Texte verbessern ist eine unterhaltende Arbeit für Gelehrte, aber man sollte es für keine zu wichtige Sache ansehen», liest man in den Aufzeichnungen zu der nie erschienenen fünften Unzeitgemäßen Betrachtung, für die der Titel Wir Philologen vorgesehen war. Auch später, nach dem Ende seiner akademischen Karriere, ließ ihn die Hassliebe zu seiner Disziplin nicht los: Philologie, das war «Kauzwissenschaft», «Ameisenarbeit» und «geistiger Mittelstand». In seiner Autobiografie Ecce homo schrieb er, der «Krimskrams verstaubter Gelehrsamkeit» habe in seinem Leben zehn Jahre lang für intellektuellen Stillstand gesorgt.[19] Heute, wo die Disziplin allenfalls noch einen Platz am Rand der Geisteswissenschaften behauptet und aus dem einstigen Vorzeige- ein Orchideenfach geworden ist, wirkt die Energie, die Nietzsche in seine Fehde investierte, seltsam übermotiviert. Im Zuge ihres epochalen Bedeutungsverlusts scheint der Philologie allen zwischenzeitlichen Rettungsversuchen zum Trotz wenig mehr als ihr schlechter Ruf geblieben zu sein.[20]

Warum also die Geschichte von Colli und Montinari erzählen, die, um noch einmal Nietzsche zu zitieren, mitten in den «Staub bibliografischer Quisquilien» führt? Wer einen der Kommentarbände der Kritischen Gesamtausgabe aufschlägt, betritt eine Wüste philologischer Genauigkeit, in der Varianten und Vorstufen angegeben, Zitate und Quellen identifiziert und minutiöse Beschreibungen von Nietzsches Manuskripten ausgebreitet werden. «Die aggressive Intelligenz Nietzsches wahrgenommen mit den Mitteln der ödesten Pedanterie», hat Schirrmacher über das Unternehmen der beiden Italiener geschrieben.[21] Stellt es, bei aller bewunderungswürdigen Akribie, nicht einen Verrat an Nietzsches Denken dar?

Es ist viel über die Ironie geschrieben worden, die darin liegt, dass ausgerechnet der Philologie-Verächter Nietzsche zum Gegenstand einer derart exzessiven Philologie geworden ist. Die Umstände seiner Überlieferungsgeschichte und der aphoristische, von Widersprüchen und permanenten Revisionen geprägte Charakter seiner Schriften haben ihn auf der einen Seite zum Proteus unter den modernen Philosophen gemacht. Es fiele schwer, in der Geschichte des europäischen Denkens ein zweites Œuvre zu finden, das sich als derart anschlussfähig für alle erdenklichen Interpretationen erwies: Rechte und Linke, Enthusiasten und Skeptiker, Diktatoren und Demokraten haben sich auf Nietzsche berufen, und keiner von ihnen tat sich schwer damit, für seine Deutung die passenden Textstellen zu präsentieren. Vielleicht weil er selbst die widerstreitenden Tendenzen seines Zeitalters ausagiert hat, spielte Nietzsche die Rolle einer Leinwand, auf die sich das gesamte Spektrum der Ideen des 20. Jahrhunderts projizieren ließ.[22]

Die Promiskuität seiner Schriften hat auf der anderen Seite aber immer wieder Anlass zu dem gegeben, was man als «philologischen Vorbehalt» bezeichnen kann: Für jede kühne Deutung, für jede Behauptung, die eigentliche Bedeutung seines Denkens zu explizieren, findet sich das umgekehrte Versprechen, den «echten», authentischen, von allen nachträglichen «Legenden» befreiten Nietzsche zu rekonstruieren, indem man seinen verschütteten, verkannten oder verleugneten Urtext offenlegt. Dem Dickicht der Interpretationen steht daher eine beinah ebenso unübersichtliche Fülle von Editionen gegenüber, anhand derer sich Nietzsches Wirkungsgeschichte periodisieren lässt. Fast hat man den Eindruck, er habe jedes Mal neu ediert werden müssen, um neu interpretiert werden zu können – und umgekehrt.[23]

So dominierte der Wille zur Macht, das von der Schwester kompilierte Hauptwerk und Prunkstück der von ihr verantworteten Ausgaben, die Nietzscheologie der ersten Jahrhunderthälfte, die auf der Suche nach dem zentralen Gedanken, dem systematischen Zusammenhang, der philosophischen Essenz seiner Aphoristik war. Bei Alfred Baeumler wurde Nietzsche zum Apologeten der Macht, bei Karl Löwith zum Verweigerer der linearen Zeitordnung der Moderne, während Heidegger ihm die letzte Hauptrolle im Drama abendländischer Seinsvergessenheit übertrug. Es war Jürgen Habermas, der 1968 auf die Paradoxie hinwies, dass nur ein unsystematisches Denken die notwendige Flexibilität besitze, um für derart unterschiedliche systematische Entwürfe anschlussfähig zu sein.[24]

Habermas’ Urteil fällt mit dem Take-off der zweiten, von Paris ausgehenden Welle der Nietzsche-Begeisterung zusammen, deren Perspektive auf Nietzsches Schriften eine diametral entgegengesetzte war. In den Versuchen, sein Œuvre auf den Begriff zu bringen, hatte sich immer auch das Bedürfnis artikuliert, den Weltanschauungsschriftsteller zu einem ernstzunehmenden Philosophen aufzuwerten. Dagegen machen Nietzsches französische Interpreten von Deleuze bis Derrida gerade in der aphoristischen Fragmentierung, im Fehlen der Zentralperspektive, in der Transgression der Ordnung des philosophischen Diskurses die eigentliche Sprengkraft seines Denkens aus. Mit dieser theoretischen geht eine philologische Revision einher: Die Textgrundlage für den französischen Nietzsche gibt die parallel erscheinende Ausgabe von Colli und Montinari ab. Während der 1970er Jahre liest sich die poststrukturalistische Nietzsche-Debatte bisweilen wie ein Kommentar zu ihrem Editionsprojekt. Trotz gegenläufiger Absichten und wechselseitiger Animositäten konvergieren italienische Philologie und französische Theorie in einer gemeinsamen intellektuellen Sensibilität. «Philologie ist verschworen mit dem Mythos: sie versperrt den Ausgang», hat Theodor W. Adorno über die Vergeblichkeit notiert, die darin liege, gegenüber missliebigen Deutungen auf dem nackten Buchstaben zu beharren. Diese Erkenntnis bleibt auch Colli und Montinari nicht erspart. «Man kann heute sagen», schreibt Montinari, nachdem er während der «autonomen» Unruhen von 1977 auf den Mauern der Florentiner Universität den ersten Zarathustra-Graffitis begegnet ist, «dass sich um Nietzsche ein neuer Mythos bildet, der Elemente der konservativen Ideologie mit solchen der linken Theorie zusammenwirft. Zu dieser Wiederkehr hat unsere Ausgabe wesentlich beigetragen.»[25]

Wer die Geschichte dieser Wiederkehr und dieser Ausgabe erzählen will, hat einen unschätzbaren Vorteil in der Hand: Er kann sich auf den Briefwechsel zwischen Colli und Montinari stützen, der sich, von kürzeren und längeren Pausen unterbrochen, über vier Jahrzehnte von den 1940er bis in die 1970er Jahre erstreckt: Dokument einer erotisch aufgeladenen Lehrer-Schüler-Beziehung, Bildungsroman zweier italienischer Intellektueller und intimes Journal eines Editionsprojektes. Im Spiegel dieser Korrespondenz verliert die «Ameisenarbeit» der Editionsphilologie jede technische Routine und wird zu einer Angelegenheit von existentieller und politischer Relevanz. Anhand seiner Biografie lasse sich ein Großteil der Nachkriegsgeschichte Italiens rekonstruieren, hat Adriano Sofri, der Gründer von Lotta Continua, nach Montinaris Tod bemerkt.[26] Doch nicht nur Italiens: Mit der Kritischen Gesamtausgabe kommt zugleich ein Kapitel aus der Ideengeschichte des Kalten Krieges in den Blick. Gestützt auf die intimen Einblicke, die Collis und Montinaris Briefe ermöglichen, verfolgt dieses Buch ein vielleicht allzu ehrgeiziges Vorhaben: die Deckel ihrer Edition ein zweites Mal, aber diesmal mit dem Ziel zu öffnen, die affektiven, intellektuellen und politischen Energien aus vier Jahrzehnten zu befreien, die in ihren nüchternen Anmerkungsapparaten gespeichert sind.

1. Jenseits der Gotenlinie Lucca 1943/44

Die Musarion-Prachtausgabe – vermutlich auch Druckvorlage für Hitlers Geburtstagsgeschenk

Zum sechzigsten Geburtstag schenkte Hitler Mussolini eine in blaues Schweinsleder gebundene Nietzsche-Gesamtausgabe. «Adolf Hitler seinem lieben Benito Mussolini» lautete die handschriftliche Widmung des Führers im ersten Band. Die Büchersendung gelangte rechtzeitig zum 29. Juli 1943 über die Alpen, doch Generalfeldmarschall Kesselring, der in Frascati bei Rom stationierte Oberbefehlshaber Süd beim italienischen Oberkommando, sah sich außerstande, sie persönlich zu überreichen, denn alle Versuche, den Duce ausfindig zu machen, schlugen fehl. Eine Gruppe von Verschwörern aus dem faschistischen Großrat hatte ihn vier Tage vor seinem Geburtstag abgesetzt und unter dem Vorwand, für seine Sicherheit zu sorgen, an einen unbekannten Ort gebracht.[1]

Erst im August fanden deutsche Nachrichtendienstler heraus, dass Mussolini auf der Insel Ponza im Tyrrhenischen Meer festgehalten wurde. Begleitet von einem Schreiben Kesselrings, der ihm «ein wenig Freude» wünschte, hatte ihm die neue italienische Regierung das Geschenk des Führers hinterhergeschickt. Mussolinis notorisch unzuverlässigen Erinnerungen zufolge hat Nietzsche die Tage seiner Gefangenschaft tatsächlich erträglicher gemacht. Ob er sich in die Anfänge seiner politischen Karriere zurückversetzt fühlte, als er eigens Deutsch gelernt hatte, um Nietzsche im Original zu lesen? Ob ihn Nietzsches Maxime «Lebe gefährlich!» tröstete, die in den 1920er Jahren die Losung seiner jungen Bewegung gewesen war? Um seine Befreiung durch die Deutschen zu verhindern, wurde der Duce von Versteck zu Versteck gebracht. Erst als ihn die Frondeure in die Abruzzen verlegten, blieb die Nietzsche-Ausgabe auf der nördlich von Sardinien gelegenen Insel La Maddalena zurück. Im September, als Hitler Italien besetzen ließ, soll ein Wehrmachtskommando damit beauftragt worden sein, die Bände zurückzuerobern, doch es heißt, unter Verweis auf die zu erwartenden Verluste habe der verantwortliche Offizier die Rücknahme des Befehls erwirkt. Eine Nietzsche-Prachtedition aus Mussolinis Handbibliothek mit Hitler-Widmung: Für Nietzsches politische Kompromittierung gäbe es kaum einen schlagenderen Beweis. Doch die Spuren der Ausgabe verlieren sich auf La Maddalena. Über ihren weiteren Verbleib ist nichts bekannt.[2]

Die Auserwählten

Auch Giorgio Colli empfiehlt seinen Schülern, Nietzsche auf Deutsch zu lesen – zumindest denjenigen von ihnen, mit denen er sich außerhalb des Unterrichts trifft. Im Herbst 1942 als Lehrer für Philosophie und Griechisch ans Ginnasio N. Machiavelli nach Lucca gekommen, hatte er nicht lange gebraucht, um einen Kreis von Anhängern um sich zu scharen. Zu Beginn des Schuljahres hatte er die Schüler mit der Behauptung überrascht, es komme in der Philosophie weder darauf an, mit abstrakten Begriffen zu jonglieren, noch die Gedankensysteme der Klassiker auswendig zu lernen – und wie zum Beweis für diese Überzeugung legt er eine aufreizende Nonchalance gegenüber dem offiziellen Lehrplan an den Tag.[3]

Dazu muss man wissen, dass der Philosophieunterricht im faschistischen Italien keine Nebensache ist. Der Duce, ein ehemaliger Journalist, hat selbst ein Faible für intellektuelle Spekulationen. Seinen entscheidenden Prestigegewinn hat das Fach aber dem Philosophieprofessor Giovanni Gentile zu verdanken, der, nachdem er Anfang der 1920er Jahre vom bürgerlich-liberalen ins faschistische Lager übergelaufen und dafür von Mussolini mit dem Posten des Erziehungsministers belohnt worden war, die Gelegenheit ergriffen hatte, die historisch-literarischen gegenüber den naturwissenschaftlichen Disziplinen zu stärken und einen ganz auf das Profil seines eigenen Denkens zugeschnittenen Philosophieunterricht als neues Hauptfach einzuführen. Gentile vertritt einen von Hegel und Fichte inspirierten Idealismus, dem zufolge die Realität aus nichts als dem «puren Akt» des Denkens besteht. Er versteht die Welt als Prozess eines sukzessive zu sich selbst kommenden und dabei das Schöne, Wahre und Gute realisierenden Bewusstseins und überträgt dem Philosophieunterricht die Aufgabe, den Schülern diesen Fortschritt der Vernunft von ihren Anfängen bei den Griechen bis zu ihrer politischen Realisierung im «ethischen Staat» des Faschismus in seiner erstaunlichen Stringenz vor Augen zu führen.[4]

Giorgio Colli erklärt Hegel dagegen zum Anathema – eine Kampfansage, mit der er sich zwischen alle Stühle setzt, denn der Hegelianismus oder storicismo, wie man in Italien sagt, beschränkt sich nicht auf Gentiles regimetreue Variante. Auch Benedetto Croce, Gentiles Gegenspieler und Stimme des antifaschistischen Italien, propagiert die große Erzählung vom welthistorischen Fortschritt der Vernunft – auch wenn dieser Prozess in seiner Version nicht auf Mussolini, sondern auf einen liberalen Staat hinausläuft. Zwischen Gentile und Croce gibt es kein Entkommen – mit ihren an Hegel angelehnten Systemen stecken die beiden verfeindeten Dioskuren den Raum des Denkbaren ab. Der Preußische Staatsrat Carl Schmitt, der 1936 nach Rom reiste, um im italienisch-deutschen Kulturinstitut über den «totalen Staat» zu referieren, war über die soliden Hegel-Kenntnisse seiner Gastgeber erstaunt. Selbst der Duce habe ihm bei seiner Audienz versichert, überzeugter Hegelianer zu sein. Mussolinis Begeisterung für Nietzsche war lange abgekühlt. Man könnte auf die Idee kommen, Hitler habe sieben Jahre später das falsche Geschenk gewählt.[5]